Der Kibbuz
Wer sich auf der Monte Christo II rund um das Mittelmeer schippern läßt, gehört nicht gerade zu den armen Leuten, die jede Mark dreimal umdrehen, ehe sie sie ausgeben. Immerhin kostete die billigste Innenkabine für vierzehn Tage Seefahrt glatte siebentausend Mark pro Person, ohne Getränke, ohne Ausflüge an Land und andere Sonderausgaben. Da das Schiff nur zehn Innenkabinen hatte, aber über sechshundert Gäste mitnehmen konnte, war der wirkliche Preis wesentlich höher.
Die Monte Christo II war ein Kreuzfahrtschiff, einer jener Luxusliner, ein schwimmendes Grandhotel, das vor allem von Amerikanern geliebt wurde, für die eine Kreuzfahrt im Mittelmeer zum Kulturereignis wurde. Man kam in Berührung mit den großen Kulturen, die Weltgeschichte gemacht hatten … mit Römern und Griechen, mit Ägypten und Troja, mit den alten islamischen Reichen, den Mauren und Kreuzrittern, mit Pompeji und Palästina.
An Bord herrschte die ungezwungene Fröhlichkeit, für die Amerikaner auf Europatrip bekannt sind. Es wirkte sich auch nicht aus, daß die Passagiere ein Durchschnittsalter von etwa Sechsundsechzig Jahren hatten und jugendliche Touristen in der Minderzahl waren. Im Gegenteil – die rüstigen Alten und die noch rüstigeren Witwen, die ihr Erbe lebenslustig in der Welt verteilten und den Verblichenen nur noch in kurzen Worten gedachten, lebten auf dem Schiff in einem Taumel später Jugendlichkeit. Vor allem die Tanzabende, Bordball genannt, forderten dazu auf, sich selbst noch einmal zu bestätigen, daß das Gefühl von Jugend nicht vom Alter abhängig war. Es gab auf der Monte Christo II genug Damen, die sich bei solchen Veranstaltungen wehmütig an frühere Eskapaden erinnerten und noch einmal von einer heißen Umarmung träumten. Nur fehlte es hier an forschen Männern. Die Herren an Bord – von einigen Ausnahmen abgesehen – bemühten sich zwar, für zwei Stunden Gicht und Durchblutungsstörungen, Herzschrittmacher und Parkinson zu verdrängen, aber für Abenteuer nach dem Bordball reichte es kaum noch.
So war es nicht verwunderlich, daß ein Passagier das Interesse der rüstigen Witwen auf sich zog, weil er nicht nur jung war, sondern groß, attraktiv, muskulös und auch sonst gut gebaut war, was man vor allem an Deck und im Swimmingpool erkennen konnte, wenn er in knapper Badehose herumspazierte oder an der Bordbar stand. Sein Gesicht bezeichneten die Damen als markant … eine Hakennase, ein breites kräftiges Kinn, eine hohe Stirn, naturblonde, kurze Haare und ein deutlich hervorstehender Adamsapfel. Vor allem der reizte die Damen ungemein, heißt es doch, ein großer Adamsapfel sei der Ausdruck ungewöhnlicher Potenz.
Von diesem heimlich oder auch offen angeschwärmten Passagier wußte man nur, daß er ein Russe war, zugestiegen in Istanbul. Er benahm sich sehr zurückhaltend, lag meistens allein an Deck in einer Ecke neben den Aufbauten, saß allein an einem runden Tisch im Restaurant, tanzte nicht, verzichtete auf jeden Kontakt, auch mit den Männern. Nur eines konnte man beobachten: Er soff. Ob bei den Mahlzeiten, nachmittags an der Bar, abends im Ballsaal oder um Mitternacht in der Nachtbar – er schüttete in sich hinein, was nur ging. Aber – o Wunder – noch nie hatte man ihn wanken sehen. Von Trunkenheit war überhaupt keine Rede.
»Man muß ein Russe sein, um so saufen zu können«, sagte einer der Herren anerkennend. »Ich habe nie den Whisky verschmäht, ich habe immer gern einen hinter die Binde gekippt … aber was der da in sich reinschüttet … einfach phänomenal! Seine Leber muß wie ein Schwamm sein.«
Die Männer beneideten ihn … die Frauen bewunderten ihn.
So sehr sich Wladimir Leonidowitsch Anassimow auch bemühte, zurückhaltend, aber höflich zu sein – seine Augen hatten während seiner fünftägigen Fahrt von Istanbul bis kurz vor Haifa, das sie jetzt ansteuerten, ein weibliches Wesen erspäht, das ihn allein durch ihren Anblick daran erinnerte, daß er sich vor genau vier Wochen zum letzten Mal um das biologische Gleichgewicht von Jelena gekümmert hatte. Das war für einen potenten Mann wie Wladimir eine lange Zeit. Dazu kam die aufreizende, jodhaltige Meerluft, die bekanntlich Schuld daran hat, daß auf Kreuzfahrtschiffen ein reges Leben in den Kabinen stattfindet.
Die Dame mochte die jüngste der Witwen sein, Wladimir schätzte sie auf vierzig. Im Bikini, den sie bei ihrer guten Figur ohne Scheu tragen konnte, wirkte sie sogar noch jünger. Sie trug das schwarze Haar offen, ließ es im Fahrtwind wehen wie eine Piratenflagge, und abends, beim Tanz, trug sie enge Cocktailkleider mit einem tiefen Ausschnitt, in dem eine große, mit Brillanten gefaßte Perle baumelte.
