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Zwanzig

Dr. Stein war mit anderen wichtigen Dingen beschäftigt, wie er sagte. Wenn keine Verdunklungsgefahr bestünde, könne man sich doch am nächsten Morgen zusammensetzen und alles in Ruhe durchsprechen …

Nein, Verdunklungsgefahr bestand wohl nicht.

So kam Toppe an diesem Abend doch noch zu einer Lammkeule, die im übrigen vorzüglich war. Auch der Wein war gut, und es hätte für alle ein schöner Abend werden können, wenn Toppe mehr bei der Sache gewesen wäre. So aber drängte er schon um elf zum Aufbruch. Keiner nahm es ihm übel.

«Gehen wir schlafen?» Gabi legte ihm die Arme um den Hals.

«Ja, geh du schon vor, ich komme gleich.»

Er ging ins dunkle Wohnzimmer und öffnete die Balkontür. Die Nachtluft war kühl und feucht, und vom gegenüberliegenden Feld wehte ein leichter Geruch von frischer Gülle herüber.

Er kam nicht zur Ruhe. Die Beschreibung, die Hermans von Landmann gegeben hatte, wollte so gar nicht zu dem Bild passen, das er sich selbst inzwischen von Landmann gemacht hatte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Landmann einen privaten Kontakt ausgenutzt hatte, um die Noten seiner Tochter zu verbessern.

Auch die Vorstellung, dass Landmann anrief, um über alte Zeiten zu plaudern, stand in krassem Gegensatz zu Landmanns Verschlossenheit und Kühle, die alle anderen als typische Eigenschaften beschrieben hatten. Und er sollte sogar gefragt haben, ob Hermans, der doch ganz offensichtlich die Verbindungsgeschichte mittlerweile völlig ablehnte, mal mit zu einem Treffen käme.

Das passte alles hinten und vorn nicht zusammen.

Ob sie wohl über etwas ganz anderes geredet hatten, Landmann und Hermans? Über etwas, das Hermans auf gar keinen Fall preisgeben wollte?

Und was, wenn Hermans tatsächlich etwas mit einer Schülerin hatte? Mit Sabine Landmann ganz sicher nicht, das kam für ihn immer noch nicht infrage.

Er fror plötzlich und schloss schnell die Tür. Leise ging er im Zimmer auf und ab.

Nun gut, wenn es doch Sabine war, mit der er ein Verhältnis hatte, müsste Hermans schon ziemlich blöd sein, zu erwähnen, dass er mit Landmann über Sabine gesprochen hatte, oder?

Eine andere Schülerin dann?

Oder war es etwas ganz anderes gewesen, das Landmann gegen Hermans in der Hand hatte?

Erpressung? Nein, Landmann war kein Erpresser! Ein strenger Moralist, das ja, das passte. Richter über Gut und Böse, Richtig und Falsch, Integer oder Verkommen, doch, das passte gut.

Was genau hatte er gesagt über Abhängige?

Er musste morgen mit den Leuten reden, die bei diesem Gespräch auf dem Tennisfest dabei gewesen waren. Er wollte den genauen Wortlaut, gleich morgen früh.

Toppe seufzte. Nichts als Mutmaßungen und nirgendwo ein Beweis. Das Brecheisen und die Schuhe. Nein, es führte wohl kein Weg vorbei an der Hausdurchsuchung, obwohl er sich dagegen sträubte. So etwas war immer unangenehm für die Betroffenen, und Frau Hermans wirkte so nett, außerdem war sie schwanger.

Gabi öffnete leise die Tür. «Kommst du?»

Sie war nackt, und im dämmrigen Licht, das von der Straßenlaterne vor dem Fenster ins Zimmer fiel, wirkte ihre Haut weiß und kühl. Er fand sie immer noch schön. Sie war klein und kompakt, mit großen flachen Brüsten und breiten Hüften. Seit sie die Kinder geboren hatte, war sie überall runder geworden. Er mochte es gern.

«Ja, ich komme.» Er lächelte weich und strich ihr ganz leicht mit dem Finger über den Bauch.


Van Appeldorn stand am Fenster und stieß einen leisen Pfiff aus. «Da schau einer an!»

«Was gibt’s denn?», fragte Toppe vom Schreibtisch her.

