Siebzehn
«Was natürlich überhaupt nichts heißen muss», sagte Toppe, bemüht, seine Aufregung zu kontrollieren.
Er hatte Breitenegger und Astrid gerade erzählt, dass Hermans seine Adimed-Schuhe nicht mehr hatte.
«Aber merkwürdig ist das schon», überlegte Breitenegger. «Auf jeden Fall müssen wir herausfinden, warum Landmann ihn für den Mordtag in seinem Kalender eingetragen hatte.»
«Und zwar sofort.» Toppe griff zum Telefonbuch. «Ich werde ihn vorladen. Inzwischen müsste er ja wohl zu Hause sein.»
Das Telefon klingelte nur zweimal, dann war Hermans gleich selbst am Apparat.
«Ja, Herr Dr. Hermans? Hier ist noch mal Toppe, Kripo Kleve. Ja … Wir hätten da noch ein paar Fragen an Sie. Würden Sie wohl heute Nachmittag bei uns reinschauen? … Nein, heute wäre uns schon lieber. Ja … Ja, gut, um 17 Uhr … Vielen Dank. Auf Wiedersehen.»
Er legte auf. «Begeistert war der nicht gerade, aber er kommt.»
Breitenegger brummelte irgendetwas.
Toppe schrieb das Protokoll seines Gesprächs mit Hermans vom Vormittag, er konnte es sich dann gleich unterschreiben lassen, wenn Hermans schon mal da war.
Danach wanderte er unruhig im Büro hin und her, von der Fensterbank zum Schreibtisch, vom Schreibtisch zur Fensterbank. Ab und zu rupfte er an seinem Bart.
Nach einer Weile reichte es Breitenegger. «Hör auf damit, Helmut. Dadurch vergeht die Zeit auch nicht schneller. Und lass endlich deinen Bart in Ruhe, der sieht schon schrecklich genug aus.»
«Was?» Toppe schaute durch ihn hindurch. «Ach so, ja.»
Astrid Steendijk hatte in den Akten gelesen. Ab und zu stellte sie leise eine Frage, die Breitenegger bereitwillig beantwortete.
Jetzt sah sie sich die Fotos vom Tatort und von der Leiche an und schauderte.
«Tja, Mädchen», sagte Breitenegger väterlich, «sieht nicht schön aus, was? Hast du dir das auch gut überlegt mit diesem Beruf, hm? Was bringt eigentlich so jemanden wie dich zur Polizei?»
«Ich habe Hunger», fiel ihm Toppe ins Wort. «Bis gleich.» Damit war er schon zur Tür hinaus.
Astrid Steendijk blickte Breitenegger fragend an.
Der grinste. «Essen kann der immer.»
«Warum ist der denn nur so aufgedreht?»
«Ach, lass ihn mal, der nimmt Anlauf. Die Vernehmung gleich, die ist wichtig. Die muss richtig laufen, sonst kann man sich eine Menge verbauen.»
Gegen vier schaute van Appeldorn kurz herein. Er hatte dem Erkennungsdienst mehrere Paare Adimed-Schuhe gebracht und war auf dem Weg zu den letzten vier Leuten auf seiner Liste. Die Neuigkeiten nahm er gelassen hin, rang sich aber noch ein «Viel Erfolg, Helmut!» ab, ehe er wieder verschwand.
Toppe saß inzwischen an seinem Schreibtisch, mehrere große Blätter vor sich, schrieb und zeichnete Linien, malte Frage- und Ausrufungszeichen. Um Viertel vor fünf knüllte er alle Blätter zusammen und warf sie in den Papierkorb. Astrid verstand überhaupt nichts mehr.
Toppe musste lachen. «Ich führe Vernehmungen lieber ohne Spickzettel», erklärte er. «Dann sieht das alles mehr nach einem Gespräch aus.»
Hermans kam pünktlich, und Toppe ging ihm entgegen. «Herr Hermans, schön, dass Sie es einrichten konnten.»
Er führte ihn wieder auf den Flur hinaus. «Wir gehen in ein anderes Zimmer. Hier im Büro ist es zu unruhig. … So, hier wären wir.»
Er öffnete die Tür zum Vernehmungsraum, Zimmer 112 stand an der Tür.
Es war ein kleiner Raum, ausgestattet mit einem quadratischen Tisch und zwei Stühlen. Auf der Fensterbank fristete ein Usambaraveilchen sein trockenes Dasein. Auf dem Tisch standen ein Tonbandgerät und eine Schreibmaschine.
