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Vier

«Merkwürdige Gegend», dachte Toppe, als sie in die Annabergstraße einbogen, in der Landmann gewohnt hatte.

Nicht weit vom weißen Bungalow des Richters entfernt standen vier kahle Wohnblocks. Ursprünglich war der Platz zwischen diesen Häusern wohl einmal als Garten angelegt worden. Ein paar kümmerliche Reste davon waren noch zu erkennen, zwei, drei vertrocknete Sträucher, ein ausgehungertes Bäumchen. Zwischen festgetretenem Kies wucherte Unkraut, und überall hatten sich große Wasserpfützen gebildet.

Aus dem Fenster unten links an der Straße lehnte, die Ellbogen auf ein Kissen gestützt, eine dicke Frau und beobachtete van Appeldorns Wagen. Die sechs Mopedfahrer, die mit ohrenbetäubendem Geknatter zwischen aufspritzendem Kies und Wasser ihre Runden um den letzten Wohnblock drehten, schien sie nicht wahrzunehmen.

Links von Landmanns Haus lagen weitere Bungalows, die meisten hinter hohen Hecken verborgen. Gegenüber führte die Waalstraße bergauf ins Materborner Neubaugebiet mit seinen Mittelklasseklinkerhäusern.

«Scheint eine Spezialität dieser Stadt zu sein, solche Blocks direkt neben die Nobelhäuser zu setzen», stellte Toppe fest.

«Was?» Van Appeldorn war mit seinen Gedanken woanders.

«Am schlimmsten finde ich es oben am Klever Berg», fuhr Toppe fort. «Ob wohl ein Konzept dahintersteckt?»

Van Appeldorn zuckte die Achseln. «Was weiß ich?»

Toppe stieg aus. «Ich nehme mir ein Taxi zurück», rief er laut, denn die Mopeds brausten gerade, mit fixem Schwung dem Auto ausweichend, zur katholischen Grundschule hoch.

Toppe öffnete das schwarze Holztor vor Landmanns Haus und ging über einen schmalen, plattierten Weg zur Tür.

Es gab kein Namensschild, nur einen runden Messingklingelknopf.

Toppe nahm die Schultern zurück, räusperte sich zweimal und schellte.

Es dauerte nicht einmal zehn Sekunden, bis die Tür geöffnet wurde.

«Ja?» Eine Frau stand vor ihm. Sie war schlank, hatte rotblondes, halblanges Haar und trug eine Brille mit schmalem Goldrand. Ihr Haar war ungekämmt, das Make-up fleckig und um die Augen herum verschmiert.

«Frau Landmann?»

«Ja.»

Toppe zog seinen Dienstausweis aus der Tasche. «Helmut Toppe von der Kriminalpolizei Kleve.»

Ihre müden Augen weiteten sich. «Was ist mit meinem Mann?», flüsterte sie.

«Darf ich hereinkommen?» Toppe trat einen Schritt vor.

«Natürlich, bitte.» Sie fuhr sich durchs Haar, schloss die Tür hinter Toppe und ging durch den dunkel getäfelten Flur voraus in den Wohnraum. In der Tür drehte sie sich um. «Was ist mit meinem Mann?», fragte sie wieder.

«Wir sollten uns erst einmal setzen», antwortete Toppe.

Das Wohnzimmer war sehr groß und hatte zum Garten hin bodentiefe Fenster. Auf dem hellen Parkettboden lagen mehrere dicke Perserteppiche. Rechts stand ein Eichentisch mit acht hochlehnigen Stühlen, die ganze linke Wand nahm ein Schrank ein, davor standen zwei schwarze Ledersofas und zwei Sessel um einen runden Couchtisch mit dunkelgrüner Marmorplatte. Auf dem Tisch lagen eine Zigarettenschachtel und ein goldenes Feuerzeug neben einem großen Kristallaschenbecher, der voller Kippen war. Die Terrassentür war ein Stück geöffnet, trotzdem war es stickig im Raum. Die Deckenlampe brannte, obwohl die Sonne ins Zimmer schien.

Toppe setzte sich auf das Sofa an der Fensterseite, Frau Landmann hockte sich ihm gegenüber auf die äußerste Kante, die Arme auf die Knie gestützt. Sie sah ihn an.

