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Eins

«In Zukunft wird also modernste Technik unsere Freunde und Helfer bei der Arbeit unterstützen.» Der Bürgermeister blickte frohgemut in die Runde. «Und so übergebe ich hiermit die neue Leitstelle ihrer Bestimmung.»

Mit einem Lächeln trat er vom Rednerpult zurück und schüttelte dem Dienststellenleiter kamerafreundlich die Hand. Die vier anwesenden Fotografen der Provinzblättchen beeilten sich dann auch, das dekorative Motiv abzulichten.

Hauptkommissar Toppe war aus Versehen in die erste Reihe geraten. «Was für ein hohles Gerede. Auf welchem Stern lebt dieser Mann eigentlich? Noch mehr Computer, noch mehr Chaos. Die sollten lieber noch ein paar fähige Leute einstellen.»

Van Appeldorn neben ihm zuckte nur die Achseln.

«Jetzt nicht auch noch der Bergmann!», stöhnte Toppe. «Sag mal, macht dir dieser Rummel eigentlich gar nichts aus?»

«Wieso?», fragte van Appeldorn. «Ist doch wie immer.»

Toppe schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Der Landrat würde ja wohl hoffentlich der Letzte in der Rednerreihe sein.

Möglichst unauffällig, die Hände in den Taschen seiner Cordhose, verdrückte er sich in Richtung Halle, wo das kalte Buffet aufgebaut war. Am Fenster blieb er kurz stehen und schaute hinaus.

«Sieht eigentlich gar nicht so schlecht aus, die Schwanenburg in der Morgensonne», dachte er und strich sich über den Bart. «Ein hübsches Postkartenmotiv.»

Wenn sie nur nicht damals, vor fünfzig Jahren, angefangen hätten, einen Stilbruch nach dem anderen davorzusetzen; nicht nur in London hatten die Architekten oft Schlimmeres bewirkt als die Bomber.

Vielleicht sollte er heute mit den Jungen auf den Schwanenturm steigen, wenn er schon einmal einen freien Nachmittag hatte. Seit Gabi wieder arbeitete, nahm sie sich freitags ihren «Hausfrauennachmittag». Er gewöhnte sich nur langsam daran, dass es dann an ihm war, sich um die Kinder zu kümmern.

Fürs Freibad war es heute wohl nicht warm genug, schade, sonst wäre er vielleicht endlich dazu gekommen, den Roman zu Ende zu lesen, den er vor drei Monaten angefangen hatte.

Wie auch immer, wenn der Affenzirkus hier vorbei war, würde er die Jungs bei den Schwiegereltern abholen, wo sie sich jetzt, während der Sommerferien, aus lauter Langeweile regelmäßig in den Haaren lagen. Und dann musste er irgendetwas mit ihnen unternehmen, sonst würde sein Schwiegervater ihn wieder in endlose Diskussionen über Betondecken und Stahlträger verwickeln.

War es wirklich eine so gute Idee gewesen, sich das Baugrundstück gleich neben Gabis Elternhaus, als vorgezogenes Erbe quasi, vom Schwiegervater schenken zu lassen?

Und die Eigenleistung? Ohne Schwiegervater und dessen Beziehungen gar nicht zu schaffen.

Wenn der Bau fertig war, würden sie immer einen Babysitter haben, sicher, aber wog das alles andere auf?

Mittlerweile hatte er sich bis zum Buffet vorgearbeitet. Er hatte heroisch aufs Frühstück verzichtet, weil ihm, als er morgens vor dem Spiegel gestanden hatte, wieder einmal bewusst geworden war, dass auch eine Körpergröße von 189cm ein Gewicht von 98kg nicht rechtfertigen konnte.

Das Essen sah wirklich gut aus.

Zwei Serviererinnen schauten aufmerksam auf Polizeiobermeister Schwertz, der offenbar den Zeremonienmeister machte und ihnen den Startschuss zur Schlacht um Schichtsalat und Putenröllchen geben würde.

