Neunzehn
Toppe kam nicht zur Ruhe. Lustlos aß er etwas in der Kantine, saß dann im Büro, tat dieses und jenes, telefonierte mit dem Chef und mit Dr. Stein, aber alles ohne innere Beteiligung – er wartete.
Breitenegger blieb still in seiner Sorge um Franz-Josef. Er holte das getippte Tonbandprotokoll bei der Sekretärin ab, sortierte, machte andere Protokolle fertig für die Unterschrift. Er wartete ebenfalls – auf den Anruf seiner Frau.
Um 15 Uhr 10 klingelte das Telefon. Toppe sprang auf, aber Breitenegger war schneller.
«Breitenegger? … Für dich.» Er schob Toppe den Apparat herüber.
«Astrid Steendijk hier. Herr Toppe? Es stimmt!» Sie klang aufgeregt wie ein Kind. «Es ist eindeutig Hermans’ Handschrift auf dem Zettel. Wir machen uns jetzt auf den Weg zurück», sagte sie noch, aber Toppe hatte schon auf die Gabel gedrückt und wählte.
Er ließ es zehnmal klingeln. Keiner nahm ab.
«Was ist denn nun? Ist es Hermans’ Handschrift?», fragte Breitenegger.
«Ja, der Zettel ist von Hermans. Aber bei dem meldet sich keiner. Verdammt.»
«Versuch’s halt weiter.»
Toppe wählte wieder und wieder alle zehn Minuten, aber er hatte kein Glück.
Irgendwann kam leise Frau Breitenegger, den Dackel mit dem dick verbundenen Bein auf dem Arm. Breiteneggers Miene hellte sich auf. Für ihn war die Welt wieder in Ordnung.
Dann waren sie wieder allein mit dem Telefon.
Gabi Toppe rief an. Toppe musste sich zusammenreißen, um zu verstehen, worum es eigentlich ging. Sofia hatte sie für heute Abend zum Essen eingeladen – Lammkeule im Kräuterbett.
Nein, er könne nicht kommen, sie solle allein fahren oder die Keule auf morgen verschieben. Morgen könne er vielleicht. Gabi gab ein resigniertes Stöhnen von sich. Natürlich hatte sie recht. Wie lange hatten sie nicht miteinander geredet?
«Ich lieb dich», sagte er und legte auf.
Um kurz vor fünf kamen Ackermann und van Appeldorn.
Sie hatten die letzten Adimed-Schuhe überprüft. Berns würde noch einmal richtig arbeiten müssen, und das immer noch ohne van Gemmern.
Bei Hermans meldete sich noch immer keiner.
Breitenegger berichtete von den neuen Entwicklungen.
Toppe sagte nichts. Er wählte weiter stur alle zehn Minuten Hermans’ Nummer.
Um zwanzig nach fünf kamen Astrid Steendijk und van Gemmern zurück.
«Na, ihr habt euch aber Zeit gelassen», frotzelte Breitenegger.
«Versuchen Sie mal um diese Uhrzeit, noch dazu an einem Freitag, aus Düsseldorf herauszukommen», antwortete van Gemmern schlicht und verschwand in seinem Labor.
Um 17 Uhr 50 nahm Frau Hermans ab. «Da haben Sie aber Glück. Wir sind erst vor einer Minute nach Hause gekommen.»
Glück, dachte Toppe.
«Hermans?»
«Ja, Toppe hier. Herr Hermans, es haben sich neue Aspekte ergeben. Ich muss Sie bitten, noch einmal zu uns zu kommen.»
«Wirklich? Wann?»
«Jetzt gleich, bitte.»
«Herr Toppe, ich habe morgen Geburtstag, und wir erwarten eine Reihe von Gästen. Es ist eine Menge vorzubereiten. Ich habe den ganzen Nachmittag eingekauft. Ich kann die Vorbereitungen unmöglich alle meiner Frau überlassen. Geht es nicht am Montag?»
«Nein, es tut mir leid, aber es muss sofort sein.»
Hermans sagte ein paar Sekunden lang gar nichts.
«Ist das eine Vorladung?»
«Ja.»
«Ich komme.»
Sie legten gleichzeitig auf.
Toppes Magen knurrte laut.
Hermans kam schnell. Er wirkte verschwitzt und erschöpft.
