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Vierzehn

Das Telefon weckte Toppe um kurz vor acht. Es war van Appeldorn.

«Wenn es dir recht ist, würde ich gern noch einmal mit Suerick sprechen.»

«Wozu?» Toppe wunderte sich. «Du hast doch gehört, was van Gemmern gesagt hat. Suerick trägt einen Adimed-1-Schuh, und die Spur am Tatort stammt von einem Adimed 2.»

Van Appeldorn schwieg. Es schien ihm nicht leichtzufallen, sich von diesem Verdächtigen zu verabschieden.

«Na gut», sagte Toppe. «Dann finde heraus, wie das war mit Suericks Außenbandriss, und ob der behandelnde Arzt ihm tatsächlich einen Adimed 1 verordnet hat.»

Hinter ihm ertönte lautes Indianergeheul, und Christian, sein Ältester, sprang ihm auf den Rücken. Grußlos legte Toppe den Hörer auf und strubbelte seinem Sohn das Haar. «Na, Großer, wie steht’s?»

«Gut. Ich hab Hunger.»

«Wo ist Mama?»

«Duscht. Warst du gar nicht in deinem Bett?»

Toppe schüttelte den Kopf und schlurfte in die Küche. Christian düste an ihm vorbei, nahm sich eine Schüssel Pudding vom Küchentisch und fing an zu essen.

«Hee, der war bestimmt für mich!» Toppe hantierte mit der Kaffeemaschine.

Christian nickte und grinste. «Hast du den Mörder schon gefangen?», fragte er mit vollem Mund.

«Nein, leider nicht. Ich gehe jetzt auch duschen. Deck doch schon mal den Tisch.»

«Typisch», murrte Christian, «immer ich.»

Sie frühstückten in aller Ruhe, erzählten, lachten, und Toppe hatte das Gefühl, er wäre wochenlang weg gewesen. Auch jetzt gehörte er noch nicht wieder ganz zur Familie. Er kam sich eher vor wie ein besonders willkommener Gast.

Gegen elf kam wieder ein Anruf.

Oliver düste zum Telefon. «Oliver Toppe. Ja, der ist noch da. Papa», brüllte er, «dein Chef!»

Dabei zog er eine affige Grimasse, und Christian lachte laut.

«Pst!» Gabi stieß ihm den Ellbogen in die Seite.

Dr. Bouwmanns ließ sich berichten.

«Nun, das klingt doch recht zufriedenstellend. Ich bin sicher, Sie bringen den Fall auch ohne die Tatwaffe zu Ende.»

Toppe sagte nichts.

«Dann will ich Sie nicht länger von der Arbeit abhalten, Herr Toppe. Wir sehen uns in der nächsten Woche. Bis Mittwoch bin ich allerdings auf einer Tagung in München. Womöglich haben Sie den Fall bis dahin ja schon abgeschlossen.»

«Womöglich», antwortete Toppe.

Er setzte sich nicht wieder an den Frühstückstisch, sondern trank den letzten Schluck Kaffee im Stehen.

«Wann kommst du wieder?», fragte Gabi.

Toppe zuckte die Achseln. «Keine Ahnung. Tschüss, ihr drei.»

Als er schon im Flur war, rief sie hinter ihm her: «Wir müssen über Olivers Kommunion reden.»

Die ganze Zeit hatte er das Gefühl gehabt, dass sie an etwas herumdruckste. Das war es also gewesen.

«Heute Abend», rief er zurück und schlug die Wohnungstür hinter sich zu.

Scheiß Kommunion.

Hochzeit, Taufen, Religionsunterricht, Kommunion – Kirche – ein ewiges Thema bei ihnen. Er hatte sich Gabi zuliebe auf eine kirchliche Trauung eingelassen, war sogar konvertiert, wie es so großartig hieß, dabei war ihm die Kirche, solange er denken konnte, schnurzegal gewesen. Gabi übrigens auch, wenn sie ehrlich war.

Aber ihre Eltern, die Lehrer, die Mitschüler und überhaupt, man könne doch die Kinder nicht so ausschließen. Er hatte sich immer wieder gefügt, einfach weil er einem Grundsatzstreit aus dem Weg gehen wollte. Aber Christians Kommunion war unerträglich gewesen. Verlogene Heuchelei und leere Rituale, eine Aneinanderreihung von Floskeln, alles hatte mit den Kindern, um die es doch eigentlich gehen sollte, so wenig zu tun, dass es ihm unbegreiflich war. Auf der kleinen Feier nach der Zeremonie war ihm dann der Kragen geplatzt, und er hatte seine Meinung laut kundgetan und sich mit seiner Schwiegermutter und den anderen Oberkatholen angelegt. Erst Christians Tränen hatten ihn dazu bewogen, den Mund zu halten. Aber er hatte sich geschworen, so ein Theater nicht noch einmal mitzumachen. Seitdem hatten Gabi und er das Thema nicht wieder berührt. Keiner von ihnen, auch Christian nicht, war seitdem jemals wieder in der Kirche gewesen.

Er stieg ins Auto und schaute auf seine Uhr, Viertel nach elf, Samstag.

Die Arbeit konnte noch eine halbe Stunde warten, er würde bei der Theaterprobe an der Sebus-Schule hereinschauen.


Leise öffnete er die Tür zur Aula. Ein bisschen komisch kam er sich schon vor, er war der einzige Zuschauer. Schnell glitt er auf den Stuhl, der der Tür am nächsten stand.

Die Bühne war hell erleuchtet. Sie probten noch ohne Kulissen und Kostüm. Oder war so etwas gar nicht vorgesehen? In der ersten Reihe saßen ein paar Jugendliche mit Textbüchern in der Hand. Links außen entdeckte er Sabine Landmann.

