Fünf
Um 16 Uhr 51 klopfte es. Toppe, der gerade mit seiner Frau telefonierte, verabschiedete sich schnell und warf van Appeldorn einen gequälten Blick zu.
«Ja, herein», rief er.
Die Tür wurde aufgestoßen, und herein kam, wie erwartet, Ackermann.
Ackermann war fünfunddreißig Jahre alt und kam aus Kranenburg, wie jeder wusste.
Van Appeldorn beschrieb ihn gewöhnlich mit einem einzigen Wort: Schrat.
Ackermann war klein und kauzig, hatte halblanges Haar von undefinierbarer Farbe und einen langen, wirren Bart. Er trug eine Brille mit dicken, getönten Gläsern und hatte auffallend schlechte Zähne. Verheiratet war er mit einer hünenhaften Holländerin, die jeder im Präsidium kannte, denn sie holte ihren Mann oft nach dem Dienst ab. Sie war weder zu übersehen noch zu überhören und meist in Begleitung eines moppeligen Kindes, das eine der drei Ackermann’schen Töchter sein musste, denn Söhne «konnte» er nicht, wie ebenfalls jeder wusste.
Ackermann war Kriminalhauptmeister und hieß mit Vornamen Josef, aber das wusste Toppe nur aus dessen Personalakte, denn jeder sprach ihn nur mit «Ackermann» an, erstaunlicherweise sogar seine Frau. Er war immer da, immer eifrig und redete ohne Punkt und Komma, wenn man ihn ließ. Seine Intelligenz war, wie van Appeldorn es ausdrückte, fragwürdig. Andere waren in ihren Beschreibungen weniger nett.
Um 16 Uhr 51 also hüpfte Ackermann in Toppes Büro – er hüpfte immer, wenn er aufgeregt war.
«Hallo, Leute! Is’ ma’ wieder Not am Mann?»
Toppe nickte einen Gruß, was Ackermann nicht merkte, denn er hatte sich bereits auf den Tatortbericht gestürzt, der auf van Appeldorns Schreibtisch lag.
Van Appeldorn legte seinen Arm über den Bericht.
«Na, Ackermann, heute kein Veteranentreffen?»
Ackermann gehörte einer höchst bemerkenswerten Kranenburger Organisation an, die sich «The Rubber Duckies» nannte. Vor zwanzig Jahren war das eine Schülergruppe gewesen, die nichts anderes im Sinn gehabt hatte, als möglichst viele Mädchen aufzureißen, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Alkohol zu trinken und überhaupt immer «einen draufzumachen». Aus Gründen, die Toppe nicht zu hinterfragen wagte, hatte sich diese Organisation erhalten, in Form von regelmäßigen «Veteranentreffen», auf denen man – unter Männern, versteht sich – möglichst oft das alte Schlachtlied «We are the Rubber Duckies» grölte und den ein oder anderen Liter Bier kippte. Jeder im Präsidium war genauestens darüber informiert.
«Ach wat, nee, ers’ nächsten Samstag wieder. Aber is’ ja sowieso nich’ mehr dat, wat et ma’ war. Der Gerd, zum Beispiel …»
«Herr Ackermann», fiel Toppe ihm ins Wort. «Sie können schon mal den Bericht durchlesen.»
«Ja, klar, mach ich, Chef, klar.» Er warf van Appeldorn einen Blick zu, dann fläzte er sich in einen der Sessel, die Toppe aus den anderen Büros geholt hatte, und nahm ein Päckchen Tabak der besonders starken Sorte «Javaanse Jongens» aus der Tasche.
Toppe beobachtete ihn fasziniert.
In der linken Hand hielt Ackermann den Bericht und las, während er mit rechts – einhändig – die Zigarette rollte.
Es klopfte wieder, diesmal leise. Margret Euwens, die Kollegin aus dem Zweiten Kommissariat – Sitte und Betäubungsmittel –, die einzige Polizistin im Präsidium, kam herein.
«Hallo», sagte sie in die Runde. «Also, Norbert, nächstes Mal sucht ihr euch aber jemand anderen für so was, wenn ich bitten darf. Frau Landmann hat ihren Mann zwar eindeutig identifiziert, aber es war wirklich schlimm. Die Frau ist total zusammengeklappt. Furchtbar!»
Sie sah Toppe an. «Ich habe gerade den Chef getroffen, Helmut. Er hätte gern so schnell wie möglich deinen Bericht. Ab 17 Uhr 30 kannst du ihn telefonisch zu Hause erreichen.»
Wie aufs Stichwort schrillte das Telefon. Toppe schaute auf die Uhr und lächelte. Es war Punkt fünf. Er nahm den Hörer ab und meldete sich: «Erstes Kommissariat, Haupt…»
«Geschenkt, Helmut. Hier ist Arend.»