Neben ihrem Fuß stand das Telefon, die Schnur ringelte sich quer durchs Zimmer bis in den Flur.

Toppe gab sich einen Ruck. «Frau Landmann, wir haben heute Morgen in Bedburg-Hau einen Toten gefunden, am Trimmpfad. Und wir glauben, dass es sich um Ihren Mann handelt. Er wurde ermordet.»

Sie starrte ihn weiter an. Es kam ihm vor wie Minuten. Nur mühsam unterdrückte er den Impuls, mit einem beschwichtigenden Satz das Schweigen zu brechen.

Endlich bewegte sie sich. Sie schlug die Hände vors Gesicht und wiegte den Oberkörper vor und zurück.

Toppe wartete.

Schließlich nahm sie die Hände herunter. Sie weinte nicht, war nur noch blasser geworden, auch ihre Lippen waren farblos.

«Ich habe es gewusst, ich habe es die ganze Zeit gewusst.»

«Was haben Sie gewusst, Frau Landmann?»

«Dass etwas passiert ist. Arno ist noch nie die ganze Nacht weggeblieben, noch nie.»

«Fährt Ihr Mann einen weißen Saab mit dem Kennzeichen KLE-AK 478?»

«Ja», antwortete sie tonlos. «Ermordet …»

«Wohin ist Ihr Mann gestern gefahren? Und wann?»

«Er wollte zum Joggen, wie immer. Gegen halb acht, glaube ich.»

«Welche Kleidung trug er, als er wegfuhr?»

«Er hatte seinen grauen Jogginganzug an.»

«Schuhe?»

«Weiße Joggingschuhe.»

Toppe nickte.

Da sprang sie plötzlich auf und stürzte hinaus in den Flur. Toppe hörte, wie sie eine Tür aufriss, dann hörte er sie würgen.

Er wartete zwei Minuten, ehe er ihr folgte. Sie hockte neben dem Gästeklo, kalkweiß, das Gesicht glänzte vor Schweiß. Ihre Brille lag auf dem Fliesenboden.

«Das ist der Kreislauf», bemerkte Toppe ruhig und fasste ihren Arm. «Kommen Sie.»

Langsam führte er sie ins Wohnzimmer zurück und zum Sofa. «Legen Sie sich einen Moment hin. So ist es gut.» Er hob ihre Beine an und bettete sie auf die Armlehne. «Atmen Sie langsam und tief, so ja. Haben Sie Cognac im Haus?»

Sie schüttelte abwehrend den Kopf, hielt die Augen geschlossen.

«Doch», beharrte Toppe. «Ein Schluck Alkohol hilft.»

«In der Bar», sagte sie mit steifen Lippen.

Er blickte sich um. In der Schrankwand war ein großes Klappfach, das konnte die Bar sein. Er fand einen feinen, alten französischen Cognac und Gläser aus geschliffenem Bleikristall und schenkte ein.

«Hier, bitte.» Er wollte ihr helfen, sich aufzusetzen, aber sie schob seine Hand weg. «Es geht schon wieder.» Dann nahm sie die Beine von der Lehne und setzte sich auf.

«Bleiben Sie besser noch ein bisschen liegen.»

Toppe nahm wieder seinen Platz ihr gegenüber ein.

«Nein, es ist schon besser.» Sie zündete sich eine Zigarette an. «Was wollen Sie wissen?»

«Ihr Mann ist also gestern zum Joggen gegangen. Joggte er regelmäßig?»

«Ja, jeden Abend, bis auf sonntags.»

«Und immer in Bedburg?»

«Nein», antwortete sie und schaute in die Ferne. «Nur selten. Normalerweise läuft er hier oben am Treppkesweg.»

«Und warum ist er gestern zum Laufen nach Bedburg gefahren?»

«Ich weiß es nicht. Er hat mir nichts gesagt.»

«Gestern hat es den ganzen Tag geregnet.»

«Ja, und?» Sie schaute ihn verständnislos an. «Ach so, Arno läuft immer, auch wenn es regnet.»

«Und wann kam er gewöhnlich zurück?»

«Je nachdem. Meistens so nach anderthalb Stunden.»

«Dann hätte er also gegen neun Uhr wieder zu Hause sein müssen.»

«Ja.»