Sie schien gern zu tanzen, aber sie tat es nicht oft. Die Herren, die sie zu Walzer, Tango oder Foxtrott aufforderten, kapitulierten schon nach zwei Durchgängen und wankten schwitzend zu ihren Tischen zurück. Mit einem hohen Blutdruck geht das nicht mehr so flott.
Das alles beobachtete Wladimir, ohne hilfreich einzugreifen. Was ihn abhielt, die schöne Witwe mit seiner Gegenwart zu beglücken, war die erstaunliche, ja rätselhafte Haltung der Dame. Während ihn sonst die Blicke aller Frauen verfolgten und an den Sonnentagen an Deck deutlich auf seine Badehose starrten, lag sie gelangweilt auf ihrer Liege und beachtete ihn auch nicht, wenn er ein paarmal an ihr vorbeispazierte oder sich neben ihr an die Reling lehnte, um das Meer zu beobachten.
Das kränkte Wladimir, denn es war bereits der fünfte Tag der Kreuzfahrt; er stellte sich an die Bar am Swimmingpool und soff. Der Barkeeper war daran gewöhnt, aber er staunte doch darüber, daß der Russe heute so rhythmisch trank: ein Wodka, ein Bier, ein Wodka, ein Bier … als würde er nach einer inneren Melodie saufen.
Zum ersten Mal zeigte bei Wladimir diese Wodka-Bier-Oper Wirkung. Er rülpste, was die anderen Herren hämisch grinsend zur Kenntnis nahmen, unterschrieb die Rechnung und schwankte unter Deck in seine Kabine. Tatsächlich – er schwankte.
»Auch eine russische Leber sagt einmal Amen!« fiel einem Herren ein, man lachte zufrieden und vergaß den beneidenswerten Säufer.
In seiner Kabine hatte sich Wladimir in einen Sessel geworfen und trank weiter. Der Kabinensteward hatte immer eine Flasche Wodka in einem Eiskübel bereitgestellt und wechselte sie jeden Morgen aus.
Auf das Abendessen verzichtete Wladimir. Er sah sich im Fernsehen die neuesten Nachrichten an, dann ein Interview mit einem an Bord befindlichen, prominenten Amerikaner, der eine Supermarktkette besaß und über die Japaner schimpfte, obwohl er mit ihnen gar nichts zu tun hatte, und zum Schluß die Wettermeldungen für morgen. Wie immer – schönes Wetter, Sonnenschein, wolkenloser Himmel, Tagestemperaturen: Luft sechsundzwanzig Grad, Wasser dreiundzwanzig Grad, Windstärke zwei, ruhige See. Dann folgte ein amerikanischer Krimi, in dem ein Maskierter zwei Männer und vier Frauen ermordete. Warum, wußte keiner.
Im Ballsall fand heute kein Tanz statt … ein Pianist gab ein Konzert mit Stücken von Beethoven, Chopin, Tschaikowsky und Mussorgski. Ein klassischer Abend, und es war anzunehmen, daß der Saal nur zur Hälfte gefüllt war. Auch die schöne Witwe würde in ihrer Kabine bleiben. Wladimir F. Anassimow hatte unter Opferung von hundert Dollar von seinem Kabinensteward erfahren, daß sie Loretta Dunkun hieß und in Kabine 017 wohnte, auf dem Sonnendeck – nobel, nobel.
Als er glaubte, sie müsse jetzt in 017 auch vor dem Fernseher sitzen, stand Wladimir schwerfällig auf, taumelte mit umnebeltem Gehirn ein paarmal hin und her und verließ dann seine Kabine. Im Lift, auf dem Weg zum Sonnendeck, rülpste er noch einmal kräftig, stieg dann aus und suchte die Kabine 017.
Vor der Tür blieb er stehen, hob die Hand und klopfte mit dem Knöchel des rechten Mittelfingers schicklich an.
Loretta, im Glauben, es sei ein Steward, öffnete. Mit großen Augen voller ungläubigen Staunens, starrte sie ihn an. Er lächelte breit und schob sein markantes Kinn vor.
»Ich bin Wladimir!« sagte er mit schwerer Zunge.
»Sie sind ja betrunken!«
»Ich habe ein Anliegen, Loretta.«
Sie schüttelte den Kopf, als habe sie nichts verstanden, denn sein Englisch war grauenhaft.
»Was wollen Sie?« rief sie empört.
»Ich möchte mit Ihnen schlafen …«
»Sie versoffener Idiot!«
Sie wollte die Tür zuknallen, aber Wladimir war schneller. Er drückte sie auf, stieß Loretta ins Zimmer und schloß hinter sich die Tür ab.
»Ich schreie um Hilfe!« rief sie. »Verlassen Sie sofort …«
»Schon gut.« Er griff nach ihr, riß sie an sich und hielt ihr den Mund zu. Seine Hand umfaßte fast ihr schmales Gesicht. »Warum denn schreien?«
Er hob sie wie eine Puppe hoch und warf sie aufs Bett.
Wladimir war ein starker Mann. Loretta wollte nach ihm treten, aber er packte ihre Beine, zog sie auseinander und fiel über sie her.
Im Fernsehkrimi geschah gerade der vierte Mord …
Kapitän Ricardo Santaldo befuhr seit zwanzig Jahren alle Meere. Ihn durch irgend etwas aus der Ruhe zu bringen, schien unmöglich. Er hatte Taifune in der Südsee und gefährliches Treibeis im Nordmeer erlebt, aber was er jetzt erlebte, schien auch für ihn einmalig zu sein.
