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Elf

Toppe wanderte auf dem Gang vor dem Labor hin und her.

Selbst wenn die Abdrücke zu den Schuhen passten, was brachte ihnen das? Ein sicherer Beweis war es jedenfalls nicht, schließlich arbeitete Suerick in der Gärtnerei.

Es blieb dabei: Die Tatwaffe fehlte und damit die einzige Möglichkeit, Fingerspuren des Täters zu finden. Es half nichts, er musste die Eisenstange suchen lassen, und wenn der Aufwand noch so groß war.

«Negativ.» Van Gemmern machte ein bedauerndes Gesicht. «Keine Übereinstimmung. Das trifft übrigens auf alle seine Schuhe zu.»

Toppe seufzte. «Wäre ja auch zu einfach gewesen.»

Er ging ins Büro, stellte sich vor die große Wandkarte vom Niederrhein und suchte den Tatort.

Wo konnte der Täter die Waffe versteckt haben? Es gab jede Menge kleiner Gräben und Tümpel in dem angrenzenden Waldstück und, wie Berns schon gesagt hatte, den breiten Wassergraben um das alte Schlösschen «Haus Rosendal».

Toppe seufzte wieder, denn ihm war klar, wie viel Energie es ihn kosten würde, seinen Chef zu überreden, für ein solches, nicht sehr aussichtsreiches Unternehmen genügend Leute abzustellen. Aber im Moment sah er keinen anderen Weg, also würde er sich gleich morgen früh in die Höhle des Löwen begeben.

Selbst wenn keiner von Suericks Schuhen zu den Spuren am Tatort passte, hieß das nicht unbedingt, dass Suerick mit der Tat nichts zu tun hatte, überlegte er. Schuhe konnte man verschwinden lassen.

Breitenegger kam herein. «Sag nichts, ich habe Berns auf dem Flur getroffen. Die kurzfristig heiße Spur Suerick ist schon wieder kalt.» Er setzte sich auf die Schreibtischkante.

«Die Alibis dieser Mopedfahrer sind übrigens wasserdicht, zumindest was den ersten Teil betrifft. Wie der Zufall es will, hat sie nämlich jemand angezeigt, weil sie widerrechtlich im Kranenburger Baggerloch geschwommen sind, und zwar jeden Einzelnen, der auf Norberts Liste stand.»

Toppe schnaubte unwillig. «Wer zeigt denn so was an?»

«Dieser Typ scheint sich darauf spezialisiert zu haben, Gabriel Dollmann, ein arbeitsloser Lehrer, der in der Nähe vom Baggersee wohnt. Ist bei den Kollegen auf der Wache bestens bekannt, aber nicht unbedingt beliebt.»

«Ist Norbert nach Moyland gefahren?»

«Ja, eigentlich müsste er schon längst wieder hier sein.» Breitenegger deutete auf die Landkarte. «Willst du allen Ernstes die Tatwaffe suchen lassen?»

«Hast du eine bessere Idee?»

«Im Moment nicht.»


Als van Appeldorn zehn Minuten später das Zimmer betrat, sah er zwei große schwere Männer vor der Karte stehen und einträchtig mit kleinen blauen Steckfähnchen hantieren. Sie drehten sich gleichzeitig zu ihm herum.

«Gott sei Dank», freute Toppe sich. «Du hast bestimmt eine Zigarette für mich.»

«Klar.» Van Appeldorn warf ihm eine zerknautschte Lucky-Strike-Schachtel zu und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

«Ein echt nobler Verein, sag ich euch.»

«Der Tennisclub?»

«Was sonst?»

Toppe gab ihm die Schachtel zurück.

«Also», begann van Appeldorn. «Landmann ist schon seit Jahren Mitglied in diesem Club, und er spielt dort regelmäßig jeden zweiten Donnerstag vormittags, manchmal auch nachmittags, und zwar meistens mit Bert Steendijk.»

Toppe nickte langsam. «B. S.!» Dann stutzte er. «Steendijk? Von Steendijk?»

«Genau. Das ist der Alte von unserer Neuen.»

«Hast du mit ihm gesprochen?»

«Sicher, ziemlich normaler, netter Typ, für einen Industriebonzen, meine ich.»

«Diesen Che hast du nicht zufällig auch noch getroffen?», fragte Breitenegger hoffnungsvoll.

«Tut mir leid, aber damit konnte keiner dienen.»

«Ich krieg’s schon noch raus.» Breitenegger mahlte mit den Zähnen.

Toppe kannte das schon. Sein Aktenführer liebte es, scheinbar Unmögliches herauszufinden. Er war eine Puzzlernatur und damit genau richtig in seinem Job.

Toppe berichtete von Suericks Adimed-Schuhen, die aber leider nicht zu den Spuren passen wollten.

Van Appeldorn blieb sichtlich unbeeindruckt. «Das will nichts heißen, oder? Schuhe kann man verschwinden lassen. Gelegenheit dazu hatte er ja reichlich.»