Und dann fing sie plötzlich an zu weinen. Sie tastete nach ihrer Brille, merkte, dass sie sie gar nicht trug, und wischte sich hastig die Tränen ab.

«Frau Landmann, haben Sie die Polizei benachrichtigt, als Ihr Mann nicht zur gewohnten Zeit nach Hause kam?»

Sie schwieg. «Das konnte ich nicht», antwortete sie nach einer Weile.

Toppe schaute sie fragend an.

«Ich habe einfach gewartet.»

«Wie lange?»

«Bis Sie kamen.»

Toppe versuchte, das zu verdauen. «Sie haben die ganze Nacht gewartet und nichts unternommen?»

«Ja.» Sie schaute auf den Telefonapparat. «Ich konnte nicht.»

«Sie konnten nicht?» Die Formulierung befremdete ihn. «Warum nicht? Sie müssen sich doch Sorgen gemacht haben.»

Sie nickte und weinte wieder. «Arno mag es nicht, wenn man Dinge künstlich hochspielt. Ich dachte, er hat vielleicht jemanden getroffen und ist irgendwo hingegangen.»

«Tat er das manchmal?»

«Nein. Nie. Er war immer pünktlich. Aber es hätte doch sein können … Und dann dachte ich, vielleicht eine andere Frau …»

«Hatte Ihr Mann Beziehungen zu anderen Frauen?»

Sie schüttelte heftig den Kopf. «So ist er nicht. Er ist nicht der Typ dafür.»

Toppe wartete. «Ich konnte doch die Polizei nicht anrufen», jammerte sie. «Die Nachbarn hier und dann die Kollegen … Das hätte sich doch herumgesprochen. Mein Mann ist Richter, Herr Kommissar. Wir müssen auf seinen Ruf achten.»

«Haben Sie Kinder, Frau Landmann?»

«Wir haben eine Tochter, Sabine. Sie ist sechzehn.»

«Und wo ist Sabine jetzt?»

«Bei ihrer Theatergruppe in der Schule.»

«Ihr Vater ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Sie sind voller Sorge, und Sabine geht zu ihrer Theatergruppe?» Toppe mochte es nicht glauben.

«Ja», antwortete sie und schob das Kinn vor. «Ich habe sie geschickt. Aber Sabine wusste es auch so. Mein Mann billigt es nicht, wenn man seine Pflichten vernachlässigt.»

Sie lachte trocken auf.

«Frau Landmann, ich weiß, dass es schwer für Sie sein wird, aber Sie werden Ihren Mann identifizieren müssen.»

Sie starrte ihn an und nickte dann zögernd.

«Ich werde Ihnen eine Beamtin schicken, die Sie begleiten wird. In zwei Stunden, etwa, passt Ihnen das?»

«Ja.»

«Wann kommt Ihre Tochter zurück?»

«Um kurz nach eins.»

«Gut, dann muss sie ja gleich hier sein. Kann ich Sie allein lassen?»

«Ja.»

Er schaute sie zweifelnd an.

«Doch, wirklich.»

«Darf ich dann mal Ihr Telefon benutzen? Ich müsste mir ein Taxi bestellen.»

«Ja, natürlich.»

Er hockte sich neben das Telefon, das immer noch auf dem Boden stand, und hatte plötzlich das Bedürfnis, ganz schnell von hier wegzukommen.


Als er auf dem Bürgersteig stand und auf das Taxi wartete, zündete er sich erst einmal eine Zigarette an. Dann schlenderte er ein Stück die Straße hinunter an den Wohnblocks vorbei. Die Mopedfahrer waren verschwunden. Ein kleines Mädchen kam auf seinem Dreirad über den Vorplatz gefegt und düste an ihm vorbei auf die Straße.

«He», rief Toppe. «Du solltest lieber auf dem Bürgersteig fahren.»

Das Kind streckte ihm die Zunge raus, «Arschpuper!», und setzte unbeirrt seinen Weg fort.

Die dicke Frau lag immer noch im Fenster und beobachtete ihn ungeniert. Toppe nickte grüßend. Sie rührte sich nicht.

In diesem Moment kam das Taxi. Toppe winkte.

«Zum Polizeipräsidium, Emmericher Straße, bitte.»

