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Dreizehn

Natürlich hatten alle geahnt, dass ein ziemliches Chaos auf sie zukommen würde, aber keiner, am allerwenigsten Toppe, hatte mit einer derartigen Hilfsbereitschaft der Bevölkerung gerechnet.

Der Strom der Leute ließ nicht nach. Bis in den späten Abend hinein führten sie zu viert Gespräche, fertigten zahllose Protokolle an, und bis weit nach Mitternacht versuchten sie, erste Ergebnisse zusammenzustellen. Wüste Papierstapel türmten sich auf allen Schreibtischen.

Sie erhielten eine Fülle von Informationen. Viele wollten Landmann gesehen haben, mal in Begleitung einer blonden Frau, mal mit zwei halbwüchsigen Mädchen, mal in Begleitung eines jüngeren Mannes.

Im Labor des ED stapelten sich die Schuhe der Leute, die am Tatort gewesen sein wollten.

Als das dreiundsechzigste Paar abgegeben wurde, platzte Berns endgültig der Kragen. «Toppe hat doch den Arsch auf!», brüllte er und stürmte aus dem Labor schnurstracks zum Chef.

Van Gemmern arbeitete still weiter. Er zog es vor, sich herauszuhalten.


Am Donnerstag rief der Chef zweimal an. Toppe ließ sich beide Male verleugnen, aber das half ihm nichts. Um Punkt 17 Uhr rauschte Bouwmanns ins Büro. «Ist die Tatwaffe gefunden worden?»

«Nein», antwortete Toppe ebenso kurz.

«Wer leitet die Suchaktion?»

«Ich habe Herrn Janhsen die Leitung übertragen.»

«Sie waren selbst nicht dabei?»

«Doch, gestern bin ich zweimal dort gewesen.»

«Heute nicht?»

«Nein, ich sah keine Veranlassung. Die Kollegen sind in der Lage, selbständig zu arbeiten.»

Sie standen sich mitten im Raum gegenüber.

Breitenegger und van Appeldorn hatten aufgehört, in ihren Papieren zu wühlen.

Dr. Bouwmanns sah von einem zum anderen. Dann strich er sich mit der Hand übers Haar. «Nun gut, ich überlasse Ihnen die fünf Kollegen noch für den morgigen Tag. Allerdings würde ich es begrüßen, wenn Sie zeitweise selbst zugegen wären. Aber letztlich bleibt das natürlich Ihnen überlassen. Und was die andere Sache betrifft», er machte eine Geste, die alle Papierstapel umfasste, «sollten wir uns so bald wie möglich über die Ergebnisse unterhalten, wenn Sie es einrichten können. Auf Wiedersehen, meine Herren.»

Einen kleinen Augenblick noch stand Toppe da, dann schnappte er sich seinen Pullover. «Ich gehe Zigaretten kaufen.»

«Es regnet, Helmut», bemerkte van Appeldorn.

«Scheißegal.»


Über eine Stunde lief er durch die Stadt und versuchte sich zu beruhigen.

So unrecht hatte der Chef nicht. Jede Menge, vielleicht unnötige, Arbeit und kein Ergebnis in Sicht. Nur noch morgen … Wenn sie dann die Tatwaffe nicht gefunden hatten, waren sie genauso schlau wie zuvor.

Er bog in die Große Straße ein und machte sich auf den Rückweg zu seinem Auto.

Vor Aldi gab es einen Menschenauflauf. Einer der Penner, die dort auf den neuen Rundbänken ihren Stammplatz hatten, zerschlug laut singend leere Flaschen auf dem Pflaster. Die Leute standen in sicherem Abstand, nahmen das kostenlose Schauspiel mit, angewidert und kopfschüttelnd. Nur wenige hasteten vorbei.

Ein Streifenwagen hatte sich langsam durch die Fußgängerzone aus Richtung Kaufhof den Berg hochgetastet. Zwei junge Kollegen sprangen aus dem Fahrzeug und eilten auf den alten Mann zu, der sich jetzt mit ausgebreiteten Armen singend um sich selbst drehte. Einer der Polizisten legte dem Alten von hinten die Hand auf die Schulter und zögerte dann einen winzigen Augenblick. Toppe wusste genau, was in dem Kollegen vorging, kannte die Situation aus der Zeit in Düsseldorf, als er selbst noch Streife gegangen war. Man wusste eigentlich genau, was man zu tun hatte, und dann wurde plötzlich die Anrede zu einem Problem. Wenn man eine Uniform trug, war das «Du» zu grob und das «Sie» zu amtlich.