Toppe rückte seinen Notizblock zurecht und hörte schweigend zu, ab und an schrieb er etwas auf.
In der Zwischenzeit füllte sich der Raum mit Leuten. Van Appeldorn schickte Ackermann nach Kaffee.
Als Toppe den Hörer auflegte, war die Soko komplett.
Rechts von der Tür saß mit grimmiger Miene Paul Berns, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Daneben van Gemmern, ruhig und aufrecht, ein paar Zettel in der Hand. Neben ihm Kommissar Günther Breitenegger, der sich leise mit van Appeldorn unterhielt.
Toppe nickte in die Runde. «Ich habe mir gedacht, dass van Appeldorn uns zunächst einmal seinen Bericht vom Tatort gibt. Danach kann ich ein paar vorläufige Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung vorlegen, und vielleicht können Herr Berns und Herr van Gemmern auch schon einige Ergebnisse beitragen. Norbert, fängst du bitte an?»
Van Appeldorn verlas seinen Bericht ohne erklärende Bemerkungen. Er war knapp, wie immer etwas hölzern in den Formulierungen, aber präzise und ausreichend.
Toppe ergänzte gerade sein Gespräch mit der Familie Welbers, als die Tür aufgestoßen wurde und Ackermann hereinpolterte. «Kaffee für de ganze Belegschaft!»
«Setz dich, Ackermann», sagte van Appeldorn.
Toppe nahm sich einen Becher Kaffee vom Tablett und lehnte sich gegen die Fensterbank. «Dr. Bonhoeffer hat bis jetzt Folgendes festgestellt: Die eigentliche Todesursache ist ein Genickbruch. Darüber hinaus hat der Tote zahlreiche massive Verletzungen, unter anderem Zertrümmerung der Hirnschale und des Gesichtsschädels, aber auch Verletzungen am Brustkorb und an den Armen. Es sieht so aus, als seien dem Mann diese erst beigebracht worden, als er bereits im Sack steckte, aber Bonhoeffer kann noch nicht mit Sicherheit sagen, ob das auf alle zutrifft. Nach dem ersten Augenschein könnten ihm ein paar Blessuren auch vorher beigebracht worden sein. Bei der Tatwaffe handelt es sich wohl um eine runde Metallstange. Die Todeszeit liegt zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Uhr. Das wäre wohl zunächst alles.» Er besann sich. «Nein, noch etwas. Es scheint kein Kampf stattgefunden zu haben.»
Dann trank er einen Schluck Kaffee und schüttelte sich. Die Brühe war lauwarm und bitter.
«Herr Berns, was hat sich am Tatort ergeben?»
«Ja, also, hauptsächlich Schuhspuren erst mal», antwortete Berns und räkelte sich langsam aus seiner gemütlichen Sitzhaltung hoch. «Im Schuppen selbst war das schwierig. Betonboden, alles verwischt. Aber vor dem Schuppen und in der Umgebung wimmelt es nur so von Abdrücken. Durch den Regen vorher sind ein paar richtige Prachtexemplare dabei. Arbeitsschuhe und jede Menge Turnschuhe. Klaus, was haben wir da schon ausgewertet?»
Klaus van Gemmern blickte auf seinen Zettel. «Verschiedene Fabrikate: Adidas, Nike, Puma, zwei japanische Hersteller, dann Adimed und Straßenschuhe.»
«Wat is’ denn Adimett?», wisperte Ackermann Berns zu, der ihm gegenübersaß.
Berns deutete stumm auf van Gemmern. Der zuckte die Schultern. «Ich muss mich noch genauer erkundigen. Aber Adimed-Schuhe trägt man, glaube ich, nach Bänderverletzungen.»
«Bänderverletzungen», murmelte Ackermann und nickte bedeutungsvoll.
Berns nahm seinen Faden wieder auf. «Die Tatwaffe haben wir noch nicht gefunden. Wir haben aber natürlich den Tatort abgeriegelt und jemanden dagelassen. Wenn wir nicht hier sein müssten, wären wir schon viel weiter. Hoffentlich bleibt es lange hell.»
Als keiner auf diese Spitze reagierte, fuhr er fort: «Zur Leiche haben wir ja schon die Meinung des Doktors gehört. So was können wir selbstverständlich nicht beurteilen, nicht wahr?»
Auch darauf erwiderte Toppe nichts.
Er öffnete das Fenster, setzte sich wieder auf seinen Platz, nahm eine Schachtel Eckstein aus der Schreibtischschublade und zündete sich eine Zigarette an.