«Die Steendijk steigt aus van Gemmerns Auto.»

«Na und?»

Breitenegger war noch nicht da, auch Dr. Stein ließ noch auf sich warten.

Astrid Steendijk betrat das Büro mit einem strahlenden «Guten Morgen».

«Morgen. Wo bleibt denn van Gemmern?», wollte van Appeldorn wissen.

«Der musste noch kurz ins Labor.»

«Kennen Sie ihn schon länger?»

«Seit drei Tagen.»

«Aha.»

«Was aha? Ich bin erwachsen.»

«Das ist nicht zu übersehen», gab van Appeldorn anzüglich zurück.

Sie war während des Wortwechsels hochrot geworden und kurz davor zu explodieren, aber jetzt lächelte sie auf einmal honigsüß. «Neidisch?»

Van Appeldorn war sprachlos.

«Locker ausgepunktet», dachte Toppe und freute sich.


«Ihre Skrupel in allen Ehren, Herr Toppe», sagte Dr. Stein, «aber was glauben Sie, wie viele Kommissare mich bei einer solchen Indizienlage schon um einen Haftbefehl ersucht haben? Allein die Tatsache, dass der Zettel unmittelbar neben der Leiche lag! Nun, ich denke, das sind schon alles hinreichende Verdachtsmomente.»

«Also offene Ermittlung», stellte van Appeldorn fest.

«Definitiv», nickte Stein. «Schaffen Sie Beweise ran und noch mehr Indizien. Und die Hausdurchsuchung sollten Sie gleich vornehmen.»

«Nein», sagte Toppe entschieden, «nicht heute. Heute hat Hermans Geburtstag. Er wird fünfundvierzig und hat jede Menge Gäste. Ich finde, wir sollten morgen früh um acht bei ihm auftauchen, wenn er noch so richtig übernächtigt ist. Möglicherweise ist ihm dann leichter beizukommen.»

«Ich geh davon aus, dass Sie uns beide dabeihaben wollen», ließ sich Paul Berns aus seiner Ecke vernehmen.

«Ja, natürlich», antwortete Toppe. «Wir treffen uns morgen um Punkt acht vor Hermans’ Haus, alle.»

«Dann ham wer frei heute? Dat kann ich brauchen», freute sich Ackermann.

«Träum weiter, Ackermann», herrschte van Appeldorn ihn an. «Wir beide machen uns gleich auf den Weg. Wenn es dir recht ist, Helmut, würde ich mich gern ein bisschen umhören, Kollegen, der Rektor, Schüler, Eltern, Nachbarn. Darunter sind ein paar Leute, die ich kenne, sodass ich schon mal erste Anlaufstellen hätte.»

«Das ist prima. Und ich hake noch einmal bei den Leuten aus dem Tennisclub nach, die Astrid uns genannt hat.»

«Könnte ich wohl mitkommen, Herr Toppe?», bat Astrid.

«Ich weiß nicht.» Toppe zögerte. «Also gut, aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich aus den Gesprächen völlig heraushalten und den Leuten bei ihren Erinnerungen nicht auf die Sprünge helfen. Glauben Sie, Sie schaffen das?»

«Ja, natürlich. Außerdem wissen die bestimmt gar nicht, dass ich dieses Gespräch überhaupt mitgekriegt habe. Für mich ist das eine gute Übung. Wenn ich wirklich mal in dieser Stadt arbeiten sollte, muss ich mich daran gewöhnen, mit den Leuten, die ich privat kenne, auch beruflich umzugehen.»

«Ich frage mich die ganze Zeit schon, was so jemanden wie Sie eigentlich zu diesem Beruf gebracht hat», bemerkte Dr. Stein, aber Toppe unterbrach ihn.

«Was ist mit Sabine Landmann, Norbert?»

«Ach, gut, dass du mich erinnerst. Das Gespräch würde ich lieber hier führen. Ich telefoniere gleich mal und lade sie vor.»


Van Appeldorn hatte sich beeilen müssen, was ihm zuwider war, um pünktlich wieder im Präsidium zu sein, aber es war doch schon fünf nach vier, als er ins Büro kam.

Sabine Landmann wartete schon. Sie saß Breitenegger gegenüber am Schreibtisch und stand auf, als van Appeldorn auf sie zukam.