«Sie klangen so eilig, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, mich noch frisch zu machen», erklärte er. «Es ist eine Tortur, freitags einzukaufen.» Er schloss kurz die Augen und sammelte sich. «Gehen wir wieder ins Vernehmungszimmer?»
Toppe nickte. Er nahm nur den Zettel mit.
«Ja, Sie können das Gespräch mitschneiden», sagte Hermans, bevor Toppe fragen konnte. «Worum geht es denn diesmal? Was ist denn so dringend?»
Toppe legte ihm den Zettel hin – «Lavendel gegen Ameisen».
«Ist das Ihre Handschrift?»
Hermans riss die Augen auf. «Eindeutig. Wo haben Sie den denn her?»
«Der lag am Tatort. Gleich neben der Leiche.»
Hermans starrte ihn fassungslos an.
Genau darauf hatte Toppe gehofft. Er schwieg.
«Was?» Hermans’ Stimme kiekste, dann hatte er sie wieder unter Kontrolle. «Soll das heißen …? Das kann doch nicht wahr sein! Sie glauben, ich hätte was mit dem Mord zu tun?»
Toppe zuckte die Achseln. «Das frage ich Sie.»
«Das ist doch nicht Ihr Ernst. Warum, um Himmels willen, sollte ich Arno Landmann umbringen?»
Jetzt hat er sich wieder in der Hand, dachte Toppe.
«Das möchte ich von Ihnen wissen.»
Hermans schüttelte lange den Kopf, versuchte zu verstehen.
«Der Zettel lag am Tatort, sagen Sie. Bei Welbers? Ja, das kann schon sein.»
«Kann es?»
«Natürlich, ich bin seit Jahren Kunde bei Welbers. Und diesen Zettel muss ich dort vor kurzem verloren haben. Warten Sie einen Augenblick, das muss, ja, das kann sogar am Mordtag gewesen sein. Jedenfalls irgendwann in der Zeit. Eine Kollegin hatte mir erzählt, dass man Lavendel pflanzen soll, wenn man im Garten Ärger mit Ameisen hat. Und wir haben eine Menge Ameisen in letzter Zeit. Ich habe mir das damals notiert.»
Er zog den Zettel zu sich heran. «Hier, das ist Papier aus der Schule. Ein paar Tage später bin ich dann zu Welbers gefahren und habe Lavendel gekauft. Das können Sie doch überprüfen. Frau Welbers wird sich sicher daran erinnern.»
«Wirkt das denn?»
«Was? Ich verstehe nicht …»
«Hilft denn Lavendel gegen Ameisen?»
Hermans lachte. «O ja, das hilft tatsächlich. Ich habe es zunächst nicht geglaubt, aber doch, da scheint was dran zu sein.»
Toppe lehnte sich zurück.
«Wann, sagten Sie, haben Sie den Lavendel gekauft?»
Auch Hermans entspannte sich. «Da muss ich jetzt mal ganz in Ruhe überlegen. Das war an dem Tag, als ich den Zahnarzttermin hatte … Das muss ein Mittwoch gewesen sein, denn der Arzt schimpfte noch, dass sein freier Nachmittag im Eimer war, weil sich die Termine so verschoben hatten. Ja, Mittwoch, dann war das wohl am 17. August, oder?»
Toppe reagierte nicht.
«Ist sonst noch etwas?» Hermans richtete sich wieder auf.
«Wo waren Sie am 18. August zwischen 19 und 20 Uhr?»
«Meine Güte, das weiß ich nicht mehr», antwortete Hermans müde. «Ich denke, ich war zu Hause und habe gearbeitet.»
«Kann das jemand bezeugen?»
«Nein, ich sagte doch schon, meine Familie war im Urlaub.»
«Haben Sie vielleicht mit einem Nachbarn gesprochen, mit jemandem telefoniert, hatten Sie Besuch?»
Hermans wurde ungeduldig. «Das kann alles durchaus sein, aber, wie gesagt, ich weiß es nicht mehr. Meine Abende waren ziemlich gleichförmig in den Ferienwochen. Ich hatte viel zu tun.»
Toppe wartete.
«Gibt es sonst noch etwas, Herr Toppe? Wie ich schon sagte, ich habe heute noch eine Menge zu erledigen.»
Toppe schüttelte den Kopf und sah Hermans interessiert an. «Nein, sonst ist nichts im Moment. Sie können gehen.»
Er fand seinen Ton selbst unpassend, aber es war ihm egal.
Hermans verabschiedete sich knapp, arrogant und fast beleidigt.