Keiner sagte etwas.
«Was haben wir noch?», fragte Berns sich selbst. «Also, jede Menge Papierchen und Zettel, die im Schuppen, davor und in der Umgebung lagen. Die meisten sind völlig aufgeweicht und verdreckt. Klaus, du hast dir die Dinger doch angeguckt.»
«Es sind zwölf, die meisten müssen wir noch auswerten. Vier Stück waren so gut erhalten, dass ich sie entziffern konnte. Sie befanden sich alle in unmittelbarer Nähe des Leichnams.»
«Wie unmittelbar?», fragte Toppe.
«Im Umkreis von circa vier Metern. Da wäre ein Kassenbon vom ‹Grünen Warenhaus› über 93 Mark 35 vom 15. Juni 1988, dann ein Einkaufszettel, handgeschrieben, zwölf Posten. Soll ich sie vorlesen?»
«Bitte», forderte Toppe ihn auf.
«‹3l Milch, 1Pf. Hack, Tomaten i.d.Dose, Milkana, Apfelsaft, 200g Schinkenspeck, Majoran, Cola, Blättchen, Steinofenbrot, 2Pf. Käse, mittelalt, Obst.› Dann haben wir noch einen kleinen, ebenfalls handgeschriebenen Zettel, auf dem ‹Lavendel gegen Ameisen› steht, und eine abgerissene Kinokarte vom Burgtheater mit der Nummer 7086. Das wäre zunächst alles.»
«Okay», meldete sich Berns wieder zu Wort, «hinterm Schuppen in den Büschen jede Menge Müll. Unter anderem drei benutzte Pariser, ein Damenschlüpfer, weiß, Größe 40 – muss es wohl eilig gehabt haben, die Dame, hä, hä –, und eine Rewe-Plastiktüte mit einer leeren Aquavitflasche, Marke ‹Alter Kapitän›. Das war’s wohl. Oder haben wir noch was, Klaus?»
«Doch, ja, auch wir konnten keine Anhaltspunkte dafür finden, dass ein Kampf stattgefunden hat.»
«Du meine Güte», staunte Breitenegger, «das ist ja tatsächlich mal ein richtiger Fall! Eine Leiche, bei der der Täter nicht gleich daneben steht. Das hatten wir schon lange nicht mehr. Ist sicher zwei Jahre her.»
Günther Breitenegger war ein besonnener Mensch. Er war dreiundfünfzig Jahre alt und kam aus Bayern, war aber schon seit vielen Jahren am Niederrhein.
«Sag mal, Toppe, was war denn das für einer, dieser Landmann?»
«Na, auf jeden Fall konnte den einer nicht leiden, das ist wohl klar», mischte sich Berns ein, bevor Toppe antworten konnte. «So, wie die Leiche aussah, muss jemand einen ganz schönen Rochus gehabt haben, für mich sieht das alles verdammt nach Rache aus.»
«Ganz genau», rief Ackermann. «Wir haben ma’ ’n Lehrer vermöbelt, nachts, mit fünf Mann. Hinter de Ecke, er kommt, Sack übern Kopp un’ dann drauf, aber mit Schmackes. Den hätt ons äwel ok gepiesackt.» Er geriet geradezu ins Schwärmen.
Toppe sträubten sich die Nackenhaare, wie immer, wenn jemand in diesen Dialekt fiel, von dem er nach wie vor nicht eine Silbe verstand.
«Schreien Sie nicht so, Ackermann», sagte er laut und riss sich ein Barthaar aus.
«Rache …», murmelte er dann. «Es ist wohl noch etwas zu früh, über mögliche Motive nachzudenken, solange wir den genauen Tathergang nicht kennen und praktisch nichts über das Opfer wissen.»
«Was wissen wir denn?», fragte Breitenegger.
Van Appeldorn zitierte aus Landmanns Pass. «Außerdem hat Helmut mit der Ehefrau gesprochen.»
«Ja, aber nur kurz. Morgen früh werde ich mich ausführlicher mit ihr und der Tochter unterhalten, hoffe ich. Merkwürdig erscheint mir im Moment nur, dass die Frau die Polizei nicht benachrichtigt hat, obwohl ihr Mann nicht nach Hause kam, was vorher noch nie vorgekommen war. Sie hatte wohl Angst, ihr Mann könnte wütend werden. Der legte viel Wert auf seinen untadeligen Ruf, wie sie mir erzählte.»
«Raubmord», überlegte Ackermann laut.
Keiner schenkte ihm Beachtung.
