Einundwanzig
«Also, Sabine Landmann ist es dann wohl nicht», fasste Toppe zusammen.
Es war Samstag, der 4. September, der Morgen von Hermans’ Geburtstag, und sie saßen im Büro und trugen die Ergebnisse des gestrigen Tages zusammen.
Van Appeldorn hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und sah aus, als schliefe er.
«Nein, das glaube ich auch nicht», sagte Breitenegger. «Aber bist du denn sicher, dass es tatsächlich um eine sexuelle Geschichte geht? Was haben denn deine Gespräche mit den Tennisleuten gestern ergeben?»
«Das war wirklich interessant.» Toppe nahm zwei engbeschriebene Zettel zur Hand. «Wir waren bei drei Leuten, Herrn Gutmann, Herrn Aldering und Herrn Reintjes. Ich habe versucht, ihnen den genauen Wortlaut von Landmanns Äußerungen zu entlocken, aber an den konnten sie sich nicht erinnern. Einhellig haben sie jedoch die Situation so beschrieben wie Astrid. Es war wohl so, dass man sich über Jugendliche und Drogen unterhielt und darüber, dass der Drogenkonsum und auch der Drogenhandel an den Schulen immer mehr zunimmt. Irgendjemand brachte dann die Fürsorgepflicht der Lehrer ins Spiel. Alle drei sagten mir, dass Landmann sich bis dahin gar nicht geäußert hatte, aber dann habe er plötzlich verächtlich geschnaubt und gesagt, dass man von den Lehrern doch wohl kaum so etwas wie Fürsorge erwarten könne. Die seien doch selbst im höchsten Maße unmoralisch. Lehrer hätten doch ihre eigenen Triebe nicht unter Kontrolle, sie würden ja noch nicht einmal vor der Verführung Abhängiger zurückschrecken. Sie sagten alle, dass sie völlig erstaunt waren über diesen heftigen Ausbruch, dass Landmann in hohem Maße erregt war und man so etwas bei ihm noch nie erlebt hatte. So entstand dann auch die Gesprächspause, die Astrid uns geschildert hat. Alle haben Landmann wohl verblüfft angesehen, und Herr Gutmann hat dann schließlich gefragt, was er denn damit meine, aber Landmann habe nur abgewinkt und gesagt: ‹Lass mal, schon gut, aber fertig bin ich damit noch nicht.› Da habe man nicht weiter insistiert. Alle wussten übrigens sofort, wonach ich fragte, das heißt, die Situation war wohl wirklich bemerkenswert und auffällig.»
«Tja.» Van Appeldorn öffnete die Augen. «Wenn da mal nicht wirklich der Hase im Pfeffer liegt. Obwohl, zu dem, was wir bis jetzt so über Hermans gehört haben, will es nicht passen, dass er ein Verhältnis mit einer Schülerin haben soll.»
Er nahm die Füße vom Tisch. «Ackermann war bei Hermans’ Chef, und ich habe mit einer Kollegin und einem Kollegen von Hermans gesprochen, die ich beide ganz gut kenne, wir kegeln zusammen.»
«Ich wusst ja ga’ nich’, dat du auch kegeln gehs’»!, rief Ackermann. «Wo denn?»
«Ackermann», presste van Appeldorn gequält hervor und sprach dann weiter: «Dr. Hermans, Oberstudienrat übrigens, scheint ein Arbeitstier zu sein. Beide Kollegen gebrauchten im Zusammenhang das Wort ‹ehrgeizig›. Er ist übrigens promovierter Germanist, außerdem Historiker, und wollte eigentlich gar nicht in den Schuldienst, sondern die Unilaufbahn einschlagen. Das hat aber nicht geklappt. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht kannst du das herausfinden, Günther. Möglicherweise gibt es da ja Zusammenhänge mit Landmann.»
Breitenegger brummte zustimmend und machte sich eine Notiz.
«Hermans ist wohl seit Ewigkeiten scharf auf eine Direktorenstelle», berichtete van Appeldorn weiter, «aber die sind wohl dünn gesät. Zufällig wird im Dezember am Steingymnasium eine Direktorenstelle frei, und Hermans will die unbedingt haben. Die Kollegen meinen, er hätte wohl auch ganz gute Chancen, denn er hätte Supernoten und seit über einem halben Jahr für diese Rektorenprüfung geackert.»
