Dreiundwanzig
«Keiner zu Hause», stellte Astrid fest.
Toppe sah auf seine Armbanduhr. Es war halb sechs. «Reichlich früh noch, aber wer weiß, vielleicht sind sie ja alle losgefahren, um bei den Vorbereitungen für die Aufführung zu helfen.»
Er stand unschlüssig auf der Treppe herum.
«Macht das denn was?», fragte Astrid.
«Nein, eigentlich nicht. Den Durchsuchungsbeschluss haben wir ja.»
In Astrids Augen blitzte es abenteuerlich. «Ich habe einen Klappspaten im Kofferraum.»
«Prima, dann mal los.»
Sie war in null Komma nichts zurück. «Irgendwo beim Lavendel.»
«Ja, aber soll nicht lieber ich …?»
«Ach was, ich mach das schon.»
Für einen Moment fühlte Toppe sich wie ein alter Mann.
Vorsichtig schob sie den Spaten unter die Pflanze und hob sie an. «Sehr verwurzelt ist die noch nicht.»
Sie hob den Lavendelbusch sachte hoch und legte ihn zur Seite. Dann stieß sie den Spaten tief in die lockere Erde.
Die Schuhe lagen in knapp vierzig Zentimeter Tiefe.
Toppe hielt den Atem an, als Astrid zuerst den einen, dann den anderen erdverschmierten Adimed-Schuh hervorzog. Sie reichte sie ihm hinüber.
«Reine Intuition», murmelte sie vor sich hin, während sie sorgfältig das Loch wieder zuschaufelte und den Lavendel neu einpflanzte.
Toppe traute seinen Augen kaum. Mit spitzen Fingern hielt er die Schuhe an den Schnürsenkeln hoch und betrachtete sie.
«Mensch, Astrid.»
Die wischte sich die Hände an ihren Jeans ab und stemmte die Arme in die Seiten. «Dann mal los, Herr Toppe!» Sie grinste, und er merkte, dass sie doch ein bisschen stolz auf sich war.
«Mensch, Astrid, da haben wir beide aber den absoluten Riecher gehabt, was?»
Vorsichtig legte er seinen Schatz auf die Rückbank. Jetzt in aller Ruhe eins nach dem anderen.
Berns stöhnte gequält auf, als Toppe die Schuhe auf den Labortisch legte.
«Nicht noch ein Paar, bitte nicht, Toppe! Ich kann keine Schuhe mehr sehen, sicher die nächsten zehn Jahre nicht.»
«Das sind nicht irgendwelche Schuhe», triumphierte Toppe, «das sind die Schuhe.»
«Nein», sagte Berns.
«Doch», sagte Toppe.
«Echt wahr?» Van Gemmern kam aus seiner Ecke.
«Ja, und Astrid dürfen Sie auch gratulieren.»
Die beiden umarmten sich mit den Augen.
«Jetzt legt schon los», drängte Toppe. «Sind diese Flecken Landmanns Blut oder nicht? Wie lange werdet ihr brauchen?»
«Kommt darauf an», antwortete Berns gewichtig, «nicht ganz einfach. Eine Stunde vielleicht.»
«Eine halbe», unterbrach ihn van Gemmern und zog sich die Latexhandschuhe über.
Toppe nahm Astrid mit ins Büro.
«Ob ich schon mal …?» Aber er hatte den Hörer schon in der Hand.
Selbstverständlich wollte Dr. Stein dabei sein – er wäre in einer halben Stunde da.
Sie warteten.
Zwanzig vor acht.
Toppe hielt es nicht länger aus. Er lief zum Labor zurück, Astrid folgte ihm auf dem Fuß.
«Und?», rief er, noch in der Tür.
«Gemach», winkte Berns ab, aber van Gemmern nickte ihm lächelnd zu. Er saß an der Schreibmaschine. «Alles klar.»
«Ja», schnitt Berns ihm das Wort ab. «An den Schuhen ist tatsächlich Landmanns Blut. Dieser Dr. Dämlack hat wohl versucht, es abzuwaschen. Ist ihm aber nicht gelungen, klar. Scheint er dann ja wohl auch selbst gemerkt zu haben.»