Toppe und van Appeldorn hatten Zeit genug gehabt, die wenigen Fakten, die sie bis jetzt gesammelt hatten, aufzulisten und sich die nächsten Schritte zu überlegen. Es war wichtig, ein klares Bild von der Persönlichkeit des Richters zu bekommen. Bis jetzt wussten sie so gut wie nichts über ihn.
Über ein Tatmotiv konnten sie nicht einmal spekulieren. Dafür gab es eine ganze Menge offener Fragen. Toppe hatte eine Liste erstellt. Es war ungünstig, dass das Wochenende vor ihnen lag. Einen wichtigen Anhaltspunkt mussten sie bis Montag vernachlässigen.
«Ich denke», begann er, «Berns und van Gemmern werden am Tatort noch bis Montag mit den Auswertungen zu tun haben.»
«Aber mindestens», bestätigte Berns.
«Norbert wird am Montagmorgen bei Gericht mit Landmanns Kollegen sprechen», fuhr Toppe fort. «Und ich werde gleich morgen früh mit Landmanns Familie reden. Vielleicht ergeben sich daraus schon einige Hinweise. Breitenegger, Sie werden wohl die Bereitschaft machen.»
Breitenegger brummte zustimmend und stopfte seine Pfeife. Er war daran gewöhnt, fast seine gesamte Arbeitszeit im Büro zu verbringen, denn seit Jahren schon wurde er bei Tötungsdelikten als Aktenführer eingesetzt.
«Und ich?», rief Ackermann.
«Dir, Ackermann», antwortete van Appeldorn, ohne zu zögern, «dir werden wir natürlich einen der wichtigsten Arbeitsbereiche anvertrauen.»
Toppe runzelte unwillig die Stirn. «Die Alibis der Familie Welbers müssen überprüft werden und auch die der Leute, die bei ihnen arbeiten. Frau Matenaar und Alois Janssen. Wie ist das, Herr Ackermann, übernehmen Sie das morgen früh zusammen mit van Appeldorn?» Vorsichtshalber blickte er nicht in van Appeldorns Richtung.
«Geht klar, Chef.» Ackermann tippte sich gegen einen imaginären Mützenschirm. «Bei Mord gibt et keine Freizeit, logo.»
«Nehmt Kopien von den Zetteln mit, die der ED gefunden hat», sagte Toppe. «Und fragt mal, ob die Leute von der Gärtnerei etwas damit anfangen können. Und erkundigt euch, ob sie Landmann eventuell gekannt haben.» Ackermann schrieb sorgfältig mit.
«Was ist eigentlich mit diesem Suerick? Kann man im LKH am Wochenende mit den Ärzten und Psychologen sprechen?», fragte Toppe in die Runde.
Überraschenderweise war es van Gemmern, der darauf antwortete. «Mit den zuständigen Leuten werden Sie sicher nicht vor Montag reden können.»
«Na gut, dann würde ich vorschlagen, wir treffen uns am Montag früh um acht hier bei mir und tragen unsere Ergebnisse zusammen. Breitenegger, Sie unterrichten den Staatsanwalt, er wird sicher dabei sein wollen.» Toppe schob seine Notizen zusammen. «Norbert, ich glaube, das Gespräch mit Mutter und Tochter Landmann sollte einer allein führen.»
«Ist mir sehr recht. Ich habe morgen Mittag ein Spiel.»
Van Appeldorn spielte Fußball in der Altherrenmannschaft vom SV Siegfried Materborn.
«Aber vielleicht brauche ich dich später noch. Je nachdem, was bei dem Gespräch herauskommt.»
Van Appeldorn nickte und stand auf. Die anderen nahmen das als Zeichen und verabschiedeten sich.
Toppe hielt van Appeldorn zurück. «Mein Wagen steht noch an der Flutstraße. Kannst du mich hinfahren?»
«Sicher, und denk an den Anruf beim Chef.»
«Mach ich von zu Hause aus. Ich muss unbedingt vorher etwas Warmes essen.»
«Kannst du nicht schlafen?» Gabi strich ihm über den Arm.
«Wie spät ist es?», fragte Toppe heiser.
«Zwanzig nach zwei.»
«Ach, verdammt. Ich glaube, ich habe zu viel gegessen.» Er drehte sich auf den Rücken.
Sie kuschelte sich an ihn und streichelte ihn langsam. Er seufzte und hielt ihre Hand fest.
«Tut mir leid, ich …»
«Ja, ich weiß schon, der neue Fall.» Sie rückte ein Stück von ihm weg.
«Sauer?», fragte er leise und küsste sie aufs Ohr.
«Nein, nicht so schlimm. Versuch zu schlafen.»
«Ja.» Er drehte sich um.
Landmann muss seinen Mörder gekannt haben, dachte er. Kein Kampf, keine Schleifspuren.