Jetzt redeten beide Kollegen leise auf den Mann ein und führten ihn, jeder einen Arm fassend, langsam zum Auto. Die Menschentraube löste sich auf.

Toppe wandte sich zum Gehen.

Einen Kaffee noch bei Eduscho.


Als er die Tür zu seinem Büro öffnete, merkte er, dass er keine Zigaretten gekauft hatte.

Es war deutlich ruhiger geworden, nur van Appeldorn und Breitenegger waren da und brüteten über ihren Unterlagen.

«Wo ist Ackermann?», fragte Toppe.

«Auf dem Klo», antwortete Breitenegger abwesend.

Van Appeldorn hob nicht einmal den Kopf.

«Was ist denn los, Norbert?» Toppe trat hinter ihn.

Wütend fuhr van Appeldorn zu ihm herum. «Wenn du mir nicht sofort Ackermann vom Hals schaffst, passiert hier ein Mord, das schwöre ich dir!»

Toppe biss sich auf die Lippen, er wusste, was Norbert meinte.

Ackermann hielt den ganzen Betrieb auf. Er ging übertrieben liebenswürdig mit den Leuten um und brauchte für eine Vernehmung dreimal so lange wie die anderen. Überflüssig zu erwähnen, dass fast die Hälfte der Gespräche auf Platt geführt wurde und stets mit langem Händeschütteln und ausgiebigen Dankesbezeugungen endete.

Toppe konnte nicht sagen, wie oft er den Satz «Nichts zu danken, man will ja bloß, dat Sie geholfen wird» gehört hatte, wenn wieder ein hilfsbereiter Bürger das Büro verließ.

«Herr Ackermann», sprach er ihn sofort an, als der ins Büro zurückkam, «ich habe gerade überlegt, dass es nicht angeht, wenn wir uns alle nur mit dieser Sache hier beschäftigen. Ich möchte, dass Sie sich um die Adimed-Schuhe kümmern. Wer trägt diese Schuhe? Müssen sie von einem Arzt verschrieben werden? Sind die Träger dieser Spezialschuhe irgendwo registriert? In Krankenhauskarteien vielleicht? Würden Sie das wohl übernehmen?

Ackermann sah ihn lange an. «Klar, Chef, mach ich, klar.» Dann, nach einer Weile: «Sofort?»

«Nein, nicht sofort.» Toppe zeigte kopfschüttelnd auf seine Armbanduhr. «Aber gleich morgen früh.»


Kein angenehmer Morgen.

Toppe fand sich bis zu den Knien in stinkendem Morast. Er war an der Böschung ausgerutscht und in einen der sumpfigen Wasserläufe geraten. Laut fluchend zog er sich an einer Baumwurzel hoch und schaute angeekelt an sich herab.

Fünf Polizisten standen um ihn herum und konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.

«Das ist jedem von uns hier schon passiert, Herr Toppe.»

Es hatte ohne Unterlass geregnet. Sie suchten inzwischen ein Gebiet ab, das gut zweihundert Meter Luftlinie vom Tatort entfernt war. Jeden Strauch, jeden Busch hatten sie umgedreht, in jeder Pfütze gestochert, zentnerweise Laub und Tannennadeln durchwühlt, sich an Brombeerranken die Hände aufgerissen.

«Ich weiß nicht, ob das hier Sinn macht», ächzte Toppe. «Am aussichtsreichsten scheint mir das Areal zwischen dem Tatort und dem Parkplatz zu sein. Schaut euch dort noch einmal gründlich um.»

Die Mannschaft folgte ihm zurück zur Gärtnerei, wo Toppe seinen Wagen geparkt hatte.

«Ich komme gegen fünf noch einmal wieder.»

«Der geht jetzt schön unter die heiße Dusche, der Herr Hauptkommissar», raunte einer, als Toppe ins Auto stieg.

«Lass mal», meinte Janhsen, «der ist schon ganz in Ordnung.»


Toppe hatte wirklich geduscht, aber er hatte sich beeilt.

Immer noch waren mehr Leute im Büro, als ihm lieb war. Van Gemmern wartete auf ihn.

«Wie kommt ihr voran?», fragte Toppe und zog ihn mit sich hinaus auf den Gang.