Der wachhabende Zweite Offizier holte ihn mit einem diskreten Wink aus dem Ballsaal, wo Santaldo dem mäßig besuchten Klavierkonzert andächtig lauschte. Klassische Musik auf einem Kreuzfahrtschiff gehört zum kulturellen Programm, man kann nicht immer Shows oder Szenen aus bekannten Musicals bringen, und die Zuhörer für Chopin sind nun einmal eine Minderzahl. Als Kapitän muß man da mit gutem Beispiel vorangehen und in Sonaten versinken, obwohl Santaldo lieber in seiner großen Kapitänssuite gesessen und ein Buch über die Fahrten seines großen Kollegen Kolumbus gelesen hätte.
Mit einer gemurmelten Entschuldigung zu den Gästen an seinem Tisch stand er auf und ging zu dem Zweiten Offizier, der an der Tür wartete.
»Was ist?« fragte Santaldo. »ist's so wichtig?«
»Das kann ich nicht beurteilen, Herr Kapitän.« Der Zweite Offizier grinste verhalten. »Mrs. Dunkun möchte Sie dringend sprechen.«
»Ist das ein Grund, mich aus dem Konzert zu rufen?« Santaldos Stimme wurde hart. Natürlich kannte er Mrs. Dunkun … eine besonders schöne Frau an Bord sticht auch einem Kapitän ins Auge.
»Ich glaube doch, Herr Kapitän.« Das Grinsen des Zweiten Offiziers verstärkte sich. »Sie will eine Anzeige erstatten.«
»Eine Anzeige? Sie soll sich an den Oberzahlmeister wenden!«
»Der ist in diesem Fall nicht zuständig. Mrs. Dunkun ist vergewaltigt worden.«
»Was ist sie?« fragte Santaldo, als habe er sich verhört.
»Vergewaltigt, Herr Kapitän.« Jetzt überzog das Grinsen das ganze Gesicht des Zweiten Offiziers. »Der Täter liegt noch im Bett …«
Santaldo zog den Kopf zwischen die Schultern. »Stellen Sie das dämliche Grinsen ein, Tomasa!« sagte er streng. »Auf meinem Schiff wird eine Frau … Unerhört! Wenn sich das herumspricht … Völliges Stillschweigen! Wie viele wissen davon?«
»Der Kabinensteward, Sie, Herr Kapitän, und ich.«
»Und so bleibt es auch! Kein anderer erfährt davon …«
»Wenn es Ihnen gelingt, Mrs. Dunkun zu beruhigen. Sie will unbedingt unseren Schiffsarzt sprechen!«
»Nur, wenn es dringend notwendig ist! Kommen Sie!«
Sie fuhren mit dem Lift hinauf zum Sonnendeck und stürmten in die Kabine 017. Das Bild, das sich ihm bot, würde Santaldo nie vergessen: Die schöne Witwe Loretta saß ziemlich zerzaust in einem Sessel, nur notdürftig mit ihrem Bademantel bekleidet. Die schwarzen Haare standen vom Kopf ab, als seien sie elektrisch geladen. Ihr gegenüber lehnte der Kabinensteward an der Wand, ein Glas Champagner in der Hand, das er der Entehrten ab und zu reichte, wenn ihre Augen zu flattern begannen. So, wie man einem Baby ein Schlückchen Milch gibt, wenn es zu greinen anfängt.
Der Höhepunkt der Szene allerdings war der Täter: Er lag auf dem Rücken im Bett, nackt mit aller männlichen, beneidenswerten Stärke, und schlief mit lautem Schnarchen. Loretta hatte ihn mit ihrem Bademantelgürtel an den Füßen und mit zwei Strümpfen an den Händen gefesselt, aber er merkte es nicht … volltrunken schwebte er mit dröhnenden Lauten in einer fernen Welt.
Bei Santaldos Eintreffen zuckte Loretta zusammen.
»Ich bin entsetzt!« sagte Santaldo, als sich Lorettas Lippen lautlos bewegten. »Ein einmaliger Vorfall!«
Jetzt endlich fand Loretta ihre Sprache wieder. Ihre Stimme klang piepsig wie bei einem kleinen Kind.
»Ich wundere mich, daß ich noch lebe …«, sagte sie und raffte den Bademantel zusammen. »Sehen Sie sich dieses Tier an, Kapitän.«
Santaldo brauchte nicht hinzusehen, er hatte es bereits beim Eintritt in die Kabine wahrgenommen und wußte, was Loretta meinte.
»Sind Sie verletzt, Mrs. Dunkun?« fragte er teilnahmsvoll.
»Ich weiß es nicht. Ich fühle mich wie zerrissen. Ich will, daß mich der Arzt untersucht.«
»Sofort!« Santaldo verstand den Wunsch Lorettas bei einem schnellen Seitenblick auf den Schnarchenden. »Der Zweite Offizier wird Sie zum Lazarett begleiten.«
»Und was passiert mit dem Untier?«
»Ich nehme ihn in Haft und übergebe ihn den Behörden in Haifa.«
»Und dann?«
»Die Polizei in Haifa wird alles zu Protokoll nehmen.« Santaldo kratzte sich die Nase. Er wußte auch nicht, wie dort die Rechtslage war. Konnte die israelische Polizei den Täter festhalten? Die Tat war auf einem italienischen Schiff, also auf italienischem Hoheitsgebiet geschehen und fiel deshalb unter italienisches Recht. »Kennen Sie den Mann, Mrs. Dunkun.«
»Flüchtig, wie man einen Passagier eben kennt. Er ist Russe.«
»Auch das noch! Das kompliziert alles!« Santaldo fühlte sich wirklich elend, dies einzugestehen. »Ich kann Ihnen gar nichts sagen … Ich weiß nur, daß ich ihn in Haifa an Land setze. Wenn Sie offiziell eine Anzeige erstatten …«
»Das tue ich!« Loretta sah Santaldo empört an. »Sie glauben doch wohl nicht, daß ich dieses Verbrechen verschweige. Er soll verurteilt werden!«
»Wie ich sehe, ist der Mann sinnlos betrunken. Man könnte ihn für nicht zurechnungsfähig halten.«
»Als er mich mißbrauchte, wußte er genau, was er tat! Sie hätten hören sollen, was er alles zu mir gesagt hat, während er … O Gott! Ich will sofort zum Arzt …«
Während im Ballsaal Beethovens Mondscheinsonate erklang, brachte der Zweite Offizier die schwankende Loretta zum Schiffsarzt, drei Stewards trugen den noch immer gefesselten Anassimow in eine leere Mannschaftskabine, befreiten ihn von den Fesseln und schlossen ihn ein. Er wälzte sich auf dem Bett zur Seite, schnaufte kurz und schlief weiter.
