Die Einkaufsreise

Er war zufrieden mit seinem Versteck.

Das ziemlich große Zimmer lag im achten Stockwerk eines modernen Hauses, in dem sich mehrere Arztpraxen, eine Immobilienfirma, zwei Steuerberater, eine Arzneimittel-Großhandlung und drei Rechtanwälte niedergelassen hatten. BKA-Oberrat Wallner hatte Freddy Brockler in der Kanzlei von Dr. Fritz Boehmer untergebracht, eine bisher einmalige Entscheidung, die der Präsident des BKA eigenhändig absegnen und verantworten mußte. Wallner hatte ihm vorgetragen, daß bei der Brisanz des Falles und der möglichen Bedrohung durch die Unterwelt – siehe Londricky – ein privates Versteck einer amtlichen Verwahrung vorzuziehen sei. Auf keinen Fall sollte man ein Risiko eingehen … die Informationen, die Brockler angedeutet hatte, waren von größtem Wert und konnten in das Dunkel, in dem die Nukleargeschäfte bisher abgewickelt wurden, vielleicht etwas Licht bringen.

So wurde ein Besprechungsraum der Kanzlei Boehmer in aller Eile in einen Wohnraum umfunktioniert; man stellte eine Schlafcouch hinein, zwei Sessel und einen Couchtisch, und da das WC mit Waschbecken gleich nebenan lag, brauchte man nur diesen hinteren Teil des Büros abzuschließen, um Brockler an der Flucht zu hindern.

Aber Freddy dachte gar nicht an Flucht. Wohin denn flüchten, fragte er sich immer wieder. Untertauchen … wo denn? Für ihn waren die deutschen Grenzen geschlossen, und einen falschen Paß zu besorgen, war für ihn nicht machbar, denn er hatte keinerlei Verbindung zu den Kreisen, die solche Fälschungen herstellten oder verkauften. Er war wirklich ein bisher unbescholtener Fernfahrer, ehrlich – bis auf einige Fälschungen am Fahrtenschreiber seines Lkw, wenn er länger als acht Stunden hinter dem Steuer gesessen hatte, aber das taten viele Fahrer –, und er hatte auch die Absicht gehabt, unbescholten zu bleiben, bis in Moskau die Verlockung in Gestalt eines Majors Pujaschew an ihn herangetreten war. Ein Tag, den er heute verfluchte und am liebsten vergessen würde. Deshalb war er auch bereit, das auszupacken, was er wußte, und das war herzlich wenig.

Am nächsten Morgen erschien Wallner bei ihm im Versteck. Er brachte Kommissar Berger und einen Protokollführer mit, der die Aussagen auf ein Tonband aufnehmen sollte.

Brockler hatte schlecht geschlafen und viel an seine Braut Elfriede denken müssen, die nun allein im Bett lag und nicht wußte, was eigentlich geschehen war. Zehn Minuten nachdem Freddy sie fluchtartig verlassen hatte, waren zwei Kripobeamte in die Wohnung gestürmt und hatten sie quasi auseinandergenommen. Auf Elfriedes Frage, was denn los sei, erhielt sie die barsche Antwort: »Anziehen! Sie kommen mit!« Und dann hatte man sie die ganze Nacht verhört und immer wieder gefragt: »Was wissen Sie von Plutonium?« Und sie hatte in Unkenntnis und naiv geantwortet: »Was ist Plutonium? Ist das ein neues Waschmittel?« Die Polizei hielt diese Antwort für eine provozierende Frechheit. Man nahm Elfriede in Gewahrsam als mögliche ›Mitwisserin‹.

Das wußte Brockler natürlich nicht, als er während der Nacht an Elfriede dachte. Um neun Uhr morgens erschien Dr. Boehmer selbst im Zimmer und brachte ihm eine Kanne Kaffee und zwei frische, belegte Brötchen, eines mit Schinken und eines mit Edamer Käse. Brockler hatte sich nebenan im WC gewaschen und hockte mißmutig und unausgeschlafen auf der Bettcouch.

Dr. Boehmer setzte sich ihm gegenüber in einen der Sessel und schob ihm eine Schachtel Zigaretten über den Tisch zu. Brockler zog es vor, zuerst eine Tasse Kaffee zu trinken.

»Mein Freund Wallner hat mir gesagt, daß Sie Nuklearmaterial schmuggeln«, begann Dr. Boehmer das Gespräch.

»Das stimmt so nicht ganz.« Brockler griff nach dem Schinkenbrötchen. Es war herrlich frisch und krachte zwischen den Zähnen, als er hineinbiß. »Ich habe das zum ersten Mal getan. Einmal und nie wieder.«

»Dazu werden Sie in den nächsten Jahren auch keine Gelegenheit haben. Was haben Sie sich dabei gedacht?«

»Nichts.«

»Sie haben nicht gedacht, daß Sie damit Tausenden Menschen den Tod bringen können? Daß Sie viele Menschen radioaktiv verstrahlen oder – wenn sie das Plutoniumpulver einatmen – elend an Krebs sterben lassen? So dumm sind Sie doch nicht.«

»Ich habe vor Moskau nicht gewußt, was Plutonium ist.«

»Lesen Sie keine Zeitungen?«

»Doch. Aber zuerst den Sportteil und dann ab und zu vorne, was die da in Bonn für 'ne Politik machen. Dann ärgere ich mich darüber, was die mit unseren Steuergeldern alles machen. Da fliegen Bundestagsabgeordnete zwei Wochen lang nach Bali, um Bewässerungsanlagen zu studieren. Ja, sind wir denn in Bali?! Es kann auch Arabien gewesen sein … auf jeden Fall waren sie auf Tour … und wir Steuerzahler blechen dafür.«

In diesem Moment betraten Oberrat Wallner, Kommissar Berger und der Protokollführer das Zimmer. Wallner begrüßte Brockler mit Handschlag und brachte ihm sogar ein Stück Kuchen mit, ein wie eine Acht aussehendes Gebäck, in dessen zwei Vertiefungen Vanillepudding eingebacken war. In seiner Jugend hatte Brockler davon fünf Stück essen können.

Dr. Boehmer verließ das Zimmer, der Protokollführer baute sein Tonbandgerät auf.

»Frühstücken Sie in aller Ruhe zu Ende, Herr Brockler«, sagte Wallner freundlich. Seine alte Taktik, Vertrauen und Sympathie zu erwecken. »Wie war die Nacht?«

»Das können Sie sich denken, Herr Oberrat.«

»Fremdes Bett, eingeschlossen …«

»Das war es nicht.« Brockler trank seine Tasse Kaffee aus. »Ich habe mir Vorwürfe gemacht. Ich war ein Rindvieh …«

»Das ist weit untertrieben.«

»Ich weiß. Für Sie bin ich ein Schwerverbrecher.«

»So hoch möchte ich Sie nun doch nicht einstufen. Ich nehme an, Sie sind in die ganze Sache hineingeschliddert.«

»Genau.«

»Das sagen sie alle«, warf Kommissar Berger ein. Ein mißbilligender Blick von Wallner traf ihn. Aber Brockler setzte sich ruckartig auf.

»Nun, wir haben etwas Erfahrung mit Atomschmugglern.«

»Aber davon habe ich noch nie etwas gehört oder gelesen.«

»Es ist eine Art von Kriminalität, die wir in der Öffentlichkeit sehr diskret behandeln. Bisherige Verfahren fanden hinter verschlossenen Türen statt.« Wallner lehnte sich zurück und nickte; das war das Zeichen für den Protokollführer, das Tonband laufen zu lassen. »Sie wollten mir etwas von einem KGB-Major Pujaschew, einem Professor Poltschow und über das Atomwerk Tomsk erzählen.«

»Das haben Sie aber gut behalten, Herr Oberrat.«

»Ein Tonband lief mit.« Wallner grinste Brockler an.

»Dürfen Sie das überhaupt, ohne mich vorher zu fragen?«

»In außergewöhnlichen Fällen wie Ihrem setze ich alle Mittel ein. Da hört für mich das Grundgesetz ›Die Würde des Menschen ist unantastbar‹ auf! Jetzt sehen Sie ja das Tonband als Protokollhilfe. Also – wie war das in Rußland?«

Brockler holte tief Luft. Wenn er jetzt an die Tage in Moskau dachte, durchzog ein Prickeln seinen Körper, als habe sein Blut Kohlensäure aufgesogen.

»Ich hatte den Auftrag, Porzellan abzuholen, von der staatlichen Manufaktur in Moskau. Nachbildungen des Zarenporzellans. Das habe ich dreimal geholt, den Weg kannte ich also gut. Auch den russischen Versandleiter. Ein netter Mann, hat vier Kinder und …«

»Unwichtig!« Wallner winkte ab. »Was geschah in Moskau?«

»Ich muß beobachtet worden sein.«

»Wie kommen Sie auf den Verdacht?«

»Ich wohnte wie immer im Hotel Kosmos auf dem Prospekt Mira, ein Riesenkasten mit tausendsiebenhundertsechzig Zimmern. Und eine Hotelhalle … da kann man sich verirren! Und da sprach mich in der Bar ein Mann an. Er konnte gut deutsch und sah sehr gepflegt aus. Ich meine, er hatte einen guten Anzug an und war glatt rasiert und trug ein weißes Hemd mit einer modernen Krawatte.«

»Professor Poltschow …«, warf Wallner ein.

»Nein, ein Witali Igorowitsch Pujaschew …«

»Der KGB-Major?«

»Ja. Aber das wußte ich damals noch nicht. Woher auch? Er setzte sich neben mich an den Tresen, fragte, woher ich käme, wie ich hieße, ob ich verheiratet sei und so weiter. Erst hinterher wurde mir klar, daß das ein raffiniertes Verhör gewesen war. Und dann sagte er: ›Wieviel verdienen Sie, lieber Freund?‹ Und ich antwortete: ›Das kommt drauf an, wie lange ich auf Achse bin. Bei langen Transporten verdiene ich ganz gut. Komme so auf die vier- bis fünftausend im Monat.‹ Und da fragt dieser Pujaschew: ›Wollen Sie mal fünfzigtausend verdienen?‹ Ich bin fast vom Hocker gefallen!«

»Fünfzigtausend möchte ich auch mal auf einen Schlag verdienen!« sagte Wallner sarkastisch. »Dafür muß ein deutscher Beamter lange arbeiten. Und weiter?«

»Ich sage: ›Herr Pujaschew, da ist doch was faul, gegen das Gesetz!‹ Und er antwortet: ›Es ist nur ein kleiner Handel, nichts Aufregendes. Natürlich ist er illegal, aber seien Sie ehrlich, lieber Freund, wo kann man heute noch legal das große Geschäft machen? Überall Korruption, Bestechung, Betrug – das ist schon fast die Grundlage, um reich zu werden.‹ Irgendwie hat er recht, habe ich da gedacht. Wenn ich darüber nachdenke, was gerade in unserem Beruf als Fernfahrer alles möglich ist … da holst du Marmorplatten aus Carrara ab, und hinter den Platten stehen die Kisten mit den Antiquitäten. Keiner an der Grenze wird sagen: Räum die Platten weg, und einen Kran dafür holen. Und das ist noch harmlos, wenn man weiß, wie die Dinge laufen, etwa mit ›Frischfleisch‹ … aber das gehört nicht hierher.« Brockler sah Wallner mit einem beschwörenden Blick an. »Das war nur so 'ne Bemerkung, Herr Oberrat.«

»Es ist ja auch nicht mein Gebiet.« Wallner lächelte breit. Brockler gefiel ihm. Ein sympathischer Bursche, aber nun steckte er leider tief drin in einem Verbrechen, das man nicht ernst genug nehmen konnte. »Sie haben also in Moskau zugesagt?«

»Nicht sofort. Ich hatte zwei Tage Aufenthalt und habe zu dem Herrn Pujaschew gesagt: ›Ich überleg mir das. Was ist es denn?‹ Und der Mann antwortet: ›Sie sollen nur ein kleines Kästchen mitnehmen … in einer der hinteren Porzellankisten!‹ Hoj, da wußte ich plötzlich, daß das kein zufälliges Zusammentreffen war, sondern daß man mich beobachtet hatte. Die sind ganz gezielt auf mich losgegangen. ›Was für 'n Kasten?‹ habe ich gefragt. ›Etwa Waffen? Ohne mich!‹ Antwort: ›Für Waffen braucht man Kisten. Das hier ist ein kleiner Kasten aus Metall mit einem Bleimantel. Darin sind zwanzig Gramm, mehr nicht. Für diese Probe bekommen Sie zweitausend Mark Transportgeld. Wenn Sie wieder nach Moskau kommen und dann ein Kilo mitnehmen, sind Ihnen die fünfzigtausend Mark sicher! So einfach kann man Geld verdienen.‹«

»Hat es da bei Ihnen nicht geklingelt, Brockler?«

»Nein. Aber ich habe natürlich gefragt, was das für zwanzig Gramm sind. Und der Pujaschew antwortete: ›Das ist wissenschaftliches Material aus einem russischen Labor, das nicht in fremde Hände fallen darf und dessen Export verboten ist. Deshalb der illegale Transport. Seit Gorbatschow hat sich in Rußland vieles geändert. Wir werden Wissenschaft verkaufen, und Sie transportieren sie. Das ist alles.‹ Das war auch wieder etwas, was wahr ist. Jedesmal, wenn ich nach Rußland komme, muß ich staunen. Diese Luxuswagen vor den Hotels und Restaurants … immer mehr werden es. Da wachsen die Millionäre wie Pilze aus dem Boden. Und mir ist klar: Das sind meistens Halunken! Die stoßen sich jetzt gesund wie unsere Wessis bei den Ossis. Und dann habe ich mir gedacht: Du willst die Elfriede heiraten, du willst 'ne schöne Wohnung haben – da sind fünfzigtausend Mark gerade der richtige Anfang. Keiner weiß davon, keiner wird dich kontrollieren an der Grenze, wenn auf den Papieren steht: Porzellan … da haste einmal im Leben die Chance. So denkt doch jeder, Herr Oberrat.«

»Nicht alle, zum Beispiel ich nicht.«

»Von Berufs wegen, Herr Oberrat.« Brockler blickte Wallner treuherzig an. »Aber im Inneren, da wo's keiner sieht und hört, da denken doch alle: Verdammt, einen Haufen Geld verdienen ohne Arbeit – da muß man zugreifen.«

»Wer so denkt, kalkuliert nicht das Risiko ein. Ihre erhofften fünfzigtausend Mark bringen Ihnen jetzt bestimmt drei Jahre Knast ein. Das ist doch ein schlechtes Geschäft.«

»Daran denkt man vorher nicht.«

»Also weiter … dieser Pujaschew übergibt Ihnen also den Kasten mit dem Plutonium …« Wallner wartete, bis sich Brockler eine Zigarette angezündet und den ersten Zug gemacht hatte. »Wo war das?«

»Nein, so schnell lief das nicht ab. Erst zwei Tage später kam Pujaschew wieder ins Hotel Kosmos und brachte einen kleinen, dicken Mann mit. Er trug eine Goldbrille, und ich sagte mir: Das ist etwas Höheres, wer sonst kann sich Goldbrillen leisten?! Pujaschew stellte ihn mir vor: Professor Poltschow. Da wußte ich aber schon, wer Pujaschew war. Der Barmixer hatte es mir erzählt. ›Was haben Sie mit dem Major zu tun?‹ hatte er mich gefragt. ›Passen Sie auf, mein Herr … der ist Major des KGB. Es ist zwar alles anders geworden bei uns, man kann jetzt vieles sagen, was früher sofort in die Keller des KGB führte, aber mit Leuten wie Pujaschew möchten wir trotzdem nichts zu tun haben.‹ Ich war also vorsichtig geworden. KGB … was haben die mit einem illegalen Handel zu tun? Was haben die mit mir vor?«

»Da hätten Sie aussteigen müssen«, unterbrach Wallner. »Bei diesen Überlegungen …«

»Fünfzigtausend Mark, Herr Oberrat!« Brockler grinste verlegen. »Die waren stärker als alles andere.« Er holte tief Luft und sog an seiner Zigarette. »Dieser Professor Poltschow sagte, er sei Atom-Wissenschaftler in einem Forschungsinstitut in Moskau. Er brachte einen kleinen Koffer mit, in dem der Stahlkasten lag. Ein schweres Ding … aber das wissen Sie ja. ›Passen Sie auf, daß das Gefäß nicht geöffnet wird‹, sagte der Professor zu mir. ›Es enthält eine sehr giftige Substanz. Und bloß keinen Unfall auf der Straße … wenn der Kasten beschädigt wird … die Folgen sind nicht abzusehen.‹«

»Und da haben Sie immer noch mitgemacht?«

»Fünfzigtausend Mark, Herr Oberrat …« Brockler wischte sich über die Augen, im nachhinein gab er zu, daß Geldgier seinen Verstand vernebelt hatte. »Ich ging auf Nummer Sicher. Im Beisein des Majors verstaute ich den verdammten Kasten in einer der hinteren Porzellankisten, schön weich gelagert in Holzwolle. Da konnte nichts passieren, selbst wenn der Laster umkippen würde bei einem Unfall. Tja, und dann bin ich los. In Köln haben Sie mich dann erwischt. Wieso eigentlich? Woher wußte die Kripo Köln, daß ich den Kasten bei mir hatte?«

»Mein lieber Brockler, das ist Geheimsache der Polizei.« Wallner blinzelte ihm zu. »Wir sind nicht so dumm, wie die Gesetzesbrecher immer annehmen.« Und dann stellte er die Frage, die alle am meisten interessierte: »Wo sollten Sie das Plutonium abliefern?«

»In Paris …«

»In Paris?!« Wallner hatte jede andere Antwort erwartet, nur die nicht. »Wieso Paris?«

»Da müssen Sie Major Pujaschew fragen. In Paris sollte ich die zweitausend Mark bekommen … ich nehme an, das war so 'ne Art Test, ob ich den Kasten auch wirklich abliefere. Bei der nächsten Sendung waren dann …«

»Die fünfzigtausend fällig für ein Kilo Plutonium. Wissen Sie, was man auf dem Markt für ein Kilo waffenfähiges Plutonium heute zahlt? Zweiundsechzigeinhalb Millionen Dollar.«

Brockler schwieg, sichtlich verwirrt. Diese Zahl war für ihn kaum begreifbar. Für lumpige fünfzigtausend Mark hätte er zweiundsechzigeinhalb Millionen Dollar transportieren sollen? Die haben mich ganz schön aufs Kreuz gelegt, dachte er. Da wären mindestens zweihunderttausend Mark drin gewesen. Oder noch mehr … und Elfriede und ich wären alle Sorgen losgeworden. Sogar eine Eigentumswohnung hätte dabei herausspringen können. Ganz klar, dieser Major wollte mich linken.