«Setzen Sie sich doch, Herr Hermans. Na, wie sind die Kulissen geworden?»
Hermans setzte sich ruhig hin, lehnte sich zurück und sah sich im Zimmer um. «Ganz gut eigentlich, bis auf ein paar Details. Aber wir haben ja zum Glück noch etwas Zeit.»
«Sind Sie einverstanden, wenn ich unser Gespräch auf Band aufnehme? Wissen Sie, sonst müsste ich die ganze Zeit mitschreiben, und das dauert dann viel länger.»
Hermans hob die Schultern. «Wenn Sie glauben, dass ich Ihnen irgendetwas Wichtiges sagen kann, bitte, von mir aus. Worum geht es denn eigentlich? Noch einmal um meine Adimed-Schuhe? Ich bin wirklich sicher, dass ich Ihnen da schon alles gesagt habe.»
«Auch um die Schuhe. Aber einen Moment, bitte», antwortete Toppe. Er schaltete das Tonbandgerät ein und sprach ins Mikrophon: «Donnerstag, 1. September 1988, 17 Uhr 06. Gespräch zwischen Hauptkommissar Toppe und Herrn Dr. Peter Hermans, geboren am 4. 9. 43, wohnhaft Kämpstraße 37 in Kleve-Donsbrüggen.» – «Stimmt das so, Herr Hermans?»
«Ja, ja», antwortete Hermans, «aber meine Güte, so förmlich?»
«Wir versuchen, uns ein Bild von Herrn Landmann zu machen. Sie haben ihn doch gekannt, nicht wahr? Würden Sie mir erzählen, woher Sie ihn kannten und inwiefern Sie mit ihm zu tun hatten?»
«Ach, darum geht es.» Hermans atmete aus. «Wo fange ich da an?» Er überlegte kurz und sagte dann: «Also kennen tu ich Arno Landmann schon sehr lange. Wenn man da von Kennen sprechen darf. Wir haben beide zur gleichen Zeit in Bonn studiert, und wir waren beide in derselben Verbindung, dadurch hatte ich mit ihm zu tun. Allerdings bin ich 1969 aus der Verbindung ausgetreten.»
Er machte eine Pause, schien wieder zu überlegen.
«Sie haben mir heute Morgen nichts davon gesagt, dass Sie Herrn Landmann schon so lange kannten», erinnerte Toppe ihn.
«Warum denn auch? Das ist so lange her. Ich konnte doch nicht wissen, dass das für Sie von Interesse ist.»
«Warum sind Sie aus der Verbindung ausgetreten?», fragte Toppe.
Hermans schlug die Beine übereinander. «Ach», antwortete er, «eigentlich schäme ich mich noch heute, dass ich überhaupt da eingetreten bin. Na, jedenfalls ist mir Ende der Sechziger aufgegangen, was das für eine reaktionäre Geschichte war.»
Er sah Toppe offen ins Gesicht. Toppe lächelte. «Klar, kann ich mir gut vorstellen.»
Es entstand eine Pause, aber Toppe wartete, bis Hermans seinen Faden wieder aufnahm. «Den Verbindungsbrüdern konnte ich mit meinen politischen Ideen nicht kommen, und da bin ich dann ganz schnell ausgestiegen. Tja, und dann … Arno habe ich erst wiedergetroffen, als ich Sabines Klassenlehrer wurde. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er wieder am Niederrhein war.»
Er sagte nichts mehr, sah Toppe fragend an.
«Seit wann sind Sie Sabines Klassenlehrer?»
«Oh, schon drei Jahre», antwortete Hermans, ohne nachzudenken.
«Und als Sie sich beide wiedertrafen, haben Sie wieder privaten Kontakt aufgenommen?»
«Nein, überhaupt nicht. Wissen Sie, wir hatten niemals gemeinsame Interessen. Das Einzige, was wir damals in der Verbindung gemeinsam hatten, mal abgesehen vom Saufen, war, dass wir beide vom Niederrhein kamen. Und zeitweise haben wir damit auch regelrecht kokettiert, Schwanenburgkomplex und all das.»
Toppe verstand das nicht ganz, aber er wollte nicht nachhaken, er würde später van Appeldorn fragen.
Hermans betrachtete seine Hände. «Ein paarmal hat Arno mich wohl angerufen, aber das war’s dann auch. Meistens ging es um Sabine.»
«Meistens?»
