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Drei

Als Toppe aus dem Haus kam, waren die beiden Männer vom Erkennungsdienst schon bei der Arbeit.

Paul Berns, der Ältere der beiden, hockte neben dem Toten und kramte in seinem Koffer. Er war Anfang fünfzig, klein und dickbäuchig, mit einer Halbglatze und einem feisten Gesicht. Toppe mochte ihn nicht. Berns war geschwätzig und großmäulig. Aber obwohl er gern mal einen trank und dann auch aufdringlich werden konnte, bei seiner Arbeit war er gründlich. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren war er schon beim ED und damit der erfahrenste Mann im Ersten Kommissariat.

Der andere ED-Mann, der gerade dabei war, die ersten Fotos zu machen, war jünger, noch keine vierzig, Klaus van Gemmern. Er war das genaue Gegenstück zu Berns, lang und dünn, fast schon hager, mit einem kantigen, grauen Gesicht und äußerst schweigsam. Er war noch nicht lange bei der Truppe. Toppe hatte erst zweimal mit ihm zu tun gehabt. Beide Male waren ihm in guter Erinnerung, denn van Gemmern besaß eine ausgezeichnete Kombinationsgabe. Seine Berichte waren knapp und präzise, ohne Schnörkel und Spekulationen.

Als Toppe durch die Schuppentür trat, nickte van Gemmern ihm kurz zu. Berns sprang auf.

«Hören Sie mal, Norbert sagt, wir sollen warten, bis der Doktor kommt. Meinen Sie, wir kriegten das nicht hin, oder was?» Es war nicht zu übersehen, dass er geladen war und sich nur mühsam beherrschen konnte.

«Mir ist es einfach lieber, wenn Bonhoeffer von Anfang an dabei ist», erwiderte Toppe ruhig. Van Appeldorn war nirgends zu sehen. Auch Flintrop und Heiligers waren verschwunden.

Dann sah er Bonhoeffers Jaguar heranrollen und neben dem Zaun parken.

Toppe ging ihm entgegen.

Bonhoeffer nahm seine Tasche aus dem Kofferraum. «Morgen, Helmut.» Sein Lächeln war warm. «Du bist ein wenig blass um die Nase. Hast du nicht gefrühstückt?»

«Dazu bin ich leider nicht gekommen», antwortete Toppe säuerlich.

Bonhoeffer schaute auf seine Armbanduhr. «Jetzt ist es kurz nach elf. Wenn wir hier fertig sind, könnten wir doch eigentlich was essen gehen, was meinst du? Ich habe da ein kleines Lokal entdeckt, in dem es hervorragenden Fisch gibt. Wie wär’s? Wir haben lange nicht zusammengehockt.»

«Fisch auf nüchternen Magen?» Toppe rümpfte die Nase, grinste dann aber. «Na, mal sehen.»

Vom Parkplatz her kam van Appeldorn auf sie zu. «Morgen, Arend.»

«Morgen, Norbert.» Bonhoeffer betrachtete ihn interessiert. «Sie wollen also heute endlich der unheiligen Verbindung ein Ende setzen.»

«Wie bitte?» Van Appeldorn runzelte verständnislos die Stirn.

«Na, so elegant, wie Sie heute gekleidet sind, könnte man meinen, Sie wollten in den heiligen Stand der Ehe treten.»

Toppe verbiss sich das Lachen, und auf dem Weg zum Schuppen erzählte er von der Eröffnungsfeier, von der sie weggerufen worden waren.

«Morgen, Doc!», rief Berns beflissen.

Bonhoeffer blickte eine ganze Weile schweigend auf den Toten und stellte dann seine Tasche ab. «Na, dann», nickte er Berns zu.

Toppe drehte sich weg. Seit er bei der Kripo war, hatte er etliche Menschen gesehen, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren, aber es fiel ihm immer noch schwer, bei der ersten gründlichen Inaugenscheinnahme einer Leiche zuzuschauen.

Van Appeldorn fasste ihn am Ellbogen «Drüben auf dem Parkplatz steht ein Auto. Soll ich mal feststellen, wem es gehört?»

«Einem Jogger vermutlich», erwiderte Toppe. «Aber ja, ruf bei der Leitstelle an. Und frag die Welbers, ob sie das Auto vielleicht kennen.»

«Helmut? Wir wären dann so weit», rief Bonhoeffer.

