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Neun

«Schieß los.» Toppe war gespannt, als er zu van Appeldorn ins Auto stieg.

«So, wie es aussieht, war Landmann als Richter zuständig für verschiedene Verfahren am LKH», berichtete van Appeldorn, während er sich in den dichten Verkehr auf der Emmericher Straße einfädelte. «Unter anderem war da wohl auch etwas mit unserem Martin Suerick. Ist noch gar nicht so lange her. Und da scheint es wohl Ärger gegeben zu haben. Genaues weiß ich noch nicht, aber Suerick sollte wohl vom LKH aus in ein offenes Heim überstellt werden und hatte anscheinend auch ein entsprechendes Gutachten. Aber Landmann hat den Antrag abgelehnt. Da hat es dann wohl Stunk gegeben, und Suerick hat Widerspruch eingelegt beim OLG.»

Toppe überlegte. «Kommt das oft vor, dass ein Richter sich gegen ein Gutachten entscheidet?»

«Nein, das ist ja der springende Punkt. Normalerweise berücksichtigen die Richter bei der Urteilsfindung schon die Gutachten. Aber wer weiß, was Suerick für einer ist? Die lassen ja heutzutage jeden raus.»

Dazu sagte Toppe lieber nichts.

«Übrigens, ich weiß nicht, ob Ackermann das erzählt hat», bemerkte van Appeldorn, als sie in Welbers’ Hofeinfahrt einbogen. «Die Familie Welbers kannte Landmann nicht, und mit den Zetteln konnten sie alle nichts anfangen.»

«Und was ist mit der Kinokarte?»

«Ich gehe heute Abend zum Burgtheater. Mal sehen, was ich rausfinde. Hinterher treffe ich mich auf ein Bier mit einem Freund. Der ist Anwalt hier am Gericht. Willst du mitkommen?»

«Ja, sicher, wenn Zeit ist.»


Herr Welbers wischte seine lehmigen Finger an der Hose ab und schüttelte Toppe die Hand. «Nein, Suerick ist heute nicht gekommen.»

Toppe zog fragend die Augenbrauen hoch.

«Er hat angerufen, weil es ihm heute Morgen wohl dreckig ging. Ich wusste ja gar nicht, dass das sein Richter war. Der vom Suerick, meine ich.»

«Suerick hatte also mit Richter Landmann etwas zu tun?», fragte van Appeldorn.

«Ja, sicher, das war doch der Kerl, der ihn so reingelegt hat. Der sollte doch raus, der Suerick, in so eine Wohngemeinschaft. Und das hätte der auch geschafft, wenn Sie mich fragen. Aber dieser Landmann hat das einfach abgelehnt.»

«Und wann war das, Herr Welbers?», wollte Toppe wissen.

«Ja, also …» Welbers schloss die Augen. «Warten Sie mal, nicht, dass ich lüge … Jetzt haben wir August … das muss dann wohl im Juni gewesen sein, so vor sechs, sieben Wochen.»

«Und wie hat Suerick reagiert, als Landmann sein Ersuchen abgelehnt hat?»

«Der war fertig, der Mann. Kann man sich wohl vorstellen. Total fertig war der. Und sauer. Der hat bestimmt zwei Tage von nichts sonst mehr gesprochen. Aber dann ging es besser. Ist ja wohl auch in die Berufung gegangen, der Suerick. Aber ob das Aussicht hat, ich weiß es nicht.» Er wiegte zweifelnd den Kopf.

«Vielen Dank, Herr Welbers.» Toppe streckte ihm die Hand entgegen. «Wir sehen uns sicher noch.»

«Ja, tschüsskes, Herr Kommissar», antwortete Welbers beflissen, und als sie schon zum Auto gingen, rief er ihnen nach: «Wenn Sie mich fragen, mit dem Suerick sind Sie auf der falschen Spur. Wenn ich das mal sagen darf.»


Das Landeskrankenhaus Bedburg-Hau war Anfang des Jahrhunderts so angelegt worden, dass es völlig autark wirtschaften konnte, ein enorm großer Komplex mit allen möglichen Werkstätten, ein eigenes Dorf. Ein großer Park mit altem Baumbestand und Backsteinhäusern im Stil der Gründerzeit.

Sie fuhren langsam die schmalen asphaltierten Wege entlang und versuchten, anhand der Wegweiser zum richtigen Gebäude zu finden.