Santaldo stieg hinauf zur Funkstation und benachrichtigte die Hafenbehörde von Haifa. Er wurde weitervermittelt zur Polizei. Dort war man nicht gerade erfreut, mit einem solchen Fall belästigt zu werden. »Wir holen ihn von Bord«, sagte der Polizeichef von Haifa. »Wie heißt er?«
»Laut Passagierliste Wladimir Leonidowitsch Anassimow. Wohnhaft in Moskau.«
»Auch noch ein Russe! Das wird kompliziert.«
»So sehe ich das auch.« Santaldo starrte auf das Funkgerät. Der Erste Funkoffizier nickte ihm bestätigend zu. »Aber ich kann ihn nicht an Bord gefangenhalten. Wir werden erst in neun Tagen wieder Genua anlaufen. Die Russen würden das als Freiheitsberaubung ansehen. Sie, als Polizei, haben da mehr Rechte.«
Nach dem Funkgespräch kehrte Santaldo in den Ballsaal zurück. Der Pianist spielte gerade Tschaikowsky. Santaldo lehnte sich in seinem Polstersitz zurück und schloß die Augen, als konzentriere er sich auf die Musik. In Wahrheit dachte er: So ein Mist! Ein Skandal liegt in der Luft. Ein Besoffener vergreift sich an einer schönen Frau … verdammt, kann man das nicht niederschlagen? Man müßte Mrs. Dunkun aufklären, daß sie bei der Polizei alles erzählen muß, in allen Einzelheiten, vielleicht besteht sie dann nicht mehr auf einer Bestrafung. Es ist ja immerhin peinlich, alles zu Protokoll zu geben, was Anassimow mit ihr getrieben hat.
Santaldo beschloß, noch einmal mit Loretta Dunkun zu sprechen.
In Haifa kamen sofort, nachdem die Monte Christo II an der Pier festgemacht hatte, vier israelische Polizisten und ein Polizeileutnant an Bord. Kapitän Santaldo drückte dem Offizier die Hand und atmete auf.
»Schaffen Sie diesen Russen so schnell wie möglich von Bord!« sagte er. »Zwei Tage tobt es nun schon herum, hat die gesamte Kabineneinrichtung zerschlagen, wenn wir ihm sein Essen bringen, müssen immer vier Mann mit, sonst überrennt er sie … wenn Sie ihn abführen, müssen Sie ihn fesseln. Haben Sie Fesseln bei sich?«
»Das würde bei Ihren Passagieren Aufsehen erregen.«
»Die meisten Passagiere gehen zu einem Ausflug an Land. Um fünfzehn Uhr ist das Schiff fast leer.«
»Jetzt ist es kurz vor zwölf.«
»Ich lade Sie und die anderen Herren zum Essen ein.« Kapitän Santaldo war die Gastfreundschaft in Person. Bis auf die Stewards, die Anassimow in die Kabine getragen hatten, den Zweiten Offizier und den Schiffsarzt, der Loretta Dunkun untersucht hatte und ein Attest ausstellte, daß eine Vergewaltigung vorlag, aber keine Verletzungen festzustellen waren, hatte niemand an Bord gemerkt, was geschehen war. Nur einigen Damen fiel auf, daß der schöne Russe nicht mehr in knapper Badehose am Pool spazierenging oder dekorativ in seinem Liegestuhl in der Sonne lag. Für die Männer an der Poolbar war das Rätsel erklärbar.
»Jetzt hat's ihn doch gepackt«, war die einhellige Meinung. »Er hat sich krank gesoffen! Vierzehn Tage nur an der Flasche, wer hält das aus?« Dennoch schwang etwas wie Ehrfurcht in den Stimmen mit.
Die israelischen Polizisten hatten keine Mühe, Anassimow von Bord zu bringen. Als der Zweite Offizier die Kabinentür aufschloß, saß Wladimir Leonidowitsch zwischen den Trümmern der Einrichtung auf einem Stuhl, der nur noch drei Beine hatte, an der Wand und leistete keinen Widerstand, als der Polizeioffizier auf englisch sagte:
»Kommen Sie mit, Sie sind verhaftet.«
»Und warum?« fragte Anassimow, erstaunlich friedlich.
»Man wirft Ihnen die Vergewaltigung von Mrs. Loretta Dunkun vor.«
»Ich habe keine Frau vergewaltigt!« Anassimow erhob sich von seinem dreibeinigen Stuhl. »Wer behauptet das?«
»Mrs. Dunkun.«
»So ein Blödsinn. Na ja, zu Anfang hat sie sich ein bißchen gewehrt, es kam ihr wohl zu plötzlich, aber danach hat sie mitgemacht … und wie!«
»Sicherlich aus Angst!« unterbrach ihn der Zweite Offizier barsch.