»Was ist mit Paris?« fragte Wallner erneut. »Wo sollten Sie den Kasten abliefern?«

»In einem Hotel Orient.«

»Sehr sinnig.« Wallner versprühte wieder Ironie. Wenn der Abnehmer aus den islamischen Staaten stammte, war Orient geradezu makaber. »War ein Datum vereinbart?«

»Nein. Ich sollte von Paris aus in Köln in meiner Wohnung angerufen werden. Dann sollte ich mich in meinen Privatwagen setzen und nach Paris fahren. Im Hotel würde man mich dann erwarten.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter.«

Wallner beendete das Verhör nach kurzer Zeit. Mehr war aus Brockler nicht herauszubringen, er konnte nicht mehr erzählen. Interessant war der Weg über Frankreich, ein eigentlich völlig logischer Weg: Paris als Zwischenstation, dann weiter nach Marseille, dem größten französischen Hafen, von dort über das Mittelmeer zu den islamischen Staaten, zum Beispiel nach Libyen. Oder weiter zu irgendwelchen afrikanischen Diktatoren, die eine Atommacht werden wollten. Verblüffend war nur, daß der Schmuggel über Deutschland lief … darauf hatte man in Bonn, beim BKA und beim BND, noch keine logische Antwort. Warum der lange Umweg?

»Sie werden morgen abgeholt, Brockler«, sagte Wallner. »Sie werden in die Justizvollzugsanstalt Bruchsal eingeliefert als Peter Hellmann. Keiner weiß Ihren wirklichen Namen, außer dem Direktor der Anstalt. Merken Sie es sich: Sie heißen ab morgen Peter Hellmann. Das garantiert Ihre Sicherheit. Einverstanden?«

»Habe ich eine andere Wahl, Herr Oberrat?«

»Nein.« Wallner stemmte sich aus seinem Sessel hoch. Berger und der Protokollführer standen ebenfalls auf. »Vermissen Sie etwas?«

»Ja, 'ne Zeitung und Fernsehen. Der Sportteil … und was es so Neues gibt.«

»Bekommen Sie, Brockler. Sie waren kooperativ … wir sind es auch. Und wir werden in unserem Bericht vermerken, daß Sie uns sehr nützlich waren. Das kann das Gericht später milder stimmen.«

Brockler atmete tief durch. »Ich danke Ihnen, Herr Oberrat«, sagte er leise.

»Ganz meinerseits.«

Und dann war Freddy Brockler wieder allein, hörte, wie sich der Schlüssel im Türschloß drehte, und schüttelte den Kopf. Als ob ich fliehen wollte … ich bin doch froh, daß ich hier in Sicherheit bin. Weiß man, was hinter der ganzen Sache steckt, wer alles seine Finger in diesem Mistspiel hat? Ich bin verschaukelt worden, das ist klar … aber wer steckt dahinter?

Zwei Stunden später brachte eine Sekretärin von Dr. Boehmer einen kleinen Fernseher und zwei Tageszeitungen ins Zimmer. Brockler setzte sich in einen Sessel, legte die Beine auf den Couchtisch, aß sein Puddingteilchen und schlug die Sportseite auf. Ein Bericht vom 1. FC Köln … das war vertraute Lektüre.

Vom BKA aus rief Oberrat Wallner in Paris das Polizeipräsidium an. Man verband ihn weiter, bis sich ein Monsieur Jean Ducoux meldete. Der Chef einer Sonderabteilung der Sûreté. Er sprach deutsch mit dem schönen, charmanten französischen Akzent.

Und er sagte, sehr zur Verblüffung von Wallner:

»Was? Schon wieder? Könnt ihr Deutschen nichts Besseres exportieren?«

Der Reiseplan Sybins war voller Termine.

Mit Hilfe von Kontaktleuten seines ›Konzerns‹, die er vorausgeschickt hatte, war die Route genau festgelegt, und wo Sybin auch hinkam, waren bereits so gründliche Vorbereitungen getroffen worden, daß nur ein paar Tage genügten, um seinen Besuch als erfolgreich abzuhaken.

Er begann mit Moskau. Hier arbeitete das Kurtschakow-Atominstitut, in dem die besten russischen Atomwissenschaftler vereinigt waren, eine der Zentralnervenbahnen der Atomforschung, völlig abgeschirmt, bewacht und gesichert. Welche Experimente in den Forschungslabors durchgeführt wurden, gehörte zu den größten Geheimnissen der russischen Militärpolitik, von denen nur wenige Eingeweihte wußten. Für Sybin war das der Ort, der ein Schlüssel zu allen anderen Atomwerken sein konnte.

Er begann in seiner üblichen Art: Er ließ die Wissenschaftler und Arbeiter des Institutes beobachten, erfuhr deren Namen und Lebensgewohnheiten und wählte dann zwei Personen aus, die ihm zur ›Mitarbeit‹ geeignet schienen. So holten zwei ›Konzernmitarbeiter‹ eines Abends Professor Lewon Anatolowitsch Gasenkow ab, als er das Institut verließ, um nach Hause zu fahren. Dies geschah im Auftrag des ›Zentrums für strategische Sicherheitsforschungen‹, dessen Leiter der Physiker Anatolij Stepanowitsch Djakow war.

Natürlich kannte Professor Gasenkow den Dozenten am Moskauer Institut für technische Physik Djakow, und da ihn ein großer schwarzer Wagen abholte, hatte er nicht die geringsten Zweifel, daß man ihn dort sprechen wollte. Er konnte sich sogar denken, worüber man mit ihm sprechen wollte: Im Kurtschakow-Institut lief vieles nicht so, wie es laufen sollte. Da waren zum Beispiel die veralteten Meßtechniken, mit denen das Nuklearmaterial gewogen wird, um festzustellen, wieviel Atommasse im Kontrollbereich des Institutes herumwandert, von Labor zu Labor … die Kontroll- und Monitorsysteme sollten verhindern, daß auf den Wegen zu den einzelnen Forschungsstellen auch nur ein Gramm verlorenging. Ein Gramm – das genügte bereits, um einen Alarm auszulösen. Die Meßprobleme waren es vor allem, die Professor Gasenkow große Sorgen bereiteten: Ein ›Schwund‹ bedeutete immer eine Gefahr, vor allem für die Mitarbeiter im Kurtschakow-Institut.

Professor Gasenkow wurde erst mißtrauisch, als er bemerkte, daß sie nicht zu Djakow fuhren, denn diesen Weg kannte er genau, sondern hinaus zum Prospekt Kalinina und vor einem der Hochhäuser hielten, die hier in langer Reihe nebeneinander standen. Und er protestierte, als man in eine Tiefgarage einfuhr und vor einer Eisentür hielt.

»Was soll das?« rief er empört. »Sie wollten mich zu Djakow bringen!« Die beiden Männer des ›Konzerns‹ antworteten nicht, sie stiegen aus und öffneten die Autotür. Gasenkow schüttelte den Kopf. »Ich steige nicht aus!« rief er erregt. »Das ist unerhört!«

»Es wäre klüger, den Wagen zu verlassen.« Der Fahrer des Autos winkte ihm energisch zu. »Zwingen Sie uns nicht, Ihnen hinauszuhelfen. Wir sind zu zweit, und Sie sind ein schwächlicher Mensch, wie man sieht. Wir wollen keine Unannehmlichkeiten …«

»Die bekommen Sie! Ich werde eine Beschwerde …«

»Aussteigen!« Der zweite Mann zog Gasenkow am Ärmel. »Seien Sie doch vernünftig!«

Gasenkow gab seinen Widerstand auf. Was blieb ihm anderes übrig? Er war nie ein starker Mann gewesen, der sich wehren konnte; nur eines beherrschte er: seine Arbeit. Seufzend verließ er den Wagen und folgte den beiden Männern zur Eisentür.

Im fünften Stockwerk des Hauses betraten sie eine leere Wohnung. Nur ein Stuhl stand in einem großen, kahlen Raum, der als Wohnzimmer geplant war. Es herrschte eine bedrückende Atmosphäre: die weißverputzten Wände, die gardinenlosen Fenster, die hallende Leere, die Glühbirne, die in einer einfachen Fassung von der Decke baumelte. Gasenkow blieb ruckartig stehen, zog den Kopf zwischen die Schultern und starrte den eleganten Mann an, der zwei Köpfe größer war als er.

»Seien Sie willkommen, Lewon Anatolowitsch«, sagte Sybin höflich, »und verzeihen Sie den kleinen Trick, mit dem ich Sie hierherholen ließ.«

»Ich verzeihe Ihnen gar nichts!« Gasenkow war mutig, aber nur mit Worten. Körperlich war er immer unterlegen. »Wer sind Sie?«

»Ein Freund, der Sie reich machen will.« Sybin nickte seinen beiden Männern zu; sie verließen sofort das kahle Zimmer und schlossen hinter sich die Tür. »Nehmen Sie doch Platz, Professor Gasenkow.«

Gehorsam setzte sich Gasenkow auf den einzigen Stuhl. Er spürte keine Angst, nur das unangenehme Gefühl, bald mit etwas Ungewöhnlichem konfrontiert zu werden.

»Was soll das alles? Was wollen Sie von mir?« fragte er laut.

»Sie haben die richtige Richtung eingeschlagen.« Sybin lächelte. »Ja, ich will etwas von Ihnen. Und dafür bekommen Sie etwas von mir. Sie sind einer der Leiter für waffentechnische Atomforschung, stimmt das?«

Gasenkow zögerte einen Moment, dann antwortete er kurz: »Ja.«

»Ein Gebiet, das mich interessiert. In Ihrem Institut lagern doch Plutonium 239 und Lithium 6.«

»Darüber kann ich nicht sprechen.«

»Sie können, Professor, Sie können. Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß Sie eine Frau und zwei Töchter haben. Eine gesunde Familie … eine noch gesunde Familie.«

Gasenkow sprang von seinem Stuhl auf. »Was soll das heißen?!« rief er mit zitternder Stimme.

»Genau das, woran Sie jetzt denken. Sie lieben Ihre Frau und Ihre Töchter … welcher Ehemann und Vater täte das nicht?! Und jeder Mann ist bestrebt, Unbill von seinen Lieben fernzuhalten.«

Gasenkow setzte sich wieder auf den Stuhl, aber es war mehr ein Zurücksinken. »Was wollen Sie von mir?« fragte er. Seine Stimme klang jetzt rauh, als seien seine Stimmbänder abgeschmirgelt worden. »Soll ich Ihnen Staatsgeheimnisse verraten?«

»Damit kann ich nichts anfangen, wohl aber mit vier Kilogramm Plutonium 239.«

Gasenkow starrte Sybin an, als habe sich dieser plötzlich in ein Tier verwandelt. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich wieder gefaßt hatte. »Was sagen Sie da?« fragte er endlich.

»Es kann auch Lithium 6 oder Uran 235 sein«, sagte Sybin mit teuflischer Freundlichkeit.

»Sie sind verrückt!«

»Und Sie sind kurzsichtig, Lewon Anatolowitsch. Wieviel verdienen Sie als Abteilungsleiter im Kurtschakow-Institut? Ich weiß es. Umgerechnet fünfundsiebzig Dollar im Monat. Mit Prämien höchstens hundert Dollar. Ein so kluger Fachmann wie Sie! Ein Atomexperte! Das ist doch beschämend! Das muß doch Ihr Selbstwertgefühl beleidigen!«

»Man gewöhnt sich daran.« Gasenkow schlug die Beine übereinander. »Um Ihnen meine Einstellung zu verdeutlichen: Mir ist von einem anderen Staat ein Monatsgehalt von elftausend Dollar geboten worden, wenn ich auswandere und dort meine Kenntnisse verwerte.«

»Ich weiß. Sie sind nicht der erste, der ein solches Angebot erhalten hat. Es kommt aus dem Iran. Aber auch elftausend Dollar sind nur ein Trinkgeld. Ich biete Ihnen für ein Kilogramm Plutonium 239 – halten Sie sich am Stuhl fest! – zweihunderttausend Dollar. Garantiert auf ein sicheres Schweizer Nummernkonto.«

»Sie sind doch verrückt!«

»Treiben wir es auf die Spitze: dreihunderttausend Dollar. Mein letztes Wort.«

»Nicht für dreihundert Millionen! Ich liebe mein Vaterland! Ich verrate es nicht! Ich bin ein Patriot! Auch wenn jetzt nach der Perestroika und unter Jelzin das Volk ärmer und gewisse Kreise, zu denen Sie bestimmt gehören, reicher als reich werden, ich bleibe bei meiner Treue zu Rußland.«

»Ist sie wichtiger als Ihre Treue zu Frau und Kindern?«

»Sie … Sie wollen sie umbringen, wenn ich mich weigere?«

»Aber nein, Lewon Anatolowitsch! Aber bedenken Sie bitte, daß ein Rasiermesser nicht nur einen Männerbart abschaben, sondern auch ein Mädchengesicht zerschneiden kann. Und ein paar Tropfen Salzsäure in die Augen haben eine fatale Wirkung.«

»Sie … Sie … Teufel …« Gasenkow stöhnte laut auf. Er ballte die Fäuste, aber er blieb sitzen. »Sie sind kein Mensch … nein, Sie können kein Mensch sein.«

»Beleidigungen rinnen an mir ab wie an einem Wachstuch. So kommen wir nicht weiter. Wieviel können Sie liefern?«

»Nichts! Im Institut lagern nur geringe Mengen, zu Forschungszwecken. Damit können Sie gar nichts anfangen, was auch immer Sie vorhaben. Was wir haben, ist mikrofeiner Plutoniumpulverstaub … er liegt in Experimentierschalen, bleigefütterten kleinen Transportbehältern oder einfach – wegen der geringen Strahlungsreichweite – in ehemaligen Handschuhkästen.«

»Das ist doch nicht möglich!« sagte Sybin erschrocken.

»Ich weiß, das ist ein Skandal. Im Institut ist vieles faul … und deshalb muß ich bleiben, um diese Mißstände so gering wie möglich zu halten.«

»Wieviel können Sie von diesem Staub liefern, Gasenkow?«

»Nichts. Auch bei unserem schlechten Meßsystem würde es sofort auffallen …«

»Denken Sie immer an Frau und Kinder! Ständig … das wird Möglichkeiten erschließen.«

»Höchstens zehn Gramm Plutonium 239. Höchstens!« Gasenkow bog den Kopf nach hinten und starrte die getünchte Decke und die nackte Glühbirne an. »Damit können Sie nichts anfangen.«

»Aber Sie kennen Adressen, wo Plutonium in Mengen lagert.«

»Da gibt es viele. In Tomsk, in Krasnojarsk, im Atomwaffenzentrum Arsamas in der Nähe von Nowgorod, in Majak – da soll am meisten liegen – und in Ozjorks. Vorräte gibt es auch in Schewtschenko und Belojarsk, wo noch die schnellen Brüter arbeiten. Und dann Tscheljabinsk-65. Aber da kommen Sie nie ran.«

»Das ist mein Geschäft.« Sybin war zufrieden. Gasenkow bestätigte die Informationen, die er bereits von Professor Kunzew erhalten hatte, der wiederum Natalja dies alles erzählt hatte. Und der im Bett so geschwätzige Oberst Micharin hatte sogar Zahlen genannt … allein in Majak, dem ehemaligen Tscheljabinsk-65, lagerten, nur notdürftig gesichert, in Betonbehältern über dreiundzwanzig Tonnen reines Plutonium. Und Tscheljabinsk war auch das Hauptziel von Sybins Einkaufsreise.

Aus Gasenkow war nicht mehr herauszuholen, das sah Sybin ein. Er glaubte ihm, daß nur wenige Gramm aus dem Kurtschakow-Institut zur Seite geschafft werden konnten. Erst schien ihm das sehr unwahrscheinlich zu sein: Das Moskauer Institut bestand aus über zwanzig Reaktoren, Labors und Lagern, ein fünf Kilometer langer Sicherheitszaun umgab es, gespickt mit Fernsehkameras und Selbstschußfallen, elektronischen Minenzündern und einem schußfreien Todesstreifen. Und daß hier keine größeren Mengen von Plutonium oder Lithium lagerten, war zu erklären; denn Moskau wäre bei einem Unfall von der totalen Vernichtung bedroht gewesen.

»Meine Freunde werden Sie jetzt nach Hause bringen, Lewon Anatolowitsch. Aber vergessen Sie nie: Ein einziges Wort von Ihnen in der Öffentlichkeit … und Ihre Familie wird Sie verfluchen. Eine kleine Warnung nur für Sie. Ihrer Tochter Marina hat man in dieser Stunde die Haare geschoren. Sie trägt jetzt eine Glatze. Begreifen Sie bitte, daß wir zu allem fähig sind und es keine Hindernisse für uns gibt.«

»Sie Satan! Satan!« schrie Gasenkow. Er sprang auf und rannte in dem leeren Zimmer hin und her. »Aber triumphieren Sie nicht zu früh. Man wird auch Sie finden!«

»Kaum!« Sybin schüttelte den Kopf. Er war sich seiner Sache völlig sicher; zu weit reichten seine Beziehungen in Kreise, die eigentlich die Aufgabe hatten, Männer wie ihn unschädlich zu machen. Aber wem man Geldscheine auf die Augen drückt, der sieht nichts mehr. »Sie sind ein dummer Mensch, Professor«, sagte Sybin, während er zur Tür ging, um zu klopfen. Aufmachen! »Sie könnten Millionär werden. Statt dessen sind sie Patriot! Wo gibt es das noch in Rußland? Wir sind aus den Angeln gehoben worden … sehen Sie das nicht? Was machen Sie, wenn Sie entlassen werden?«

»Mich wird niemand entlassen. Ich weiß zuviel. Ich bin unkündbar.«

»Darauf würde ich kein Gläschen Wodka wetten.« Die Tür sprang auf. Sybin zeigte hinaus. »Leben Sie wohl, Gasenkow … und immer an das Rasiermesser denken …«

Mit schnellen Schritten, es wirkte wie eine Flucht, verließ Gasenkow das leere Zimmer mit dem Stuhl, dessen Sitzfläche feucht war … so hatte er geschwitzt.

Am nächsten Tag flog Sybin nach Tscheljabinsk.

Das war jetzt möglich. Noch vor ein paar Jahren gehörte das ganze Gebiet zu einer Sperrzone, und es gab vor allem in Westsibirien Namen, die auf keiner Landkarte standen, sondern nur in den Akten des Atomministeriums existierten. Orte wie Sneschinsk, Arsamas-16, die U-Boot-Werft Sewmasch südöstlich von Murmansk oder die Atomkraftwerke von Balachowo und Bilibinsk suchte man vergeblich in dem riesigen Rußland … aber Sybin hatte inzwischen erfahren, daß es neunundzwanzig Reaktorblöcke in neun Atomkraftwerken jenseits des Urals gab, und rund fünfzehntausend Atombetriebe und Forschungsinstitute, in denen über eine Million Wissenschaftler und Facharbeiter beschäftigt waren. Eine geradezu unerschöpfliche Geldquelle, wenn man verstand, sie anzuzapfen.

In Tscheljabinsk erwartete ihn bereits ein Kontaktmann des ›Konzerns‹. Es war ein ehemaliger KGB-Hauptmann mit Namen Bogdan Leonidowitsch Grimaljuk, der den Geheimdienst verlassen hatte, um in die ›freie Wirtschaft‹ zu wechseln. Auch das, früher undenkbar, war jetzt möglich. Er war Angestellter einer großen Immobilienfirma, die erst vor einem Jahr in Tscheljabinsk gegründet worden war und natürlich dem ›Konzern‹ gehörte, auch wenn amtlich eine Gruppe Privatunternehmer eingetragen war.

