Zweiundwanzig
«Nichts haben wir gefunden, gar nichts.» Toppe klang wütend und deprimiert.
«Sie sollten den Mann vielleicht ein wenig härter anfassen, Herr Toppe», schlug Dr. Stein vor, aber Toppe winkte nur müde ab.
«Härte bringt bei dem gar nichts. Da würde er sich nur noch sicherer fühlen. Er weiß ganz genau, dass wir ihm nichts nachweisen können.» Er schüttelte den Kopf. «Ich weiß nicht, warum, aber ich bin mir ganz sicher, dass Hermans unser Täter ist.»
«Wir stochern einfach weiter in seinem Leben herum. Das setzt ihn vielleicht unter Druck.» Van Appeldorn gab sich gutgelaunt. «Günther, hast du herausgefunden, warum es damals nicht geklappt hat mit Hermans’ Stellung an der Uni?»
«Ja, aber das ist für uns nicht von Belang. Es gab einfach keine freien Stellen zu dem Zeitpunkt.» Er drehte seine Pfeife zwischen den Fingern und betrachtete sie nachdenklich. «Ich glaube, ich höre auf zu rauchen», murmelte er.
Diese Nachricht hätte wohl zu jeder anderen Zeit zumindest Überraschung ausgelöst, aber heute ging keiner darauf ein. Vielleicht war sie nicht einmal gehört worden.
Die Tage zogen sich wie Kaugummi. Nichts brachte sie weiter.
Am Dienstag kam van Appeldorn mit neuen Informationen über Hermans: «Der Mann ist mit einer neugierigen Nachbarin gesegnet, Glück für uns. Wie es scheint, hat Frau Hermans Geld mit in die Ehe gebracht. ‹Die hat ganz schön wat anne Füße›, wie die Nachbarin es ausdrückte. Die Ehe gilt als glücklich. Besonders jetzt während der Schwangerschaft habe Hermans seine Frau geradezu auf Händen getragen. Hermans selbst kommt wohl aus besseren Kreisen. Sein Vater war Landarzt, sein Bruder ist Chef einer Kinderklinik in Freiburg, und seine Schwester hat in Köln einen Lehrstuhl für Physik.»
«Da blieb dem Hermans ja wohl nichts anderes übrig, als auch Karriere zu machen, nicht wahr?», überlegte Breitenegger.
«Ja», stimmte Toppe zu. «Diese Direktorenstelle ist wohl seine große Chance. Vielleicht die letzte, denn so ganz taufrisch ist Hermans ja nun auch nicht mehr.» Er stierte vor sich hin. «Und dann kommt Landmann daher und hat irgendetwas in der Hand, das ihm seine Chance vermasselt …»
«Alles wunderbar, Helmut, ganz wunderbar», unterbrach Breitenegger ihn verbiestert, «aber leider reine Spekulation. Und außerdem, wegen so einer Sache bringt man doch keinen um.»
Toppe fühlte sich getroffen. «Hast du eine bessere Idee?»
«Nee, hab ich nicht.»
«Fang doch bitte wieder an zu rauchen, Günther», warf van Appeldorn ein.
«Den Teufel werd ich tun!» Breitenegger funkelte ihn an. «Ich sag euch eins: Irgendetwas haben wir übersehen. Irgendetwas, das hier drinsteht.»
Er klopfte mit der flachen Hand auf den Aktenstapel vor ihm. «Ihr könnt ja machen, was ihr wollt, aber ich, für mein Teil, ich fange noch einmal von vorn an. Die arbeite ich alle noch einmal durch.»
«Ja, tu das», antwortete Toppe nur.
Am Mittwoch rief das Einbruchsdezernat an. Man wollte sich erkundigen, wann man Ackermann denn endlich zurückbekäme. Sie erstickten in Arbeit, während Toppe doch schließlich nur den einen Fall …
«Ackermann bleibt hier!», brüllte Toppe ins Telefon, aber er wusste, dass es dafür keine vernünftige Begründung gab. Ackermann war im Moment völlig überflüssig und fiel ihnen mit seiner guten Laune nur auf die Nerven.