»Angst? Da muß ich lachen! Was Loretta – freiwillig – alles hingelegt hat, etwa zwei Stunden lang, hat mich umgehauen. Und das will was heißen.« Anassimow richtete sich auf und warf sich in die Brust. »Ich verlange einen Anwalt und ein Gespräch mit dem russischen Botschafter! Man hat mich ohne Anhörung eingesperrt. Ein Skandal ist das!«
»Wir werden das alles genau untersuchen, Sir«, sagte der Leutnant höflich. »Kommen Sie mit?«
»Und wenn nicht?«
»Dann muß ich Sie abführen lassen, in Handschellen. Das wäre dann wirklich ein Skandal.«
Anassimow nickte. »Ich weiche der Gewalt. Aber das wird Folgen haben. Unangenehme Folgen.«
Von da ab sprach er kein Wort mehr. Er stieg in den an der Pier wartenden Polizeiwagen, drückte sich ins Polster und blickte stur geradeaus. Sein markantes Gesicht mit der Adlernase war wie versteinert. Er hätte nicht so regungslos dagesessen, wenn er gewußt hätte, daß zwei Polizisten seinen Kabinenschrank leerräumten und seine beiden Koffer packten. Einer von ihnen war besonders schwer. Ein Metallkasten lag in ihm, eingewickelt in zwei Unterhosen.
Die israelischen Beamten waren sehr höflich. Sie führten Anassimow in ein Zimmer mit einer Ledercouch und baten ihn, zu warten. Sogar der stellvertretende Polizeipräsident begrüßte ihn, als sei er ein Gast. Nur daß man die Tür hinter ihm wieder abschloß, mißfiel Anassimow.
Auch als man nach einer knappen Stunde wieder zu ihm kam, war man sehr höflich zu ihm. Ein höherer Polizeioffizier – Anassimow kannte die Dienstgrade nicht – drückte ihm die Hand und sagte:
»Wir fliegen nach Tel Aviv, Mr. Anassimow. Bitte, kommen Sie mit.«
Anassimow zögerte. »Fliegen?« fragte er. »Wieso? Und warum Tel Aviv? Ich verpasse die Abfahrt meines Schiffes!«
»Falls das der Fall sein sollte, bringen wir Sie zum nächsten Hafen, den die Monte Christo II anläuft. Sie wollten doch einen Anwalt haben und mit Ihrem Botschafter sprechen, und der residiert in Tel Aviv. Darf ich bitten …«
Der Flug im Hubschrauber war für Anassimow ein Erlebnis. Unter ihm zog sich die Küste hin, Dörfer, Felder, herrliche Sandstrände, Fabriken und Hotelpaläste, aber dann drehte der Pilot plötzlich ab, flog eine scharfe Kurve Richtung Landesinnere. Anassimow sah Wüstenregionen, menschenleere Gebiete, Oasen und neugebaute Dörfer. Kibbuze, Gemeinschaftssiedlungen zur Erschließung des Brachlandes.
Erstaunt wandte er sich an den neben ihm sitzenden Polizeioffizier, der darauf schon lange gewartet zu haben schien und ihn anlächelte.
»Wo fliegen wir denn hin?« Anassimow zeigte mit dem Daumen nach unten. »Da geht es doch nicht nach Tel Aviv.«
»Nein.«
»Wir fliegen ins Landesinnere!«
»Ja.«
»Warum denn das?«
»Wir mußten umdisponieren, Mr. Anassimow. Wir werden im Kibbuz ›Neuer Tag‹ landen.«
»Kibbuz?« fragte Anassimow. »Was ist das?«
»In Rußland nannte man das früher Kolchose, Sowchose oder Kombinat. Es ist eine neugegründete Dorfgemeinschaft, in der sich Freiwillige zusammengeschlossen haben, um aus totem Land eine blühende Oase zu machen, die Obst und Gemüse und Getreide hervorbringt zum Wohle der Unabhängigkeit Israels.«
»Und was soll ich dort?!«
»Wir werden dort erwartet.«
»Von meinem Botschafter?«
»Sie haben Humor, wirklich.« Der Offizier lachte wie über einen Witz. »Lassen Sie sich überraschen.«
Der Hubschrauber landete mitten auf dem Platz des Kibbuz in einer dicken Staubwolke. Schon beim Anflug erkannte Anassimow eine Ansammlung von fünf dunklen Limousinen, die rund um den Platz verteilt waren. Welch ein Aufwand für eine Vergewaltigung, die keine gewesen war. Dieser übereifrigen Polizei werde ich mal erzählen, wie's wirklich gewesen ist. Sie werden mit der Zunge schnalzen, wenn ich Lorettas Aktivitäten schildere. Was hat sie bloß veranlaßt, mich anzuzeigen! Und außerdem, meine Herren, ich war besoffen, und man hat mich im Schlaf überwältigt, das ist eine Frechheit, und dann zwei Tage eingesperrt, das ist Freiheitsberaubung!
Der Hubschrauber setzte auf, der Staub verzog sich, die fünf schwarzen Wagen glitten von allen Seiten auf sie zu.
»Da wären wir«, sagte der Offizier. Er öffnete die Kanzeltür. »Steigen Sie aus.«
»Ich protestiere!« rief Anassimow empört.