«Ja, manchmal hat er auch kurz von den alten Zeiten geredet und gefragt, ob ich nicht doch mal mitfahre zum Verbindungstreffen, aber das war mehr so nebenbei.»
«Wie oft haben Sie denn miteinander telefoniert?»
Hermans runzelte die Stirn. «Ist das wichtig?»
Toppe antwortete nicht.
«Also, so genau weiß ich das nicht. Unregelmäßig. Mal ging es um Sabines Deutschnote, mal um die Theater-AG, vielleicht zweimal um die Verbindung und die alten Zeiten. Aber ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, dass er an einem wirklichen Kontakt interessiert war. Ich war es jedenfalls nicht …»
Er zögerte. «Warten Sie mal», sagte er dann, «der letzte Anruf ist noch gar nicht so lange her … muss schon im August gewesen sein. Da fragte er, wie die Theater-AG so läuft und wie Sabine sich so macht. Das ist eigentlich nichts Besonderes, wissen Sie. Es ist oft so, dass Eltern versuchen, private Kontakte für ihre Kinder auszunutzen. Ich habe das gar nicht gern und bin da immer vorsichtig.»
«Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass das so ist. Aber noch einmal zu der Verbindung. Landmann hatte also immer noch Kontakt zu den alten Brüdern.»
«Ja, sie treffen sich immer noch regelmäßig einmal im Jahr. Aber wie dicke die noch miteinander sind, weiß ich nicht. Vielleicht sollten Sie einen von den anderen mal fragen …»
«Gute Idee», meinte Toppe und grinste plötzlich. «Sagen Sie mal», fragte er leiser, «ist es nicht so, dass jeder Verbindungsbruder einen Spitznamen hatte?»
«Stimmt, und die meisten davon waren ziemlich pubertär», gab Hermans zu.
«Wie wurde Landmann denn genannt?», fragte Toppe neugierig.
«Arno? Das weiß ich gar nicht mehr. War wohl belanglos.»
«Und Sie?»
«Ich? Herman, der Cherusker. Ziemlich phantasielos, nicht wahr? Später, als sie befanden, ich sei ein Roter, haben sie mich dann in Che umgetauft.»
«Wie hat Landmann Sie denn angesprochen?»
«Wann? Jetzt hier in Kleve?»
Toppe nickte.
«In der Öffentlichkeit hat er mich immer Peter genannt, aber wenn wir allein waren, am Telefon zum Beispiel, da hat er dann noch immer Che gesagt. Aber warum wollen Sie das wissen?»
«Weil wir in Landmanns Taschenkalender unter dem Datum seines Todestages die Eintragung ‹Che› gefunden haben.»
Hermans stutzte einen Moment und kniff die Augen zusammen.
«Dann war der Anruf wohl an dem Tag», überlegte er dann.
«Che mit einem Fragezeichen», ergänzte Toppe.
Hermans zuckte die Achseln. «Verstehe ich nicht.»
«Haben Sie Landmann an dem Tag getroffen? Am Donnerstag, den 18. August.»
«Nein, mit Sicherheit nicht.»
«Hat er Sie an diesem Tag angerufen?»
«Das kann schon sein, ich weiß es nicht. Ich schreibe mir gewöhnlich nicht auf, wann mich welche Eltern anrufen.»
Er wirkte ungehalten, meinte dann aber: «Es war in den Ferien, das weiß ich wohl, und es muss so gegen Mittag gewesen sein, denn ich stand gerade in der Küche und machte mir Essen. Meine Frau war nämlich mit den Kindern in der Toskana.»
«Es waren Ferien, und Landmann wollte mit Ihnen über die Schule und Sabine reden?»
«Ja.»
«Kann es sein, dass Landmann Sie auch am 14. Juli angerufen hat?»
«Gibt es da auch eine Eintragung in seinem Kalender?»
Scheiße, dachte Toppe, Anfängerfehler. Er nickte.
«Im Juli …» Hermans dachte nach. «Nein, ich glaube, nicht, aber …» Es blitzte plötzlich in seinen dunklen Augen. «Warten Sie mal, irgendwann am Anfang der Ferien habe ich ihn in der Stadt getroffen, und wir haben zusammen einen Kaffee getrunken. Aber so etwas würde man ja wohl kaum im Kalender eintragen, oder?»
Toppe ging nicht darauf ein. «Wo haben Sie Kaffee getrunken?»
«Im Café Coenders.»
«Worüber haben Sie gesprochen?»