Toppe war schon ein paarmal hier gewesen. Heute gefiel ihm die Atmosphäre. Es war sonnig und still, und die vielen großen Bäume sorgten für ein freundliches Licht. Selbst die vergitterten Fenster und die hohen Zäune und Mauern vor einigen Gebäuden störten das dörfliche Idyll nicht, er konnte sich allerdings vorstellen, dass es bei Regenwetter ganz anders aussah.

«Schön hier», sagte er und kurbelte das Fenster herunter.

«Schön?» Van Appeldorn warf ihm einen erstaunten Blick zu. «Na, ich weiß nicht. Unter ‹schön› stelle ich mir was anderes vor!»


Martin Suerick saß zusammengesunken auf einem Stuhl in seinem Zimmer. Tausend Gedanken tummelten sich in seinem Kopf. Seit die Pfleger am Samstag mit den ersten Zeitungen gekommen waren, hatte er keine ruhige Minute mehr gehabt. Er verspürte eine unbezähmbare Lust, sich volllaufen zu lassen, damit endlich Ruhe herrschte in seinem Hirn.

Als der Pfleger hereinkam, schreckte er auf.

«Polizei will dich sprechen, Martin. Wegen Landmann.»

«Na endlich», dachte er.

«Ich rede nur mit denen, wenn Reimann dabei ist», sagte er bestimmt.

«Okay.» Der Pfleger klopfte ihm auf die Schulter. «Ich gehe ihn holen.»


Toppe und van Appeldorn warteten in einem kleinen Raum. Es war eine Art Büro mit einem Schreibtisch, einem Aktenschrank und einer niedrigen Sitzecke. Sie redeten nicht. Van Appeldorn hatte seine langen Beine von sich gestreckt und schaute durch das vergitterte Fenster hinaus auf die Müllcontainer im Hof. Sein Gesicht war ausdruckslos. Toppe kratzte sich den Bart und rupfte hin und wieder ein Haar aus. Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte mehr über Suerick und dessen Krankheit gewusst. Und gleichzeitig fragte er sich wohl zum hundertsten Mal, was in solchen Momenten in van Appeldorn vorging.

Ein junger Mann kam herein. Er war schmal, hatte glattes, braunes, schulterlanges Haar und auffallend müde Augen.

«Tag, mein Name ist Reimann», stellte er sich vor. «Ich bin hier der Stationsleiter und Psychologe. Herr Suerick möchte, dass ich bei dem Gespräch dabei bin. Hallo, Norbert.»

«Ach, du, Klaus. Hier bist du also gelandet.»

Van Appeldorn stand auf und drückte dem Psychologen die Hand.

«Wir haben zusammen Abi gemacht», erklärte er Toppe und setzte sich wieder.

Es klopfte laut, und Suerick kam ins Zimmer. Ein kräftiger Mann mit krausem Haar und dunklen, unruhigen Augen. Im linken Ohr trug er einen großen Silberring.

Er murmelte einen Gruß und ließ sich in einen der grünen Sessel fallen. Seine Jeans waren ausgeblichen, er trug ein blaues Hemd und merkwürdig klobige weiße Schuhe.

Toppes Blick fiel unwillkürlich auf Suericks Hände, als er sie auf die Sessellehnen legte. Sie waren breit, mit schwarzen Trauerrändern unter den Nägeln und einer Tätowierung auf dem rechten Handrücken. Toppe konnte nicht erkennen, was es war, denn die Hände waren ständig in Bewegung.

«Herr Suerick, wissen Sie, was passiert ist?», begann Toppe, nachdem er sich vorgestellt hatte.

«Ja, Landmann ist ermordet worden.»

Toppe nickte. «Und zwar am Donnerstag in der Gärtnerei Welbers. Sie arbeiten dort?»

«Ja, schon lange.»

«Waren Sie am Donnerstag auch dort?»

«Klar, aber bloß bis halb vier, oder so. Welbers mussten weg.»

«Und was haben Sie dann nach halb vier gemacht?»

«Ich bin hierher zurück.»

Seine Augen waren jetzt ruhiger, sein Blick flackerte nicht mehr zwischen Toppe und Reimann hin und her.

«Kann das jemand bestätigen?»

«Klar.» Er schaute den Psychologen fragend an. Der nickte ihm beruhigend zu.

«Warum sind Sie am Freitag nicht zur Arbeit gekommen?», fragte jetzt van Appeldorn.

«Freitags arbeite ich nicht. Therapiegruppe.»

«Und montags? Haben Sie montags auch Therapiegruppe?»