»Protest zur Kenntnis genommen.« Und dann, sehr scharf: »Aussteigen!«
Anassimow kletterte die drei Klappstufen hinunter und sah sich vier korrekt gekleideten Herren gegenüber. Trotz der großen Hitze trugen sie Anzüge, weiße Hemden und Krawatten. Einer von ihnen trat auf Anassimow zu und sprach ihn auf Russisch an.
»Ich heiße Alfred Hausmann und habe lange in Kiew gelebt. Sie sind verhaftet.«
»Das habe ich schon mal gehört!« schrie Anassimow, nun auch in seiner Muttersprache. »Das ist doch idiotisch! Ist das so ein schreckliches Verbrechen, eine schöne Frau zu lieben?! Ich war volltrunken …«
»Das können Sie nachher alles erzählen. Steigen Sie dort in diesen Wagen.«
Alfred Hausmann, als Sohn einer ausgewanderten jüdischen Familie in Bologoje geboren und in Kiew aufgewachsen, ging voraus und ließ Anassimow in den Wagen einsteigen. Er setzte sich neben ihn und zog die Tür zu. Sofort brauste die Limousine mit großer Geschwindigkeit vom Landeplatz weg.
»Wo wollten Sie das Schiff verlassen?« fragte Hausmann leichthin während der Fahrt.
»In Alexandria. Ägypten.«
»Und dann über Kairo mit dem Flugzeug zurück nach Moskau.«
»Genau. Ich habe mir mal sechzehn Tage Urlaub gegönnt.«
»Es war bestimmt eine schöne Fahrt.«
»Ja. Bis heute.«
Sie hielten vor einem zweistöckigen, weißgestrichenen, großen Steinhaus am Rande des Kibbuz', das sich schon von der Größe her deutlich von den anderen Bauten unterschied. Hausmann öffnete die Tür.
»Wir sind da. Bitte folgen Sie mir.«
Hausmann führte Anassimow in ein karg eingerichtetes Zimmer. Nur zwei Stühle und ein viereckiger Tisch standen darin, und auf dem Tisch befand sich ein Tonbandgerät. Das aber war es nicht, was Anassimow einen Schock versetzte – neben dem Tisch standen seine zwei Koffer. Er blieb im Zimmer stehen, starrte sie an und atmete plötzlich heftiger.
»Sie … Sie haben meine Koffer von Bord geholt!« rief er empört.
»Wir haben gedacht, daß Sie Ihre Unterwäsche oder sonstwas brauchen.«
»Dazu haben Sie kein Recht!«
»Wir sehen das anders.« Ein braungebrannter Mann mittleren Alters hatte das Zimmer betreten und zeigte während der Bemerkung auf den einen Stuhl. »Wollen Sie sich setzen?« Auch er sprach russisch, und höflich stellte er sich vor. »Mein Name ist Zvi Silberstein.«
»Auch in Rußland geboren?«
»So ist es.« Zvi Silberstein machte eine alles umfassende Handbewegung. »Wissen Sie, wo Sie hier sind?«
»In einem Kibbuz.«
»Ja und nein. Sie befinden sich in einer Dienststelle des MOSSAD. Ist MOSSAD Ihnen ein Begriff?«
Und ob, dachte Anassimow und setzte sich. MOSSAD, der Geheimdienst Israels, von dem man sagt, er sei der beste der Welt. Besser als KGB und CIA. Ein Geheimdienst, der einfach alles wußte und überall operierte, der nicht nur Erkenntnisse sammelte, sondern auch gesuchte Verbrecher, die früher und heute Israel Schaden zufügten – vor allem alte Naziverbrecher – und aus ihren Verstecken entführten. Von dem ›Fall Eichmann‹ hatte er gehört und von dem Nazijäger Wiesenthal, der die Gesuchten aufspürte und dann eine Informationen an den MOSSAD weitergab. Ein Geheimdienst, gefürchtet von allen Feinden Israels, vor allem von den Terrorgruppen, die immer wieder mit Überfällen und Bombenattentaten den Frieden im Heiligen Land erschütterten.
Zvi Silberstein lehnte sich Anassimow gegenüber an den Tisch und schaltete das Tonbandgerät an.
»Sie wissen, warum Sie jetzt bei uns sind?« fragte er.
»Nein!« Anassimows Stimme klang etwas heiser. »Mrs. Dunkun ist keine Jüdin. Und wenn – ich habe es nicht gewußt.«
»Es geht nicht um diese dubiose Vergewaltigung, Wladimir Leonidowitsch.«
»Das ist schon mal ein Fortschritt.«
»Es geht um zweihundert Gramm Plutoniumpulver in Ihrem Koffer.«
Schweigen. Anassimow spürte, wie sein Herz hämmerte. Immer und immer wieder hatte er sich vorgestellt, was passieren würde, wenn man ihn durch irgendeinen Zufall enttarnte. Nun war es geschehen, und der Zufall hieß Loretta Dunkun. So simpel war das, so absurd, daß er nur den Kopf schütteln konnte. Aber sein Gehirn gab die lange einstudierten Antworten auf alle bevorstehenden Fragen frei.
»Plutoniumpulver? Was ist das?«
»Mit Plutonium kann man eine Atombombe bauen.« Zvi Silberstein war ein Mensch mit großer Geduld. »Als wir Ihre Koffer untersuchten, fanden wir den kleinen verschweißten Metallkasten zwischen Ihrer Unterwäsche. Wir haben ihn sofort in ein Labor gebracht. In einer Bleiröhre steckte reines Plutonium – das ist das erste Ergebnis einer schnellen Analyse.«
»Plutonium? Atombombe? Was habe ich damit zu tun! Das ist doch lächerlich.« Anassimow schnellte von seinem Stuhl hoch. »Ich verlange, meinen Botschafter zu sprechen!«
»Das wird nicht möglich sein. Nuklearschmuggel ist ein internationales Verbrechen, das von den jeweiligen Erkenntnisstaaten verfolgt wird. In diesem Falle ist es Israel.«
»Ich habe keinen Metallkasten in meinem Koffer gehabt!« schrie Anassimow.