«Er ist Kunde bei Welbers», sagte Toppe resigniert und stellte das Tonbandgerät auf den Tisch.
«Wirklich?», fragte van Appeldorn. «Lass mal hören.»
Sie lauschten dem kurzen Gespräch.
«Du hast ihn ganz schön aufgescheucht», bemerkte van Appeldorn zufrieden. «Heute redet der wie ein Buch.»
«Das ist ja wohl kein Wunder, wenn man plötzlich feststellt, dass man unter Mordverdacht steht, oder? Selbst wenn man mit dem Mord gar nichts zu tun hat», warf Astrid ein.
«Eben», bestätigte Toppe. «Vermutlich brauchen wir bei Welbers gar nicht nachzufragen, es wird schon stimmen, was er sagt.» Er klang immer noch niedergeschlagen. «Trotzdem – Herr Ackermann?»
«Klar, Chef, bin schon unterwegs.»
«Ackermann», rief van Appeldorn ihm hinterher. «Mach es diesmal ganz ausführlich, alle Details.»
«Klar doch», erwiderte Ackermann unwirsch.
«Ich kann mir nicht helfen», brach Breitenegger das allgemeine Schweigen. «Wo man hintritt, immer trifft man auf Hermans.»
«Stimmt», bestätigte Toppe. «Lasst uns die Sache doch mal durchspielen, rein hypothetisch. Im Juli treffen sich Landmann und Hermans, warum auch immer.»
«Landmann hat sich mit Hermans verabredet», warf Breitenegger ein.
«Richtig. Am 18. August hat Landmann einen zweiten Termin mit Hermans. Sie treffen sich bei Welbers, abends nach halb acht. Hermans ist Kunde bei Welbers und war noch am Tag vorher dort. Vielleicht hat er also sogar den Treffpunkt vorgeschlagen.»
«An diesem Abend schüttet es wie aus Eimern», merkte van Appeldorn an.
«Richtig. Der Regen wird so heftig, dass sich die beiden Männer in Welbers’ Schuppen unterstellen. Vielleicht haben sie sich auch gleich dort getroffen. Allerdings hätten sie dann die ganze Zeit hinter der Tür gestanden, denn nur dort gab es Schuhspuren. Na ja, wer weiß, möglicherweise hat das Treffen nur kurz gedauert.»
«Dann nimmt Hermans plötzlich die Brechstange, die praktischerweise gleich neben der Tür steht, und zieht Landmann eins über den Schädel», fuhr van Appeldorn fort.
«Und Landmann», übernahm Toppe wieder, «hat überhaupt nicht damit gerechnet. Er fällt um und ist auf der Stelle tot. Und jetzt handelt Hermans ganz kühl. Ihm ist klar, dass es verdammt schwer ist, eine Leiche verschwinden zu lassen. Aber zumindest kann er Verwirrung stiften. Er versucht ein Rachemotiv zu konstruieren. Er nimmt einen der griffbereiten Säcke, zieht ihn Landmann über den Kopf und schlägt noch mehrmals zu. Vielleicht verliert er dabei seinen Notizzettel - Lavendel gegen Ameisen. Er nimmt die Brechstange mit und fährt weg. Irgendwann noch an dem Abend fällt ihm das Blut an seinen Schuhen auf, und er lässt sie verschwinden. Am nächsten Tag fährt er los und kauft sich neue. Aber er ist geizig und wählt die billigere Sorte. Ziemlich dumm übrigens, denn wenn er Adimed-2-Schuhe gehabt hätte, wären wir nie zu Jaspers gefahren und hätten herausgefunden, dass er sich dort neue Schuhe gekauft hat.»
«Hört sich alles ganz gut an», sagte Astrid. «Nur, wo ist das Motiv?»
«Das lassen wir im Moment einfach mal außen vor», antwortete van Appeldorn.
«Na, Rache ist es jedenfalls nicht», warf Breitenegger ein.
«Astrid», sagte Toppe auf einmal laut. «Wie war das noch mit dem Lehrer?»
«Was?» Sie verstand nicht.
«Ja, genau!» Van Appeldorn schlug sich gegen die Stirn. «Mensch, sind wir blöd!»
Astrid Steendijk sah von einem zum anderen. Man konnte fast hören, wie es in ihr arbeitete.