«Damit dat Leben ma’ wieder ’n bissken rosiger aussieht: Ich lad euch alle ein für Sonntagmittag. Meine Frau hat Geburtstag, un’ da machen wer ’n Fass auf.»
Keiner ging darauf ein, aber Ackermann ließ nicht locker, bis alle versprachen zu kommen. Nur Breitenegger lehnte höflich ab. Er würde wandern am Wochenende. Mehr sagte er nicht. Er wühlte sich noch immer durch die Akten und räumte seine kalte Pfeife von der einen Seite des Schreibtisches auf die andere.
Toppe wurde immer schweigsamer. Er hatte wieder begonnen, an seinem Bart zu rupfen. Keiner traute sich mehr, ihn anzusprechen. Verbissen brütete er vor sich hin.
Astrid Steendijk bemühte sich, im Büro so leise und unauffällig wie möglich zu sein.
Meistens war sie sowieso mit van Appeldorn unterwegs und befragte Leute, die Hermans kannten.
Van Appeldorn hatte sich inzwischen darauf verlegt, die ganze Geschichte unter eher sportlichem Aspekt zu sehen. «Wirklich, Helmut, du musst dem Hermans einfach zugestehen, dass er die besseren Karten hat. Man kann eben nicht immer gewinnen.»
Er erntete nur einen bösen Blick.
Am Donnerstag rief der Chef an. Er wollte noch einmal auf seine guten Beziehungen nach Krefeld hinweisen und ob er denn nicht …
Toppe knallte den Hörer auf.
Am Samstag ging Toppe zur Generalprobe von «Tango», wenn er auch eigentlich nicht genau wusste, was er sich davon versprach. Er nahm Astrid mit.
Die Probe war in vollem Gange, als sie in die Aula kamen. Diesmal trugen die Darsteller Kostüme, die Kulissen waren aufgebaut, die Bühne ausgeleuchtet.
Keiner bemerkte die beiden Polizisten, im Zuschauerraum war es dunkel.
Sie probten dieselbe Szene, die Toppe beim ersten Mal gesehen hatte: Ala und Artur auf der Bühne. Man spürte die Nervosität der Schüler. Sie stolperten beide einige Male über ihren Text, und Ala verlor schließlich ganz den Faden.
Sie brach in Tränen aus, setzte sich auf den Bühnenrand und verbarg schluchzend ihr Gesicht in den Händen.
Hermans ging von seinem Platz am linken Bühnenrand schnell zu ihr herüber, hockte sich neben sie und legte ihr sacht die Hand auf die Schulter.
«Komm, Katja», sagte er. «Ich habe dir doch gesagt, dass es völlig normal ist, wenn bei der Generalprobe alles schiefgeht.»
Katja lehnte sich leicht nach hinten und rieb fast unmerklich ihre Schulter langsam an seiner Hand. Durch ihre schwarze Haarmähne schenkte sie ihm einen tiefen Blick.
Toppe räusperte sich laut. Hermans sah zu ihm hinüber, und zum ersten Mal entdeckte Toppe so etwas wie Erschrecken in seinem Blick.
«Katja ist sehr schön», bemerkte Astrid nachdenklich, als sie Toppe zum Präsidium zurückfuhr.
«Das ist sie in der Tat.» Mehr sagte er nicht.
Im Präsidium wartete der Staatsanwalt.
«Gut.» Toppes Stimme war fest. «Wir haben alles versucht. Wenn sich bis Montagmorgen nichts Neues ergibt, dann knöpfen wir uns Hermans noch einmal vor, diesmal zu zweit, Norbert und ich.»
«Und wenn dabei auch nichts herauskommt?», fragte van Appeldorn.
«Dann», Toppe sah Dr. Stein an, «dann werde ich aufgrund der Indizienlage einen Haftbefehl beantragen.»
Toppe hatte sich in seinen ungeliebten dunklen Anzug gezwängt.
Er kam sich außerordentlich deplatziert darin vor auf diesem Ackermann’schen Sommerfest. Aber was sollte er tun? Er wollte direkt von hier aus zu der Theateraufführung.