Toppe seufzte in sich hinein. «Bin schon da.»

Sie hatten den Sack entfernt. Bonhoeffer betrachtete die Verletzungen genauer, Berns durchwühlte derweil die Taschen des Toten.

Toppe hatte mit Schlimmem gerechnet, aber das hatte er nicht erwartet. Mit einem kurzen Blick versuchte er, alle Einzelheiten in sich aufzunehmen.

Der Tote lag noch auf dem Bauch. Das Oberteil des Jogginganzugs war an vielen Stellen voller Blut, die Hände und der Unterkörper des Mannes schienen unversehrt. Sein Kopf war zur Seite gedreht und völlig deformiert. Am Hinterkopf trat aus einer großen Wunde grauweiße Hirnmasse aus. Das Gesicht war nicht mehr zu erkennen.

«Mein Gott!»

«Er hat auch noch einen Genickbruch», sagte Bonhoeffer. «Sieht nach einem stumpfen, schweren Gegenstand aus, möglicherweise einer Eisenstange. Die Verletzungen scheinen dem Mann erst beigebracht worden zu sein, als er bereits im Sack steckte. Aber genau kann ich euch das erst morgen sagen. Er ist seit mindestens zwölf Stunden tot.»

Berns hielt einen Autoschlüssel hoch. «Papiere hat er keine. Das hier ist alles.»

Er wollte den Schlüssel in einen Asservatenbeutel stecken, aber Toppe hielt ihn zurück: «Machen Sie doch bitte sofort Abdrücke davon. Es kann sein, dass wir den Schlüssel gleich noch brauchen.»

Dann sah er van Appeldorn aus dem Haus kommen.

«Die Welbers kennen den Wagen nicht», rief der. «Sie meinen aber, es wäre nicht ungewöhnlich, dass um diese Zeit Autos dort stehen. Ich habe den Halter erfragt. Es ist ein Richter, Arno Landmann, wohnt in Materborn.»

Berns gab Toppe den Wagenschlüssel, der hielt ihn van Appeldorn hin.

«Die Marke stimmt.»

«Dann versuche ich’s mal.» Langsam ging Toppe zum Parkplatz hinüber.

Seit vierzehn Jahren war er nun schon in Kleve, zu Hause fühlte er sich nicht. Aber als er sich damals in Düsseldorf in Gabi verliebt hatte, schien es richtig, aus der Großstadt wegzuziehen. Wenn schon eine Familie gründen, dann in einem ruhigen, freundlichen Landstädtchen. Außerdem hatte er durch die Versetzung endlich die Chance bekommen, von der Schutzpolizei zur Kripo zu wechseln, was ihm so viel interessanter und anspruchsvoller erschienen war. Aber dann hatte es sich schnell als nervenaufreibende Routine entpuppt. Herumärgern mit Leuten, die ihn nicht mochten, weil er aus der Großstadt kam, oder warum auch immer. Erst seit der Umstrukturierung der Polizei am Niederrhein, der Einrichtung der getrennt arbeitenden Kommissariate in Kleve, Geldern und Krefeld vor zwei Jahren, schien sich langsam etwas zu ändern. Vorher hatte man ihm bei Fällen wie diesem immer einen Kollegen aus Krefeld vor die Nase gesetzt, der ihm zeigen sollte, wo es langging. Aber dann hatten sie ihn zum Hauptkommissar und Leiter des Ersten Kommissariats ernannt, was bedeutete, dass er endlich selbständig arbeiten konnte, und er war zuversichtlich gewesen. Aber mittlerweile war er nicht mehr sicher, dass wirklich irgendwann einmal professioneller gearbeitet werden würde. Die Menschen hier waren langsam und hingen an dem, was schon immer so gewesen war. Selbst wenn sie es nicht sagten oder es vielleicht nicht einmal wussten.

Der Wagen war ein nagelneuer weißer Saab. Toppe musste an seinen eigenen sieben Jahre alten Passat denken; nun mit dem Haus würde wohl für lange Zeit kein neues Auto mehr drin sein. Vieles wäre einträglicher gewesen als sein jetziger Job. Einträglicher und bequemer. Er wusste ziemlich genau, zu welchem Zeitpunkt er die Kurve nicht gekriegt hatte. Als sein Vater 1955 plötzlich gestorben war, waren seine Träume von Gymnasium und Uni geplatzt. Die hätte seine Mutter allein niemals finanzieren können. Also war er zur Polizei gegangen.