«Ach, nichts Großartiges. Was er so macht, was ich so mache. Nichts von Belang. Hat auch höchstens eine halbe Stunde gedauert. Er hatte noch eine Sitzung an dem Tag, und ich musste in der Stadtbücherei dringend ein paar Bücher abholen, die ich mir über die Fernleihe bestellt hatte.»
«Gut, überlegen Sie noch einmal genau. Fällt Ihnen noch irgendetwas ein, das uns weiterhelfen könnte? Hat Herr Landmann vielleicht Andeutungen gemacht, dass er in Schwierigkeiten steckte, wirkte er auffallend nervös oder einfach anders als sonst? Insbesondere interessiert uns natürlich das Telefongespräch am Todestag.»
Hermans überlegte nur kurz. «Nein, ich kann Ihnen sicher nicht weiterhelfen. Unsere Beziehung, falls man es überhaupt so nennen kann, war, wie gesagt, äußerst oberflächlich.»
«Versuchen Sie bitte trotzdem mal, sich an das Telefonat zu erinnern. Wie war denn der genaue Wortlaut?»
«Du meine Güte!» Hermans rieb sich die Augen. «Na gut, ich will es versuchen. Also, ich stand in der Küche und rührte in meinen Bratkartoffeln, als das Telefon klingelte. Ich nahm ab, und Landmann sagte: ‹Hallo Che, hier ist Arno. Wie geht’s?› – ‹Gut›, antwortete ich, ‹was gibt’s denn?› – ‹Nichts Besonderes eigentlich. Ich wollte nur mal hören, wie Sabine sich so macht in deiner Theatergruppe.› Und ich antwortete irgendwas wie ‹Gar nicht so schlecht›. Dann fragte er noch, ob sich eine gute Mitarbeit in der Theater-AG nicht auch in der Deutschnote niederschlagen würde. Das musste ich verneinen. Wissen Sie, Sabine hat kleinere Schwierigkeiten in Deutsch. Und dann haben wir das Gespräch auch schon beendet. Ich war die ganze Zeit recht kurz ab, muss ich zugeben, ich hatte meine Kartoffeln auf dem Herd und außerdem noch eine Menge Arbeit. Das war alles. Wir haben uns dann nur noch verabschiedet.»
«Verreisen Sie in den Sommerferien nicht?»
«Doch, aber in diesem Jahr hat meine Familie allein Urlaub gemacht. Ich musste mich auf eine Prüfung vorbereiten.»
«Eine Prüfung?»
«Ja, für den Studiendirektor.»
«Ach so. Aber woher wusste Landmann, dass Sie zu Hause sein würden?»
«Keine Ahnung. Das heißt, es kann sein, dass ich es ihm erzählt habe, als wir uns in der Stadt getroffen haben.»
«Ja, ich verstehe. Gut», sagte Toppe und schaltete das Tonband ab. Er sah auf die Uhr.
«Das wäre alles, Herr Hermans.»
Hermans stand auf. Sie reichten sich die Hand.
«Wenn Ihnen doch noch etwas einfällt …», begann Toppe.
»… melde ich mich selbstverständlich sofort bei Ihnen», beendete Hermans den Satz. «Aber ich bin mir fast sicher, dass mir nichts mehr einfällt. Auf Wiedersehen, Herr Toppe, spätestens bei der Aufführung.»
Dann ging er mit raschen Schritten den Gang entlang auf die Treppe zu.
Toppe kehrte ins Zimmer zurück, schaltete das Tonbandgerät wieder ein und nahm das Mikrophon in die Hand: «Ende der Vernehmung: 17 Uhr 32.» Er überlegte kurz und sagte schließlich: «Dr. Hermans machte einen äußerst konzentrierten Eindruck.»
Dann spulte er das Band zurück, nahm das Gerät unter den Arm und ging ins Büro.
Er hatte vergessen, Hermans das Protokoll vom Vormittag unterschreiben zu lassen.
Alle schienen auf ihn gewartet zu haben. Nur Ackermann war noch nicht da.
Wortlos setzte Toppe sich hin, schaltete das Tonband ein, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Als das Band abgelaufen war, war es Astrid Steendijk, die als Erste sprach. «Was heißt, er machte einen äußerst konzentrierten Eindruck?»
«Das heißt», seufzte Toppe, «dass ich überhaupt nicht einschätzen kann, ob er mir alles gesagt hat, was er weiß, oder ob er sogar das Blaue vom Himmel gelogen hat. Er war konzentriert, wachsam, angespannt, vorsichtig, aber …» Er brach ab. «Ich weiß es wirklich nicht.»