«Bringt so eine Direktorenstelle eigentlich wesentlich mehr ein? Geld, meine ich», wollte Toppe wissen.
«A15, das ist schon ein bisschen mehr, aber nicht weltbewegend. Die Kollegin meinte, Hermans ginge es wohl nicht in erster Linie ums Geld, sondern eher um die Karriere. Warum fragst du?»
«Ich habe mir überlegt, wie der sein teures Haus abbezahlen will. Na ja, wer weiß, vielleicht hat er geerbt, oder seine Frau hat Geld.»
«Da werde ich nochmal nachhaken. Hermans’ Kollegen bezeichnen ihn als karrieregeil, dabei aber nicht unsympathisch. Also nicht so, dass er dabei über Leichen ginge. Sie halten ihn beide für ganz kollegial, aber nicht besonders aufgeschlossen. Privat haben sie keinen Kontakt zu ihm, kennen auch keinen sonst im Kollegium, der mit Hermans befreundet ist.» Van Appeldorn hielt inne. «Wartet mal, was habe ich noch?»
Er blätterte in seinen Papieren. «Ja, ‹gewissenhaft›, ‹korrekt›, habe ich mir noch aufgeschrieben. Und er ist wohl nicht unbeliebt bei den Schülern, sagen die beiden. Er bemühe sich um ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Schülern, das er aber auf einer eher kühlen und sachlichen Ebene halte. Von daher konnten sich die beiden auch überhaupt nicht vorstellen, dass er was mit einer Schülerin hat. Sie sagten mir, es wäre schon fast auffällig, dass er eigentlich niemals zweideutige Bemerkungen über Schülerinnen mache. Die Kollegin schilderte mir …» Er machte eine Pause und grinste Astrid Steendijk an. «… dass die männlichen Kollegen sich in der Regel höchst eindeutig über die körperlichen Vorzüge der Schülerinnen äußerten und Spekulationen über deren Qualitäten im Bett anstellten.»
«Sodom und Gomorrha», fiel ihm Breitenegger ins Wort. «Und dorthin gibt man seine Kinder! Landmann hatte, scheint’s, gar nicht so unrecht.»
Van Appeldorn schaute ihn verblüfft an. War das ernst gemeint?
«Wie auch immer», sagte er dann. «Hermans beteiligt sich wohl nie an diesen verwerflichen Spekulationen. Ein wahrer Ehrenmann. Tja, das war’s erst mal. Vielleicht hat Ackermann ja noch was …»
«Hab ich», freute Ackermann sich. «Ich war nämlich bei dem Direktor von Hermans’ Schule, dem Dr. Reinhard. Der sagt, dat der Hermans einer von den fähigsten Lehrer im ganzen Kollegium is’, un’ zwar in jede Beziehung, sagt er. Der sagt, wartet ma’, hier steht et, ‹gewissenhaft, korrekt, fleißig, kooperativ›. War auch immer auf Fortbildung un’ so. Außerdem is’ Hermans außergewöhnlich gebildet un’ intelligent, sagt er. Er, der Dr. Reinhard, hat dat auch alles in seine Beurteilung geschrieben un’ …»
«Was für eine Beurteilung?», fragte Toppe.
«Hab ich auch gefragt», antwortete Ackermann stolz. «Für den Direktorposten. Da muss nämlich der Chef ’ne Beurteilung schreiben, sagt er. Also, der Doktor meint, Hermans würd’ die Stelle wohl kriegen, soweit er dat beurteilen könnt, beonders jetz’, wo er auch noch, ‹auf mein Anraten hin›, sagt er, inne Partei eingetreten is’. Da hat sich der Doktor natürlich besonders für verwendet, sagt er.»
«In die Partei eingetreten?», fragte Toppe. «In welche denn?»
«Na, bestimmt in die richtige», feixte van Appeldorn, «sonst hat er hier in Kleve keine Schnitte.»
«Ach was», winkte Toppe ab. «Hermans in der CDU, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.»
«Is’ aber wahr», sagte Ackermann. «Der Doktor hat et mir erzählt. Ich hab extra noch ma’ gefragt, weil ich auch dacht, Hermans wär ’n Roter. So, wie der sich auf’m Tonband angehört hat, wa?»
«Da kann man mal sehen», sinnierte Toppe. «Der muss aber wirklich scharf auf die Stelle sein.»
