Fünfzehn
Toppe hatte sich in der Kantine zwei Mettbrötchen und eine Cola besorgt.
Jetzt saß er da, blätterte in Landmanns Fotoalbum und rupfte seinen Bart. Merkwürdig, er hatte das Gefühl, dieses Gesicht auf dem Foto von einem Maiausflug schon einmal gesehen zu haben.
«Tach.» Van Appeldorn kam herein.
«Grüß dich», antwortete Toppe. «Was war mit Suerick?»
«Nichts, hat alles seine Ordnung mit seinem Adimed-1-Schuh.»
Auch van Appeldorn war nicht gerade glänzender Laune. «Wir hängen fest.»
«Das sehe ich nicht so», entgegnete Toppe. «Immerhin haben wir die beiden Abdrücke von einem Adimed 2 in Größe 42 und von einer durchgehenden Gummisohle, Größe 44.»
«Und was hilft uns das?», gab van Appeldorn mürrisch zurück. «Komm, lass uns mit den Befragungen der anderen Schuhträger anfangen.» Neugierig beugte er sich über Toppes Tisch. «Was hast du denn da?»
«Nichts», antwortete Toppe und ließ das Textbuch in der Schublade verschwinden. «Ich war heute Morgen kurz bei der Theaterprobe.»
«Ach was?» Van Appeldorn verzog keine Miene. «Meinst du, wir sollen die einbestellen?»
«Wen?», fragte Toppe irritiert.
«Die Schuhträger.»
«Nein, besser, wir beide klappern die der Reihe nach ab. Mit etwas Glück sind wir bis morgen Abend durch.»
«Wie du meinst», fügte sich van Appeldorn. «Schieb mal das Telefon rüber.»
Während van Appeldorn die Termine mit den Leuten absprach, brütete Toppe vor sich hin.
Am liebsten hätte er sich jetzt um Landmanns Freunde von früher gekümmert, aber das musste warten.
Wenn man doch ein paar Leute mehr hätte … Und wo steckte Ackermann?
Er seufzte, erst einmal die Zeugenbefragungen.
Breitenegger kehrte ins Büro zurück und war immer noch schlecht gelaunt, aber untätig war er nicht. Er telefonierte mit Frau Landmann und fand heraus, zu welchem Verbindungsbruder Landmann noch den engsten Kontakt gehabt hatte. Es handelte sich um einen Dr. Joachim Theissen in Stuttgart, genannt «Catull». Auch mit ihm hatte Breitenegger gesprochen. Ein hilfsbereiter Mann, der gern die anderen Verbindungsbrüder identifizierte, wenn man ihm die entsprechenden Fotos zukommen ließe.
Ackermann tauchte auch am Sonntag nicht im Büro auf, sorgte aber dafür, dass man ihn nicht vergaß. Er rief regelmäßig an, um mitzuteilen, dass er am Ball bliebe, wie er sich ausdrückte.
Toppe verschwendete nicht einen einzigen Gedanken an Olivers Kommunion.
Der SV Siegfried Materborn musste beim Schlagerspiel gegen die SG Hasselt zähneknirschend, aber verständnisvoll – schließlich wusste ganz Kleve, worum es ging – auf seinen Stürmerstar verzichten.
Am Sonntagabend saßen sie wieder im Büro. Toppe und van Appeldorn sichtlich müde und frustriert, Breitenegger grimmig.
«Dr. Stein hat dreimal angerufen», las er aus seinen Notizen vor. «Er will morgen an der Besprechung teilnehmen. Der Chef hat sich auch gemeldet, allerdings nur einmal. Dafür aber die NRZ dreimal, die RP viermal, einmal die Niederrhein Nachrichten und zweimal das Klever Wochenblatt. Man wünscht Ergebnisse der Zeitungsaktion und überhaupt. Außerdem hat dein Busenfreund angerufen, Helmut, von deinem Lieblingsblatt, er kommt morgen früh. Wagner heißt der übrigens. Dann waren da noch sieben Anrufe von Adimed-Ackermann. Bis jetzt. Ich soll euch sagen: Er bleibt am Ball.»