«Guten Tag, ich bin Sabine Landmann», sagte sie ihm offen ins Gesicht.

«Guten Tag, Sabine, wir haben heute Morgen miteinander telefoniert. Van Appeldorn.»

Sie nickte.

Er konnte plötzlich verstehen, was Toppe gemeint hatte.

«Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten, kommen Sie bitte mit?»

«Ja.»

«So, da wären wir.» Er hielt ihr die Tür auf. «Nehmen Sie doch Platz.»

Sie setzte sich und schaute ihn aufmerksam an. «Nehmen Sie das Gespräch auf Tonband auf?»

«Ja, wenn Sie einverstanden sind.»

«Klar, das macht mir nichts aus.»

«Einen Moment.» Er schaltete das Gerät ein und sprach die übliche Einleitung aufs Band.

«Stimmt das so?»

«Ja», nickte sie, und er merkte ihr an, dass sie jetzt doch ein wenig aufgeregt war. Ihre Wangen hatten sich gerötet, und sie faltete die Hände im Schoß.

«In ein paar Tagen haben Sie Ihren Auftritt, nicht wahr?», fragte van Appeldorn.

«Stimmt», antwortete sie überrascht. «Hat Ihnen Herr Toppe das erzählt?»

«Hm», bestätigte van Appeldorn schmunzelnd. «Und? Schon Lampenfieber?»

«Nö, kein bisschen. Aber vielleicht kommt das ja noch.»

«Also, ich habe so etwas zwar noch nie gemacht, aber ich wäre bestimmt jetzt schon aufgeregt.»

«Ach nein, ich nicht so.» Sie rutschte auf dem Stuhl hin und her. «Geht es um meinen Vater?»

«Nicht in erster Linie. Es tut mir übrigens leid, Sabine.»

«Dass mein Vater tot ist? Ja, danke. Ich habe das jetzt schon so oft gesagt. Herzliches Beileid. Ja, danke. Aber irgendwie hab ich es immer noch nicht so richtig kapiert … Aber vielleicht … ich weiß nicht … Er war immer so viel weg und sonst auch immer so für sich und so …» Sie brach hilflos ab.

Van Appeldorn nickte. «Ich glaube, es dauert seine Zeit, bis man so etwas wirklich fassen kann. Aber vielleicht ist das ja auch ein ganz guter Schutz, nicht wahr?»

«Ja, vielleicht.»

«Tja, Sabine.» Van Appeldorn suchte nach Worten. «Es fällt mir ein bisschen schwer, einen Übergang zu finden. Eigentlich wollte ich mit Ihnen über Herrn Hermans sprechen.»

«Dr. Hermans?» Sie war völlig verblüfft. «Meinen Sie meinen Deutschlehrer? Über den wollen Sie mit mir reden? Warum denn?»

«Herr Hermans hatte persönliche Kontakte zu Ihrem Vater. Die beiden kannten sich seit vielen Jahren.»

Ihr Gesicht zeigte noch mehr Erstaunen, wenn das überhaupt möglich war.

«Mein Vater und Dr. Hermans? Nein, das kann gar nicht sein. Das müsste ich doch wissen.»

«Doch, Sabine, Herr Hermans hat uns das auch bestätigt.»

Sie schüttelte stumm den Kopf.

«Wir glauben, dass Herr Hermans sexuelle Beziehungen zu einer Schülerin hat.» Es fiel ihm nicht leicht, diesen Schuss abzufeuern und dabei in ihre blauen Augen zu sehen.

«Dr. Hermans? Wirklich? Zu wem denn?»

«Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden.»

«Mit mir? Aber ich weiß davon gar nichts … Der Hermans? Das hätte ich nie gedacht.»

Sie war zwar immer noch verblüfft, aber man merkte ihr an, dass sie die Geschichte allmählich spannend fand.

«Denken Sie mal nach. Gehen Sie im Geist Ihre Mitschülerinnen durch. Fällt Ihnen ein, wer es sein könnte?»

Sie schüttelte langsam den Kopf. «Nein, ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Na ja, so ein bisschen verknallt ist man ja schon mal, aber da wird doch keine sexuelle Beziehung draus.»

«Wer ist denn in Hermans verknallt?»