«Ganz gut, wir sind fast durch. Heute sind auch nur noch drei Paar Schuhe dazugekommen. Aber deshalb bin ich nicht hier, es geht um diese Adimed-Schuhe. Ich habe mich sachkundig gemacht. Zunächst einmal gibt es zwei verschiedene Sorten, den Adimed 1 und den Adimed 2. Beide werden bei einem Außenbandriss am Sprunggelenk verordnet. Sie unterscheiden sich in mehrerer Hinsicht, vor allem aber in ihren Sohlen. Das Profil des Adimed 1 ist unterbrochen, der Adimed 2 hat eine durchgehende Sohle. Der Abdruck am Tatort stammt eindeutig von einem Adimed 2. Suerick hat übrigens einen Adimed 1.»

«Na, das ist doch was», sagte Toppe erfreut. «Meinen Sie, wir können morgen früh die Ergebnisse zusammentragen?»

«Wenn es nach mir geht, schon heute Abend.»

Gegen halb fünf kam Ackermann zurück. Es sah müde aus.

«Na, Ackermann», van Appeldorn hatte seine normale Laune wiedergefunden, «dann zeig uns mal deine Liste.»

Ackermann legte ihm einen Zettel hin. «Überprüfen konnt ich aber noch niemand.»

Van Appeldorn begutachtete die Aufzeichnungen. «Zwölf Leute nur? Und nur ein Krankenhaus? Das kann nicht dein Ernst sein!»

Ackermann hatte den Tag seines Lebens verbracht. Er hatte alles in allem siebeneinhalb Stunden damit verbracht zu warten. Und es war nicht einmal so, dass er sich nicht bemüht hätte. Gleich bei seiner ersten Anlaufstelle, der Sekretärin des chirurgischen Chefarztes, wäre er fast schon gescheitert. Nein, hatte man ihm erklärt, man erteile grundsätzlich keine Auskünfte über Patienten. Aber er war hartnäckig geblieben. Gut, man wolle sich erkundigen, er möge bitte warten. Offenbar waren etliche Telefonate nötig. So saß er zwischen den Patienten der chirurgischen Ambulanz und wartete. Viermal fragte er nach. Nach ungefähr zwei Stunden erhielt er die Auskunft, doch, er könne die gewünschten Informationen bekommen, aber der zuständige Arzt operiere noch. Er möge sich noch eine Weile gedulden. Er wartete.

Weitere anderthalb Stunden später sah Ackermann einen Arzt über den Gang eilen. Er packte die Gelegenheit beim Schopf und sprach ihn an. Ja, der Arzt hatte schon von seinem Anliegen gehört, aber leider, er sei nur kleiner Assistent hier, darum müsse sich schon der Oberarzt kümmern und der operiere noch. Ackermann möge doch bitte warten, es könne nicht mehr lange dauern. Ob er inzwischen einen Kaffee trinken wolle. Nett, fand Ackermann.

Er trank drei Tassen und wartete. Irgendwann schließlich war der Oberarzt tatsächlich aufgetaucht und hatte sich ausführlich und durchaus freundlich mit ihm unterhalten, ihm erklärt, wann und wozu man jemandem Adimed-Schuhe verordnete und dass man bei einem Mordfall selbstverständlich die entsprechenden Auskünfte erteile. Er müsse nur kurz Rücksprache mit dem Chef nehmen, aber der operiere noch. Ackermann möge noch einen Augenblick warten, es könne nicht mehr lange dauern. Nach kurzer Zeit, etwa neunzig Minuten später, hatte ihm der Oberarzt tatsächlich die gewünschte Patientenliste gebracht.

Ackermann hatte das Gefühl gehabt, eine Trophäe davonzutragen, bis er, schon am Ausgang, feststellte, dass dieses Krankenhaus auch eine orthopädische Abteilung hatte. Eine geschlagene Minute hatte er dagestanden und auf das Schild gestarrt. Dann war er wie ein geprügelter Hund die Treppen wieder hochgestiegen.

Aber er hätte sich nicht zu sorgen brauchen. Wie in jeder Institution verbreiteten sich Neuigkeiten auch im Krankenhaus mit rasanter Geschwindigkeit. In der Orthopädie wusste man bereits Bescheid. Der Chef würde sich persönlich darum kümmern. Doch der sei gerade in einer Sitzung der Hygienekommission, aber es würde sicher nicht lange dauern. Wenn er, Ackermann, sich noch einen Moment gedulden wolle. Es dauerte wirklich nicht lange – schlappe fünfzig Minuten.