Grimaljuk erschien am Morgen nach Sybins Ankunft zum Frühstück im Hotel und setzte sich an Sybins Tisch. Er bestellte zwei Spiegeleier mit gebratenem Speck und Sauergurken und eingelegten Zwiebeln, tippte mit dem Messer auf die Eier und sagte:

»Auch die sind verstrahlt. Zwar gering, aber sie sind verstrahlt.«

»Und du ißt sie trotzdem?« Sybin betrachtete seinen Frühstücksteller. Schinken, Wurst, Käse, Schwarzbrot, Butter, Tee … hier in diesem Gebiet lebte man besser als in Moskau, die Bewohner bekamen besondere Vergünstigungen und Privilegien. Neidvoll nannte man deshalb die von vielen kleinen Seen umgebene Gegend die ›Schokoladen-Stadt‹, aber die meisten der Arbeiter wären gern in andere Städte umgezogen, auch wenn sie als Privilegierte das Doppelte eines russischen Normalbürgers verdienten. Man brauchte sich nur vor das Portal des Hotels 09RF zu stellen, um zu wissen, was keiner aussprach und was auch nie nach draußen dringen würde: Auf einer Tafel über dem Hoteleingang wurde mit elektronischen Leuchtziffern nicht nur die Temperatur angegeben, sondern auch die tägliche radioaktive Strahlung. Das Hotel lag in Ozjorsk, der geheimen Stadt, in der das Kernkraftwerk und Forschungszentrum Majak errichtet worden war.

»Was soll man machen?« sagte Grimaljuk und stocherte in den Spiegeleiern herum. »Man muß leben, und um zu leben, muß man essen. Es ist doch gleichgültig, was man ißt, alles ist verstrahlt.«

Sybin schob seinen Frühstücksteller zur Seite. Er war eigentlich ein mutiger und skrupelloser Mensch, aber vor Krankheiten hatte er eine höllische Angst. Man las jetzt viel von neuen Viren und Bakterien, nicht nur von Aids, sondern von teuflischen Mikroben, die irgendwo in den Urwäldern Afrikas und Südamerikas entdeckt wurden und gegen die es noch keine Heilmittel gab. Das erzeugte bei Sybin eine Art Hysterie, jeden Monat ließ er sich von einem ›Konzern-Arzt‹ untersuchen, und wenn es an einer Stelle auf seiner Haut juckte, rannte er voller Panik in eine Klinik, die natürlich auch von dem ›Konzern‹ kontrolliert wurde.

Grimaljuk lächelte verhalten, als er Sybins Reaktion sah. »Wie lange wollen Sie bleiben, Igor Germanowitsch?« fragte er.

»So lange, wie es nötig ist.«

»Das kann eine Woche dauern, aber dann sind Sie verhungert.«

»Ich werde mir von auswärts Lebensmittel beschaffen.«

»Die sofort die Strahlung aufnehmen, wenn sie ausgeladen werden. Hier kann man nicht mehr davonlaufen.« Grimaljuk holte ein paar Bogen Papier aus seiner Tasche und entfaltete sie. »Kann ich berichten?«

»Ja. Fang an.« Sybin legte die Hände übereinander auf den Tisch. Kann man die Strahlenbelastung wieder loswerden? fragte er sich. Natürlich muß man das können, sonst wären alle Atomarbeiter rettungslos verloren. Nur keine Panik, Igor, du wirst es überleben … und vergiß nicht: Wer zum Teufel geht, muß die Hitze der Hölle ertragen können.

Grimaljuk räusperte sich, bevor er mit seinem Vortrag begann:

»Zuerst die Allgemeinlage. Das Zentrum der Plutoniumfabrik Majak ist das Städtchen Ozjorsk, das einmal Tscheljabinsk-65 hieß. Es steht auf keiner Landkarte, gehörte zum Geheimnisvollsten, was es in Rußland gab, und war für Personen ohne Passierschein unerreichbar. Und es war völlig undenkbar, daß irgendwelche Informationen nach draußen drangen. Majak ist heute die größte und problematischste Plutoniumfabrik der Welt!«

»Das weiß ich«, fiel ihm Sybin grob ins Wort. »Sonst wären wir nicht hier.«

»In Majak sind über vierzehntausend Experten und Arbeiter beschäftigt, die vor allem dafür zuständig sind, den größten Teil der in Rußland anfallenden Brennelemente der Atomkraftwerke von Nowo-Woronesch, Saporoschje, Kalinin, Balachowo und Belojarsk wiederaufzubereiten. Dabei fällt massenhaft Plutonium ab. Das hat in früheren Jahren zu einer unfaßbaren radioaktiven Verseuchung des Gebietes um Kyschtym-Kamensk-Uralski-Musljumowo geführt, in dessen Mitte das ehemalige Tscheljabinsk-65 liegt, das heute …«

»… Ozjorsk heißt.« Sybin wurde ungeduldig. »Das weiß ich alles. Weiter! Konkrete Dinge …«

»In den früheren Zeiten, als in der Atomfabrik Majak vor allem Plutonium hergestellt wurde, geschahen einige Unfälle, von denen keiner etwas erfuhr. So führte 1948 ein Unfall in der Plutoniumproduktion zu einer großflächigen Verstrahlung des Bodens, der Gewässer und der Arbeiter. Die Todesfälle durch Leukämie stiegen um das Zehnfache. Der Fluß Tetscha ist völlig verseucht, denn er fließt an Majak vorbei. Die Gegend ist heute menschenleer und lebensgefährlich! Der Tetschasee ist praktisch eine Atomkloake. Noch heute bezeichnen Fachleute die Region um Tscheljabinsk als die am meisten verstrahlte Gegend der Welt. Es ist erst jetzt bekannt geworden, daß in den vergangenen Jahren hundertzwanzig Millionen Curie radioaktiver Atomabfälle, sogenannter Atommüll, in den südlich von Majak liegenden Karatschaisee gekippt wurden. Und dort, wo der Müll in die Gewässer eingeleitet wird, hat man eine Strahlenbelastung von fünf Sievert gemessen. Das ist eine absolut tödliche Dosis! Jetzt plant man, den Karatschaisee zuzuschütten und die Abfälle von zweihundert Millionen Curie Strahlung zu verglasen. Das heißt, man schmilzt die Abfälle in Glasblöcke ein und vergräbt sie dann. Ein Tropfen auf dem heißen Stein. Man weiß längst, daß auf dem weitläufigen Gelände um die beiden Seen und dem Tetschafluß bis hinauf nach Kamensk-Uralski noch über eine Milliarde Curie Strahlungen vorhanden sind. Eine Milliarde Curie … das sind umgerechnet hundert Curie auf einen Quadratmeter! Seit das Ausland davon weiß, ist eine großzügige Sanierungshilfe, vor allem aus den USA, angelaufen … nur ist bis heute im Plutoniumkombinat nicht eine Kopeke angekommen!«

»Und was geht das mich an?« fragte Sybin ärgerlich. »Ich will nicht sanieren, ich will Plutonium!«

»Das war der äußere Rahmen, Igor Germanowitsch, jetzt zum inneren.« Grimaljuk blickte auf seine Recherchen. »Majak ist eine der am besten bewachten Forschungsstädte Rußlands. Die gesamten Produktionsstätten werden vom Militär kontrolliert. Da gibt es den ersten Sicherheitsring, in dem die Reaktoren und die Labors liegen. Ein weiträumiger Ring, denn um an die Werke heranzukommen, muß man einen zweiten, mittleren Ring passieren, der von bewaffneten Werkspolizisten bewacht wird. Und dann kommt der letzte, innere Ring eng um die Produktionslabors, wo wiederum Militär alles unter Kontrolle hat. Nach russischer Ansicht kommt da keine Maus durch … aber in Wahrheit ist die Bewachung sehr lückenhaft. Die Militärposten am Eingang der radioaktiv belasteten Zone um Majak sind frustriert, denn sie wissen auch, daß sie den Strahlungen ausgesetzt sind. Sie tragen keine Schutzanzüge, sondern ihre normale Uniform. Welche armen Hunde sie sind, sehen sie daran, daß die Lastwagen, die in Majak herumfahren und das Gebiet verlassen, wie Panzer rundum mit dicken Bleiplatten abgedeckt sind.«

»Was soll das, Bogdan Leonidowitsch?« Sybin hatte Hunger, wagte nicht, das Frühstück anzurühren und war dadurch schlecht gelaunt. »Ich habe nicht den Ehrgeiz, in Majak spazierenzugehen. Ich will von dir wissen, wie weit du mit Kontakten gekommen bist.«

»Die Transportfrage ist gelöst, Igor Germanowitsch.« Grimaljuk blickte Sybin an, als erwarte er das längst fällige Lob. »Ich habe einen Fahrer, der bereit ist, mit seinem Bleiplatten-Lastwagen für uns Material zu transportieren. Das ist ganz einfach: An den drei Sperrzonen wird er nicht kontrolliert, da das Beladen bei den Hallen überwacht wird. Kommt also so ein Bleiwagen zu den Militärsperren, wird er einfach durchgewinkt. Das wäre geregelt. Das Problem ist: Wer besorgt uns das Plutonium, und wie bekommen wir es in den Lastwagen?«

»Und da hast du noch nichts erreicht!«

»Man hat mir einen Tip gegeben. Ein Laborant im Labor III, Kontrolle von Plutonium 239, wäre der richtige Mann.«

»Gott sei Dank mal kein Professor«, sagte Sybin sarkastisch. »Ein Arbeiter ist immer gut. Professoren sind oft Idealisten … ein Arbeiter will essen, trinken und träumt von einer eigenen Datscha.«

»Der Laborant ist kein Arbeiter … er ist ein Experte mit Dreifachgehalt. Mehr als ein Forscher! Aber immer noch ein Flachlieger, trotz aller Privilegien. Ein Taxifahrer in Tscheljabinsk verdient mehr als er. Das ärgert ihn natürlich. Er heiß Lew Andrejewitsch Timski. Zweiunddreißig Jahre alt, verheiratet, ein Kind. Frau und Kind leben in einer Zweizimmerwohnung in Musljumowo am verseuchten Fluß Tetscha.«

»Das könnte der richtige Mann sein. Gute Arbeit, Bogdan Leonidowitsch …«

Das erwartete Lob. Grimaljuk fühlte sich wieder wohler als noch vor einer halben Stunde.

»Ich habe den Fahrer des Lkw gebeten, sich mit Timski in Verbindung zu setzen. Wenn alles klappt, das heißt, wenn Timski bereit ist, mit uns zu sprechen, werden wir ihn heute abend kennenlernen.«

»Es ist also nicht sicher?«

»Ein Roulette ist es, Igor Germanowitsch, alles hier ist ein Glücksspiel: Entweder du bekommst Leukämie, Knochenkrebs, Lungenkrebs, Nierenkrebs – oder du wirst siebzig Jahre alt. Auch das gibt es. Ich hoffe, daß Timski kommt … er wohnt in einem staatlichen Wohnheim und muß sich beim Hausverwalter abmelden, wenn er in die Stadt Ozjorsk will. Seine Frau und sein Kind darf er nur alle vierzehn Tage besuchen. Dafür bekommt er extra einen Passierschein, damit er nach Musljumowo fahren kann. Hier ist eben alles anders.« Grimaljuk zeigte auf Sybins Teller. »Sie sollten etwas essen, Igor Germanowitsch. Denken Sie nicht an die Verstrahlung. Sie ist im allgemeinen so schwach, daß sie keinen großen Schaden anrichten kann.«

»Auch ein kleiner Schaden genügt mir.«

»In den Lebensmitteln ist die Radioaktivität tolerierbar. Nur bei längerem Beschuß wird es kritisch. Aber Sie bleiben ja nur eine Woche.«

»Höchstens! Wenn wir Timski gewinnen können, reise ich sofort ab.« Sybin achtete nicht auf Grimaljuks Grinsen, aber er fügte erklärend hinzu: »Ich habe noch eine lange Reise vor mir. Kreuz und quer durch Sibirien. Und ich muß meine Zeit gut einteilen.«

Am Mittag war Sybins Widerstand gebrochen, der Hunger blieb Sieger. Er aß einen gutgewürzten Krautwickel mit Kümmelsoße und Blinis, trank Bier aus der Flasche, das garantiert strahlenfrei war, und fühlte sich gleich viel wohler. Ein hungernder Mensch verliert sich leicht im Pessimismus.

Gegen vier Uhr nachmittags betrat ein schlanker, blonder Mann das Hotel und blickte sich suchend um. Er hatte eine bläßliche Gesichtsfarbe und etwas bläuliche Lippen.

»Das ist er«, sagte Grimaljuk leise zu Sybin. »Das muß er sein. Timski. Wir haben halb gewonnen, Igor Germanowitsch …«

Er stand auf, ging zu dem Mann, sprach mit ihm und zeigte dann auf Sybin. Der nickte ihm zu und setzte sein charmantestes Lächeln auf, das bisher noch jeden betört und Sympathie hervorgerufen hatte. Timski musterte Sybin und entschloß sich, an den Tisch zu kommen. Sybin erhob sich höflich … da kam ihm eine goldene Zukunft entgegen und streckte sogar die Hand nach ihm aus. Er nahm sie und drückte sie fest.

»Sie wollten mich sprechen?« fragte Timski etwas steif. »Mein Freund richtete es mir aus. Er sprach von einem Geschäft …«

»Nehmen Sie Platz, Herr Timski.« Sybin zeigte auf den Stuhl neben sich.

»Lew Andrejewitsch …« Timski setzte sich.

»Igor Germanowitsch …« Sybin warf einen prüfenden Blick auf Timskis Hautfarbe. Er ist krank, dachte er, Blutarmut oder so etwas Ähnliches. Die Strahlung zerfrißt ihn mit teuflischer, noch schmerzloser Langsamkeit. Er ist ein Gezeichneter … und keiner sagt ihm das. Schleichen wir nicht um das Thema herum … ein schnelles gutes Wort tut immer eine Wirkung. »Möchten Sie eine Datscha haben in einer nicht verseuchten Landschaft? Vielleicht am Don oder auf der Krim oder bei Sotschi am Schwarzen Meer?«

Timski schien über diese Frage nicht erstaunt zu sein, aber er schwieg. Sybin deutete das als Zögern und fuhr fort:

»Es kann auch ein Bungalow auf Nassau sein oder eine kleine Villa in der Karibik. Ich kenne Ihren Geschmack noch nicht, Lew Andrejewitsch. Aber ich nehme an, daß sich Ihre Frau und Ihr Kind überall auf der Welt wohler fühlen würden als in dem verkommenen Musljumowo.«

»Sie wollen mich bestechen?« fragte Timski, und es klang, als biete er eine Zigarette an. Sybin staunte, und er zog die Augenbrauen hoch, als Timski hinzufügte: »Sie sind nicht der erste, der mich kaufen will.«

»Ich will Sie nicht kaufen, wo denken Sie hin? Es soll ein Geschäft werden.«

»Plutonium, nicht wahr? Oder Uran 235? Oder was wollen Sie noch?«

»Ich bin nicht der erste, sagten Sie? Das klingt, als ob aus Majak bereits Plutonium hinausgeschmuggelt wurde.«

Sybin bestellte für Timski hundert Gramm Wodka und wartete, bis dieser ein halbes Gläschen hinuntergekippt hatte. Timski wischte sich über den Mund.

»Weiß ich, ob Sie ein Spitzel sind, Igor Germanowitsch …?«

»Sehe ich so aus?«

»Spitzel sehen nie so aus, wie man sie uns in den dummen Agentenfilmen zeigt. Aber – ich vertraue Ihnen. Also, das war vor einem Jahr. Da kam ein Deutscher hierher, wohnte wie Sie in diesem Hotel und kaufte vom Reaktor II genau dreizehn Kilogramm Cäsium 137. Was er damit wollte, was weiß ich? An dem Geschäft waren drei Freunde von mir beteiligt … die gingen einfach zum Lager und holten das Cäsium ab. Niemand hielt sie auf. Ein Lastwagen brachte das Zeug aus dem Sperrgebiet hierher zum Hotel. Der Deutsche hatte darauf bestanden, nur in Rubeln zu zahlen, bar, in kleinen Scheinen, weiß der Teufel, woher er die hatte. Sechsundfünfzig Millionen Rubel bezahlte er für das Cäsium 137 … Sie werden es nicht glauben: Es waren zwei Säcke voller Scheine. Zwei Kellner trugen die Säcke zum Wagen, und das Geschäft war gelaufen.«

»Und wie hat der Deutsche das Cäsium weggebracht?«

»Das hat keinen interessiert. Meine Freunde sind mit den sechsundfünfzig Millionen Rubel sofort wieder abgefahren. Ich frage mich, was macht man mit dem Cäsium? Ja, wenn es Plutonium 239 gewesen wäre …«

Jetzt, dachte Sybin, jetzt lassen wir die Katze aus dem Sack. »Ich brauche vorerst keine dreizehn Kilo, sondern vier bis fünf Kilo Plutonium. Waffenfähig. Mindeste Reinheit 84 bis 90. Wie sieht es damit aus, Lew Andrejewitsch?«

Timski senkte den Blick und starrte auf sein Wodkaglas. Sybin hielt unwillkürlich den Atem an; er wußte, daß er jetzt va banque gespielt hatte. Auch Grimaljuk begriff, daß Sybin einen Drahtseilakt begonnen hatte … entweder die Balance gelang, oder er stürzte ab.

»Vier Kilogramm?« Timski blickte wieder hoch. »Das ist viel … aber nicht unmöglich.« Sybin und Grimaljuk atmeten auf. »Es dauert nur eine gewisse Zeit.«

»Wie lange?«

»In drei Monaten könnte man das zusammengescharrt haben. In Pulverform, fein wie Staub. Das läßt sich am besten transportieren. Und vor allem … der Plutoniumstaub wird in meiner Abteilung gewogen und kontrolliert. Er liegt in einem Betonbunker, zweihundert Meter unter der Erde. Wir müssen ihn grammweise herausholen. Das fällt überhaupt nicht auf. Und einfach ist es auch … wegen der geringen Strahlungsweite bringen wir den Plutoniumstaub in Plastikbeuteln aus dem Bunker. In der Hosentasche! Und wenn er erst mal im Bleilaster ist, ist er so harmlos wie Tomaten oder Gurken. Da reagiert kein Kontrollsystem mehr, eine Entdeckung ist unmöglich.« Timski blickte Sybin nachdenklich an. »Aber … wie wollen Sie den Stoff von hier wegbringen? Ich nehme an, das Pulver soll sogar ins Ausland.«

»Richtig. Wir haben dafür besondere Behälter konstruiert.« Sybin legte seine Hand auf Timskis Handrücken. »Ehrlichkeit gegen Vertrauen: Wir haben verschiedene Wege, todsichere Transporte. Der eine Weg: Wir werden das Plutonium ganz einfach mit der Eisenbahn befördern. In einem Güterwagen, gefüllt mit Sand oder Steinen, liegen ganz unten unsere strahlensicheren Container. Das kontrolliert niemand, so wie bei Ihren Bleiwagen. In Moskau werden die Container dann zum Militärflughafen Tschkalowskoje gebracht und von dort mit Armeetransportflugzeugen nach Brandis bei Leipzig geflogen. Kein Zoll darf die Militärtransporte kontrollieren, und keine deutsche Polizei darf eine russische Kaserne betreten. Die Piloten aus Moskau bekommen pro Flug fünfhundert Dollar in die Hand gedrückt. Dafür tun sie alles! Und da es ständig Lieferungen für die noch in Ostdeutschland verbliebenen Truppen gibt, haben auch wir keinerlei Transportprobleme.« Sybin blickte Timski sehr ernst an. »Sie wissen nun sehr viel, Lew Andrejewitsch … auch wenn ich Ihnen nur einen Weg verraten habe … Wenn Sie Ihr Wissen weitergeben, werden Sie nicht an der Verstrahlung sterben, es ginge dann schneller.«

Timski ging auf diese Drohung nicht ein, denn er hatte mit einer solchen Entwicklung des Gespräches gerechnet. Wer waffenfähiges Plutonium kaufen will, der ist kein normaler Metallmakler, wie sie jetzt in Majak auftauchten. Mit Genehmigung der Regierung und unter den Augen der russischen Atomaufsichtsbehörde in Moskau erschienen immer mehr ausländische Delegationen in Majak und knüpften Geschäftsbeziehungen. Der Direktor der Plutoniumfabrik Majak, Victor Fetisov, machte kein Geheimnis daraus: Seit zwei Jahren arbeitete er mit einer englischen Firma zusammen, und mit China hatte er zwei Unternehmen gegründet, die aus Majak Material bezogen. Vor allem Brennstäbe, die auch als ›Abfallprodukt‹ zur Produktion von Plutonium dienen können.