Toppe drehte sich wortlos um und lief ins Büro zurück.
Wo war Ackermanns Nummer?
Ackermann war selbst am Apparat.
«Ackermann!» Toppe sprach lauter als gewöhnlich. «Kommt sofort ins Büro, van Appeldorn und Sie. Wir haben den Beweis. Was? Ja, echt. Es eilt!»
Er legte auf und wählte Dr. Steins Nummer. Frau Stein war am Apparat, ihr Mann sei bereits auf dem Weg zu ihm.
Breitenegger, ob der auch dabei sein wollte?
Er ließ es achtmal klingeln, aber keiner nahm ab. Pech.
Wenn sie sich beeilten … von Kranenburg bis hierher, Viertel nach acht, kurze Besprechung … gegen Viertel vor neun konnten sie in der Schule sein.
Rechtzeitig zum zweiten Akt.
Ganz leise öffneten sie die Tür zur Aula. Sie bemühten sich, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, was mit fünf Personen nicht ganz einfach war. Ein paar Zuschauer wandten sich zu ihnen um.
Toppe zögerte.
In der ersten Reihe, gleich links außen, entdeckte er Hermans’ Hinterkopf. Neben ihm saßen seine Frau und die beiden Kinder.
Auf der Bühne standen der Junge, der den Artur spielte, drei weitere Jungen und Sabine Landmann.
«Wieso? Das ist doch ganz einfach. Ich kann euch umbringen», sagte Artur.
«Ich verbiete dir … Alles hat seine Grenzen.» Das musste Stomil sein.
«Grenzen kann man überschreiten. Das habt doch ihr mir beigebracht. Herrschaft über Leben und Tod! Wie könnte es eine größere Macht geben? Eine einfache und doch geniale Entdeckung!»
Die Worte standen klar im Raum. Astrid und van Appeldorn sperrten den Mund auf und starrten Toppe an.
Der legte den Finger an die Lippen und machte sich leise auf den Weg nach vorn.
Noch bevor er Hermans erreicht hatte, drehte dieser sich um.
Sein Gesicht wurde aschfahl, in den Augen Erschrecken, dann Zweifel.
«Glaubt ihr denn vielleicht, ich würde mich auf etwas einlassen, wenn ich es nicht ausführen könnte?», fragte Artur.
Toppe blieb stehen und nickte, fast bedauernd.
Hermans senkte einen Augenblick den Kopf, dann beugte er sich zu seiner Frau hinüber und flüsterte ihr etwas zu.
«So einer wird immer recht behalten. Aber wir reden und reden, und die Zeit vergeht.»
Hermans stand auf und verließ ruhig und aufrecht den Saal.
«Edek, du mein gütiger Engel, bist du bereit?»
Sie standen sich im Foyer gegenüber.
Noch immer hatte keiner von beiden etwas gesagt.
Noch immer hatte Hermans nicht eine Spur Farbe im Gesicht.
Toppe hielt es nicht länger aus. «Wir haben Ihre Schuhe gefunden, Herr Hermans. Unter dem Lavendel.»
Hermans gab einen unartikulierten Laut von sich, dann plötzlich sackten seine Schultern nach vorn.
«Ich verhafte Sie wegen Mordes an Arno Landmann», begann Toppe und fuhr ganz automatisch fort: «Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie …»
«Geschenkt», schnitt ihm Hermans das Wort ab.
Seine Stimme war, im Gegensatz zu seinem Äußeren, erstaunlich sicher. «Lassen Sie uns gehen.»
Langsam gingen sie zum Ausgang.
Hermans zögerte. «Wenn sich jemand um meine Frau und die Kinder kümmern könnte …»
«Astrid, würden Sie das wohl übernehmen?» Toppes Blick ruhte weiter auf Hermans.
«Ja, natürlich, Herr Toppe», antwortete sie und ging zurück in die Aula.