Irgendwann hatte man an der VHS das Abitur nachholen können. Das hatte er dann 1968 auch gemacht. Es war eine harte Zeit gewesen – tagsüber als Schupo in Düsseldorf, abends und an den freien Wochenenden lernen –, aber er hatte sie genossen. Er las gern, dachte gern nach, er war gern allein mit seinen Büchern. Und dann war der Zeitpunkt gekommen, an dem er den Absprung von der Polizei hätte schaffen können. Aber da waren das angenehme Geld gewesen, ein bisschen auch der Traum vom Superkommissar, die Unentschlossenheit eben, und irgendwann Gabi und damit der geradlinige Verlauf.

Der Autoschlüssel passte. Der Wagen war auch innen blitzsauber, kein Stäubchen auf dem Armaturenbrett. Über dem Handschuhfach klebte ein Nichtraucherschild, der Aschenbecher war sicher niemals benutzt worden. Im Fach der Mittelkonsole lagen ein Paar dunkelgraue Lederhandschuhe, eine Sonnenbrille, ein Groschenhalter und ein in Leder eingebundener Notizblock mit Stift. Die Blätter waren leer.

Toppe rutschte auf den Beifahrersitz und öffnete das Handschuhfach – eine Parkscheibe, ein blauer Eiskratzer, ein Stadtplan von Düsseldorf und eine braune Lederbrieftasche. Im ersten Fach steckte ein Reisepass.

So hatte der Mann also ausgesehen, als er noch gelebt hatte: mittelalt, mittelblondes, schütter werdendes Haar, ein schmales Gesicht mit streng blickenden Augen, einer geraden Nase und dünnen Lippen.

Arno Friedrich Landmann, geboren am 28. August 1944 in Kleve. Besondere Kennzeichen: keine.

Weiter fand Toppe einen Führerschein, ausgestellt am 26. April 1965 in Bonn. Auf dem Foto war Landmann bedeutend jünger, sein Haar dicht und wellig, derselbe kühle, gerade Blick jedoch.

Dann waren da noch ein Ausweis vom Gericht, mehrere Benzinquittungen von der ARAL-Tankstelle in Kleve, eine Rechnung von einem Nobelrestaurant in Kalkar über 376 Mark 40 und ein leicht verblichenes Farbfoto, das eine Frau und ein etwa zehnjähriges Mädchen zeigte, die auf einer Hollywoodschaukel saßen und in die Kamera lachten. Das war alles.

Toppe nahm die Brieftasche an sich, stieg aus, schloss den Wagen ab und ging zurück zur Gärtnerei.

Wieder einmal fragte er sich, was schlimmer für ihn war, der Anblick einer Leiche oder die Benachrichtigung der Angehörigen. Vielleicht hatte van Appeldorn weniger Schwierigkeiten damit, aber das war auch egal, er würde sich nicht drücken.

Das Hoftor wurde durch den Wagen des Staatsanwalts blockiert. Dr. Stein kam, wenn es irgend ging, immer zum Tatort. Er sah die Dinge lieber mit eigenen Augen, als hinterher umständliche Berichte zu lesen.

«Geben Sie mir Bescheid, wann die erste Besprechung stattfindet», rief er Toppe zu. «Ich hab’s eilig, wie immer.» Dann saß er schon wieder in seinem Auto und brauste davon.

Auf dem Hof standen van Appeldorn und Bonhoeffer, beide die Hände in den Hosentaschen, und unterhielten sich.

«Unser gemeinsames Essen muss wohl warten, Arend. Der Autoschlüssel hat gepasst.»

Toppe reichte van Appeldorn die Brieftasche. «Arno Friedrich Landmann.»

Alle drei schauten sie auf das Passfoto.

«Die Haarfarbe kommt hin», sagte Bonhoeffer. «Lass mal schauen, ja, die Körpergröße stimmt auch. Jemand wird ihn identifizieren müssen.»

Toppe nickte. «Sieh zu, dass die Soko um fünf im Büro ist, Norbert. Alle, auch van Gemmern und Berns, wenn sie’s schaffen. Kann ich bis dahin nicht doch schon deinen Bericht haben, Arend?»

«Allenfalls einen vorläufigen.»

«Das reicht mir fürs Erste. Setzt du mich auf dem Weg zum Präsidium bei der Familie Landmann ab, Norbert?»