Als Toppe sich dabei ertappte, dass auch er Schwertz gespannt anstarrte, drehte er sich verärgert weg.

Die Stufen von der Zentrale herauf kam, schwungvoll wie immer, Polizeimeister van Berkel und blickte sich suchend um.

«Gott sei Dank, dass Sie so weit hinten stehen, Herr Toppe», sagte er. «Ein dringender Anruf für Sie, hört sich ganz nach einem Einsatz an.»

«Mist!»

Van Berkel grinste. «Gerade jetzt, wo es endlich was zu essen gibt, ne? So spielt das Leben.»

Toppe nickte säuerlich und folgte dem Kollegen in die Zentrale.

«Dort drüben.» Van Berkel zeigte auf die beeindruckende neue Telefonanlage.

Toppe hob den Hörer ans Ohr und vernahm nur ein dumpfes Brummen.

«Keiner dran.»

«Knöpfchen drücken, Herr Hauptkommissar», sagte der Kollege fröhlich.

«Modernste Technik», brummte Toppe und ließ den Blick über die Tastenreihen wandern.

«Links vorn, der weiße Knopf.» Van Berkel versuchte zu helfen.

Toppe drückte und meldete sich.

«Ah, Herr Toppe, gut, Wagner hier. Sieht ganz so aus, als gäb’s Arbeit für Sie. Eine männliche Leiche in der Gärtnerei Welbers in Bedburg-Hau. Die grünen Kollegen meinen, es könnte sich um Mord handeln.»

«Wer sind denn die Kollegen?»

«Heiligers und Flintrop.»

Toppe räusperte sich. «Ach so, okay, ich fahre hin.»

«Brauchen Sie eine Wegbeschreibung?»

«Nein, nein, ich finde es schon», sagte Toppe bestimmt. «Und, Wagner, ich nehme Kommissar van Appeldorn gleich mit.»

Wagner lachte. «Na, dann finden Sie hin.»

«Verständigen Sie den ED?»

«Wird gemacht, Herr Toppe.»

Toppe legte auf und ging zur Tür.

«Ich bin dann weg, Herr van Berkel.»

«In Ordnung.» Van Berkels Augen blitzten kiebig. «Soll ich Ihnen meinen Stadtplan leihen?»


Auf der Treppe kamen Toppe der Dienststellenleiter und der Bürgermeister entgegen.

«Sie müssen verstehen, Herr Hieronymus, ich würde selbstverständlich gern noch bleiben.» Der Bürgermeister lächelte. «Bei dem wunderbaren Buffet läuft einem schon das Wasser im Mund zusammen. Aber leider, die Pflicht ruft: fünfzigjähriges Bestehen des Löschzuges Brienen-Wardhausen, da muss ich mich sehen lassen, Sie kennen das vermutlich.» Damit drückte er Hieronymus sein leeres Bierglas in die Hand.

«Aber natürlich, Herr Bürgermeister. Vielleicht bei einer anderen Gelegenheit …»

Um das Buffet hatte sich eine Menschentraube gebildet. Toppe entdeckte van Appeldorn in der Nähe der Tür.

Der stand dort, dem Anlass angemessen, im dunklen Anzug mit Krawatte und hatte ein Glas Bier in der rechten Hand.

Van Appeldorn war neun Jahre jünger als er, erst dreiunddreißig. Er hatte rabenschwarzes, dichtes Haar, helle Haut und ein altersloses, gleichmütiges Gesicht.

In den beinahe zwei Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte Toppe ihn noch nie in seinem Gleichmut erschüttert gesehen. Falls van Appeldorn Gefühle hatte, in seinem Gesicht fand man sie so gut wie nie.

Auch jetzt war keinerlei Regung zu entdecken, obwohl er in ein Gespräch mit einer attraktiven Frau vertieft schien, die Toppe noch nie gesehen hatte. Langes dunkles Haar, gute Figur, jung. Ihr Kostüm war aus teurem violetten Sommerleinen. Unter der passenden Seidenbluse trug sie sehr deutlich keinen BH.