«Wo Ackermann nur bleibt?», brummte Breitenegger.

Toppe gähnte. Er war müde und hungrig. Und er hatte das sichere Gefühl, dass er heute lange nicht zur Ruhe kommen würde.

«Wann triffst du deinen Freund in der Kneipe, Norbert?»

«Um kurz nach acht bei Günni. Soll ich dich mitnehmen?»

«Ich glaube, ich fahre lieber nach Hause, dusche und esse was. Ich brauche eine Pause, mein Kopf ist völlig leer.» Er hob schnell die Hand, als Breitenegger zum Sprechen ansetzte. «Ja, Günther, ich komme nachher nochmal ins Büro und schreibe meine Berichte, keine Sorge.»

Er war froh, an die frische Luft zu kommen.


Um kurz vor Mitternacht hatte Toppe seine Berichte getippt und alle Akten noch einmal gelesen.

Zuoberst lag Ackermanns Bericht. Er hatte jede Menge Zeugen dafür gefunden, dass die Jungs von der Mopedgang am Donnerstag bis spät in die Nacht hinein im Billardcafé gewesen waren und sich ein Video nach dem nächsten angeschaut hatten. Ackermann hatte jeden einzelnen überprüft. Das musste eine Menge Lauferei gewesen sein. Man konnte gegen Ackermann sagen, was man wollte, aber er war gründlich und machte die Arbeit, die man ihm auftrug, gut.

Van Appeldorn war wohl noch mit seinem Freund in der Kneipe.

Es war dunkel und still im Haus. Toppe hatte nur die Tischlampe eingeschaltet, das Deckenlicht war grell, und es sah auch so schon trist genug aus in diesem Büro, das schon vor Jahren hätte renoviert werden müssen. Die mattgrünen Wände wirkten noch fleckiger als bei Tage. Ein freundlicher Arbeitsplatz sah anders aus.

Alte graue Resopalschreibtische, ein angestoßener Aktenschrank, ein Garderobenständer aus Schmiedeeisen, nackte Neonröhren, billige Tischlampen. Die Stühle waren nicht schlecht. Auf dem Boden grün und grau gewürfeltes PVC und vergilbte Synthetikstores an den Fenstern.

Warum war er bisher nie auf die Idee gekommen, es hier ein bisschen behaglicher zu machen? Ein paar Pflanzen vielleicht, eine eigene Kaffeemaschine, Bilder. Schließlich verbrachte man mehr Zeit in diesem Laden als zu Hause, jedenfalls in wachem Zustand.

Er stellte sich van Appeldorns Gesicht vor, wenn er hier plötzlich Topfpflanzen anschleppte …

Hier saß er also mit seinem ersten eigenen Mordfall. Hier saß er und war endlich in der Situation, die er sich so oft vorgestellt hatte, und konnte nicht sagen, wie er sich dabei fühlte.

Landmann hatte seinen Mörder gekannt. Aber warum war er mit ihm in diesen Schuppen gegangen? Was hatten sie dort gewollt?

Vielleicht war Landmann aber auch allein gewesen, und irgendetwas im Schuppen hatte seine Aufmerksamkeit erregt, und er hatte nachschauen wollen.

Es hatte geregnet. Warum joggte man bei so einem Wetter? Es konnte sein, dass der Regen so stark geworden war, dass Landmann sich in dem Schuppen hatte unterstellen wollen und jemanden bei irgendwas ertappt hatte. Bei was?

Aber wenn, dann wäre er nicht von hinten erschlagen worden. Der erste Schlag hatte ihn überrascht, das war sicher.

Doch eine Affekttat?

Wenn ihn jemand vorsätzlich getötet hatte, dann hatte er sich einen ziemlich dämlichen Platz dafür ausgesucht. Nun gut, vielleicht hatte der Täter gewusst, dass bei Welbers keiner zu Hause war, aber dann blieben immer noch die ganzen Jogger, die zu Dutzenden am Schuppen vorbeitrabten.

War Landmann mit diesem geheimnisvollen Che verabredet gewesen? «Che» stand im Kalender. Mit Fragezeichen. Keine Uhrzeit.

Warum in der Gärtnerei? Offensichtlich hatte Landmann keinerlei Verbindung zu Welbers und der Gärtnerei, oder? Das sollte man noch einmal genauer überprüfen.

Er machte sich eine Notiz.

Ein Geräusch auf dem Flur, er erkannte van Appeldorns Schritt.

«Na, sitzt hier und grübelst, wie?» Van Appeldorn nahm Platz, schob das Telefon beiseite und legte die Füße auf den Schreibtisch.

Toppe überlegte laut weiter. «Ganz schön kaltblütig, der Täter.»

Van Appeldorn betrachtete seine Fingernägel. «Wegen dem Sack meinst du?»