«Oh, ich weiß nicht, im Moment eigentlich niemand. Als das mit der Theater-AG losging voriges Jahr, da war das ein bisschen so, aber jetzt nicht mehr. Jedenfalls reden wir nicht mehr darüber.»

«Wer war verknallt in ihn?», beharrte van Appeldorn.

«Och, eigentlich alle, die bei dem Stück mitspielen, die Mädchen, meine ich, Sandra, Katja und Amelie.»

«Und Sie.» Es war eine Feststellung.

Sie wurde über und über rot.

«Mensch, Sabine.» Er lächelte. «So etwas ist doch völlig normal. Geht uns doch allen manchmal so.»

«Ja, ich auch ein bisschen», stotterte sie, «aber eigentlich nur, weil er so tolle Sachen weiß und so ganz anders ist in der AG als im Unterricht, wie ein Freund oder so. Aber aus meiner Klasse? Nein, ich glaube nicht, dass es ein Mädchen aus meiner Klasse ist. Die haben ja auch fast alle einen festen Freund.»

«Was natürlich gar nichts heißt», dachte van Appeldorn, aber das behielt er lieber für sich.

«Wer hat denn keinen festen Freund?»

«Na, ich. Und Nicole, die hat, glaub ich, gerade Schluss gemacht. Das heißt aber nichts. Die machen alle drei Wochen Schluss, Kalle und Nicole, und nach zwei Tagen sind sie dann doch wieder zusammen.»

«Aber Sie haben keinen Freund im Augenblick?»

«Nicht im Augenblick, überhaupt nicht. Ich darf das noch nicht von zu Hause aus. Da gäb’s richtig Ärger.»

«Und das macht Ihnen nichts aus?» Van Appeldorn war ehrlich erstaunt. Er hatte nicht gedacht, dass es heute noch so etwas gab. Obwohl, bei Landmann konnte er sich das vorstellen.

«Nö, nicht so viel. So ein richtig süßer Typ ist mir bis jetzt auch noch nicht über den Weg gelaufen. Aber wenn, dann würde ich schon versuchen, das zu Hause durchzusetzen, glaube ich.»

Van Appeldorn nickte. Jetzt, wo ihr Vater nicht mehr war, würde sie damit wohl weniger Probleme haben.

«Haben Sie Kontakt zu Mädchen aus anderen Klassen?»

«Wenig, man sieht sich eben in den Kursen. Aber ehrlich, Herr van Appeldorn, ich kenne keine, von der ich mir vorstellen könnte, dass sie etwas mit Dr. Hermans hat. Ich würd’s echt sagen, wenn ich was wüsste. Aber ich kann ja mal rumhören.»

«Nein, darum wollte ich Sie bitten. Es wäre besser, wenn Sie noch mit keinem darüber sprechen würden.»

«Mit gar keinem?» Sie klang enttäuscht.

«Mit gar keinem», antwortete er nachdrücklich, «jedenfalls im Moment noch nicht.»

«Okay», sagte sie ernst, «ich versprech’s, wenn Ihnen das so wichtig ist.»

«Danke, das ist nett.» Van Appeldorn lächelte. «Das wäre dann alles. Wenn Sie per Zufall etwas erfahren oder Ihnen doch noch etwas einfällt, dann rufen Sie mich an, ja? Wissen Sie, oft ist es nur eine Kleinigkeit, die man vergessen hat, weil sie nicht so wichtig schien, die uns aber weiterhelfen kann.»

«Ja», nickte sie, «ja, das stimmt wohl. Ich werde noch einmal in Ruhe nachdenken. Und wenn mir was einfällt, rufe ich Sie ganz bestimmt an.»


Es war nach neun, als alle endlich wieder im Büro waren und das Band abhören konnten.

«Ich verstehe jetzt übrigens, was du gemeint hast, Helmut», bemerkte van Appeldorn, als er das Gerät einschaltete.

Toppe registrierte, dass Astrid Steendijk, während sie zuhörte, ein paarmal verblüfft den Mund aufsperrte, und als das Band abgelaufen war, betrachtete sie van Appeldorn mit unverhohlenem Interesse.

Toppe hatte zum ersten Mal eine leise Ahnung, was Marion an van Appeldorn mochte.