Dieser Sybin aber war ein Privatmann, und hinter ihm, das ahnte Timski, stand eine mächtige Organisation mit internationalen Verbindungen. Mit ihr war nicht zu spaßen, man konnte sie nicht betrügen oder verraten … da war es weniger gefährlich, eine nasse Fingerkuppe in das Plutoniumpulver zu tauchen und sie abzulecken.

»Was bieten Sie?« fragte Timski in die Stille hinein.

»Wir arbeiten also zusammen?« Sybin beugte sich zu ihm hinüber.

»Sehen Sie mich an. Ich habe keine lange Lebenserwartung mehr. Ich bin innerlich bereits ein Wrack. Aber meine Frau und mein Kind sollen weiterleben, sorglos, irgendwo, wo es die verdammte Strahlung nicht gibt! Sie sagten es schon: Karibik – ein Traum. Dafür würde ich alles tun, für Frau und Kind. Ich selbst habe keine Zukunft mehr. Ich habe mir alles lange überlegt … ich sagte ja schon, Sie sind nicht der erste mit einem Angebot. Aber Sie haben das Glück, daß ich gerade jetzt die Schnauze voll habe. Im Kontrollraum habe ich mich unter einen Geigerzähler gestellt … der Zeiger schlug aus wie ein wütendes Pferd! Was habe ich also noch zu erwarten? Igor Germanowitsch – Ihr Angebot!«

»Als Probe zwei Gramm … kostenlos. Dann vier oder fünf Kilo Plutonium 239, pro Kilo dreihunderttausend Dollar.«

»Nein!«

»Nein?« Sybin warf einen Blick hinüber zu Grimaljuk. »Timski, ich bin kein Teppichhändler auf dem Markt von Isfahan. Ich habe reelle Preise und zahle prompt!«

»Pro Kilo eine Million Dollar.«

Sybin lachte und zeigte mit dem Daumen auf Timski, während er Grimaljuk ansah. »Er ist verrückt, Bogdan Leonidowitsch! Die Radioaktivität hat schon sein Hirn angefressen.«

»Und was verdienen Sie an einem Kilo Plutonium? Ich will es gar nicht wissen … aber glauben Sie nicht, daß wir hier in Ozjorsk wie auf dem Mond leben. Wir wissen genau, was außerhalb Rußlands los ist.«

»Timski, ich habe große Unkosten.« Sybin goß sich von dem Wodka einen Schluck in seine Teetasse und trank ihn. Wenn der wüßte, dachte er … für ein Kilogramm Plutonium 239 mit einer Reinheit von neunzig Prozent bekomme ich sechzig Millionen Dollar. Das hat mir Dr. Sendlinger versprochen, und ich habe mich auch bei Moskauer Maklern erkundigt, die in das Geschäft drängen, aber nicht das nötige Kapital zur Vorfinanzierung haben. Die Zahlen stimmen. Darüber muß ich noch mit Sendlinger sprechen: Wie keimende Kartoffeln haben sie mir Atomsprengköpfe von SS-20-Raketen angeboten … für siebzigtausend Dollar. Wir wissen keinen, der sie will, hat der Makler gesagt. Dabei könnten wir liefern. Aus der Ukraine. Das könnte das nächste Geschäft werden: Atomsprengköpfe … die Trägerraketen wären dann das geringste Problem. »Mein letztes Wort, Timski –«, sagte er und gab seiner Stimme einen harten, drohenden Klang. »Ein Kilo – vierhunderttausend Dollar.«

»Halten Sie mich für einen Idioten?«

»Ja, wenn Sie nicht zuschlagen, Lew Andrejewitsch. Bei vier Kilogramm sind das wunderbare eins Komma sechs Millionen Dollar. Steuerfrei!« Sybin lachte über diesen müden Witz. »Und wenn Sie in den nächsten Jahren noch mehr liefern können … Ihre Frau und Ihr Kind werden nie mehr Sorgen haben und Mann und Vater wie einen Heiligen besingen.«

»Ich überlege es mir, Igor Germanowitsch.«

»Keine langen Überlegungen. Kennst du nicht das Sprichwort: Das Heute ist besser als zwei Morgen!?« Sybin verfiel in das Du, es sprach sich leichter. »Wir müssen das jetzt klären.«

»Wir könnten Partner werden bei fünfhunderttausend Dollar pro Kilo.«

»Er ist doch ein Teppichhändler, Grimaljuk!«

»Für eine gute Ware sollte man …«

»Kein Wort mehr!« Sybin fuchtelte mit den Händen herum. »Wir sind uns einig. Wann bringst du die Probe?«

»Wieviel Gramm?«

»Zehn Gramm vorerst. Gratis!«

»Sie sagten vorhin zwei Gramm.«

»Zehn sind besser. Wir können es dann mehreren Interessenten gleichzeitig vorlegen.«

»Ich will sehen, ob ich die Menge bis übermorgen zusammenbekomme.« Timski erhob sich. Ist es richtig, was ich tue, fragte er sich. Bin ich zu einem Verbrecher geworden? Schädige ich mein Vaterland? Aber was tut das Vaterland für uns? Viele Menschen sollen gemäß der Abrüstungspläne entlassen werden, vielleicht auch ich, keiner kennt sein Schicksal … und was kommt dann? Kümmert es Rußland, was aus uns wird? Eine kleine Pension werden wir bekommen, weniger als ein Wachmann an der Straßenschranke nach Ozjorsk, und wenn ich früher oder später verrecke, wer sorgt dann für meine Frau und das Kind? Sollen sie betteln gehen? Sollen sie beide Huren werden? Dem Vaterland ist das gleichgültig – es nagt ja selbst an einem blanken Knochen. Für vier Kilogramm Plutonium zwei Millionen Dollar … Leute, da hören Gewissen und Moral auf, wenn man ein so armseliger Kerl ist wie ich. »Haben Sie einen Bleikasten dabei?« fragte er.

Sybin nickte. »Eine Box aus Stahl, mit Blei ausgekleidet. Zehn mal zehn Zentimeter groß.«

»Das genügt. Aber bei den Kilomengen …«

»Wir haben alles vorbereitet. Unser Freund Grimaljuk wird dir die Gefäße von einem Lastwagenfahrer bringen lassen, du füllst sie auf, und der Bleiwagen bringt sie aus Majak heraus, hierher nach Ozjorsk und weiter nach Tscheljabinsk.«

»Und das Geld?«

»Liegt auf einem Schweizer Nummernkonto.«

»Wer garantiert das?«

»Ich!« Sybin erhob sich. »Vertrauen gegen Vertrauen. Ich vertraue deiner Lieferung, du vertraust meinem Wort.«

»Wem kann man in Rußland heute noch vertrauen?«

»Mir, Lew Andrejewitsch.«

»Eine kleine Anzahlung wäre beruhigender.«

Sybin ignorierte diese versteckte Beleidigung. Timski war zu wertvoll, um ihm jetzt die Faust zu zeigen. »Ich werde großzügig sein. Wenn du übermorgen die Probe bringst, bekommst du tausend Dollar in bar.«

»Meine Frau und mein Kind bedanken sich, Igor Germanowitsch.« Timski deutete eine kleine Verbeugung an, drehte sich um und verließ mit schnellen Schritten das Hotel.

»Was hältst du von ihm?« fragte Sybin und setzte sich wieder. Grimaljuk zuckte die Schultern. »Ist er ein ehrlicher Mensch?«

»Nein …«

Sybin zuckte zusammen. »Nicht?«

»Wäre er ein ehrlicher Mensch, würde er uns kein Plutonium liefern …«

Da mußte Sybin lachen, so laut, daß sich einige Gäste im Restaurant zu ihnen umdrehten. Aber er lachte ungeniert weiter und trank das Fläschchen leer. An diesem Abend leistete er sich eine Bettgenossin, ein schwarzgelocktes Mädchen mit Tungusenblut, stürmisch wie ein sibirischer Wildbach. In der Stadt gab es viele von ihnen … hunderttausend Atomarbeiter suchten Abwechslung und eine Stunde Glück.

Am Vormittag des dritten Tages kam der Lkw-Fahrer ins Hotel und übergab Sybin ein schweres Päckchen. Er war sehr wortkarg und sagte nur: »Ein Gruß von Lew Andrejewitsch … und tausendfünfhundert Dollar.«

»Tausend waren abgemacht!« entgegnete Grimaljuk.

»Fünfhundert sind für den Transport. Nichts im Leben ist umsonst. Nur der Tod … den schenken sie uns hier.«

Er nahm das Geld, das Sybin in ein Kuvert steckte, und verließ sofort grußlos die Hotelhalle. Sybin betrachtete kritisch das Päckchen, das auf einem Tisch lag. »Damit kann man Tausende töten, wenn sie den Staub einatmen.«

»Zehntausende, Igor Germanowitsch. Ich darf jetzt nicht daran denken.«

»Das Denken sollten wir bei diesem Geschäft aufgeben. Bogdan Leonidowitsch, sorg dafür, daß das Zeug nach Moskau kommt. Ich fahre morgen weiter nach Krasnojarsk.«

Krasnojarsk-26. Die Stadt, die zu den zehn geheimsten Städten Rußlands gehörte.

Die Stadt in Westsibirien, die Plutonium für die Atombombe herstellt. In ihrem Arsenal lagert das Material zur Vernichtung der gesamten Welt.

Krasnojarsk-26. Die Hölle der Atomschtschiki.

Nicht nur Sybin war mit großen Hoffnungen und Erwartungen unterwegs, auch Dr. Sendlinger begab sich auf Reisen. Ludwig Waldhaas begleitete ihn; sein Baustoffhandel lief auch ohne ihn. Er beschäftigte mittlerweile drei Geschäftsführer und vierhundertdreißig Arbeiter, die sich bemühten, das Baumaterial für die neuen Großbauten in Berlin, Leipzig, Frankfurt/Oder, Rostock und Stralsund zu liefern. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands war die ehemalige DDR eine einzige riesige Baustelle geworden. Überall schossen die Neubauten aus dem Boden, ein Bauboom ohnegleichen überzog die Länder, und vor allem in den Großstädten entstanden modernste Paläste mit Banken, Geschäftsniederlassungen, Büros, Restaurants und Versicherungen und Hotels und Supermärkten, wie man sie bisher noch nie gesehen hatte. Ein Heer von Immobilienhändlern und Baugesellschaften stieß sich hier gesund. Milliarden deutsche Mark rollten von Tasche zu Tasche – es herrschte eine Art Goldgräberstimmung, nur daß man keine kleinen Nuggets oder Körnchen aus der Erde wusch, sondern die Tausendmarkscheine stapelte. Auch Waldhaas ließ in seiner Firma Geld scheffeln … er selbst kümmerte sich um seinen abenteuerlichen Traum, waffenfähiges Atommaterial an Diktatoren und Terroristen zu vermitteln, auch an Wahnsinnige, wenn sie nur zahlen konnten. Ihm waren die Abnehmer gleichgültig.

Dr. Sendlinger selektierte die eingehenden Angebote. Sie trafen in Mengen ein, da er durch einen arabischen Mittelsmann hatte durchsickern lassen, es käme Plutonium 239 auf den Markt. Hier entstand der erste Streit mit Waldhaas.

»Was heißt hier aussortieren!« rief Waldhaas, als Dr. Sendlinger die Liste der Abnehmer vorlegte. »Wer zahlt – bekommt. Das ist doch ganz einfach.«

»Würdest du, wenn er noch lebte, an Idi Amin Atombomben liefern?«

»Warum nicht! Seine Dollar stinken ebensowenig wie die aus Pakistan.«

»Ich will das Plutonium sinnvoll angewendet sehen.«

»Höre ich richtig? Sinnvoll?« Waldhaas lachte kurz und trocken. »Wenn islamische Fundamentalisten damit herumfackeln, ist das sinnvoll? Paul, was wir verkaufen, ist der Tod, ganz gleich, in welche Hände das Mistzeug kommt! Ob Idi Amin, Gadhafi oder Pipi Strullemann … das ist doch kein Unterschied! Wer Plutonium haben will, verwendet es nicht als Gartenerde. Selektieren!«

»Ich möchte nicht, daß deutsche Terroristen mit Plutonium drohen. Denn dann bist auch du unter den Opfern. Was in Afrika oder in Asien passiert, geht mich nichts an. Verstehst du das, Ludwig?«

»Die deutschen Terroristen haben kein Geld, um Plutonium zu kaufen.«

»Nein, keine zig Millionen. Aber wenn sie auch nur hundert Gramm kaufen – und das könnten sie durch Sympathisantenhilfe aufbringen oder mit Unterstützung von interessierten Staaten –, dann gnade uns Gott! Mit hundert Gramm können sie ganz Westdeutschland verseuchen.«

»Und wenn sie über islamische Aufkäufer doch drankommen?«

»Genau das will ich untersuchen und verhindern.«

Dr. Sendlinger und Ludwig Waldhaas fuhren nach Paris.

Sie stiegen in einem Mittelklassehotel ab, das in der Nähe der Pont d'Alexandre lag; hier hatte Sendlinger schon öfter gewohnt, man kannte ihn, den Monsieur le Docteur aus Allemagne, und hier hatte er auch das Geschäft mit den dreizehn Kilogramm Cäsium 137 vermittelt. Was dann in Ozjorsk geschehen war, mit den beiden Säcken mit sechsundfünfzig Millionen Rubeln in kleinen Scheinen, wußte er nicht. Er hatte nur einen Deutschen kennengelernt, der sich sinnigerweise Schmitz nannte und den er in Paris mit einem orientalischen Aufkäufer zusammenbrachte. Das war alles gewesen. Die beiden Herren zogen sich in ein Zimmer zurück, und als sie wieder herauskamen und der Handel zur Zufriedenheit aller abgeschlossen war, überreichte ihm Herr Schmitz als Vermittlungshonorar einen Scheck über hunderttausend Mark. Die gleiche Summe zahlte der Orientale und bedankte sich damit für die Kontaktvermittlung zu Herrn Schmitz. Leichter konnte man zweihunderttausend Mark nicht verdienen. Dr. Sendlinger zahlte die Schecks bei einer Bank in Luxemburg auf ein Konto ein, das auf den Namen Einstein lautete. Keiner nahm daran Anstoß.

Jetzt, wieder in Paris und in seinem gemütlichen Hotel, war Sendlingers Terminkalender voll.

Dienstag: Herr Mohammed al Sifra, Kairo.

Mittwoch: Herr Jussuf Abbas aus Teheran.

Donnerstag: Vormittag – Herr Anwar Awjilah. Nachmittag – Herr Makar Abha aus Libyen.

Freitag: Herr Pierre Sautin aus Paris und Herr Brian Murphy.

Samstag: Weiterflug nach Wien.

Auf dieser Liste waren Sautin und Murphy Fremdkörper, aber Sendlinger hatte von ihnen telefonisch den Wink bekommen, daß eine Verbindung zu mittelamerikanischen Staaten möglich sei. Das waren neue Gebiete, wo es immer wieder Rebellionen gab – ein guter, aktueller Markt. Und weit weg von Deutschland.

Die Kontakte konnten also geknüpft werden … es lag jetzt nur noch an Sybin, das bestellte Material zu beschaffen. Er hatte gesagt: »Ludwig, es geht los!« Und Sendlinger plagten keine Zweifel, daß dies nur eine unverbindliche Redensart gewesen sein könnte.

Nach dieser ersten Besprechungsrunde in Paris dinierten Sendlinger und Waldhaas im Maxim's und stießen mit Dom Pérignon auf den Erfolg an.

»Wir haben die geradezu wahnsinnige Bestellung von insgesamt zwölf Kilogramm Plutonium 239, zwanzig Kilogramm Uran 235, zehn Kilogramm Lithium 6 und zwanzig Atomraketen SS-18, Codenamen Satan, und fünfzehn Atomraketen SS-25. Außerdem zehn Sprengköpfe für SS-22. Ludwig, das ist Wahnsinn!«

Waldhaas stellte sein Champagnerglas so hart auf den Tisch zurück, daß Sendlinger sich wunderte, daß es nicht zerbrach. Außerdem war Waldhaas so rot im Gesicht geworden, als habe er Rouge aufgelegt.

»Wahnsinn ist gar kein Ausdruck!« keuchte Waldhaas. »Das können wir doch nie liefern!«

»Nein.«

»Aber du hast jedem versprochen: Das machen wir schon!«

»Mit Versprechungen kann man Preise in die Höhe treiben.«

»Paul, ganz deutlich: Sie werden uns umbringen! Die haben überall ihre Agenten sitzen, ihre Killerkommandos, vor allem die Moslems.«

»Hast du Angst?«

»Ja. Woher nimmst du nur die Kaltschnäuzigkeit?«

»Ich werde die Aufträge an Sybin weitergeben, und wenn der ja zu allem sagt, hat er den Schwarzen Peter in der Hand. Er muß liefern, wir sind nur Vermittler, die sich auf Sybin verlassen haben, uns trifft kein Vorwurf, denn wir haben im besten Glauben verhandelt. Wir werden zwar auch geschädigt sein, aber wenn Sybin liefern kann, dann …« Er hob sein Champagnerglas. »Ludwig, addiere mal die Millionen zusammen. Das kannst du ohne Taschenrechner gar nicht. Ein Prost auf die Abrüstung, bei der das Gold auf der Erde liegt.«

In Wien sprachen sie nur mit zwei Käufern. Aber diese waren hochkarätig. Sein Stammhotel Sacher benutzte Sendlinger nicht für die Gespräche … er wich ins Hilton aus. Auch diesen beiden Unterhändlern versprach er, hochangereichertes Lithium 6 zu vermitteln. Er sagte dieses Mal nicht ›besorgen‹, sondern ›vermitteln‹. Das war unverbindlicher. Vermitteln bedeutet nicht liefern.

Auch an diesem Abend feierten Waldhaas und Sendlinger ihren Erfolg, dieses Mal in der roten Bar des Hotels Sacher, und sie gönnten sich am nächsten Abend einen Besuch in der Wiener Staatsoper. Placido Domingo sang den Bajazzo. Bei der großen Arie ›Hüll dich in Tand nur …‹ kamen Sendlinger die Tränen, hier zeigte sich sein zartes Gemüt … er weinte oft in der Oper, vor allem beim Pilgerchor im ›Tannhäuser‹ und am Schluß der ›Götterdämmerung‹.