«Nein.» Suerick zögerte einen Moment. «Mir geht’s nicht gut.»

«Sind Sie am Donnerstag den ganzen Abend und die ganze Nacht hiergeblieben?», wollte jetzt wieder Toppe wissen.

«Nein, ich war im Kino.»

Toppe stutzte. Konnten die hier einfach so raus?

«In Kleve?», fragte er.

«Ja.»

«Dafür gibt es doch bestimmt Zeugen», griff van Appeldorn wieder ein.

Suerick schüttelte den Kopf und warf van Appeldorn einen provozierenden Blick zu. «Nein, ich war allein.» Er lachte leise. «Aber ich kann ja den Film erzählen.»

«Sie hatten mit Herrn Landmann zu tun», versuchte Toppe, das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

«O ja.» Suerick ballte die Hände zu Fäusten und kniff die Augen zusammen. «Dieses Schwein», stieß er zwischen den Zähnen hervor. «Der hat mir alles versaut.»

Reimann bewegte sich.

«Ich will nichts mehr sagen», raunte Suerick. «Mir ist schlecht. Ich will in mein Zimmer.»

«Ist gut», sagte der Psychologe und begleitete Suerick zur Tür.

Dann setzte er sich wieder. «Vielleicht kann ich erklären, was Sie wissen möchten.»

«Ja, bitte.»

«Also, Herr Suerick ist 1984 zu fünf Jahren Haft und Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt gemäß § 63 StGB verurteilt worden. Wir hier in der Klinik machen gemäß § 67 e StGB jedes Jahr eine Stellungnahme zum Therapieverlauf und zur Entwicklung unserer Patienten. Wie Sie sicherlich schon wissen, haben wir in unserer letzten Stellungnahme vorgeschlagen, Herrn Suerick bedingt zu entlassen. Er sollte allerdings in einer therapeutischen Wohngemeinschaft weiterbehandelt werden. Der externe Gutachter, der gemäß § 14.3 MRGV ein Gutachten über Herrn Suerick erstellen musste, war der gleichen Ansicht wie wir, und …»

«Augenblick, nicht so schnell», unterbrach Toppe ihn. «Maßregelvollzugsgesetz, klar. Aber worum geht es in § 14.3?»

«Es geht um die Verhältnismäßigkeit der Unterbringungsdauer. Wenn ein Patient länger als drei Jahre bei uns ist, wird ein neues Gutachten erstellt. Bei Suerick sind unsere Stellungnahme und das externe Gutachten zum selben Ergebnis gekommen. Die Strafvollstreckungskammer ist dann in ihrem Beschluss allerdings weder der Stellungnahme noch dem Gutachten gefolgt.»

«Kommt das häufiger vor?», fragte Toppe

«Nein, solange ich hier arbeite, ist es das erste Mal. Wir konnten es nicht nachvollziehen, weil sowohl die Stellungnahme als auch das Gutachten Suerick für durchaus fähig hielten, in einer therapeutischen Wohngruppe zu leben. Suerick hat dann ja auch beim Oberlandesgericht in Düsseldorf Widerspruch eingelegt.»

«Warum sitzt Suerick eigentlich bei euch, Klaus?», fragte van Appeldorn.

Reimann presste die Lippen zusammen. «Tut mir leid, Norbert, aber zu Herrn Suerick selbst werde ich dir nichts sagen. Es sei denn, er gibt mir sein Einverständnis und entbindet mich von meiner Schweigepflicht.»

«Was für ein Bockmist!», schnappte van Appeldorn. «Wir können uns doch jederzeit seine Gerichtsakten besorgen.»

«Dann müsst ihr das wohl tun. Aber warum fragst du mich dann überhaupt?»

«Ich weiß doch Bescheid, bei fünf Jahren und ’nem 63er muss es doch wenigstens Totschlag gewesen sein, und dann noch auf irgendeine perverse Weise. Und so einen wollt ihr dann wieder auf die Menschheit loslassen, na danke.» Er schnaubte.

«Jetzt pass mal auf, Norbert.» Reimann war sichtlich um Ruhe bemüht. «Soll ich mir hier deine dämlichen Vorurteile anhören, oder wollt ihr wirklich etwas wissen?»

«Du sagst uns ja doch nichts», gab van Appeldorn giftig zurück.