Der Sonntag versprach tatsächlich mal ein warmer Tag zu werden.
Über den Donsbrüggener Wiesen lag der typische dünne Nebel, gerade so hoch, dass die Köpfe der Butterblumen noch herauslugten.
Toppe parkte seinen Wagen gegenüber von Hermans’ Haus.
Zehn vor acht, die Straße lag wie ausgestorben.
Niederrheinischer Sonntag, erst um zehn vor zehn, wenn die Kirchenglocken zu läuten begannen, würden die ersten Leute aus ihren Häusern kommen.
Im Rückspiegel sah er ein Auto langsam heranrollen.
Van Appeldorn stieg aus, schloss leise die Wagentür und kam zu ihm herüber.
«Morgen. Hast du den Durchsuchungsbeschluss?»
«Sicher.» Toppe klopfte auf seine Jackentasche.
Ein drittes Auto näherte sich leise: Berns, van Gemmern und Astrid Steendijk.
Toppe nickte zufrieden. So wenig Aufsehen wie möglich, sie mussten ja nicht gleich die ganze Nachbarschaft aufscheuchen.
Er schaute zu Hermans’ Haus hinüber. Die Rollläden waren hochgezogen, aber nichts rührte sich.
Wo blieb Ackermann?
In diesem Moment hörte man von hinten quietschende Reifen und einen röhrenden Motor.
«Dann kam Ackermann», bemerkte van Appeldorn trocken.
Es war ein Streifenwagen. Er parkte schwungvoll vor Toppes Auto ein, und ein fröhlicher Ackermann sprang pfeifend heraus.
Van Appeldorn und Toppe stiegen gleichzeitig aus.
«Du hast vergessen, Blaulicht und Sirene einzuschalten», knurrte van Appeldorn.
Toppe kochte vor Wut. «Was soll das, Ackermann? Sind Sie noch ganz gescheit?»
Ackermann zog den Kopf ein. «Meine Kiste is’ gestern abend verreckt, un’ da hab ich die hier geliehen für heut Morgen.»
«Sie fahren jetzt sofort um die nächste Ecke und stellen den Wagen dort ab, und zwar leise!»
«Geht klar, Chef, geht klar.»
Toppe atmete tief durch. «Na, dann», murmelte er und klingelte.
Ein Mädchen, ungefähr zehn Jahre alt, öffnete die Tür.
«Ja?», fragte sie und schaute ihn neugierig an.
«Guten Morgen, ich möchte bitte deinen Vater sprechen», sagte Toppe, so freundlich, wie es ihm im Moment möglich war.
«Judith, wer ist denn da?», rief Frau Hermans und kam aus der Küche in die Halle. Verwirrt, fast ein wenig erschrocken, schaute sie auf die Menschenansammlung vor ihrer Haustür.
«Ja?»
«Guten Morgen, Frau Hermans. Sie erinnern sich sicher, ich bin Hauptkommissar Toppe. Wir möchten Ihren Mann sprechen.»
«Der … der ist beim Langlauf.»
Sie runzelte die Stirn. «Was ist denn los? Was wollen Sie von ihm?»
«Wir haben Hinweise darauf, dass Ihr Mann mit der Ermordung von Arno Landmann im Zusammenhang steht», antwortete Toppe vage.
Sie riss entgeistert die Augen auf. «Mein Mann? Sie müssen verrückt sein!»
«Wir werden jetzt eine Hausdurchsuchung vornehmen. Möchten Sie den Durchsuchungsbeschluss sehen?», griff van Appeldorn ein.
«Durchsuchungsbeschluss», flüsterte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. «Ich träume das alles nur …» Dann gab sie sich einen Ruck. «Ja, natürlich will ich den sehen!»
Selbstverständlich suchten sie in erster Linie nach der Tatwaffe und den Turnschuhen, nach blutiger Kleidung möglicherweise auch. Aber es mochte auch noch andere Hinweise auf die Tat und das Motiv geben, an die sie noch gar nicht gedacht hatten.
Toppe fand sich in Hermans’ Arbeitszimmer unter dem Dach wieder. Ein wunderschöner hoher Raum mit Balken und einem großen Giebelfenster. An beiden Längsseiten standen offene Bücherregale aus Kiefernholz. Toppe ging an den Buchreihen entlang, viele Theaterstücke, viel Literatur über das Theater, Bücher über Sport, dazwischen irgendwo auch «The Loneliness of the Long Distance Runner». An den Regalbrettern waren weiße Schildchen angebracht, sauber beschriftet. «Franz. Rev.», las Toppe, «1848» und auf der anderen Seite des Zimmers «Belletristik», «Lyrik», «Klassik».