Auf der Bühne zwei Tische und mehrere Stühle. Am linken Bühnenrand stand ein etwa vierzig Jahre alter Mann, der ebenfalls einen Text in der Hand hatte, wohl der Lehrer, der die Sache leitete.

In der Mitte der Bühne befanden sich ein Junge und ein Mädchen, beide vielleicht siebzehn. Das Mädchen war außerordentlich hübsch, langes, seidiges Haar, große dunkle Augen. Der Junge hielt ihre Hand. «… ohne entsprechende Normen wird es uns nie gelingen, eine harmonische Einheit …»

«Stopp!», rief der Lehrer. «Stefan, du leierst. Ich weiß, wir machen das heute zum ersten Mal ohne Textbuch, aber du kannst das doch. Sei mal ein bisschen mutig und sprich ganz normal, so wie du’s mit dem Text in der Hand auch gemacht hast. Das klappt schon. Nochmal ab ‹… ganz allgemein›.»

Die beiden auf der Bühne traten ein paar Schritte auseinander, dann ging der Junge auf das Mädchen zu, ergriff seine Hand und begann: «Also, ganz allgemein genommen, ist die Aufstellung eines Wertsystems unentbehrlich für das ordnungsgemäße Funktionieren des Einzelnen wie der Gesellschaft. Ohne entsprechende Normen wird es uns nie gelingen, eine harmonische Einheit zu schaffen und diejenigen Elemente, die man – natürlich in einem erweiterten und nicht nur moralischen Sinne – als das Gute und das Böse bezeichnet, in das erforderliche Gleichgewicht zu bringen.»

Damit zog er das Mädchen an sich und wollte es küssen, aber das Mädchen wandte das Gesicht ab.

«Stopp!», rief der Lehrer wieder. «Gesprochen war das jetzt prima, Stefan, aber du sollst die Ala an dich reißen, wild küssen, unkontrolliert. Das muss viel heftiger kommen. Und du auch, Katja, reiß dich los, ‹wild› heißt es hier.»

Stefan grinste schief.

«Der bringt’s doch nicht», rief einer der Jugendlichen in der ersten Reihe. «Am besten, Sie machen ihm mal vor, wie es richtig geht, Herr Dr. Hermans.»

Alle lachten. Das Mädchen auf der Bühne warf dem Lehrer einen Blick zu und errötete, lachte dann aber mit.

«Nun beruhigt euch mal wieder.» Dr. Hermans klatschte in die Hände. «Also noch einmal, ihr beiden.»

Diesmal lief die Szene schon besser.

«Okay, das reicht erst mal», entschied der Lehrer und sprang in den Zuschauerraum hinunter. Dabei entdeckte er Toppe, runzelte die Stirn und warf ihm einen fragenden Block zu.

Toppe nickte grüßend. Alle hatten sich jetzt zu ihm umgedreht.

«Ach, Herr Toppe», rief Sabine. Sie strahlte und kam zu ihm geeilt. «Sie sind tatsächlich gekommen. Das finde ich total schön.» Sie drückte ihm die Hand. «Kommen Sie doch mit nach vorn.» Sie schob ihn vor sich her.

Toppe fühlte sich unwohl in seiner Haut und lächelte einfältig.

«Das ist Kommissar Toppe, der den Tod meines Vaters untersucht», erklärte Sabine leichthin.

Dr. Hermans kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. «Hermans», sagte er. «Sie interessieren sich fürs Schülertheater?»

«Ja, sehr. Ich habe früher selbst mal gespielt.»

Es entstand eine dumme, kleine Pause. Alle standen um ihn herum.

«Interessantes Stück», sagte Toppe schließlich. «Hätten Sie ein Textexemplar übrig? Ich würde es gern einmal lesen.»

Hermans sah ihn erstaunt an und schüttelte den Kopf. «Nein, leider nicht.»

«Sie können meines haben.» Sabine hielt ihm ihr Textbuch hin. «Ich kann es mir bei Katja kopieren.»

«Danke.» Toppe lächelte sie an.

«Hoffentlich steigen Sie da durch», meinte Stefan. «Dr. Hermans hat überall seine Randbemerkungen reingemalt.»

«Das kenne ich», antwortete Toppe und blätterte, wirklich viele Regieanweisungen.

«Ich schaue noch ein Weilchen zu, wenn es Ihnen recht ist.»

«Gern», erwiderte Hermans. «Dann lasst uns im zweiten Akt weitermachen. Edek kommt dazu. Komm, Christoph, beweg dich mal hoch.»

Toppe fröstelte, als er zu seinem Platz zurückging, es war kühl in der Aula.


Breitenegger hatte eine Stinklaune, als Toppe endlich ins Büro kam.

«Ich habe den ganzen Morgen diesen Aktenwust aufgearbeitet.»

«Und wo steckt Ackermann?»

«In irgendeinem Krankenhaus, nehme ich an.» Breitenegger stand auf und packte seine Pfeifenutensilien zusammen. «Mir brummt der Schädel. Ich mache mal eine Weile Rufbereitschaft von zu Hause aus. Sobald ich wieder fit bin, nehme ich mir dieses Fotoalbum vor.»

«Ist in Ordnung», erwiderte Toppe. «Wir sehen uns später.»

Breitenegger schlurfte hinaus.

Toppe zündete sich eine Zigarette an, nahm das Textbuch aus der Jackentasche – «Tango». Schauspiel in drei Akten von Stawomir Mrozek –, legte die Füße auf den Schreibtisch und fing an zu lesen. Eigenartigerweise hatte er überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei.