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Zwei

Die Gärtnerei lag im Ortsteil Hasselt.

Eine kleine Bauernkate mit einem langgestreckten Schuppen am Rand eines hohen Buchenwaldes. Die Straße machte vor der Zufahrt zum Hof eine scharfe Rechtskurve und endete knapp hundert Meter weiter an einem Parkplatz.

Links am Haus vorbei führte ein schmaler Sandweg um den Schuppen herum steil in den Wald hinauf. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße standen vier große Gewächshäuser, daneben zogen sich junge Fichten- und Kiefernbestände den Hügel hoch auf die Landstraße zu.

«Ein ziemlich kleiner Betrieb», stellte Toppe fest.

«Ja», bestätigte van Appeldorn. «Hat aber einen guten Ruf. Und sie haben noch einige Bestände weiter draußen Richtung Pfalzdorf.»

Er bog in die Hofeinfahrt ein.

An der offenen Schuppentür stand Polizeimeister Heiligers, breitbeinig, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Polizeiobermeister Flintrop lehnte am Einsatzwagen, redete mit einer Frau und sah dabei sehr wichtig aus.

Van Appeldorn brachte sein Auto gleich daneben zum Stehen, aber Flintrop drehte sich nicht um, sondern legte der Frau fürsorglich eine Hand auf die Schulter.

«Die Herren von der Kriminalpolizei», hörte Toppe ihn sagen, als er die Wagentür öffnete.

Ihm war ein wenig flau, das musste der Hunger sein.

«Guten Morgen.»

Flintrop drehte sich langsam um. «Guten Morgen, Herr Hauptkommissar.» Er lüpfte seine Mütze.

Toppe reichte der Frau die Hand. «Helmut Toppe», sagte er. «Und das ist mein Kollege, Norbert van Appeldorn.»

«Welbers», gab die Frau zurück.

Sie war klein und schlank, Anfang vierzig vielleicht, kurzes blondes Haar, ein offenes Gesicht. Im Moment allerdings blickte sie verstört, hatte die Hände tief in den Taschen ihres grünen Kittels vergraben und die Schultern hochgezogen, fast so, als friere sie.

«Haben Sie den Toten gefunden?», fragte Toppe leise.

Sie schüttelte den Kopf. «Nein, mein Mann und mein Sohn waren das.»

«Und wo sind die beiden jetzt?»

Sie nahm die Hände nicht aus den Taschen, sondern deutete mit dem Kinn auf das Wohnhaus. «Die trinken sich drinnen einen Schnaps.»

Van Appeldorn schaute Flintrop an. «Wo?»

«Na, da drüben, wo Heiligers steht.»

«Na dann … Kommst du, Helmut?»

«Ja.» Toppe zögerte. «Herr Flintrop», entschied er dann, «kommen Sie doch bitte mit.»

Flintrop nahm nur widerstrebend seinen Arm von der Schulter der Frau und zog grimmig die Augenbrauen zusammen.

«Am besten, Sie gehen jetzt auch ins Haus, Frau Welbers», sagte van Appeldorn.

Sie nickte wortlos.

Der Schuppen war in den Wald hineingebaut worden. Es roch modrig und scharf. Die Sonnenstrahlen drangen kaum durch das ausladende Dach der alten Buchen. Alles war in ein diffuses, mattgrünes Licht getaucht. Der Schein der Neonlampen aus dem Schuppen, der in einem breiten Fächer auf den festgetretenen Lehmboden fiel, wirkte grell wie eine Bühnenbeleuchtung.

Toppe musste für einen Moment die Augen schließen.

Ein rechteckiger, langer Bau ohne Fenster. Die Tür lag an der Schmalseite. Der Betonboden war mit einer dicken Staubschicht und hier und da mit schwarzen Torfresten bedeckt. An der linken Wand hingen aufgereiht blankgeputzte Geräte und Werkzeuge. An der Rückwand entdeckte Toppe eine Fräse, eine elektrische Heckenschere, einen kleinen Traktor und verschiedene andere Maschinen, die er nicht kannte. Rechts türmten sich Torfsäcke und schwarze Plastiktöpfe bis fast unter die Decke. Gleich neben der Tür lag ein Stapel heller, offensichtlich neuer Jutesäcke.

In der Mitte des Schuppens stand ein etwa vier Meter langer, schmaler Holztisch, darüber hingen an einem Rohr Schneidewerkzeuge verschiedenster Art, außerdem Kordel, Draht, Bast und Plastikschnur.

Knapp zwei Schritte hinter der Türschwelle lag der Tote.

Er lag auf dem Bauch, sein Oberkörper steckte bis zu den Hüften in einem hellen Jutesack. An der Stelle, wo der Kopf sein musste, war der Sack blutdurchtränkt, an anderen Stellen gab es kleinere Blutflecken. Das Blut war dunkelrot, es konnte also noch nicht völlig getrocknet sein.

Der Tote trug eine graue Jogginghose und schlammverschmierte, ehemals weiße Turnschuhe.

Sein rechtes Bein war leicht angewinkelt.

Es sah so aus, als wäre der Mann an der Türschwelle gestolpert und hingefallen.

Eine Tatwaffe konnte Toppe nicht entdecken.

«Was ist mit dem ED?» Van Appeldorn wandte sich an Flintrop.

«Der müsste eigentlich schon längst hier sein.»

Toppe fröstelte. «Ich rufe Bonhoeffer an. Das soll er sich selbst anschauen.»

Van Appeldorn nickte zustimmend.

«Der Gerichtsmediziner am Tatort? Wie apart», bemerkte Flintrop spitz.

Vor nicht allzu langer Zeit noch hätte Toppe sich eine Zurechtweisung nicht verkneifen können.

Er ging zum Wohnhaus hinüber. Die grünlackierte Seitentür war nur angelehnt, trotzdem klopfte er.

«Ja?» Ein Mann trat aus der Küche in den dämmrigen Flur. Auch er war Anfang vierzig, hatte struppiges, aschblondes Haar, helle Augen und einen breiten Mund. Auch er war nicht besonders groß, aber stämmig. Die Ärmel seines karierten Flanellhemdes hatte er aufgekrempelt.

«Toppe, Kripo Kleve. Sie sind sicher Herr Welbers.»

«Bin ich, mein Gott, das ist so furchtbar. Was …»

«Einen Augenblick, Herr Welbers.» Toppe hob die Hand. «Wir reden gleich miteinander. Könnte ich wohl vorher kurz einmal telefonieren?»

«Sicher, das Telefon ist gleich hier.» Er zeigte auf ein Tischchen hinter der Tür.

«Danke», nickte Toppe.

Welbers ging in die Küche zurück, ließ aber die Tür offen.

Toppe tippte die Durchwahl zur Pathologie des Emmericher Krankenhauses ein.

Bonhoeffer meldete sich nach dem dritten Klingeln. «Helmut, was für eine nette Überraschung! Ich wollte dich schon längst anrufen.»

«Heute ist es leider dienstlich, Arend.»

«Leg los.» Bonhoeffer schien sich nicht zu wundern.

«Wir haben einen Toten hier in Hasselt, möglicherweise erschlagen. Kannst du rauskommen? Mir ist es lieber, du bist dabei, wenn der ED ihm den Sack abzieht.»

«Wenn die was tun?»

«Der Tote steckt mit dem Oberkörper in einem Jutesack.»

«Ich komme sofort.»

Während Toppe Bonhoeffer den Weg beschrieb, hörte er, wie ein Auto auf den Hof gefahren kam. Das musste der Erkennungsdienst sein.

Van Appeldorn würde allein klarkommen.

Er ging zur Küchentür und klopfte gegen den Rahmen.

Der Raum war recht groß. An der Wand links von der Tür ein Fenster, darunter die Spüle, daneben Kühlschrank, Herd und Geschirrspülmaschine. Ums Eck schloss sich eine Küchenzeile an. Die Möbel aus hellbraunem Resopal waren vor fünfzehn Jahren bestimmt hochmodern gewesen. Auf dem Boden braungesprenkelte Fliesen, beige Textiltapete an den Wänden, ein kleines Wagenrad mit einem Trockenblumengesteck, ein rustikal geschnitztes Kreuz.

Es war warm und sauber, und es roch nach Kaffee.

In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, der offenbar nach dem Frühstück noch nicht abgeräumt worden war. Zwischen dem roten Keramikgeschirr, einem Teller mit Schnittkäse, Marmeladengläsern und einem Honigtopf stand wie ein Fremdkörper eine Flasche Doppelkorn.

Am Tisch saßen Herr und Frau Welbers und ein halbwüchsiger Junge, siebzehn, achtzehn vielleicht. Das musste der Sohn sein, die gleichen hellen Augen wie der Vater, das gleiche struppige Blondhaar. Er war ein wenig blass, wirkte aber nicht besonders schockiert, sondern eher missvergnügt.

Wieder stellte Toppe sich vor. Der Junge erhob sich halb von seinem Stuhl und gab ihm die Hand. «Udo Welbers», sagte er und räusperte sich.

«Nehmen Sie doch Platz, Herr Kommissar», forderte der Vater Toppe auf.

Der setzte sich an die freie Seite des Tisches. Sein Blick fiel auf ein kleines Holztableau über der Tür: «Herr, segne dieses Haus und alle, die da gehen ein und aus.»

«Dann erzählen Sie mir doch mal, was passiert ist.»

«Na, gar nichts ist passiert.» Der Vater rubbelte sich die Stirn. «Wenn man’s genau nimmt. Udo und ich gehen heute Morgen zum Schuppen und wollen die Fräse holen. Für das neue Feld am Fahnenkamp, wissen Sie. Und da steht das Schuppentor halb auf. Ich mein, wir schließen das meist nicht ab, aber wir machen es doch immer feste zu, schon wegen der Tiere. Manchmal haben wir da ja Sachen drin, die die gerne fressen. Also, Udo ist vor mir am Schuppen und macht die Tür ganz auf und Licht an, und dann tritt er mir rückwärts auf die Füße. Und da seh ich das auch schon, dass da einer liegt. Mit einem von unseren neuen Säcken überm Kopf.» Welbers musste schlucken. «Wir sind dann beide zurück ins Haus. Ich bin dann sofort ans Telefon, und Udo hat Maria gesagt: Da draußen liegt einer, der ist tot. Die wollte das erst nicht glauben und ist selber gucken gegangen. Und dann war auch ihr schlecht. Und dann war auch schon Polizei da.»

«Um wie viel Uhr war das denn, Udo?» Toppe nahm sein Notizbuch aus der Tasche.

«Muss so gegen neun gewesen sein.»

«Ja, genau», bestätigte der Vater.

«Ist einem von Ihnen gestern Abend oder vergangene Nacht etwas Ungewöhnliches aufgefallen?»

Die drei schauten sich an, zuckten die Achseln und schwiegen.

«War irgendetwas anders als sonst?», versuchte Toppe es noch einmal.

Frau Welbers hatte sich als Erste gesammelt. «Also gestern waren wir schon ab vier Uhr gar nicht mehr zu Hause. War doch Materborner Kirmes. Da sind wir immer bei meiner Tante eingeladen. Wir sind dann so um ein Uhr diese Nacht zurückgekommen. Ich habe den Wagen vorne am Zaun abgestellt. Ich jedenfalls hab nicht gemerkt, dass was anders war als sonst. Ich hatte allerdings auch alle Hände voll zu tun.» Sie bedachte ihren Mann mit einem bedeutungsschweren Blick. «Und was meinen Gatten angeht, der konnte nicht mehr viel merken.»

«Ja, mein Gott!» Welbers’ Wangen färbten sich rosa. «Wenn doch Kirmes ist …»

«Und Sie, Udo?», fragte Toppe.

Der Junge schaute verwirrt. «Wollen Sie wissen, wann ich nach Hause gekommen bin? Ich glaube, das muss so gegen vier gewesen sein.»

«Halb sechs war’s», korrigierte ihn seine Mutter schmaläugig.

«Wenn du’s sagst.» Udo zog den Kopf zwischen die Schultern. «Im Zelt war Disco, und ich hatte keine Lust, schon so früh zu gehen.»

«Wie sind Sie denn nach Hause gekommen?», wollte Toppe wissen.

«Eine Freundin hat mich in ihrem Auto mitgenommen.»

Sein Vater konnte sich ein anzügliches Grinsen nicht verkneifen.

Toppe seufzte still in sich hinein. «Sie haben also alle nichts Außergewöhnliches bemerkt», fasste er zusammen.

Die drei schüttelten den Kopf.

«Überlegen Sie noch einmal genau: Gab es in den letzten Tagen oder Wochen nichts, was anders war als sonst?»

«Anders?», schnaubte Welbers. «Anders ist es hier schon lang! Seit die den gecken Trimmpfad hier im Wald angelegt haben. Die halbe Nacht kriegt man keine Ruhe. Autos, die ganze Zeit. All die Jogger, wissen Sie.»

Er sprach es J-ogger aus, mit einem Jot.

«Die rennen uns um das Gehöft bis mitten in der Nacht.»

«Es ist wirklich schlimm», bestätigte seine Frau. «Daran muss man sich erst mal gewöhnen.»

«Das kann ich mir vorstellen», nickte Toppe. J-ogger, schrieb er auf.

«Ist das hier ein reiner Familienbetrieb?», fragte er dann. «Oder haben Sie noch Angestellte?»

«Na ja, wir haben schon ein paar Leute», antwortete Welbers. «Da ist erst mal der alte Janssen, der uns eigentlich das ganze Jahr zur Hand geht. Und dann die Frau Matenaar von gegenüber. Die kommt immer, wenn wir mal richtig Druck haben. Und dann haben wir meist auch so ein, zwei Freigänger aus Bedburg.»

Toppe versuchte zu verstehen. «Sie meinen Leute aus dem Landeskrankenhaus?»

«Genau, im Moment haben wir nur einen, den Suerick. Wie lang haben wir den jetzt schon, Maria?», wandte sich Welbers an seine Frau.

Sie rieb sich die Augen. «Warte mal, das muss im Januar gewesen sein. Ja, genau, seit Mitte Januar.»

Toppe ließ sich die Adressen von Herrn Janssen und Frau Matenaar geben. Suericks Adresse kannte er.

«Und Ihre Mitarbeiter waren gestern hier im Betrieb? Wie lange denn?»

«Gestern waren nur der Alois Janssen hier und der Suerick», erklärte Frau Welbers. «Aber wir haben früh Schluss gemacht, so kurz nach drei», erinnerte sie sich. «Wir mussten uns ja noch umziehen.»

«Wer wusste denn, dass Sie zur Kirmes wollten?»

Sie machte große Augen. «Na, alle! Das machen wir doch jedes Jahr, ist kein Geheimnis, oder?»

Toppe lächelte. «Natürlich nicht. Wo sind denn Ihre Mitarbeiter? Müssten die nicht längst hier sein?»

«Nee, den Janssen wollten wir heute um zehn direkt auf dem Feld am Fahnenkamp treffen», antwortete Welbers. «Komisch, dass der noch nicht gucken gekommen ist, wo wir bleiben …»

«Und die anderen beiden?», bohrte Toppe nach.

«Frau Matenaar kommt nur, wenn Not am Mann ist, wie gesagt. Und das ist im Moment nicht der Fall. Na, und der Suerick kommt freitags nie. Der hat da Gruppe, oder irgend so was.»

Toppe klappte sein Notizbuch zu. «Es kann sein, dass ich in den nächsten Tagen noch einmal mit Ihnen reden muss, wenn wir ein bisschen mehr wissen.» Dann stand er auf.

Auch Welbers erhob sich. «Wann können wir denn wohl unsere Fräse haben?»

«Ich werde mal nachsehen.»

«Danke.» Welbers schaute zu Boden. «Nee, nee, wat man alles so mitmacht.»