«Doch, ich kann dir schon etwas sagen. Zum Beispiel, dass es Patienten gibt, bei denen es überhaupt nicht läuft, und solche, bei denen alles eine optimale Entwicklung nimmt. Und diese Patienten kann man dann auch in externen Betrieben unterbringen. Du kannst davon ausgehen, dass wir das sehr genau prüfen. Und du kannst auch davon ausgehen, dass Freiheiten, sollte es Probleme geben, sofort eingeschränkt werden. Und noch etwas: Suerick hat seit über einem Jahr eine feste Freundin – von außerhalb –, und mit der läuft es sehr gut.»

Van Appeldorn verdrehte die Augen. «Na, dann will ich mal anders fragen: Glaubt ihr tatsächlich, dass man solche Typen heilen kann?»

Reimann lehnte sich zurück und atmete durch. «Eine hundertprozentig sichere Prognose kann dir keiner geben, wenn du das meinst. Aber es gibt doch klare Kriterien, die eine günstige Prognose ermöglichen, das heißt aus deiner Sicht, die dem Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft entgegenkommen. Und wir müssen dann entscheiden, welche Resozialisierungsschritte man mit dem jeweiligen Patienten unternimmt.» Er blickte van Appeldorn in die Augen. «Aber, wenn wir schon einmal bei den Vorurteilen sind, lies doch mal nach, wie hoch die Rückfallquote von psychisch kranken Straftätern mit Tötungsdelikt ist. Und dann vergleiche die mal mit der Rückfallquote von nicht psychisch kranken Straftätern. Du wirst dich wundern.»

Aber van Appeldorn fuhr sich unwillig durchs Haar. «Ich frage mich manchmal, wer in dem Laden hier bekloppter ist.»

Toppe verkniff sich mit Mühe einen scharfen Kommentar und griff ein.

«Können Sie Suerick nicht fragen, ob er damit einverstanden ist, wenn Sie uns jetzt gleich Auskunft über ihn erteilen?»

Reimann sah auf seine Armbanduhr. «Kann ich machen. Ich habe allerdings nicht viel Zeit.»

Er ging rasch hinaus.

«Wir werden den ED herschicken müssen wegen Suericks Schuhen», überlegte Toppe.

«Ja, und zwar schnellstens.» Van Appeldorn war aufgestanden. «Die stecken hier doch alle unter einer Decke.»

«Du hast doch ’n Vogel, Norbert. Komm mal wieder auf den Boden zurück.»

Aber van Appeldorn tippte sich nur vielsagend an die Stirn.


Suerick hatte sein Einverständnis nicht gegeben, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich über den Staatsanwalt Akteneinsicht zu bekommen.

Es war unnötig vertane Zeit.

Van Appeldorn fuhr bedeutend schneller als sonst. Keiner von beiden sagte ein Wort, bis die Spannung zwischen ihnen so stark war, dass Toppe es nicht mehr aushielt.

«Ist das deine ehrliche Meinung, Norbert?»

«Was?», blaffte van Appeldorn zurück.

«Du weißt genau, was ich meine.»

«Ach komm, fang du mir jetzt nicht auch noch mit diesem Sozialgewäsch an. Du kommst ja nicht von hier. Was meinst du denn, wie viele Kinder die schon abgemurkst haben, diese Typen, die als geheilt entlassen wurden. Ich möchte dich mal sehen, wenn so ein Kindermörder, der plötzlich geheilt ist, deine Jungen anquatscht.»

«Jetzt schalte mal deinen Kopf wieder ein! In den letzten Jahren hat es nur einen einzigen Vorfall gegeben, und das weißt du ganz genau.»

«Einer ist einer zu viel!»

Toppe erkannte van Appeldorn nicht wieder. «Worum geht es dir eigentlich?»

«Die spinnen doch, diese Psychologen. Dass die so etwas überhaupt beurteilen dürfen! Die haben doch selbst alle ’ne Macke, sonst wären sie wohl kaum Psychos geworden. Egal, ich will mich nicht aufregen. Lass uns aufhören davon.»

Toppe war hochrot geworden. «Ja, es ist wohl wirklich besser, wenn du aufhörst. Aber eins noch», setzte er scharf hinzu, «es wäre mir verdammt lieb, wenn du in Zukunft in einem solchen Fall deine persönliche Meinung für dich behältst.»

Van Appeldorn biss die Zähne zusammen. «Aber selbstverständlich, Herr Hauptkommissar.»

Ohne ein weiteres Wort hielt er vor dem Präsidium, und als Toppe ausgestiegen war, fuhr er mit quietschenden Reifen weiter.