«Genau», murmelte sie, «die Moral oder besser Unmoral der Lehrer, davon hat Landmann gesprochen, und dann das mit den Abhängigen …»
«Könnte es sein, dass Hermans ein Techtelmechtel mit Landmanns Tochter hat?», fragte van Appeldorn.
Toppe sah ihn an. «Nein, nicht mit Sabine Landmann.»
«Wieso nicht?» Van Appeldorn grinste. «Stille Wasser sind bekanntlich tief.»
«Sie ist kein stilles Wasser», gab Toppe barsch zurück. «Sie ist einfach nicht so.»
«Was heißt das, sie ist einfach nicht so?»
«Sie ist ein Mädchen, ein Kumpeltyp, ein unbeschriebenes Blatt. So was merkt man doch.»
«Bist du dir sicher?», fragte van Appeldorn zweifelnd.
«Ja», antwortete Toppe bestimmt.
«Astrid, sagen Sie doch mal was», forderte van Appeldorn sie auf.
«Was soll ich sagen?», gab sie patzig zurück.
«Wie ist das denn so heute an der Schule? Läuft da schon mal was zwischen Lehrern und Schülerinnen?»
«Na ja, vorstellen kann ich mir das schon», überlegte sie. «Kribbelige Situationen gibt es genügend. Wir haben es, als wir so fünfzehn, sechzehn waren, zeitweise darauf angelegt, die jüngeren Lehrer aus dem Konzept zu bringen mit kurzen Röcken, engen T-Shirts und so.»
Sie unterbrach sich und warf van Appeldorn einen giftigen Blick zu, weil der ein anerkennendes Grunzen von sich gegeben hatte.
«Macho!», zischte sie und wandte sich an Toppe. «Das war alles mehr so Spielerei und Spaß. Aber wenn da einer drauf abfährt … ja, vorstellen kann ich mir das.»
«Aber der Hermans …» Toppe schüttelte zweifelnd den Kopf. «Das passt so gar nicht zu dem.»
«Möglich ist alles», gab Breitenegger zu bedenken. «Wie alt ist der Mann? Fünfundvierzig? Das ist doch gerade das rechte Alter für solche Eskapaden. Außerdem, hat jemand eine andere Idee?»
Keiner antwortete ihm.
«Gut.» Toppe stand auf. «Was sind unsere nächsten Schritte?»
«Die anderen Leute befragen, die mit Landmann bei diesem Tennisfest gesprochen haben», schlug Breitenegger vor.
«Ich würde erst einmal versuchen, ganz allgemein etwas über Hermans herauszufinden. Was macht der so privat? Wie ist er? Gibt es Hinweise auf Geschichten mit Schülerinnen?», sagte Astrid.
«Okay», nickte Toppe.
«Ich würde als Erstes mit Sabine Landmann reden», kam es von van Appeldorn. «Deine Meinung in allen Ehren, Helmut.»
«Ja, du hast sicher recht.»
Van Appeldorn verstand. «Wenn du willst, übernehme ich das. Und noch etwas sollten wir tun: Wir sollten bei Hermans eine Hausdurchsuchung nach den Schuhen und der Brechstange vornehmen.»
Toppe seufzte. «Na gut, aber lasst uns das in Ruhe mit dem Staatsanwalt besprechen. Ganz wohl ist mir nicht bei der Geschichte. Wir haben nicht einen konkreten Beweis. Und mir ist es schon immer gegen den Strich gegangen, jemandem nur aufgrund von Indizien die Hölle heißzumachen. Aber es gibt sicher Beweise, wir müssen sie nur finden. Meint ihr, es bringt etwas, wenn wir nach Zeugen suchen, die Hermans am 18. August in der Nähe des Tatorts gesehen haben?»
Breitenegger und van Appeldorn stöhnten laut.
«Du hast eine unangenehme Vorliebe für Massenbefragungen entwickelt, Helmut.» Breitenegger lachte. «Wie wäre es zunächst mal mit Hermans’ Nachbarn? Die könnte man fragen, ob sie sich an etwas erinnern.»
«Ach, ich weiß nicht», wehrte Toppe ab.
«Ich glaube, du hast recht, Helmut», bestätigte van Appeldorn. «Wir sollten das alles mit Stein abklären. Wenn Hermans nicht unser Täter ist und wir so laut auf die Pauke hauen, dann hängt der uns mit Sicherheit was an. Man muss bedenken, der Mann ist Lehrer.»
«Gott segne unser aller Vorurteile», murmelte Astrid.