Ackermanns Haus lag gleich am Ortseingang von Kranenburg, und Toppe hatte eine langatmige Erklärung über sich ergehen lassen, dass dies eigentlich nicht Kranenburg sei, sondern Scheffenthum. Und es wäre ein Sakrileg, Ackermann als Kranenburger zu bezeichnen. Schließlich habe man hier sogar einen eigenen Schützenverein und überhaupt …
Toppe lehnte sich an den großen Nussbaum und betrachtete die Szenerie.
Er waren wirklich alle gekommen, sogar Berns und van Gemmern, auch die Kollegen vom Einbruchsdezernat. Nur Breitenegger war dem Fest ferngeblieben, hatte aber einen Blumenstrauß an die «verehrte Gastgeberin» geschickt.
Es waren gut vierzig Leute da.
Ackermann strahlte und war der perfekte Gastgeber. Das Kind auf seinem Arm störte ihn dabei anscheinend nicht. Es war pummelig, in rosa Rüschen gehüllt und lachte jeden an. Auch Ackermanns Frau hatte sich heute für Rosa entschieden und ihre üppigen Formen in einem sommerlich dünnen Overall untergebracht.
Toppe mochte kaum hinsehen.
«Ackermann!», rief sie jetzt und kam über den Rasen auf ihn zugewalzt. «Dein Chef hat nichts mehr zu trinken.»
Toppe setzte sein verbindlichstes Lächeln auf. «Danke, aber ich muss noch fahren.»
«Wenigstens ein Stücksken Kuchen und ein Kaffee.» Ihr holländischer Akzent war überwältigend.
«Gern, danke.» Toppe folgte ihr zu dem langen Biertisch auf der Terrasse.
«Macht ma’ Platz für die Kommissar», rief sie und servierte ihm zwei Stücke Pflaumenkuchen mit einer ordentlichen Portion Schlagsahne.
Toppe liebte Pflaumenkuchen, aber heute war ihm überhaupt nicht danach. Unglücklich schaute er sich um.
Astrid Steendijk und van Gemmern saßen ihm gegenüber auf einer Hollywoodschaukel und redeten miteinander. «Was hat so jemanden wie dich eigentlich zu so einem Scheißjob gebracht?», hörte Toppe ihn fragen.
Van Appeldorn stand neben dem Fass, das Bierglas in der rechten Hand, wie immer, und beobachtete mit ausdruckslosem Gesicht Ackermann in Aktion.
Berns kam und tippte van Gemmern auf die Schulter. «Komm, wir haben noch im Labor zu tun.»
Toppe stand auf – noch drei Stunden – und schlenderte zurück zu dem schattigen Platz unter dem Nussbaum. Die ganze Zeit ließ ihn ein Gedanke nicht los.
«Herr Toppe?» Er schreckte hoch.
Astrid war leise an ihn herangetreten. «Es ist vielleicht Quatsch, aber ich werde die ganze Zeit einen Gedanken nicht los: Wenn Sie ein Paar Schuhe unbedingt verschwinden lassen müssten, würden sie die dann einfach in die Mülltonne werfen?»
Er sah sie überrascht an, dann lächelte er.
«Ob Sie es glauben oder nicht, der gleiche Gedanke geht mir auch nicht aus dem Kopf. Vor allem, weil in Donsbrüggen die Müllabfuhr immer erst mittwochs kommt.»
«Wann haben Sie das denn rausgefunden?»
«Gestern.»
«Vergraben?», fragte sie.
«Ja», nickte er, «genau. Denken Sie dasselbe wie ich?»
«Der Lavendel.»
«Richtig. Der Zeitpunkt passt. Unauffällig ist es auch.»
Sie wechselten einen kurzen Blick.
«Jetzt sofort?», wollte sie wissen.
«Jetzt sofort», bestätigte er. «Aber so leise wie möglich und nur wir beide.»
«Weil es eigentlich eine verrückte Idee ist?»
«Ja, eine verrückte Idee, Astrid. Aber wenn zwei Leute dieselbe verrückte Idee haben, dann muss da, verdammt nochmal, was dran sein. Kommen Sie.»
Er hatte auf einmal so gute Laune, dass ihm selbst die anzüglichen Bemerkungen, die man ihnen nachrief, als sie zusammen verschwanden, nicht das Geringste ausmachten.