«Geht klar, Meister. Übrigens, Nichtrauchertaxi.»

Toppe warf die Zigarette in den Rinnstein. Er hatte sowieso ein flaues Gefühl im Magen. Einen Augenblick erwog er, das Taxi an einer Imbissbude halten zu lassen, aber er konnte wohl schlecht hier im Auto essen, und im Präsidium wollte er nicht mit einer Portion Pommes auftauchen. Vielleicht gab es ja noch etwas in der Kantine.


Van Appeldorn saß an der Schreibmaschine, eine Lucky Strike im Mundwinkel, und tippte mit zwei Fingern.

«Gibt es was Neues?» Toppe ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen.

«Moment», knurrte van Appeldorn. «Ich bin gleich so weit.»

«Der Bericht vom Tatort?»

Van Appeldorn nickte.

Toppe griff zum Telefon und rief in der Kantine an. «Hilde? Toppe hier. Sag mal, habt ihr noch was Essbares da? Käsebrötchen? Sonst nichts? Na, in Gottes Namen. Stell mir vier Stück zurück und eine Kanne Kaffee, ja? Danke dir.»

Van Appeldorn zog das Blatt aus der Maschine.

«Nein, was Neues gibt es nicht», sagte er. «Ich habe Landmanns Auto herbringen lassen und den Bericht getippt. Die Presse steht uns übrigens auf den Füßen. Haben wohl ihre geheimen Kanäle angezapft. Ich habe denen gesagt, sie bekommen später einen Kurzbericht. Und wie war’s bei dir?»

Toppe verschränkte die Hände im Nacken. «Ein bisschen seltsam. Die Ehefrau war zu Hause. Sie hat die ganze Nacht auf ihren Mann gewartet. Eine Tochter gibt es auch, aber die war zum Theaterspielen in der Schule. Frau Landmann hat die Polizei nicht benachrichtigt, weil ihr Mann das nicht gebilligt hätte. Hört sich für mich nach einem ganz Hundertprozentigen an. Ich werde morgen noch mal nachhaken, wenn die Frau wieder bei sich ist.» Dann setzte er sich auf. «Sag mal, ist Margret im Haus? Wegen der Identifizierung.»

«Keine Ahnung. Ich kann ja mal nachsehen.»

«Ja, mach mal. Ich habe der Landmann gesagt, die Beamtin käme so gegen drei.» Er stand auf. «Ich geh mal kurz runter in die Kantine. Bin gleich wieder da.»


Als er zwanzig Minuten später mit zwei Bechern Kaffee zurückkam, saß van Appeldorn wieder am Schreibtisch.

«Geht klar mit Margret, sie hat sich schon mit der Witwe in Verbindung gesetzt.»

«Fein», antwortete Toppe, mit den Gedanken woanders. «Glaubst du, man kann bei Gericht heute noch jemanden erreichen? Bis zur Soko-Sitzung sind es fast noch zwei Stunden. Vielleicht können wir ja in der Zwischenzeit bei einem der Richterkollegen herausfinden, welche Fälle Landmann in letzter Zeit bearbeitet hat.»

Van Appeldorn runzelte skeptisch die Stirn. «Die machen freitags immer früh Feierabend auf der Burg. Aber ich versuch es mal.»

Er wählte die Nummer der Justizbehörden auf der Schwanenburg. «Van Appeldorn hier, Kripo Kleve. Ich würde gern Herrn Landmann sprechen.»

Toppe prustete in seinen Kaffee.

«Meldet sich nicht? So, so. Dann geben Sie mir doch mal die Strafvollstreckungskammer … Frau Kaets? Tach, van Appeldorn hier. Sagen Sie, wer von den Richtern ist denn noch im Haus? … Keiner? Na, wunderbar! Ja … ja, sicher, ja … Tschüss.»

Dann wandte er sich Toppe zu. «Wie ich es mir gedacht hatte. Vor Montag läuft da nichts.»

Der zuckte die Achseln. «Hast du alle erreicht wegen der Teamsitzung?»

«Alle, bis auf Heinrichs. Der ist noch bis übernächste Woche im Urlaub.»

«Und wer ist der Ersatzmann?», fragte Toppe und ahnte es schon. «Sag bloß nicht …»

«Doch, genau der.» Van Appeldorn grinste.