«Norbert», rief Toppe. «Tut mir leid, dich zu stören, aber es gibt Arbeit.»

Van Appeldorn nickte, leerte sein Glas in einem Zug und brachte es zur Getränkeausgabe zurück.

«Warte mal», sagte er dann. «Das hier ist …» Aber die junge Frau war in dem Gedränge nicht mehr zu entdecken.

«Tja, zu spät … Was gibt’s denn?»

«Männliche Leiche in Bedburg-Hau. Flintrop tippt auf Mord.»

«Na, wenn Flintrop das sagt! Wo denn in Hau?»

«Eine Gärtnerei Welbers. Weißt du, wo das ist?»

«Na sicher.»

Ohne Eile schoben sie sich durch die Menge der Esser und Smalltalker zum Ausgang.

«Dein Wagen oder meiner?», fragte van Appeldorn.

«Deiner», antwortete Toppe. «Ich habe kaum noch Sprit.»

«So, so», murmelte van Appeldorn. Genau wie alle anderen wusste er, dass Toppe nicht gern Auto fuhr.

Sie rollten die Flutstraße entlang. An der Einmündung zum Ring hatte sich eine Schlange gebildet.

«Scheiß Kaasköppe», knurrte van Appeldorn.

«Ach komm, Norbert, nicht schon wieder diese Platte!» Toppe schmunzelte. «Du musst endlich mal akzeptieren, dass van Basten einfach der bessere Stürmer ist.»

Van Appeldorn kniff die Lippen zusammen. «Guck dir das doch an», sagte er dann, «nur Holländer. Jedes Wochenende fallen die in Scharen hier ein, und unsereiner findet keinen Parkplatz und steht im Stau. Die sollen gefälligst ihre eigenen Straßen verstopfen.»

«Lass das nur nicht den Klever Einzelhandel hören», feixte Toppe.

Jetzt hatten sie sich bis zum Ring vorgearbeitet und bogen rechts ab in Richtung Bedburg-Hau.

«Und? Was macht der Bau?», wechselte van Appeldorn das Thema

Toppe stöhnte. «Hör mir bloß damit auf.» Dann besann er sich. «Na ja, der Keller ist endlich fertig, gestern haben sie die Decke eingezogen. Morgen steht das Bitumen an.»

Van Appeldorn nickte. «Wie gesagt, wenn mal Not am Mann ist …»

«Das ist wirklich nett von dir, Norbert.» Toppe schaute ihn dankbar an, aber dann verfinsterte sich seine Miene. «Ich kann mich vor Hilfe kaum retten. Mein Schwiegervater wird mit seinem Trupp anrücken und mir den ganzen Tag beweisen, dass ich zwei linke Hände habe. Seine Gattin wird fürsorglich Kaffee und Bier anschleppen und ihm bedeutungsvolle Blicke zuwerfen. Wenn ich Glück habe, bleibt Gabi mit den Kindern zu Hause, und wir werden uns nicht anschreien, und sie wird nicht in Tränen ausbrechen.»

Van Appeldorn sagte nichts, und Toppe ärgerte sich, dass er sich hatte gehen lassen. Auf einmal spürte er, wie hungrig er war.

«Komm, lass uns von etwas anderem reden. Wer war eigentlich die Frau, mit der du eben gesprochen hast?»

«Das war die Praktikantin, die am Ersten bei uns anfängt.»

«Bei uns?» Toppe staunte.

«Ja, sie ist dem Ersten K. zugeteilt worden. Astrid von Steendijk, alter Klever Hochadel.» Er verdrehte die Augen. «Was will so eine bei der Polizei?»


Es war Freitag, der 19. August 1988. Die Außentemperatur betrug 18 Grad Celsius, und es war der erste regenfreie Tag seit über zwei Wochen.