Wie soll man einen Menschen je begreifen?

Zurück in Berlin, rief Dr. Sendlinger sofort in Moskau die Privatnummer von Sybin an.

Es meldete sich nicht Sybin, sondern Natalja Petrowna.

»Igor Germanowitsch ist nicht hier«, sagte sie in ihrem fröhlich klingenden, russischen Deutsch. »Ich weiß nicht, wann er zurückkommt.«

»Und wann kommen Sie nach Berlin?«

»Sobald es nötig wird.«

»Von mir aus gesehen, ist es bereits sehr nötig, Natalja.«

Ihr helles Lachen sprang in den Hörer. »Ich werde es Igor sagen.«

»Müssen Sie bei allem, was Sie tun, erst Igor fragen?«

»Es hat sich so ergeben.«

»Haben Sie kein eigenes Leben mehr?«

»Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Und wenn ich mehr will, bekomme ich es!«

»Und die Liebe?«

»Was ist Liebe?«

»Haben Sie noch nie einen Mann geliebt?«

»Ich habe bei vielen Männern im Bett gelegen, aber das war meistens ein Geschäft oder manchmal nur der Drang nach Sex. Wenn dann alles vorbei war, hätte ich die Kerle umbringen können.«

»Wie ein Spinnenweibchen ihren Gefährten. Sie haben nie Sehnsucht nach einem bestimmten Mann gehabt? Herzschmerzen, wenn Sie an ihn dachten? Schlaflose Nächte, wenn sie allein waren und er nicht in Ihrer Nähe war? Träume, in seinen Armen zu liegen und himmlisch glücklich zu sein?«

»Das ist doch reinster Kitsch, Dr. Sendlinger. Ich käme mir lächerlich vor, derartig auf einen Mann zu reagieren. Außerdem ist das kein Kerl wert! Ich habe noch keinen Mann kennengelernt, der meine Seele umarmt – nur meinen Leib …«

»Haben Sie eine Seele, Natalja?«

»Ich weiß es nicht. Es hat sich noch keiner darum gekümmert. Aber ich glaube, es wird niemals einen Mann geben, der mir sagen kann, was Liebe ist.«

Sie plauderten noch eine Weile über dieses Problem, bis Dr. Sendlinger sagte:

»Natalja, beenden wir die Diskussion. Sie kommen also nicht nach Berlin?«

»Ihretwegen? Nein! Ist das ein klares Wort?«

»Absolut deutlich. Sagen Sie Igor, daß ich auf seinen Anruf warte. Sagen Sie ihm, die Tante wartet auf die Blumen … dann weiß er, was ich meine.«

»Ich werde es nicht vergessen.«

Natalja in Moskau legte auf. Das Telefongespräch wirkte, sie setzte sich in einen Sessel und dachte über Sendlingers Worte nach. Was ist Liebe? Einen Mann zum Mittelpunkt des Lebens zu machen? Sich nach ihm zu sehnen? Sie konnte sich nicht denken, daß so etwas bei ihr jemals möglich sein könnte. Männer waren Objekte für Spiel und Spaß und mußten für die Illusion, geliebt zu werden, bezahlen. Daß sie das nicht merkten, bewies einmal mehr ihre Dummheit. Eine Frau ist immer die Stärkere und Klügere, wenn sie ihren Körper hergibt … dann hält sie die ganze Welt in der Hand und nicht nur ein Zipfelchen Männlichkeit.

Am Abend rief Igor Germanowitsch aus Krasnojarsk an.

»Wie geht es dir, Schweinchen?« rief er fröhlich ins Telefon.

»Du sollst Dr. Sendlinger anrufen. Die Tante wartet auf die Blumen …«

Sybin lachte laut. Er war in bester Stimmung. »Sag ihm: nur ein wenig Geduld. Der Gärtner pflückt gerade die Blumen. Es sind prachtvolle Exemplare. Die Tante wird sich sehr freuen. Und was machst du?«

»Ich lese Puschkin.«

»Bereite dich darauf vor, nach Deutschland zu fliegen.«

Natalja schüttelte den Kopf, aber das sah Sybin nicht. Sie fragte nur: »Muß das sein?«

»Würde ich es sonst sagen? Du sollst der Tante die Blumen bringen …«

Er lachte wieder und beendete das Gespräch. Natalja warf wütend den Hörer auf die Gabel. Was bildet er sich ein? Bin ich sein Geschöpf? Wie einem Hund ruft er mir zu: »Los! Lauf! Fang! Hierher! Kusch! Sitz! Mach bitte, bitte! Leg dich hin!« Und ich soll gehorchen … wie ein dressiertes Tier!

Sie sprang auf, rannte in dem großen Wohnraum hin und her, blieb nach einer Weile stehen und sah sich um. Sie wohnte jetzt in einer schönen, neuen Datscha, die Sybin für sie gebaut hatte. Ringsherum Birkenwald und golden blühender Ginster, ein Blumengarten mit einem kleinen Teich voller rotschimmernder und silbernglänzender Fische, eine aus dicken Bohlen gezimmerte Banja mit Sauna. Und dann das Haus selbst: großzügig in den Ausmaßen, möbliert mit den wertvollsten Möbeln, die Sybin aus Deutschland hatte kommen lassen, Teppiche aus Turkmenien und Persien, alte Kasaks und Seidenbehänge aus Nain, Wandbespannungen aus chinesischer Seide und Brokatkissen aus Thailand … hier spiegelte sich der neue Reichtum wider, den Sybin mit seinem ›Konzern‹ zusammengerafft hatte. Mit Bestechungen, Schutzgelderpressung, Prostitution, Rauschgift, Nachtbars und Beteiligungen an Immobiliengeschäften, Industriewerken, Exportfirmen und Handelsgesellschaften. Die Krönung des ganzen sollte der Atomschmuggel werden … dann wollte Sybin auswandern und sich in die Südsee- oder Karibiksonne legen.

Das alles hat er für mich bezahlt, dachte Natalja und ging durch das große Haus. Er hat mich aus der Bar herausgeholt, ich muß nicht mehr nackt tanzen und meine Bärchennummer abziehen … er hat mich, wie man so sagt, gesellschaftsfähig gemacht. Wo ich mit ihm hinkomme, küßt man mir die Hand und liest mir meine Wünsche von den Augen ab. Muß ich da nicht dankbar sein? Muß ich ihm nicht wie ein gestreichelter Hund zu Füßen liegen? Und kann er mich nicht auch wegjagen wie einen lästigen Hund, wenn er es will? Natalja Petrowna, gehorche! Man hat dich mit Gold überschüttet … wirf es nicht weg, denn darunter bist du nackt.

Verdammt, ja – ich bin dein Geschöpf Igor Germanowitsch … aber erlaube, daß ich dich hasse!

In Krasnojarsk erwartete – wie immer – ein Angestellter des ›Konzerns‹ seinen Chef Sybin.

Krasnojarsk im südlichen Sibirien ist eine große, lebendige Stadt mit über neunhunderttausend Einwohnern. Es hat eine Universität, Lokomotivfabriken, Schiffswerften und Maschinenbaukombinate, eine der größten Aluminiumhütten Rußlands, ist bekannt für seine Leder-, Holz- und Papierindustrie, die Textilfabriken beliefern ganz Rußland. Es gibt einige chemische Werke und eine blühende Erdölraffinerie. Der Hafen am mächtigen Strom Jenissei ist der Umschlagplatz für alle Güter in Südsibirien, und der Flughafen wird jeden Tag von Moskau aus angeflogen.

Nur eines erwähnt man nicht, und es ist – wie in Tscheljabinsk – auch auf keiner Karte verzeichnet: das Gebiet von Krasnojarsk-26. Dies ist ein mit einem drei Meter hohen Stacheldraht eingezäuntes Areal, überragt von Wachtürmen, auf denen starke Scheinwerfer montiert sind, und bewacht von einer Spezialeinheit von dreitausend Soldaten des Innenministeriums, die man eigens zur Sicherung der Zugänge nach Krasnojarsk abkommandiert hat. Es ist eine ›geschlossene Stadt‹, nur mit Passierscheinen zu betreten, und die Soldaten dürfen, wenn sie jemanden überraschen, wie er durch eine Lücke im Zaun die Stadt betreten will, ohne Zuruf sofort schießen.

Krasnojarsk-26 ist die geheime Stadt, in der Plutonium 239 produziert wird. Drei Atomreaktoren sorgen für Nachschub; wieviel Plutonium aus den ›bebrüteten‹ Uranbrennstäben gewonnen wird, ist ein absolutes Staatsgeheimnis. Nur das Atomministerium weiß die genaue Menge … wenn überhaupt eine genaue Menge genannt wird! Die Tonnen von Plutonium, die hier lagern, reichen aus, um fünfundzwanzigtausend Nagasakibomben zu bauen oder – als Staub in die Luft geblasen – die Menschheit und die Tierwelt, die ganze Erde, lautlos auszulöschen!

Nikita Victorowitsch Suchanow holte seinen Chef am Flughafen ab und fuhr ihn in die Stadt zum Hotel. Im neuerbauten Hotel Sibirskaja war eine Suite reserviert. Vor allem von ausländischen Gästen wurde dieses Hotel bevorzugt, denn seit Glasnost und der Öffnung zu den kapitalistischen Staaten im Westen kamen viele Abordnungen und Manager nach Krasnojarsk, um aus der blühenden Stadt geschäftlichen Nutzen zu ziehen. Vor allem die Holz- und Papierindustrie erwirtschaftete gute Gewinne, da in Mitteleuropa die Papierpreise explodierten. Das lag vor allem an den steigenden Löhnen, und damit hatte Rußland keine Probleme, denn jeder war froh, wenn er überhaupt Arbeit bekam. Wie immer auch der außerrussische Markt sich entwickelte: Rußland konnte konkurrenzlos liefern. Hier drückte keine Gewerkschaft – im Gegensatz zu Deutschland – die Lohnforderungen in wirtschaftsfeindliche Höhen; der Lohn wurde einfach festgelegt, und wer nicht mitzog, wurde entlassen. Das war eine radikale Wandlung im Gegensatz zum Sozialismus, die nötig wurde, um für Rußlands Wirtschaft einen Platz im Weltmarkt zu erobern. Als Vorbild diente dabei die Volksrepublik China, die Deng Xiaopings Idee konsequent durchsetzte: geringer Lohn, aber hohe Leistung; Start frei für ausländische Investoren, die für einen Bruchteil der europäischen Löhne gute Arbeiter beschäftigen konnten. Das Wirtschaftswunder kam dann von allein. Man kann auch mit offener Hand Kommunist sein. Der Beweis dafür war überall zu besichtigen; und die Zeit der politischen Eiferer und Fanatiker war vorbei. Wohlstand ist die beste Garantie für innere Ruhe … man muß Ideologien nur richtig und modern interpretieren.

Sybin bezog seine Suite, war sehr zufrieden, duschte sich und kam dann in einem seiner Maßanzüge wieder hinunter in die Halle. Suchanow schnellte aus seinem Sessel hoch.

»Ich bin zufrieden«, sagte Sybin großzügig. Er wußte: wer einen Russen lobt, gewinnt einen Freund. »Ein schönes Hotel. Wo können wir ungestört sprechen, Nikita Victorowitsch?«

»In einer Ecke der Bar. Sie ist um diese Zeit noch leer.«

Die Bar war mit wertvollen Hölzern getäfelt, hatte einen Marmorboden und eine messingblitzende Theke, an der, so schätzte Sybin, fünfzig Menschen bequem Platz fanden. In einer weit entfernten Ecke setzten sie sich auf die dicken Lederpolster. Hier hörte sie niemand; denn auch die Zeiten, wo solche Plätze von in der Wand eingebauten, hochempfindlichen Mikrofonen, Wanzen genannt, abgehört wurden, waren vorbei.

»Was trinkst du?« fragte Sybin.

»Wodka. Hier können Sie so viel Wodka bekommen, wie Sie wollen. In Krasnojarsk werden ganze Getreideernten heimlich zu Alkohol gebrannt. Was Sie auch wollen – in Krasnojarsk bekommen Sie alles! Hier ist nichts unmöglich.«

»Auch auf unserem Gebiet, Nikita?«

»Da sieht es etwas schwieriger aus, Igor Germanowitsch.« Wie Grimaljuk in Tscheljabinsk holte auch Suchanow ein paar Blätter Papier aus der Tasche und legte sie auf die Marmorplatte des Tisches. »Sie kommen jetzt aus Ozjorsk? Wie war es dort?«

»Erfolgreich!« antwortete Sybin knapp. Er wartete, bis der Kellner – ungerufen – mit einer Flasche Wodka und zwei Gläsern kam. Suchanow schien hier bekannt zu sein. Er übernahm das Einschenken und sagte zu dem Kellner: »Wir wollen nicht gestört werden, Waleri.« Sybin nippte an dem Wodka – er schmeckte vorzüglich. Ein weicher Brand, nicht so ein ordinärer Halskratzer wie viele ›private‹ Brände. Am schlimmsten war der Samogon, davon konnte man verblöden.

»Trinkst du immer eine ganze Flasche?« fragte Sybin tadelnd. »Hundert Gramm wären genug.«

»Oh, sagen Sie so etwas nicht, Igor Germanowitsch!« Suchanow hob beschwörend beide Hände. »Kennen Sie nicht das russische Sprichwort: Hundert Kilometer sind keine Entfernung, hundert Jahre kein Alter und hundert Gramm kein Wodka! Ich liebe Sprichwörter.« Er griff nach den Papieren und zog sie näher zu sich heran. »Fangen wir an. In der hermetisch abgesperrten Atomstadt Krasnojarsk-26 gibt es drei Atomreaktoren, gebaut im Jahre 1964. Also alte Kästen, aber voll funktionsfähig. Nach dem Atomsperrvertrag wollte man alle drei schließen, doch das geht nicht, weil sonst die gesamte Stromversorgung von Krasnojarsk zusammenbricht. Aber die Pläne bestehen noch: Einen Reaktor will man umbauen zu einer Fabrik für Melkmaschinen, den zweiten zu einer Fabrik für Videokassetten! Idiotischer geht es nicht! Es soll also nur noch ein Reaktor in Betrieb bleiben. Sie können sich denken, wie die Atomschtschiki sich fühlen: Als säßen sie selbst auf einer Bombe. Und der Verdienst? Die Zeitung Rossijkaja schrieb: ›Schon heute verdienen die Mitarbeiter der Atomindustrie weniger als die Wachleute in einer Ausnüchterungszelle.‹ Und die hat hier fast jeder Großbetrieb.«

»Ich weiß, wie schlecht die Bezahlung ist. Das ist in allen Atomwerken und Labors so.«

»Der Staat hat kein Geld. Es kommt vor, daß die Arbeiter von Krasnojarsk drei Monate auf ihren Lohn warten müssen. Um zu überleben, verkaufen sie alles, was sich verkaufen läßt.«

»Das hört sich vielversprechend an, Nikita. Da können wir mit Dollarscheinen winken, und es gibt ein Wettrennen.«

»Vorsicht, Igor Germanowitsch! Allein in dem abgesperrten Krasnojarsk arbeiten hunderttausend Menschen. Die eigentliche Plutoniumfabrik, wo das Rohplutonium in reines, waffenfähiges Plutonium 239 umgewandelt wird, liegt zweihundert Meter unter der Erde. Dort sind zehntausend Arbeiter und Wissenschaftler beschäftigt. Und hier lagern auch die Tonnen von Plutoniumpulver, so, wie man Zuckersäcke stapelt, zwar hinter dicken Stahltüren, die aber nicht bewacht sind. Wer nimmt schon den Tod mit nach Hause? Das ist die Lage.«

»Und woher hast du diese Informationen?«

»Das werden Sie sehen, wenn wir unseren – Kontaktmann treffen.« Nikita Victorowitsch grinste breit und trank wieder ein hohes Glas Wodka aus. »Ich habe mich für die Firma wirklich aufgeopfert. Das werden Sie mir bestätigen, Igor Germanowitsch.«

»Wann treffen wir diesen Kontaktmann?«

»Heute abend … auf Ihrem Zimmer, wenn das möglich ist.«

»Einverstanden!« Sybin blickte Suchanow verwundert an. Er konnte sich dessen Fröhlichkeit nicht erklären. Zwei Gläser Wodka konnten eine solche Wirkung nicht erzeugen, auch bei einem Säufer nicht. »Weiß dein Kontaktmann, worum es geht?«

»Ich habe es, ganz vorsichtig, im Bett angedeutet …«

»Im …« Sybin zuckte zusammen. »Suchanow, hat dich der Wodka schwul gemacht?«

»Sie werden es sehen, Igor Germanowitsch. Es war eine gute Wahl.«

Suchanow raffte seine Papiere zusammen, steckte die Flasche Wodka in seine Jackentasche und verließ die Bar. Das Bezahlen überließ er Sybin.

Bis zum Abend grübelte Sybin darüber nach, ob sich Suchanow wirklich mit einem Mann abgegeben hatte, um an einen Atombeschaffer heranzukommen. Ich tue alles für die Firma, hatte er gesagt … aber kann man zu so etwas fähig sein, nur um einen Kontakt herzustellen? Auf jeden Fall war Sybin höllisch gespannt auf den Mann, den ihm Suchanow am Abend präsentieren würde.

Gegen neunzehn Uhr klopfte es an Sybins Tür. Sybin lief in die Diele der Suite und öffnete erwartungsvoll.

Zunächst trat Suchanow ein. Er hielt eine volle Wodkaflasche hoch und zeigte sie seinem Chef.

»Das ist ein Wässerchen!« rief er. »Ein Osobaja, ein besonderer. Und sehen Sie sich die Marke an: Solotoe Kolzo! Der Beste! Der Goldene Ring. So etwas haben Sie noch nie getrunken!« Und dann drehte er sich um und rief hinaus auf den Flur: »Komm herein, Liebling! Tritt näher, mein Schatz!«

Sybin spürte einen Druck im Magen. Er nennt einen Mann Liebling und Schatz! Ich werde mich beherrschen müssen, wenn ich diesen Kerl sehe. Und Suchanow werde ich später auf den Kopf schlagen. Alles für die Firma …

Und dann trat Liebling ins Zimmer …

Sybin hielt den Atem an, und seine Augen weiteten sich.

Herein kam eine junge, schlanke Frau mit langen schwarzen Haaren, nicht gerade hübsch, denn ihre Nase war etwas länger als normal, ihr Gesicht breitflächig und ihr Mund schmallippig, aber sie hatte, soweit man das unter ihrer Bluse ahnen konnte, runde, feste Formen und unter dem bis zur Erde reichenden Rock lange Beine. Sie blickte Sybin mit Neugier an und blieb mitten im Zimmer stehen. In dem Licht des kristallenen Kronleuchters sah sie schön aus.

»Das ist Wawra Iwanowna Jublonskaja«, rief Suchanow stolz. »Und das ist mein Chef, Igor Germanowitsch Sybin. Habe ich zuviel versprochen? Ein Juwel ist sie, ein Juwel, sage ich. Und sie arbeitet in der Wiegekontrolle. Durch ihre Hände läuft jedes Gramm Plutonium 239. Kein Körnchen kommt ungewogen an ihr vorbei.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Igor Germanowitsch«, sagte Wawra. Sie hatte eine warme, dunkle Stimme, die jedes Wort zu einem Streicheln zu machen schien. »Nikita Victorowitsch hat mir viel von Ihnen erzählt. Es ist zu gütig von Ihnen, daß Sie ihn zum Direktor befördern wollen …«

Sybin warf einen Blick hinüber zu Suchanow. Halunke! In den Hintern trete ich dich! Direktor! Du wirst für deine Arbeit einen Bonus bekommen, das ist alles … wenn die Arbeit gut war.