Zvi Silberstein zeigte auf das Gepäck. »Das sind doch Ihre Koffer.«
»Natürlich! Aber ich habe nicht … das ist ja lächerlich!«
»Und wie kommt das Plutonium in Ihren Koffer?«
»Weiß ich es? Man muß mir diesen Mistkasten untergeschoben haben.«
»Wladimir Leonidowitsch, verzichten wir doch auf das Spielchen mit dem großen Unbekannten!«
»Ich protestiere!« Anassimow bebte vor Wut. Er spielte vorzüglich und glaubhaft. »Ich war zwei Tage lang eingesperrt. Jeder konnte in dieser Zeit meine Kabine betreten und das Plutonium in meinen Koffer stecken! Überlegen Sie doch mal: Was soll ich mit dem Mist? Ich mache eine Urlaubsreise, ich will mich erholen und amüsieren … nimmt man da Bombenstoff mit? Das ist doch irrsinnig.«
»Sie sind in Istanbul zugestiegen, von Moskau kommend.«
»Ja! Und bei der Gepäckkontrolle in Istanbul hätte man sofort bemerkt …«
»Nein, eben nicht. Wir wissen, daß das Schiffsgepäck beim Einschiffen nicht kontrolliert wird. Auch nicht bei der Einreise in Istanbul, denn es ist Transfergepäck. Die erste und letzte Kontrolle war auf dem Flughafen in Moskau. Und da gibt es für einen Russen viele Möglichkeiten, einen solch brisanten Koffer durchzuschleusen. Das wissen wir, darin haben wir Erfahrung.« Silbersteins Stimme wurde hart, die joviale Art wich einem peitschenden Verhörton. »Sie wollten in Alexandria aussteigen. Angeblich, um zurückzufliegen, aber das hatten Sie nicht vor. Wohin sollten Sie das Plutonium bringen?«
»Ich weigere mich, auf diese idiotische Frage zu antworten!« schrie Anassimow.
»Wir können auch anders.« Der Polizeioffizier, der Anassimow im Hubschrauber begleitet hatte, ging um ihn herum und stellte sich neben Silberstein. »Sie genießen keinen staatlichen Schutz mehr. Wir betrachten Sie als Terrorist, der Israel schädigen wollte, der unseren Feinden Plutonium liefern wollte, um uns zu vernichten. Sie wissen, was das nach israelischem Recht bedeutet, und Sie wissen auch, daß uns keiner die Verhörmethoden vorschreiben kann. Nur die Wahrheit kann Sie retten.«
»Was heißt retten? Ist das eine Drohung?!«
»Nur eine Ankündigung, Anassimow. Sie haben zweihundert Gramm waffenfähiges Plutonium im Koffer … das betrachten wir als eine tödliche Bedrohung für Israel.«
»Wohin sollten Sie das Plutonium bringen?« fragte Silberstein, als der Offizier schwieg. »Nach Libyen? Nach Algerien? Über Kairo nach Teheran? Oder in den Irak? Auch Syrien käme in Betracht. Reden Sie, Wladimir Leonidowitsch!«
»Ich sage nichts. Gar nichts! Ich kann nur immer wieder betonen, daß ich von dem dämlichen Stahlkasten keine Ahnung habe, das ist alles. Die ganze Sache ist so verrückt, daß mir weitere Worte fehlen. Ich habe in Moskau einen Textilhandel und bin ein ehrlicher Kaufmann. Sie können sich in Moskau erkundigen. Ich gebe Ihnen alle Adressen. Man hat mich heimlich für diesen Plutoniumtransport mißbraucht. Ich bin kein Täter, ich bin das Opfer! Sehen Sie das doch endlich ein. Und mehr kann ich dazu nicht sagen.«
Damit war auch das erste Verhör beendet. Zwei Beamte des MOSSAD brachten Anassimow in eine Zelle, einem heißen, stickigen Raum ohne Klimaanlage oder Ventilator. Hier standen nur ein Bett, ein Stuhl und ein Tisch und in der hinteren Ecke ein Fäkalieneimer mit einem Holzsitz.
Seufzend ließ sich Anassimow auf das Bett sinken, drehte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter seinem Nacken und starrte an die weißgetünchte Decke.
Was wird nun? dachte er. Nehmen Sie mir die Geschichte mit dem Unbekannten ab? Logisch gesehen müssen sie es … sie haben keinerlei Beweise, daß ich das Plutonium aus Moskau mitgebracht habe. Und alles hatte so perfekt geklappt … die lockere Kontrolle auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo II, für die der große Sybin gesorgt hatte, der Transport vom Flughafen Istanbul zum Schiff, alles war so einfach gewesen. So völlig normal. Und dann muß man auf einer Frau wie Loretta hängen bleiben, und alles ist zu Ende. Wenn Sybin das erfährt, gibt es nur eine Konsequenz: die Heimat Rußland vergessen und irgendwo auf der Welt untertauchen, und sei es in Feuerland oder in Alaska – nur weiterleben. Das war jetzt sein einziges Ziel. Es war deprimierend, zu erkennen, daß sich das ganze Leben durch eine einzige hormonelle Explosion verändert hatte. Was kann man dazu nur sagen? Scheiße!