Toppe war nicht zum Lachen zumute. Sie hatten zwei lange Tage hinter sich, van Appeldorn und er, und alle Personen von der Schuhliste befragt. Frau Otterbecks «Frankfurter Kranz» und ihr «Bees» heute zum Schluss waren fast zu viel gewesen – es reichte.
Alle Zeugen waren glaubwürdig gewesen. Keiner von ihnen hatte je in seinem Leben mit Landmann zu tun gehabt, ja nicht einmal von dessen Existenz gewusst.
Jetzt ging es ans Protokollieren der Aussagen, und für morgen hatten sie alle einbestellt, damit sie die Protokolle lesen und unterschreiben konnten.
Aber wenigstens Breitenegger konnte für heute Schluss machen.
Toppe gab sich einen Ruck. «Also gut, Pressekonferenz morgen um 15 Uhr, Teambesprechung um acht, mit allen. Stein rufe ich selbst an. Kannst du Ackermann irgendwo erreichen, Günther?»
«Ich rufe seine Frau an.»
Der Montagmorgen bescherte ihnen einen strahlenden Ackermann.
Mit geheimnisvoll blitzenden Augen betrat er das Büro und schaffte es, dass Toppe, van Appeldorn, Breitenegger und van Gemmern ihm gespannt entgegenblickten. Es war erst zehn vor acht. Berns und Stein waren noch nicht da.
«Dies hier ist nun die Liste», sprach Ackermann. Toppe fragte sich, wie lange er wohl an diesem Satz gefeilt haben mochte, und nahm zwei dichtbeschriebene Blätter entgegen.
«Aber», ergriff Ackermann erneut das Wort und legte eine Kunstpause ein, «jetz’ kommt der Knaller: Et gibt zwei Sorten von Adimed!» Er schaute beifallheischend in die Runde.
«Natürlich», warf van Appeldorn müde ein, «Adimed 1 und Adimed 2.»
Ackermann starrte ihn sprachlos an.
«Hast du die wenigstens getrennt aufgelistet?», fragte van Appeldorn mitleidlos.
Ackermann schluckte schwer, Breitenegger grinste, van Gemmern sah aus dem Fenster, und Toppe schaute auf die Liste. «Hat er», antwortete er dann und stieß einen Pfiff aus. «Das sind ja gar nicht so viele, Mensch! Wartet mal, es sind nur zwölf Leute mit Adimed-2-Schuhen. Sehr gut.»
Van Appeldorn richtete sich auf. «Ich nehme an, du hast die niedergelassenen Ärzte auch überprüft, Ackermann.»
«Wat?» Ackermann blickte hektisch von einem zum anderen.
Toppe rupfte sich ein Barthaar aus, betrachtete es eingehend und wartete.
«Die niedergelassenen Ärzte», wiederholte van Appeldorn. «Orthopäden, Chirurgen, sogar Praktiker, wie ich höre, sie alle verschreiben diese Schuhe. Suerick, zum Beispiel, hat sein Rezept von Dr. Maasmann.»
Ackermann ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen, er war blass.
«Das wusste ich auch noch nicht, Norbert», sagte Toppe und betrachtete weiter sein Barthaar. Van Appeldorn warf ihm einen Blick zu und tippte auf einen Bericht, der vor ihm lag. «Ich weiß das auch erst seit zwei Tagen. Ich bin nur bis eben nicht dazu gekommen, meinen Bericht zu schreiben.»
Toppe räusperte sich und ließ sein Barthaar fallen. Langsam trudelte es auf das PVC.
«Es tut mir wirklich leid, Herr Ackermann, aber nach der Besprechung müssen Sie wohl noch einmal los und sich bei den Niedergelassenen erkundigen.»
«Mann, oh Mann», murmelte Ackermann, der als Einziger wusste, was das bedeutete, aber er nickte tapfer.
«Vielleicht kann man ja einige schon telefonisch ausschließen», schlug Breitenegger gutmütig vor.