»Nikita hat eine Belohnung verdient!« antwortete Sybin. »Er wird sie bald bekommen.«

Verlegen stellte Suchanow die Wodkaflasche auf den Tisch neben den großen Begrüßungsblumenstrauß und zuckte die Schultern. Versteh mich nicht falsch, sollte das heißen. Ich mußte ein wenig übertreiben, um ihr zu imponieren. Direktor hört sich besser an als Abteilungsleiter. So ein Titel erzeugt Vertrauen. Und außerdem ist Wawra eine wählerische Frau, die weiß, wie interessant sie ist. Jetzt hat sie einen langen Rock und eine sittsame, weite Bluse an … aber man sollte sie mal im Bikini sehen, wenn sie aus den Wellen des Jenissei steigt! Dort, am Ufer des Stroms, habe ich sie kennengelernt und sofort zugegriffen, als sie mir von Krasnojarsk-26 und ihrer Arbeitsstelle erzählte. Das ist ein Glücksfall, Igor Germanowitsch.

»Setzen wir uns«, sagte Sybin und ließ wieder das umwerfende Lächeln um seine Lippen spielen. »Das Essen wird gleich serviert. Ich habe Schtschisuppe bestellt, dann Piroschki, gebackenen Zander nach Moskauer Art, paniertes Hähnchen à la Kiew und zum Nachtisch Moroshenoje, das beste Eis mit heißen, honiggesüßten Multebeeren. Sie können aber auch etwas anderes wählen, Wawra Iwanowna, wenn Ihnen mein Vorschlag nicht gefällt. Bestimmen Sie …«

»Zuerst trinken wir einen Goldenen Ring«, rief Suchanow vom Tisch her. »Denken wir immer an die alte Weisheit der Russen: ›Schmeckt der Wodka nicht mehr, dann gehe zum Sargtischler!‹«

»So kenne ich Nikita Victorowitsch gar nicht!« Sybin führte Wawra in das Eßzimmer der Suite. »Sie haben ihn völlig verwandelt! Er ist ein anderer Mensch geworden. Man darf Ihnen gratulieren, Wawra Iwanowna.«

»Er ist ein lieber Mensch«, sagte Wawra schlicht. »Es freut mich, daß Sie soviel von ihm halten und sein Freund sind.«

Suchanow hüstelte verlegen, brachte dann die Wodkagläser und sah Sybin flehend an. Bitte verraten Sie mich nicht. Haben Sie ein Herz mit einem frisch Verliebten. Sehen Sie sich diese Frau an, lohnt es sich nicht, dafür ein wenig zu lügen? Seien Sie nachsichtig mit mir, Igor Germanowitsch.

Sie prosteten sich zu und setzten sich an den großen runden Tisch des Eßzimmers.

»Ich bin mit der Wahl Ihres Abendessens sehr zufrieden«, sagte Wawra. »Bleiben wir dabei.«

»Sie schenken mir wahre Freude.« Sybin hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. Ein Einkreisen des Themas war jetzt nicht mehr nötig. »Nikita hat Ihnen erzählt, warum wir hier zusammenkommen?«

»Er deutete es an.«

»Dann werden wir jetzt deutlicher: Ich brauche Plutonium 239. Jede mögliche Menge.«

Wawra war weder erstaunt noch entsetzt – vielmehr veränderte sich ihr Gesicht: Es erstarrte zu einer Maske, Pokerface nennen es die Amerikaner – die Miene eines knallharten Verhandlers.

Sie ist ein eiskalter Typ, dachte Sybin. Ein Marmorklotz, den man behauen muß. Im Bett sind solche Weiber ein Naturereignis, aber mit ihnen Geschäfte zu machen, das ist Schwerstarbeit. Wenn du an ihr kleben bleibst, Nikita, hast du zukünftig nichts mehr zu melden. Sie entmannt dich auf die liebenswürdigste Weise.

»Was wollen Sie mit dem Plutonium?« fragte Wawra.

»Es verkaufen.« Sybin lehnte sich zurück. »Man braucht es außerhalb von Rußland.«

»Ein tödlicher Handel, Igor Germanowitsch.«

»Die Dollars wiegen das Risiko auf. Klar gefragt: Können Sie Plutonium beschaffen?«

»Eine klare Antwort: Ja.« Wawra Iwanownas Blick war kalt und unpersönlich. »Ich bin bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Der Staat hat uns im Stich gelassen. Seit Monaten bekommen wir kein Gehalt, nicht mal eine Teilzahlung. Kann man ohne Geld leben? Da werden einem die Kartoffeln im Garten wichtiger als jeder Reaktor. Immer verspricht man uns, es würde besser werden, aber es bleibt bei den Worten! Jetzt will man sogar zwei Reaktoren stillegen … und was wird dann aus uns? Darüber spricht niemand, weil keiner weiß, wie man uns weiterbeschäftigen kann. Wir qualifizierten Arbeiter werden zum Abfall Rußlands gehören. Nicht nur bei uns ist das so … in allen Atomstädten und Forschungszentren geht das Gespenst der Armut um.«

»Ich weiß das«, sagte Sybin geduldig. Überall die gleichen Klagen … Rußlands Abrüstung war eine der Ursachen des inneren Zusammenbruchs. Wen wundert es, daß sie die Mutter der Kriminalität geworden ist? Wenn der Staat versagt, hat die Illegalität Hochsaison. Wawra legte ihre Hände auf den Tisch. Schöne, langgliedrige Hände, nur die vereinzelten weißen Flecken auf der Haut störten Sybin. Zeichen einer Verstrahlung? Er wußte es nicht. »Was schlagen Sie vor?«

»Ich liefere Ihnen Plutonium. Meine Bedingung: Beteiligung am Gewinn.«

O du Satansweib! So also ist das … du willst Partnerin werden! Du bist nicht zufrieden mit einem zugegeben dicken Handgeld, du willst in den Deal einsteigen. Nikita, das ist kein zärtliches Weibchen, das ist ein gieriges Raubtier.

»Wie stellen Sie sich das vor, Wawra Iwanowna?« fragte Sybin ruhig. Sie kann liefern, also sei freundlich zu ihr. Verärgere sie nicht, man trübt keine Quelle, aus der man trinken will.

»Wir entwerfen einen Vertrag, Igor Germanowitsch.«

»Nichts Schriftliches, auf gar keinen Fall. Das wäre wie eine Selbstanzeige.«

»Ein Vertrag per Handschlag, und Nikita ist Zeuge. Wie bei den sibirischen Bauern, wenn sie Pferde kaufen.«

»Und was soll der Vertrag beinhalten?«

»Sie beteiligen Nikita und mich mit zwanzig Prozent am Gewinn.«

»Ich habe damit nichts zu tun!« rief Suchanow sofort und hob die Arme verzweifelt in die Höhe.

»Halt den Mund, Liebster!« Wawra blickte Sybin kampfbereit an. »Nikita ist ein so gütiger, zurückhaltender Mensch. Zwanzig Prozent, Igor Germanowitsch …«

Sybin rechnete im Kopf schnell nach. Pro Kilogramm fünfundsechzig Millionen Dollar, davon zwanzig Prozent, das sind ungeheure dreizehn Millionen Dollar für Wawra. Wahnsinn! Mit fünfhunderttausend Dollar hat sich Timski in Tscheljabinsk zufriedengegeben, und dieses Satansweib verlangt das Dreiundzwanzigfache!

»Das ist unrealistisch, Wawra Iwanowna!« sagte Sybin mit knirschenden Zähnen. »Das ist nicht drin.«

»Ich nenne keine Zahlen, ich nenne Prozente. Wieviel Sie auch verdienen, achtzig Prozent gehören immer Ihnen! Ich beteilige mich an dem Risiko. Und – das ist die Grundlage – ich beschaffe Ihnen das Plutonium. Das kann man nicht aus einem Sack abfüllen wie Mehl. Das schwierigste ist, an das unterirdische Lager heranzukommen. Den Verlust wird man kaum merken, denn die Wiegekontrolle ist ja meine Arbeit, und ich schreibe falsche Mengen in das Berichtsbuch. Es ist ganz einfach: Wir wiegen das hochreine Plutonium 239 nicht auf einer elektronischen Präzisionswaage, sondern auf einer normalen Lebensmittelwaage … Modell 1966 mit Bleigewichten …«

»Das gibt es doch nicht!« rief Sybin überwältigt. Plutonium auf einer einfachen Waage wie in einem Dorfladen! Undenkbar. Das übertrifft die Horrorvisionen eines jeden Phantasten!

»Bei uns schon.« Wawras Gesicht blieb unbewegt. »Es gibt noch mehr solcher Unmöglichkeiten in Krasnojarsk-26. Zum Beispiel der Transport hinaus … das geringste Problem. Wer das Gelände betreten will, muß einen Passierschein vorzeigen. Dreimal wird er vom Militär kontrolliert, es gibt drei Sperrkreise. Aber wer hinaus will, hat es einfacher. Niemand verlangt einen Passierschein, keiner untersucht die Taschen, man kann mit einem Rucksack das Gelände verlassen, niemand fragt danach. Und die Lastwagen und Autos werden an den Kontrollstellen einfach durchgewinkt wie an der Grenze von Rußland nach Kasachstan. Keinen interessiert, was in den Lastwagen transportiert wird.«

»Dann ist die Abriegelung der Stadt ja ein Witz!« rief Sybin fassungslos.

»Es stimmt. Die ›geschlossene Stadt‹ zerfällt. Früher war das anders, da war die Atomreaktorstadt eine Festung, ein uneinnehmbarer Kreml … heute sind die dreitausend Soldaten froh, wenn man sie bei der Patrouille nicht stört. Wen wollen sie festhalten? Ihre eigenen Offiziere? Das sind die größten Gauner. Sie transportieren auf Lastwagen die riesigen, im Durchmesser drei Meter großen Metallröhren, die einmal der Mantel der SS-18-Raketen waren, ungehindert ins Freie, um sie als Garagen zu verkaufen. Und auf den Schrottplätzen liegt alles herum, was man zu Geld machen kann: Silber, Gold, Platin und Buntmetalle aller Art. Damit überleben sie, denn auch sie erhalten nur unregelmäßig ihren Sold, manchmal drei Monate lang keine Kopeke! So sieht es bei uns aus. Der Transport ist keine Frage mehr … nur wie man an das Plutonium herankommt. Ich kann es nicht von der Waage einfach wegnehmen und zur Seite stellen. Und das, Igor Germanowitsch, muß bezahlt werden.« Wawra atmete tief durch. »Sehen Sie das ein, Igor Germanowitsch?«

Sybin war über diese Enthüllungen einer sterbenden Atomstadt so betroffen, daß er zunächst keine Worte fand. Aber ganz klar sah er die einmalig günstige Situation: Wenn jemand Plutonium 239 in großen Mengen beschaffen konnte, dann war es Wawra Iwanowna, dann war es Krasnojarsk-26, das größte Plutoniumlager Rußlands. War das dreizehn Millionen Dollar pro Kilogramm wert?

Ja – das war es! Das Satansweib hatte gewonnen, Sybin mußte es zugeben, auch wenn es an seinem Stolz nagte.

»Geben Sie mir Ihre Hand, Wawra Iwanowna«, sagte er und erhob sich. Suchanow starrte ihn ungläubig an. Er erwürgt sie nicht – er reicht ihr die Hand. Er macht uns zu Dollarmillionären! Das ist, wie wenn ein Märchen Wahrheit wird. Sybin, ich möchte Ihre Schuhspitzen küssen wie früher die Kulaken die ihres Gutsherrn.

Auch Wawra erhob sich und streckte Sybin ihre Hand hin. Sie griffen fest zu und sahen sich tief in die Augen.

»Ich freue mich!« sagte Sybin schweren Herzens. »Wann können Sie liefern?«

»Das weiß ich nicht.«

Sybin zog sofort seine Hand zurück. »Ein Vertrag muß erfüllt werden! Meine Kunden warten!«

»Ein technisches Problem ist es, Igor Germanowitsch.« Wawra setzte sich wieder. »Die Herstellung des Plutonium 239, so rein, wie Sie es wollen … das braucht seine Zeit. In dem Reaktor wird das Uran zwei Monate lang einer ›Bebrütung‹ ausgesetzt, bis es sich zersetzt und Plutonium abfällt. Das ist die erste Stufe. Nach der Abspaltung – Plutonium ist ja ein Abfallprodukt – muß das unreine Gemisch ein halbes Jahr abstehen, um dann in komplizierten radiochemischen Verfahren getrennt und gereinigt zu werden. Dann erst haben wir das reine Plutonium 239 gewonnen, das man für Atombomben braucht. Es wird als mehlfeines Pulver, als Staub, abgefüllt und eingelagert; erst dann kommt es zu mir, um gewogen und in kleinen Stahlbehältern abgefüllt zu werden, und dann verschwindet es in dem zweihundert Meter tiefen Erdlager.«

»Das heißt, Sie können beim Wiegen nur grammweise Plutoniumpulver abzweigen. An die Vorräte im Bunker kommen Sie nicht heran? Wawra … ich brauche keine Teebeutelchen, sondern Kilogramm!«

»Die bekommen Sie in so kurzer Zeit in keiner Reaktorstadt. Ich bin – so glaube ich – die einzige, die Ihnen größere Mengen liefern kann, weil unser Betrieb so viele Löcher hat wie ein Hartkäse.« Wawra blickte Suchanow an. Der beeilte sich, ihr noch ein Gläschen Goldener Ring einzuschenken. Sie trank das Glas in einem Zug aus. Kein Russe trinkt Wodka in kleinen Schlückchen – an den Mund, hopp und ex, so schmeckt das Wässerchen am besten. Da freut sich der Magen, und die Hirnnerven beginnen zu tanzen.

»Kennen Sie die Atomfabrik und das Forschungszentrum Arsamas? Auch dort ist eine Atomwaffenzentrale.«

»Arsamas steht auf meiner Liste.« Sybin nickte. »Es liegt in der Nähe von Nowgorod.«

»Wir tauschen ab und zu Erfahrungen aus. Arsamas ist besonders durch die Atomwaffenverträge gefährdet. Das hat dazu geführt, daß einige hochqualifizierte Kernforscher ausländischen Verlockungen erlegen sind. Flup … weg waren sie, verstreut in alle Welt, auch in den Iran. In Arsamas könnten Sie auch Erfolg haben. Dort herrscht Weltuntergangsstimmung. Und wenn Sie nach Tomsk kommen oder nach Surowaticha, nach Sewmasch oder Sewerodwinsk, Sneschinsk oder Belojarsk … überall können Sie Plutonium auftreiben, aber nur grammweise, nie ein Kilo auf einmal. Doch wenn Sie alle Mengen miteinander mischen, könnten Sie einige Kilo zusammenbekommen.« Wawra hob den Kopf. »Wobei zu sagen ist: Das beste und reinste Plutonium gibt es nur in Krasnojarsk-26.«

»Das glaube ich Ihnen sogar, Wawra Iwanowna. Ich werde mich darum kümmern.« Sybin schwieg. Zwei Kellner rollten einen großen Serviertisch in die Suite und begannen, den Tisch zu decken. Die Schtschisuppe dampfte in einer Terrine aus wertvollem Porzellan. Eine köstlich duftende Kreation des Chefkochs aus Kohl, Tomaten, Zwiebeln, Kartoffeln, Sellerie, Petersilie und starker Rinderbrühe. Es gibt keinen Russen, der diese Gemüsesuppe nicht in sein vaterländisches Herz geschlossen hat.

Es wurde ein opulentes Abendessen, zu dem Sybin einen Zinandali – einen georgischen Wein – servieren ließ und zum Abschluß Sowjetskoje Schampanskoje sucheje – den berühmten trockenen russischen Sekt – spendierte. Als Nachtisch entschied er sich für die süßen Blinschtschiki, garniert mit gemischtem Fruchteis. Kenner behaupten, das russische Eis sei das beste der Welt.

Sehr spät verließen Wawra und Nikita die Suite. Die Jublonskaja mußte ihren Suchanow unter den Arm nehmen und fast tragen; er lallte, hatte den Goldenen Ring zu drei Vierteln allein getrunken und glotzte Sybin dämlich an.

»Igor Germanowitsch«, lallte er mit ungelenker Zunge, »das vergesse ich dir nie! Du bist der beste Chef unter der Sonne … Schlafe ohne Träume …«

Sybin schloß hinter ihnen die Tür ab und trank den Rest des Sektes. Er hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, aber daß es so schwierig wurde, vier bis fünf Kilogramm reines Plutonium zusammenzukratzen, hatte er nicht erwartet. Es muß sich alles erst einspielen, dachte er. Kein Baum schießt wie ein Pilz aus dem Boden, aber wenn er seinen Stamm gebildet hat, wirft ihn kein Steppenwind mehr um. Und außerdem arbeitet die Zeit für uns … die Situation wird nicht besser werden, sondern nur noch schlechter. Und je miserabler es Rußlands Wirtschaft geht, um so sicherer ist unser Geschäft. Man muß nur die richtige Nase haben, um Gold zu riechen.

Ich habe diese Nase!

Drei Tage blieb Sybin in Krasnojarsk, nahm eine Probe von fünf Gramm Plutoniumpulver mit, die Wawra ins Hotel brachte, in einem der kleinen Stahlgefäße, in die sie das Plutonium abfüllte und wog.

Sybin fuhr noch zwei Wochen herum, von Atomstadt zu Forschungszentren, von Sibirien bis Wladiwostok, von Murmansk bis Tomsk, wo er Oberst Micharin hatte liquidieren lassen. Von Tomsk aus schickte er über Natalja Petrowna auch wieder ein Lebenszeichen an Dr. Sendlinger in Berlin. Natalja rief Sendlinger in Berlin an.

»Es kommt ein Kurier zu Ihnen«, sagte sie, ohne ihren Namen zu nennen. Aber Dr. Sendlinger erkannte sie sofort an der Stimme. »Er ist schon unterwegs. Er bringt Ihnen kleine Blumen für die Tante.«

Kleine Blumen … das waren Proben von Plutonium, die Dr. Sendlinger seinen Kunden vorlegen wollte, um ihnen zu beweisen, daß er an den tödlichen Staub herankommen konnte. Sybin hatte es also endlich geschafft.

»Eine gute Nachricht. Tante Ida wird sich freuen. Wann kommen die Blumen?«

»Ich habe gesagt: Sie sind unterwegs.« Nataljas Stimme klang distanziert, geradezu unfreundlich. »Onkel läßt grüßen.«

»Gruß zurück, wenn Sie ihn sprechen.« Dr. Sendlinger schloß die Augen und sah Natalja vor sich. Er unterdrückte ein Seufzen und bemühte sich, seiner Stimme einen geschäftlichen Klang zu geben. »Ich habe vor, in Kürze nach Moskau zu kommen.«

»Warten Sie Onkels Nachricht ab. Ich werde nicht in Moskau sein.«

»Natalja Petrowna, bitte …«

Sie legte auf. Er widerte sie an. Ein winselnder Hund, der auf ihren Schoß hüpfen wollte. Selbst wenn Sybin ihr befahl, mit ihm zu schlafen … sie würde sich zum ersten Mal weigern. Sie hatte keine Erklärung dafür, aber sie ekelte sich vor ihm.