Auch Hermans hatte schöne Gesamtausgaben der Klassiker. Toppe schaute genauer hin. Ein kompletter Goethe, Kleist, auch hier Nietzsche und auch hier kein Schiller. Welch bemerkenswerter Zufall.
Er drehte sich um und nahm die Atmosphäre in sich auf.
Eine schwindsüchtige Morgensonne warf ihr fahles Licht auf einen alten Bauerntisch, der vor dem Giebelfenster stand, Hermans’ Schreibtisch. Ordentlich gestapelte Hefte, Klassenarbeiten, Fachbücher mit Zettelchen darin, ein Tischkalender. Toppe blätterte ihn oberflächlich durch: 14. Juli – nichts. 18. August – nichts. Er steckte ihn ein.
Auf der Schreibtischunterlage lag ein kleines, offensichtlich selbstgebasteltes Album. «Happy Birthday» stand auf dem Umschlag, jeder Buchstabe in einer anderen Farbe gemalt. Innen vier Fotos, eines von Frau Hermans, eins von dem Mädchen, das die Tür geöffnet hatte. Auf der nächsten Doppelseite links die Aufnahme eines Jungen, der nicht viel älter sein konnte als das Mädchen, und rechts ein Ultraschallfoto, für Toppe ein Buch mit sieben Siegeln.
Er öffnete die einzige Schublade in der Mitte des Tisches. Alles ganz ordentlich, Papiertaschentücher, ein Lineal, Büroklammern, drei abgelaufene Lehrerkalender, die er herausnahm, ein Päckchen Traubenzucker, Kondome. Kondome? Die waren doch wohl im Moment überflüssig. Toppe nahm das Päckchen heraus, es fehlten zwei. Interessant, aber vielleicht hatte er die ja schon länger. Schreibmaschinenpapier, ein leeres Ringbuch, ein Locher. Das war alles. Keine Briefe, keine persönliche Zeile.
Unten im Haus kam es zu einem lauten Wortwechsel, dann hörte er Schritte auf der Treppe.
Hermans stieß die Tür auf.
Er war aschfahl im Gesicht und hatte beide Hände, zu Fäusten geballt, an seine nackten, dünnen Beine gepresst. Er trug Shorts, ein schweißgetränktes T-Shirt und ganz normale Puma-Schuhe.
«Was ist hier los?», stieß er zwischen den Zähnen hervor.
Er hatte immer noch keine Kontrolle über seine Hände.
«Guten Morgen, Herr Dr. Hermans», grüßte Toppe ruhig.
«Was ist hier los?», fragte Hermans wieder, diesmal viel lauter.
«Sie stehen unter Verdacht, Herrn Landmann getötet zu haben, Herr Hermans. Wir führen soeben eine Hausdurchsuchung durch.» Toppe blieb ganz kühl.
«Sind Sie wahnsinnig?»
«Nein.»
Stumm stand Hermans in der Tür und starrte Toppe an. Dann plötzlich, schon im Umdrehen, zischte er: «Machen Sie Ihre verdammte Durchsuchung, und dann verschwinden Sie so schnell wie möglich.»
Toppe folgte ihm langsam. In diesem Zimmer würde er nichts finden. Möglichkeiten, ein Brecheisen oder ein Paar Schuhe zu verstecken, gab es hier nicht.
Die ganze Aktion dauerte fast bis elf Uhr.
Familie Hermans hatte, bis auf die Zeit, in der Berns und van Gemmern dort herumhantiert hatten, still und bleich in der Küche gesessen.
Toppe steckte den Kopf zur Tür herein. «Wir gehen jetzt. Vielen Dank für Ihr Verständnis», sagte er steif.
Keiner antwortete ihm, nur die beiden Kinder sahen ihn an.
Astrid Steendijk stand hinter ihm. «Na, dann.» Sie ging vor ihm her die Stufen hinunter.
«Gucken Sie mal, der Lavendel blüht immer noch», sagte sie leise und zeigte auf die kleinen Pflanzen an der Hausecke.
Toppe nickte nur.