Und nun war Ackermann viel zu müde, ausführlich von seinen Erlebnissen zu berichten.

Schweigend schluckte er van Appeldorns bissige Bemerkungen.

«Ich geh jetz’ wat essen», sagte er nur. «Un’ dann guck ich, ob ich noch ’n paar von denen überprüft krieg.» Damit nahm er seine Liste wieder an sich.

«Prima, Herr Ackermann.» Toppe klopfte ihm auf den Rücken. «Wir sehen uns dann morgen früh.»


Es wurde zwei Uhr früh, bis sie endlich einen Überblick hatten. Alle drei waren todmüde, aber zufrieden. Die Ergebnisse waren nicht schlecht. Zwar war mit den Zeugen, die Landmann gesehen haben wollten, wenig anzufangen, zu widersprüchlich waren ihre Aussagen, zu ungenau die Beschreibungen. Aber die Schuhaktion war nicht umsonst gewesen, bis auf zwei konnten sie jetzt allen Spuren am Tatort Personen zuordnen.

Zufrieden überflog Breitenegger noch einmal die Liste, bevor er sie zu den Akten legte:

Puma Gr. 36 – Barbara Meesters, 26 J., Röntgen-MTA, Querallee 46, Kleve.

Puma G. 42 – Johannes Meesters 29 J., Angestellter; Ehemann zu 1.

Nike Gr. 45 – Karl Burger, 39 J., Vers.kaufmann, Nachtigallenweg 66, Bedburg-Hau.

Tretorn Gr. 40 – Angelika Winterscheid, 42 J., Sekretärin, Saalstr. 95, Bedburg-Hau.

Ara Gr. 38 – Luise Bachmann, 66 J., Rentnerin, In den Galleien 4, Kleve.

Remonte Gr. 39 – Maria Otterbeck, 65 J., Rentnerin, In den Galleien 2, Kleve.

Gabor Gr. 36 – Dr. Renate Müller, 45 J., Gynäkologin, Kastanienweg 17, Kleve.

Diese Leute würden alle auf eine mögliche Verbindung zu Landmann überprüft werden, aber auf den ersten Blick ergaben sich keine Verdachtsmomente.

Ganz unten auf der Liste stand:

Es fehlen:

Adimed-2-Schuh, Gr. 42

Schuh mit durchgehender Gummisohle Gr. 44 (italienisches Modell)

Zwei Schuhspuren, zwei Paar Schuhe.

Eines davon konnte dem Mörder gehören.


Toppe wusste, er würde nicht schlafen können.

Er schaute kurz ins Kinderzimmer und deckte Oliver zu, der sich wie immer die Decke abgestrampelt hatte. Dann ging er in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

Arend hatte ihm neulich ein Buch geschenkt, Fernando Pessoa.

Er nahm es vom Schreibtisch und legte sich aufs Sofa. Als er die ersten Seiten gelesen hatte, merkte er, wie die Müdigkeit langsam zurückkam. Ein starkes Buch, viel zu schwierig, es in diesem halbwachen Zustand zu erfassen. Er legte es auf den Boden, verschränkte die Hände im Nacken und starrte an die Decke.

Landmanns Persönlichkeit war ihm fremd. Und er musste sich eingestehen, dass der Richter ihm unsympathisch war, obwohl er ihn ja gar nicht gekannt hatte.

Was hatte er gerade gelesen? «Weise ist, wer seine Existenz eintönig gestaltet, denn dann besitzt jeder kleine Zwischenfall das Privileg eines Wunders.»

Langsam dämmerte er in den Schlaf hinüber, doch dann schoss ihm wieder ein Gedanke quer. Da war noch ein Satz gewesen, aber er bekam ihn nicht zusammen. Er griff nach dem Buch und blätterte. «Ein Mensch kann, wenn er wahre Weisheit besitzt, das gesamte Schauspiel der Welt auf einem Stuhl genießen, ohne lesen zu können, ohne mit jemandem zu reden, nur seine Sinne gebrauchend und mit einer Seele begabt, die nicht traurig zu sein versteht.»

Er stand auf und löschte das Licht. Draußen wurde es langsam hell. Es lohnte sich nicht mehr, ins Bett zu gehen, er legte sich wieder aufs Sofa.

Eine Seele, die nicht traurig zu sein versteht, dachte er und schlief ein.