Sie ging zu der aus Edelhölzern und Spiegeln gebauten Hausbar und goß sich einen armenischen Kognak ein. Der gallige Geschmack in ihrem Mund verflog. Immer öfter griff sie in letzter Zeit zur Flasche und fühlte sich hinterher freier.

Natalja warf sich auf die mit indischem Damast bezogene Couch und hörte der Musik zu: Borodin, Steppenskizze aus Mittelasien. Die unendliche Weite, das Vorbeiziehen der Kamelkarawane, der warme Wind, der die weißen Wolkengebilde unter dem grenzenlosen Himmel dahintreibt … welche Sehnsucht in der Musik.

Einmal so frei sein wie diese Wolken, dachte sie. Einmal so glücklich in das Blau schweben wie ein Adler. Einmal ohne Fesseln über die Erde galoppieren wie eine Herde Wildpferde. Wie herrlich könnte das sein … und was ist aus mir geworden? Sybins Geschöpf … eine Geschäftshure.

Natalja Petrowna, du bist ein Vogel mit gebrochenen Flügeln …

Vier Tage nach Nataljas Anruf bei Dr. Sendlinger traf Sybins Bote in Berlin ein: ein kleiner, dicker Mann mit lichtem Haar, aber einem gewaltigen Schnauzbart und stechendem Blick. Er kam zu Dr. Sendlinger in die Kanzlei, am späten Abend, als kein Mandant mehr wartete. Sendlinger arbeitete noch eine Akte durch, ein Prozeß, der morgen begann; eine Klage wegen eines ärztlichen ›Kunstfehlers‹. Bei einer harmlosen Blinddarmoperation hatte der Chirurg einen Mulltupfer im Bauchraum vergessen. Eine unangenehme Sache. Die Versicherung des Arztes verweigerte eine Entschädigung und Schmerzensgeld. Es würde zu einem Gutachterstreit kommen, obwohl die Sachlage klar war. Versicherungen kassieren gern Prämien, aber sie zahlen nur ungern Entschädigungen. In den USA würde daraus, anders als in Deutschland, eine Millionenklage werden.

Dr. Sendlinger öffnete selbst die Tür und ließ den kleinen Dicken eintreten.

»Eigentlich ist die Kanzlei schon geschlossen«, sagte er. »Aber kommen Sie herein. Worum handelt es sich?«

»Ich bin Nilin, Burjan Alexandrowitsch Nilin. Pelzhändler aus Hamburg.«

Er sprach ein gutes Deutsch, fast akzentfrei. Dr. Sendlinger blickte auf den Kleinen hinunter. Pelzhändler, schon wieder ein Schadensfall. Aus Hamburg. Was will er bei mir in Berlin?

Er zeigte auf einen Lederstuhl, aber Nilin blieb stehen.

»Mein Freund Sybin schickt mich«, sagte er.

Dr. Sendlinger spürte in sich so etwas wie einen elektrischen Schlag. Das ist er, das ist der Bote mit den Plutoniumproben! Da steht so ein kleiner, dicker, schnauzbärtiger Mann herum und hat Millionen in der Tasche.

»Aber setzen Sie sich doch, Herr Nilin!« rief Dr. Sendlinger. »Ich habe Sie erwartet. Das heißt, ich wußte nicht, wer kommen würde, nur daß jemand kommt.«

»Ich möchte nur etwas abliefern.« Nilin öffnete seine dicke Aktentasche. Dr. Sendlinger spürte ein Kribbeln auf seiner Kopfhaut. In einer Aktentasche schleppt er Plutonium herum, als wolle er Fellproben vorführen. Einfach so, in einer Aktentasche, einer ganz normalen Aktentasche. Diese Russen …

Nilin packte aus und legte alles auf Dr. Sendlingers Schreibtisch. Sieben kleine Päckchen, umhüllt mit Lappen aus Karakulfell. Dr. Sendlinger trat unwillkürlich zwei Schritte von seinem Schreibtisch zurück.

»Das haben Sie so transportiert?« fragte er heiser.

Nilin sah ihn an, als suche er nach dem Sinn dieser Worte.

»Ja«, antwortete er ein wenig verwirrt, »dies war der sicherste Weg. In Moskau kennt mich der Zoll, ich importiere viele Pelze nach Deutschland, vor allem von den Pelzauktionen in Petersburg. Alles läuft bei mir über Moskau, dort habe ich gute Freunde, deshalb werden meine Kartons nicht kontrolliert … die Frauen der Zöllner tragen alle Mäntel aus meiner Kollektion. Es war einfach, die Kästchen hier zwischen den Fellen zu verstecken und ins Flugzeug zu bringen.«

»Mein Gott! Und wenn das Flugzeug abgestürzt wäre? Wenn die Behälter bei dem Aufprall geplatzt wären? Können Sie sich diese weltweite Katastrophe vorstellen?«

»Ich bin mit der deutschen Lufthansa geflogen.« Nilin lächelte Dr. Sendlinger an. »Ein Lufthansa-Flugzeug stürzt selten ab. Ich vertraue der deutschen Gründlichkeit bei der Wartung der Maschinen. Ich fliege nur mit Lufthansa.«

Dr. Sendlinger starrte auf die sieben Päckchen. Sie waren ihm, trotz seiner Erfahrung mit radioaktiven Stoffen, unheimlich. Das erste reine, waffenfähige Plutonium, das er in Händen hatte: der millionenfache Tod auf seinem Schreibtisch.

»Hatten Sie Auslagen, Herr Nilin?« fragte er mit schwerer Zunge.

»Nein. Alles ist bereits von Igor Germanowitsch bezahlt worden. Ich habe daran mehr verdient als mit hundert Pelzmänteln. Außerdem hat er für Natalja Petrowna einen Kronenzobelmantel gekauft. Das Teuerste, was es gibt! Keine Zuchtzobel, sondern in den sibirischen Wäldern gefangene Tiere.« Nilin strahlte über das ganze Gesicht, sein gewaltiger Schnauzbart zitterte vor Freude. »Sybin hat mich gebeten, weiter für ihn tätig zu sein. Ich fahre öfter hin und her … Moskau-Hamburg-Moskau. Da kann ich allerlei mitnehmen.«

»Gratuliere.« Dr. Sendlinger ging zu seinem geschnitzten Schrank, dem Prunkstück seines Büros, und schloß ihn auf. »Was kann ich Ihnen anbieten, Herr Nilin? Kognak, Whisky, Aquavit, Doppelkorn, Wodka … oder einen Wein aus der Rheinpfalz? Sie können auch einen trockenen Wein von der Loire bekommen. Wählen Sie.«

»Ich bedanke mich.« Nilin machte eine höfliche Verbeugung. »Ich möchte nichts trinken. Ich will das letzte Flugzeug nach Hamburg nehmen. Ich habe alles abgeliefert, und bestimmt sehen wir uns wieder.«

»Bestimmt!«

Dr. Sendlinger begleitete Nilin bis ins Treppenhaus und ging dann zurück in seine Kanzlei. In einiger Entfernung von seinem Schreibtisch blieb er stehen und starrte auf die sieben in Karakulfell eingeschlagenen Päckchen. Es kam ihm so vor, obgleich das unmöglich war, als träfe ihn die Strahlung des tödlichen Staubs. Mit zitternden Händen wischte er sich über das Gesicht und bemerkte, daß er schwitzte. Kalter Schweiß.

Unmöglich, dachte er, völlig unmöglich, daß mir Sybin das Plutonium kiloweise auf den Tisch legt! Es muß andere Wege geben, das Teufelszeug zu den Kunden zu schaffen. Dieser Nilin bringt es fertig, mir den Stoff für eine Plutoniumbombe wie eine Pralinenschachtel in die Hand zu drücken. Sybin, du Saukerl … ich handle zwar mit radioaktivem Material, aber ich möchte es nicht in meiner Nähe haben! Ich weiß, was du sagen wirst: Das ist deine Sache, Freundchen. Ich liefere, du verteilst. Jeder hat hier seinen ganz persönlichen Aufgabenbereich. Mein Gott, ich kann doch hier in der Kanzlei nicht Plutonium 239 lagern. Auch nicht im Keller, auch nicht bei Waldhaas in seinen Baustoff-Lagerhallen, auch nicht im Keller von Hässlers Lokal Zum dicken Adolf. An alles habe ich gedacht, nur nicht an die geradezu wahnsinnige Vorstellung, Sybin könnte mir den Tod der ganzen Welt in Kartoffelsäcken vor die Tür stellen!

Er ging in das Zimmer seines Bürovorstehers, um zu telefonieren. Sein eigenes Telefon stand unmittelbar hinter den sieben Päckchen, und denen wollte Sendlinger nicht zu nahe kommen.

Waldhaas war zu Hause, wie Sendlinger zufrieden feststellte. Aber im Hintergrund hörte er Stimmengewirr.

»Du bist nicht allein?« fragte er. »Bei dir klingt es wie in einer Kneipe.«

»Wir feiern einen großen Auftrag. Ich liefere das Material für einen Riesenbau in der Friedrichstraße. Büro- und Wohnhaus, unten Luxusläden, eine Architektur zum Niederknien. Hypermodern. Aufsehenerregend.«

»Gratuliere, Ludwig. Die Wiedervereinigung war doch gut, was? Als Stasi-Major wärst du ein armes Schwein geblieben.«

»Was willst du?« fragte Waldhaas ärgerlich. Er hatte es nicht gern, immer wieder an diese Zeit erinnert zu werden. Er hatte sich verändert und in die neue Zeit eingegliedert. Immer diese alten Lutschbonbons … es muß doch mal Schluß sein mit der Vergangenheit. Man hat nur seine Pflicht erfüllt … man klagt ja auch nicht den Kellner im Grandhotel an, weil er Honecker beim Abendessen bedient hat. Vergessen können – das sollte man üben! »Mach schnell. Ich muß zu meinen Gästen.«

»Die Proben aus Rußland sind da. Sieben Päckchen.«

Schweigen. Waldhaas schien sich sammeln zu müssen. Die Mitteilung schuf eine neue Lage: Das Millionengeschäft mit dem Tod lief an.

»Und weiter?« fragte er.

»Ich werde die Proben abholen und von unserem Nuklearchemiker Hans Dürnstein untersuchen lassen. Sind sie okay, fahre ich nächste Woche nach Paris und Wien. Vielleicht auch nach Damaskus. Dort treffe ich mich mit Mohammed al Sifra. Der Handelsattaché der iranischen Botschaft in Paris, Anwar Awjilah, wird das Treffen organisieren. Und Makar Abha wartet in Libyen.«

»Und was ist mit den versprochenen Atomsprengköpfen der Raketen?«

»Abwarten, das ist der zweite Akt. Eine Oper fängt immer mit dem ersten Akt an. Jetzt sind wir bei der Ouvertüre.«

»Und was erwartest du von mir, Paul?«

»Du wirst den Stoff bei dir lagern.«

»Unmöglich!«

»Du hast Lagerhallen genug.«

»Aber nicht für Plutonium! Unmöglich, Paul. Soll ich meine Arbeiter, mich selbst und ganz Berlin verstrahlen?«

»Red nicht solch einen Unsinn!« sagte Sendlinger unwirsch. »Wovor hast du Angst? Die Proben liegen bei mir hier auf dem Schreibtisch. Eingewickelt in Karakulfelle.«

»Du bist verrückt!« stotterte Waldhaas. »Bei dir auf dem Schreibtisch?!«

»Die Russen transportieren das Plutonium in einem Plastikbeutel aus den Fabriken.«

»Ich besitze nicht den Fatalismus der Russen!« Waldhaas' Stimme zitterte vor Erregung. »In meine Lager kommt kein Gramm Plutonium. Denk dir was anderes aus!«

»Wir reden noch darüber, Ludwig.«

»Da gibt es nichts mehr zu reden.«

»Außerdem wirst du nach Karatschi fliegen müssen. Ich kann nicht überall sein. Die Pakistanis warten auf eine Probe. Tu etwas für dein Geld! Bisher hatten wir nur Ausgaben. Aber die Welt sieht sofort anders aus, wenn du zurückkommst und die Zusage für zweihundertdreißig Millionen Dollar in der Tasche hast.«

»Warten wir es ab. Wann ist der Flug nach Pakistan geplant?«

»Sobald ich die Analyse von den Proben habe.«

Dr. Sendlinger beendete das Gespräch, ohne Waldhaas' Erwiderung abzuwarten.

Zwei Tage später erschien ein Bote mit einem Bleikoffer bei Dr. Sendlinger und holte die sieben Proben ab. Mit einem schönen Gruß von Professor Dr. Hans Dürnstein vom Institut für Nuklearforschung.

Und dann wartete Sendlinger voller Ungeduld auf die Ergebnisse. Er wartete fünf Tage, war unruhig und gereizt, war mit nichts zufrieden, schnauzte seine Sekretärinnen an, zerriß Briefe, weil sie einen Tippfehler hatten, und war sogar seinen Mandanten gegenüber ungeduldig. Endlich, am Abend des fünften Tages, rief Dr. Dürnstein an. Er war, wie Sendlinger, Alter Herr der Studentenverbindung Saxonia und Mitglied des Stammtisches im Verbindungshaus. Wenn es ans Kneipen ging, war er einer der Emsigsten und Witzigsten.

»Morgen bekommst du dein Teufelszeug zurück, Paul!« sagte er. »Ich will nicht wissen, woher du das hast, es geht mich nichts an. Besser, ich weiß nichts. Junge, auf was läßt du dich da ein?«

»Wie ist die Analyse ausgefallen?« fragte Sendlinger, ohne auf Dürnsteins Lamentieren einzugehen.

»Sechs Proben sind angereichertes Waffenplutonium mit einem Reinheitsgrad von 85,6 bis 90,3. Wahrer Teufelsdreck!«

»Und Nummer sieben?«

»Da hat man dich elegant beschissen. Nummer sieben ist bestrahlter Puderzucker. Geradezu genial! Wer die Strahlung mißt, käme nie auf den Gedanken, daß er Zucker vor sich hat.«

»Woher kommt die Probe?« Dr. Sendlinger kniff die Lippen zusammen. Undenkbar, was passiert wäre, wenn er den bestrahlten Puderzucker in Libyen vorgezeigt hätte. So ein Betrug sprach sich sofort herum … und dann hätte man ihn irgendwo mit durchschnittener Kehle gefunden. Er holte tief Luft. »Woher?« fragte er noch einmal.

»Laß mich nachsehen.« Sendlinger hörte Papierrascheln, und dann sagte Dürnstein: »Auf dem Metallbehälter steht kurz: K-26. Kannst du damit etwas anfangen?«

»Nein. Aber ich danke dir, Hans. Ich werde mich erkundigen.« Sendlinger nagte an der Unterlippe. »Wann sehen wir uns?«

»Bei der nächsten Kneipe. Gute Nacht, schlaf gut.«

»Du auch.«

Sendlinger trank zur Beruhigung einen Whisky pur und blickte dann auf die Uhr. Knapp nach einundzwanzig Uhr … das war die Zeit, in der Sybin in irgendeinem Nachtlokal herumhing auf der Jagd nach einer jungen Bettgefährtin. Allerdings, mehr als eine Nacht konnte er ein solches Mädchen nicht ertragen. Wenn er morgens aufwachte, zog er ihr die Bettdecke weg, befahl: »Hau ab!« und schmiß sie aus seiner Penthousewohnung. Die feudale Datscha, in der Natalja wohnte, hatte noch nie eine andere Frau betreten.

Trotzdem wählte Dr. Sendlinger die Nummer. Vielleicht habe ich Glück, dachte er. Sybin muß sofort von dem Betrug wissen … es wäre eine Katastrophe, wenn wir ein Kilo Zucker für fünfundsechzig Millionen Dollar anbieten.

Sendlinger hatte Glück … nach einigem Klingeln kam Sybin an den Apparat. Wie immer sprach Sendlinger englisch mit ihm.

»Hier ist Paul …«

»Paul! Wie schön, deine Stimme zu hören! So spät noch. Sind Tantes Blumen angekommen?«

»Ja. Deshalb rufe ich an, Igor Germanowitsch. Sieben Proben.«

»Stimmt.« Sybin schien sehr zufrieden zusein. »Nilin ist ein guter Mann. Treu und ehrlich.«

»Die Sache hat nur einen Haken.«

»Was heißt Haken?«

»Sechs Proben waren bestes Plutonium … die siebte war bestrahlter Puderzucker.«

In Moskau schwieg Sybin und starrte an die schwere Seidentapete seines Arbeitszimmers. Ein fast endloses Schweigen, bis er fragte:

»Ist das sicher?«

»Ganz sicher.«

»Nilin …«

»Nein, der hat damit nichts zu tun. Es war eine Originalprobe. Auf dem Bleibehälter steht das Zeichen K-26. Sagt dir das etwas?«

Wieder Schweigen. Dann Sybins Stimme, jetzt mit einem harten Unterton.

»Ja, es sagt mir etwas. K bedeutet Krasnojarsk. Dieses verfluchte Aas!«

»Was meinst du?«

»Wawra Iwanowna Jublonskaja. Aber die Geschichte erzähle ich dir ein anderes Mal. Es war richtig, Paul, daß du mich sofort angerufen hast. Ich bringe das in Ordnung. Es wird nicht wieder vorkommen. Und nun eine gute Nachricht: Ich kann eineinhalb Kilogramm reines Plutonium liefern. Sofort.«

»Ich werde übermorgen nach Paris und Wien fliegen.«

Ein Knacken in der Leitung – Sybin hatte aufgelegt. Sendlinger trank noch einen Whisky und überlegte, wie er den aufregenden Abend beenden wollte. Was wird Sybin tun, fragte er sich. Man hat ihn betrogen, und das ist das Schlimmste, was man ihm antun kann. Einen Sybin betrügt man nicht, ohne dafür zu bezahlen. Mit dem Leben. Es herrschen rauhe Sitten bei den Syndikaten.

Und wer war diese Wawra?

Dr. Sendlinger entschloß sich, Zum dicken Adolf zu fahren und in dem neuen In-Restaurant Adolf Hässlers ein Kalbsmedaillon mit Spargel zu essen.

Am frühen Morgen schreckte Nikita Victorowitsch Suchanow auf. Das Telefon klingelte neben seinem Bett. Er warf einen Blick auf den Wecker, sah, daß es kurz nach sieben Uhr war, und griff wütend nach dem Hörer.