«Ja, genau. Auf den ersten Blick sieht es ja so aus, als wäre jemand völlig ausgerastet und hätte blind drauflosgeschlagen. Aber wir wissen jetzt, dass es nicht so war. Der Täter muss, als Landmann dort lag, ganz kühl überlegt haben. Es sollte nach einem Racheakt aussehen, und so hat er es dann auch in aller Ruhe arrangiert.»

Toppe suchte wieder nach Zigaretten, er hatte tatsächlich vergessen, sich welche zu kaufen.

«Ich glaube trotzdem nicht an einen vorsätzlichen Mord», sagte van Appeldorn. «Das passt einfach hinten und vorn nicht.»

«Nein», bestätigte Toppe. «Der Ort ist einfach schlecht gewählt.»

«Richtig. Und nehmen wir einmal an, die Tatwaffe ist tatsächlich Welbers’ Brecheisen, dann weist das deutlich auf eine Tat im Affekt hin. Wenn der Mord geplant gewesen wäre, hätte der Täter die Tatwaffe doch mitgebracht.»

Eine Zeit lang sagten sie nichts mehr.

Toppe wühlte wieder in seinem Bart. «Blöd ist der Täter jedenfalls nicht. Er hat ganz kalkuliert gehandelt.»

Van Appeldorn stand auf und holte Zigaretten aus seiner Jacke, die er an den Garderobenständer gehängt hatte, und hielt Toppe die Schachtel hin.

«Landmann ist ein Unsympath», sagte er. «Ich habe mit meinem Freund gesprochen, Uwe Kirschke, der Anwalt. Der ist nicht besonders gut auf Landmann zu sprechen. Er sagt, man kam überhaupt nicht an diesen Mann heran. Normalerweise laufen bei Gericht vor Prozessen, meist ganz nebenbei, Vorabgespräche zwischen Anwalt und Richter, ganz unverbindlich, wohlgemerkt. Kirschke sagt, Landmann hätte da immer total abgeblockt.»

«Was ja an sich nicht falsch ist», gab Toppe zu bedenken.

«Sicher, wenn man’s genau nimmt.» Van Appeldorn grinste schief. «Aber egal, Landmann war ausgesprochen unbeliebt. Kirschke meint, er kenne keinen bei Gericht, der gut mit Landmann ausgekommen wäre. Selbst die Sekretärinnen hat der getriezt, wo er konnte. Er war wohl der Prototyp des kleinkarierten Beamten.»

«Was haben denn die Leute vom Tennisclub über Landmann gesagt?»

«Der gleiche Tenor. Keiner kam an Landmann heran. Steendijk sagt, sie hätten seit Jahren zusammen Tennis gespielt, trotzdem hätten sie privat keinerlei Kontakt gehabt. Landmann hatte nie Interesse an engeren Beziehungen.»

Toppe fröstelte, er dachte an die Ehefrau und Sabine. «Aber daraus ergibt sich natürlich kein Mordmotiv.»

«Oder jede Menge, wie man’s nimmt. Landmann hat sicher viele Menschen vor den Kopf gestoßen, und beruflich muss er auch so einige vergrätzt haben, wie Suerick zum Beispiel. Nur, wo willst du da anfangen?»

«Wir halten uns einstweilen an die Fakten, die wir haben. Wir hören einfach nicht auf, bis wir alle Spuren vom Tatort ausgewertet haben. Wir werden weiter in Landmanns Leben suchen, und wir werden, verdammt nochmal, herausfinden, wer oder was ‹Che› ist.»

Toppe stand auf und zog seinen Pullover an, den er über die Stuhllehne gehängt hatte. «Ich bin kaputt. Lass uns morgen früh weitermachen.»

«Ich schreibe nur noch meinen Bericht, dann gehe ich auch. Gute Nacht, Helmut.»

«Nacht, Norbert.»


In Toppes Wohnung war alles dunkel. Gabi schlief wohl schon.

Sein Magen knurrte, und er ging leise in die Küche. Auf dem Tisch stand ein Schälchen mit gehackten Zwiebeln, daneben eine Tube Mayonnaise und eine Flasche Gewürzketchup. Er schaute im Backofen nach – Gabi hatte eine Fleischrolle warmgestellt. Er küsste sie in Gedanken.

«Fleischrolle spezial», sein Leibgericht. Norbert mochte über die Holländer sagen, was er wollte, für diese kulinarische Erfindung konnte man sie nicht genug loben.

Während er reichlich Zwiebeln, Mayonnaise und den süßen Ketchup auf der Fleischrolle verteilte, wusste er plötzlich, was er am nächsten Morgen als Erstes tun würde: die Presse einschalten.

Wenn auf dem Hasselter Trimmpfad wirklich so viele Leute joggten, wie Welbers gesagt hatte, dann musste doch eigentlich irgendjemand Landmann am Donnerstagabend gesehen haben – und vielleicht sogar seinen Mörder.