«Jau, dat is’ ’ne Idee, dat mach ich.» Ackermann sprang auf.
Er hatte seine Fassung wiedergefunden.
«Erst nach der Teambesprechung», ordnete Toppe an. «Und am besten zu zweit. Norbert?»
«Wenn du meinst, sicher. Und was hast du dir vorgenommen?»
«Ich werde herausfinden, wer die Männer in Landmanns Album sind.»
«Übrigens, Chef», Ackermann nestelte an seiner Gesäßtasche und zog ein vierfach gefaltetes, kariertes Blatt hervor, «meine Spesenabrechnung, von wegen gefahrene Kilometer die letzten Tage.»
Toppe nahm den Zettel an sich, faltete ihn auseinander und wollte ihn achtlos in seinen Korb legen, als sein Blick auf die rot unterstrichene Zahl fiel.
«Was?», rief er, «568 km! Das ist doch nicht möglich!»
Ackermann versteckte seine Hände zwischen den Knien und rutschte auf dem Stuhl hin und her. «Aber Norbert hat doch gesagt, ich soll immer ers’ ma’ ’n Termin machen, un’ wenn ich niemand erwisch zum nächsten Krankenhaus …»
Van Appeldorn feixte.
Dr. Stein fand die bisherigen Ergebnisse erstaunlicherweise «durchaus zufriedenstellend».
Einmal mehr glänzte er auf der Pressekonferenz, und Toppe, der einsilbig geblieben war, hatte festgestellt, dass Stein solche Situationen wirklich genoss.
Ackermann und van Appeldorn waren schon unterwegs, und er wollte jetzt endlich sehen, was sich aus dem Fotoalbum ergab.
«Fahr doch mal zur Leitstelle», schlug Breitenegger vor. «Wozu haben wir schließlich diesen Riesencomputer?»
Und so machte Toppe zum ersten Mal in seinem Leben Erfahrung mit dem Computerwesen.
Der stets hilfsbereite van Berkel versuchte ihm zu erklären, dass ein PC das Telefon so gut wie überflüssig machen konnte und welche unendlichen Möglichkeiten er bot. Toppe ließ geduldig alle Erklärungen über sich ergehen und telefonierte dann mit einem Stuttgarter Kollegen, um ihn um Amtshilfe zu bitten. Der sollte mit den Fotos zu diesem Dr. Joachim Theissen gehen und ihn befragen. Der Kollege schien wenig begeistert, aber das konnte Toppe ihm nicht verdenken.
Van Berkel «faxte» diverse Fotos nach Stuttgart. Toppe fand die Vokabel immer noch ziemlich seltsam, wenn auch die Einrichtung an sich durchaus sinnvoll war.
Dann konnte er nur noch abwarten.
Das Ergebnis aus Stuttgart kam schon nach vier Stunden. Es zog weitere Faxereien kreuz und quer durch die Bundesrepublik nach sich und etliche Telefongespräche, bei denen er stets dieselbe Geschichte erzählen musste.
Den ganzen Tag pendelte er zwischen dem Präsidium und der Flutstraße hin und her.
«Hast du auch nach den Spitznamen fragen lassen?», wollte Breitenegger wissen.
«Ja, natürlich», antwortete Toppe unwirsch.
Dies war der Fall der Listen. Wo man auch ansetzte: Kolonnen von Namen. Es war zum Verrücktwerden!
Am Mittwoch gegen neun Uhr abends hatten van Appeldorn und Ackermann endlich die Liste aller Verordnungen von Adimed-2-Schuhen zusammengetragen.
Toppe wartete noch auf einen Rückruf und ein Telefax aus Hannover, aber daraus würde wohl heute nichts mehr werden.
Jede Spur, die sie entdeckten, führte in die Breite. Jeder kleine Anhaltspunkt, jeder Ansatz führte zu neuen Überprüfungen einer Unzahl von Menschen.
An diesem Abend fragten sich alle, ob sie sich nicht hoffnungslos verrannt hatten.