»Hier ist das Leichenschauhaus!« rief er. »Wen soll ich abholen?«

»Dich selbst, du Trottel!«

»Chef!« Suchanow setzte sich kerzengerade im Bett auf. Sybins Stimme erkannte er sofort, außerdem war es niemandem erlaubt, ihn einen Idioten zu nennen. »Ist etwas passiert?«

»Das kann man wohl sagen.« Sybin sprach mit einem drohenden Ton in der Stimme. »Liegt Wawra neben dir?«

»Nein! Sie hat heute Nachtdienst. Aber sie wird gegen acht Uhr kommen. Haben Sie eine Nachricht für sie?«

»Für sie nicht, aber für dich! Einen Auftrag.«

»Ich höre, Igor Germanowitsch.«

»Die Pu-Probe, die Wawra dir gegeben hat, ist Zucker! Bestrahlter Puderzucker!« schrie Sybin ins Telefon. Die Ungeheuerlichkeit dieses Betruges ließ seine Schläfenadern schwellen. Die ganze Nacht hatte er wachgelegen und überlegt, wie man eine solche Schmach bestrafen könnte. Noch nie in seiner Laufbahn als Vorsitzender der Gruppe II hatte es jemand gewagt, ihn zu hintergehen. Doch ja, einmal, vor zwei Jahren … da hatte ein Abteilungsleiter der Schutzgeldkassierer monatelang falsch abgerechnet und einige tausend Rubel in die eigene Tasche gesteckt. Nur durch Zufall hatte Sybin davon erfahren, als sich der Untreue einen deutschen Audi liefern ließ, denn mit seinem Gehalt war ein solcher Kauf nicht zu finanzieren. Sybin hatte damals nicht getobt, sondern er rief in seiner Sonderabteilung an. Zwei Tage später trieb ein Kahn die Moskwa hinab, anscheinend leer, aber als die Flußmiliz ihn an den Haken nahm, fanden sie auf dem Boden des Bootes einen nackten Mann, um dessen Hals eine Drahtschlinge festgezurrt war.

Die Polizei war ratlos, der Ermordete konnte nie identifiziert werden und wurde als ›unbekannt‹ auf einem Friedhof verscharrt … in Einzelteilen, denn vorher hatte man ihn in der Pathologie der medizinischen Akademie als Studienobjekt benutzt. An ihm lernten die Studenten, wie man Gliedmaßen amputiert.

Es war Sybins Warnung an alle Mitglieder des ›Konzerns‹ und man verstand ihn. Einen Sybin betrügt man nicht.

Suchanow konnte in diesem Augenblick nichts sagen. Er saß im Bett, starrte auf seine Füße und begann trotz der Morgensonne zu frieren. Das kann nicht sein, dachte er nur. Das kann nicht sein … das kann nicht … mehr ließ sein Entsetzen nicht zu. Das kann, das darf nicht sein!

»Puderzucker?« Sybin hörte deutlich, wie Suchanow nach Luft rang. »Unmöglich.«

»Willst du damit sagen, daß ich lüge?« donnerte Sybin.

»Towarischtsch Direktor, dann ist es ein Irrtum.«

»Ich irre mich nie!«

»Natürlich, kein Irrtum … aber ich kann mir nicht denken …« Suchanow begann plötzlich zu schwitzen. O Himmel, dachte er, o Himmel! Fall nicht auf mich herunter.

»Du sollst nicht denken, sondern handeln! Wawra hat uns betrogen. Du weißt, was du zu tun hast.«

Suchanow zog den Kopf tief zwischen die Schultern. Ein Zittern durchlief seinen Körper, aber gleichzeitig fühlte er sich wie gelähmt. Er konnte sich nicht bewegen und hatte Mühe, den Telefonhörer in der Hand zu halten.

Du weißt, was du zu tun hast … Ja, er wußte es. Er wußte es ganz genau.

»Igor Germanowitsch«, flehte er.

»Du mußt es tun!«

»Igor Germanowitsch …«

»Sie hat unsere Ehre mit Füßen getreten!«

»Ich flehe Sie an, Igor Germanowitsch.«

»Verdammt, bring sie um!« schrie Sybin.

»Das … das kann ich nicht.«

»Du kannst, und du mußt!«

»Ich liebe sie!« Jetzt wurde aus Suchanows Stimme fast ein Heulen, ein Greinen wie bei einem Säugling. »Ich liege auf den Knien vor Ihnen, Igor Germanowitsch.«

»Sie wird uns immer wieder betrügen, Nikita Victorowitsch.«

»Nein! Nein! Ich schwöre es Ihnen … nein!« Jetzt begann Suchanow zu weinen. Sybin hörte sein Schluchzen, aber Mitleid ist ein Wort, das es bei seinen Geschäften nicht gab. Mitleid ist Schwäche, und nur der Starke kommt voran. Mitleid frißt die Tatkraft – das war Sybins Lebensweisheit.

»Garantiere nicht, was du nicht einhalten kannst!« sagte Sybin gnadenlos. »Was Wawra getan hat, kann man nicht wegwischen wie einen Fleck. Heule nicht, es rührt mich nicht. Tu es!«

»Sie vernichten auch mein Leben, Igor Germanowitsch«, weinte Suchanow. Er hatte die Augen geschlossen, und die Tränen rannen über seine Wangen. »Ich war immer ein folgsamer, treuer Mensch, das wissen Sie. Geben Sie Wawra die Gelegenheit, alles wieder gutzumachen.«

»Nein!« Sybin hatte es satt, weiter mit dem wimmernden Suchanow zu diskutieren. Disziplin ist das Fundament aller Arbeit. Ohne Disziplin ist der Mensch ein Stück Weltuntergang. »Ich erwarte morgen deinen Anruf, Nikita … und ich will nur hören: Es ist alles geklärt.«

Sybin legte auf. In Krasnojarsk warf Suchanow den Hörer von sich, als verbrenne er seine Hand daran. Dann sank er in das Kissen zurück, vergrub das Gesicht in den Federn und heulte wie ein getretener Hund.

Kurz nach acht Uhr betrat Wawra Iwanowna die Wohnung, zog sich aus, duschte sich und sprang nackt zu Suchanow ins Bett. Sie schmiegte sich an ihn und streichelte ihn mit hingebungsvoller Zärtlichkeit.

»Schläfst du noch, mein Liebling?« flüsterte sie an seinem Ohr. »Wie warm du bist. Schlaf weiter …«

Sie küßte seinen Hals und seine Schultern, legte ihren Kopf in seine Armbeuge und gab sich ganz dem wohligen Gefühl hin.

Suchanow hätte schreien können. Geh, geh … lauf weg, ganz weit weg, verstecke dich, wo keiner dich findet … lauf … lauf … Aber er schlang den anderen Arm um sie, drückte sie an sich und atmete den Duft ihrer Haut ein.

Er wollte etwas sagen, irgend etwas Zärtliches, doch dann sah er, daß sie bereits schlief.

Ihr Gesicht sah glücklich aus, wie bei einem in den Schlaf gesungenen Kind …

Es war ganz natürlich, daß Suchanow nicht weiterschlafen konnte. Erstens reizte ihn Wawras warmer, glatter, duftender Körper, und er mußte sich zur Beherrschung zwingen, und zweitens lähmte ihn das Wissen, daß noch an diesem Tag Wawra kalt und bleich vor ihm liegen würde, auf Sybins Befehl hin bestraft, mit der einzigen Konsequenz, die er kannte. Es gab keine Flucht mehr in die Ausrede, sie nicht gesehen zu haben, weil sie verreist sei, ganz plötzlich, ihre ältere Schwester sei schwer erkrankt, in Bratsk wohne sie, am großen Stausee der Angara, so etwas wie Krebs habe sie, es gehe ihr jedenfalls sehr schlecht, und Wawra sei sofort zu ihr geflogen … Sybin würde schallend lachen und dann eisig sagen: »Und wenn sie bis Kamtschatka geflogen ist … hole sie dir!«

Es gab keinen Ausweg.

Vorsichtig, damit Wawra nicht erwachte, glitt Suchanow aus dem Bett und zog sich an. Dann kam er leise zurück ins Schlafzimmer und betrachtete die im Schlaf tief atmende Wawra. Für ihn war sie die schönste Frau; die Stunden mit ihr waren ein Flug in den Himmel. Man könnte sie jetzt erstechen, dachte er. Auf dem Rücken lag sie, halb entblößt, mit freiem Oberkörper, es war ein Leichtes, ihr das Messer genau in das Herz zu stoßen. Sie würde nichts spüren, so schnell würde der Tod über sie kommen. Oder man könnte sie mit dem anderen Kissen ersticken … ein kurzer, verzweifelter Kampf würde es werden, ein Aufbäumen und Umsichschlagen, bis der Widerstand erschlaffte. Auch ein Erdrosseln war möglich … ihr Hals lag bloß, man brauchte nur mit beiden Daumen den Kehlkopf fest hinunterzudrücken und den Knorpel zu zerquetschen. Aber alles mußte er mit seinen Händen tun, mit diesen Händen, die Wawra gestreichelt hatten.

Suchanow starrte auf seine Hände und legte sie dann hinter seinen Rücken. Nein! schrie er innerlich. Nein! Du kannst es nicht. Du kannst sie nicht mit deinen Händen umbringen. Du würdest deine Hände nie mehr ansehen können, du müßtest sie hinterher abhacken und auf den Müll werfen. Wawra, mein Seelchen, was soll ich tun?

Er verließ das Schlafzimmer und wanderte im Wohnraum hin und her. Wie könnte sie sterben, ohne daß ich meine Hände benutze, fragte er sich immer wieder. Eine Kahnfahrt auf dem Jenissei, das Boot kippt um, und sie ertrinkt. Aber sicher kann Wawra schwimmen. Ich habe sie am Fluß kennengelernt, als sie aus dem Wasser stieg. Sie schwimmt wie ein Fisch. Oder wie wäre es, wenn wir eine Radpartie machten? Ich fahre hinter ihr, kann an einem Abhang nicht mehr bremsen, ramme sie, sie fällt vom Rad und bricht sich das Genick. Auch das ist unsicher, es müßte schon ein steiler Felsen sein, den sie hinunterstürzt. Aber um Krasnojarsk herum gibt es keine steilen Felsen. Nur Hügel, und die rollt man unverletzt hinab. Man kann es auch mit Gift versuchen … das ist qualvoll, aber sicher. Es muß nur das richtige Gift sein.

Suchanow blieb mit einem Ruck stehen. Gift! Das ist es, das ist die Lösung. Gift! Und plötzlich wußte er auch, welches Gift er nehmen konnte und wo man es bekam. Ein sicherer Tod, wenn man ein wenig Geduld hatte. Sybin würde das verstehen. Und er würde seine Hände nicht beschmutzen.

Wawra, von der Nachtschicht erschöpft, schlief bis zum Nachmittag. Dann erschien sie fröhlich und ausgeschlafen im Wohnzimmer, küßte Suchanow auf den Nacken, und da sie nur BH und Höschen trug, mußte Nikita seufzen. Wawra verstand das falsch und sagte, wobei ihre Augen blitzten:

»Du hättest das vorhin machen können. Jetzt habe ich Hunger.«

»Sybin hat angerufen.« Suchanow bemühte sich, sie nicht anzusehen. Er blickte zum Fenster hinaus.

»Ein warmherziger Mensch.« Wawra blieb an der Küchentür stehen. »Willst du Fisch oder Fleisch? Oder eine Kascha mit gebratenen Pilzen? Oder einen Salat Stolitschnyj, aus Kartoffeln, Hühnerfleisch, Gurken und Mayonnaise?«

»Mach, was dir schmeckt.«

»Ich will, daß mein Liebling sich freut.«

Suchanow seufzte wieder, aber leise. Wie kann man eine solche Frau umbringen? Man sollte sie immerfort küssen, aber nicht ihr die Luft abdrehen. Igor Germanowitsch, was verlangst du da von mir …

»Sybin hat angerufen …«, sagte er noch einmal, völlig hilflos.

»Ich weiß. Was wollte er?«

»Er braucht noch ein Gramm Plutonium 239. Superrein.«

»Ich will sehen, ob ich es als Wiegeschwund abzweigen kann. Wozu braucht er das Gramm?«

»Wer weiß das? Nur er allein. Sybin braucht es schnell.«

»Ein Gramm wird kaum vermißt. Ich bringe es morgen.«

»Du bist eine wundervolle Frau.« Suchanow breitete die Arme aus. »Komm, küß mich …«

Sie lief zu ihm, fiel in seine Arme, und sie küßten sich, als wollte jeder mit dem anderen verschmelzen. Aber als Suchanow sie Schrittchen für Schrittchen zur Schlafzimmertür schob, befreite sie sich aus seiner Umarmung.

»Jetzt nicht!« sagte sie und kicherte wie ein Schulmädchen. »Mein Magen knurrt, und das sind nicht die richtige Töne …«

Am Abend verließ Wawra die Wohnung, um für den nächsten Tag einzukaufen. Und als ob Sybin auch Augen in Krasnojarsk hätte, rief er genau in diesen Minuten an. Suchanows Herz klopfte bis zum Hals. Wie würde Sybin auf seinen Vorschlag reagieren?

»Ist es vorbei?« fragte Sybin eisig.

»Es fängt an, Igor Germanowitsch«, stotterte Suchanow.

»Was soll das heißen? Sie läuft also noch herum?«

»Ja, aber nicht mehr lange.«

»Ist es so schwer, ein Huhn zu schlachten?!«

»Morgen wird es beginnen.« Suchanows Atem pfiff. »Bei meiner Ehre … morgen bestimmt.«

»Warum nicht heute?«

»Ich will einen guten Plan ausführen, Igor Germanowitsch.«

»Ich will keinen dämlichen Plan, ich will Wawra in einer Grube sehen!«

»Hören Sie mir zu, bitte.« Suchanow blickte auf seine Hände, als wolle er sie zum Gebet falten. Aber das ging nicht, denn mit einer mußte er den Hörer halten. »Ich habe Wawra gesagt, Sie brauchen noch ein Gramm Pu.«

»Puderzucker!« sagte Sybin schneidend.

»Von mir aus auch Puderzucker. Wenn er bestrahlt ist, erfüllt er seinen Zweck.«

»Welchen Zweck?«

»Ich werde morgen ein paar Pulverkörnchen Plutonium – oder bestrahlten Puderzucker – in Wawras Tee mischen. Sie wird es nicht merken, so wenig ist es. Aber wenn ein Millionstel Gramm genügt, um einen Menschen zu töten, dann kann man auf Wawras Zusammenbruch warten. Im Tee wird die zehnfache Menge sein, und keiner wird erkennen, woran sie eingegangen ist.«

Suchanow schwieg. Auch Sybin sagte nichts. Als er dann wieder sprach, zuckte Suchanow zusammen.

»Das ist eine sehr gute Idee, Nikita Victorowitsch. Ich muß dich loben. Sie hat uns mit Puderzucker betrogen, und durch Puderzucker wird sie sterben. Ein genialer Plan. Ich genehmige ihn.«

»Danke, Igor Germanowitsch, danke.« Suchanow atmete auf. Der gewaltige innere Druck löste sich. »So ist es die beste Lösung.«

Nach einer Stunde kam Wawra vom Einkauf zurück. Sie trug Tüten mit Gemüse und Milch, Gurken und Zwiebeln, Gewürzen und Wein und einen großen Laib Brot. Ohne Brot gibt es für einen Russen keine Mahlzeit. Brot und Salz … das sind die Symbole russischer Gastfreundschaft. Wer Brot und Salz mit ihnen teilt, ist ein Freund.

An diesem Abend öffnete Suchanow eine Flasche Achmeta, einen armenischen Wein. Der letzte gemeinsame Wein, Wawra, mein Schatz. Ich trinke auf den Frieden deiner Seele. Wenn du an Gott glaubst – er nehme dich gnädig auf. Wir werden uns in der Ewigkeit nicht wiedersehen, denn mich wird die Hölle verschlingen.

In dieser Nacht nahm er Abschied von ihr. Er liebte sie wie noch nie, mit einer Ausdauer, die die Verzweiflung ermöglichte. »Was ist mit dir los, du wilder Bär?« fragte Wawra einmal, als er wieder nach ihr griff und sie auf sich zog. »Du tötest mich noch …«

Und er liebte und liebte und liebte sie und hätte heulen können wie ein verwundeter Wolf.

Am nächsten Abend brachte Wawra Iwanowna in einem kleinen, runden, aufschraubbaren Bleibehälter das Plutonium mit. »Genau ein Gramm!« sagte sie und ließ den Behälter über den Tisch rollen, als wäre er eine Murmel. »Du kannst sie Sybin als Päckchen mit der Post schicken, es kann nichts passieren.«

Natürlich nicht. Es ist ja Puderzucker! O Wawra, warum belügst du mich?

Er ließ es sich nicht nehmen, den Tee selbst aufzubrühen. Er ließ das heiße Wasser aus dem Samowar in den Teesud fließen und tauchte die Spitze eines kleinen Küchenmessers in die aufgeschraubte Kugel. Zehn Zentimeter weit reicht die Strahlung, sie war keine Gefahr für ihn, aber im Körper eines Menschen zerfrißt sie die inneren Organe – wenn es wirklich Plutonium war. War es allerdings nur bestrahlter Puderzucker, konnten die vier Sekunden, die er zum Eintauchen der Messerspitze in den Tee benötigte, ihm auch nicht gefährlich werden.

An der Messerspitze klebte eine silbrig schimmernde Schicht. Ein Hauch von Staub, aber er genügte, um Tausende von Menschen zu töten. Schnell tunkte Suchanow das Messer in die Teetasse, wusch es dann unter heißem Wasser sauber und trug den Tod hinüber zu Wawra in den Wohnraum.

»Es ist kasachischer Karawanentee«, sagte er. »Geräuchert. Er schmeckt ein wenig bitter, aber er ist gesund …«

»Ich kenne ihn.« Wawra griff zur Tasse. »In den Jurten der Nomaden wird er geröstet.«

»Ich mag ihn.« Suchanows Kehle war wie zugeschnürt. »Er ist etwas Besonderes.«

Er sah zu, wie Wawra die Tasse an die Lippen führte, verkrampfte seine Finger ineinander und zwang sich, nicht hinzuspringen und ihr die Tasse aus der Hand zu schlagen. Mit unerträglichen Schmerzen in seinem Herzen sah er zu, wie sie genußvoll den heißen Tee schlürfte und ihm mit ihren dunklen Augen zublinzelte.

»Das ist ein gutes Getränk!« sagte sie, als sie die Tasse wieder absetzte. »Es gibt drei unersetzliche Dinge auf der Welt: die Liebe, das Bett und den Tee. Nimm Platz, Liebling, laß uns essen …«

Suchanow bekam keinen Bissen hinunter. Immer wieder starrte er Wawra an. Aber wenn er geglaubt hatte, sie fiele gleich vom Stuhl, hatte er sich geirrt. Auch Plutoniumstaub in einem menschlichen Körper benötigt eine gewisse Zeit, die inneren Organe zu zerstören. Er ist kein Blitztöter … er schleicht durch Blut und Zellen. Das ist das Teuflische daran: das lautlose Sterben.

Nach dem Abendessen war Wawra müde. Wie immer duschte sie sich und legte sich nackt ins Bett. Suchanow blieb im Wohnzimmer und biß sich in die Fäuste.

»Kommst du, Schatz?« rief sie. Ihre Worte klangen heiter. »Ich kann nicht einschlafen ohne deine Nähe …«

»Ich komme gleich.« Suchanow stellte den Fernseher an. »Nur noch die Nachrichten, Wawjuscha. Ein paar Minuten noch.«

Suchanow war nie ein gläubiger Mensch gewesen, aber jetzt faltete er die Hände und betete gepreßt: »Gott, mein Gott, laß sie schnell sterben. Heute noch, heute! Ich flehe dich an …«

Die Stimme des Nachrichtensprechers übertönte seine Worte. Suchanow sank in den Sessel zurück und schlug beide Hände vor das Gesicht …

Aber am Morgen lebte Wawra noch immer.

Sie hatte gut geschlafen, sogar ohne Träume.

Und Suchanow verfluchte Gott …