Der MOSSAD hielt Anassimow zehn Tage lang gefangen.
Immer und immer wieder wurde er verhört, immer mit den gleichen Fragen traktiert, Tag und Nacht, mal morgens um fünf, dann abends um dreiundzwanzig Uhr, im Licht starker Scheinwerfer, die auf ihn gerichtet waren, die ihn blendeten und schwitzen ließen.
»Wo sollten Sie das Plutonium abliefern?«
»Ich wiederhole: Ich wußte nichts von dem Stahlkasten.«
»Wer ist Ihr Auftraggeber?«
»Ich habe keinen, verdammt noch mal. Ich war auf Urlaubsreise, wollte das Mittelmeer kennenlernen.«
»Woher stammt das Plutonium?«
»Wie soll ich das wissen? Ich habe nichts damit zu tun.«
Nach diesen zehn Tagen flog man Anassimow nach Tel Aviv. »Es hat keinen Zweck«, sagte Zvi Silberstein zu seinen Geheimdienstkollegen. »Wir drehen uns im Kreis, und Anassimow ist ein harter Bursche. Wir bekommen nichts von dem heraus, was er weiß. Bringen wir ihn zur Zentrale.«
In Tel Aviv wurde Anassimow noch einmal drei Tage lang verhört – natürlich ohne Erfolg. Fragen und Antworten glichen denen im Kibbuz. Sogar der Chef des MOSSAD sah ein, daß alle weiteren Worte sinnlos waren.
»So werden wir nie erfahren, wer hinter diesem Plutoniumschmuggel steckt. Und wir können Anassimow nicht einmal widerlegen, daß er von dem Stahlkasten in seinem Koffer nichts wußte. Diese zwei Tage Gefangenschaft auf dem Schiff sind sein bestes Alibi. Natürlich kann ein Unbekannter ihm das Plutonium in den Koffer gesteckt haben. Was dann in Alexandria passiert wäre, können wir nur ahnen, aber nicht beweisen. Wir müssen einfach seine Version glauben. Natürlich ist er der Nuklearschmuggler, ohne Zweifel, und das Plutonium 239, diese zweihundert Gramm, waren eine Qualitätsprobe, die den Abnehmer überzeugen sollte. Wir wissen jetzt durch die Laborbefunde, daß es fast neunzigeinhalb Prozent reines Plutonium ist. Wenn davon noch mehr auf dem Markt ist, wenn es sogar einige Kilogramm auf Abruf sind, dann Gnade uns Gott! Aber: Wie es beweisen?«
»Und was schlagen Sie vor?« fragte der konsternierte Verteidigungsminister, den man zu der abschließenden Besprechung gebeten hatte.
»Wir lassen Anassimow frei und entschuldigen uns bei ihm.«
»Unmöglich!«
»Er soll glauben, daß wir ihm sein Märchen abnehmen. Aber er wird keinen Schritt unbeobachtet tun! Nathan Rishon wird ihn nicht aus den Augen lassen. Er ist ein Meister in der Observation. Und wir werden Anassimow mit Jermila zusammenbringen.«
»Wer ist Jermila?« fragte der Minister, erregt von dem Gedanken, daß sich Israel bei einem Atomschmuggler entschuldigen würde.
»Eine der schönsten Frauen, die ich bisher gesehen habe. Sie besitzt eine Modeboutique in Tel Aviv, die wir eröffnet haben. Eine gute Tarnung … für eine unserer Agentinnen. Jermila Dorot – natürlich heißt sie anders – gehört zu unseren Spitzenleuten. Wenn Anassimow sie kennenlernt, wird er seine Geheimnisse preisgeben. Anassimow ist ein gerissener Kerl, aber in gewissen Situationen denkt er nur mit dem Unterleib. Das ist unsere einzige Chance.«
»Und diese … diese Jermila wäre bereit, so etwas zu tun?«
»Sie ist eine Patriotin«, antwortete der MOSSAD-Chef schlicht.
»Wenn Sie meinen …«
»Es ist ein Versuch, Herr Minister. Wir müssen Anassimow das Gefühl der Sicherheit geben, den Triumph, uns aufs Kreuz gelegt zu haben, und in dieser Gewißheit wird er irgendwann einmal einen falschen Schritt tun. Und dann haben wir ihn! Im Bett schmelzen alle Geheimnisse.«
Und so geschah es, daß Anassimow zum Chef des MOSSAD gebeten wurde – gebeten, nicht hingebracht – und voller Staunen erfuhr, daß er ein freier Mann sei. Ab sofort.
»Israel muß sich bei Ihnen entschuldigen«, sagte der Chef und reichte Anassimow die Hand. »Wir müssen uns geirrt haben.«
»Endlich sehen Sie das ein!« Anassimow blieb zurückhaltend und vorsichtig. Welch ein Trick steckt wohl dahinter? Woher die plötzliche Freundlichkeit? »Sie entlassen mich also?«
»Notgedrungen. Wir können Ihnen nicht beweisen, daß Sie die Unwahrheit sagen. Im Zweifelsfalle für den Angeklagten – das ist internationales Recht. Und Israel ist ein Rechtsstaat, gerade weil wir soviel Unrecht haben erdulden müssen. Wir haben nur eine Bitte an Sie.«
»Ich höre.«
»Wir möchten, daß Sie noch einige Tage in Tel Aviv bleiben. Auf Kosten des Staates erhalten Sie dann ein Flugticket nach Libyen. Sie fliegen mit einer britischen Maschine. Wir können ja nicht dorthin fliegen.«
Anassimow spürte ein heftiges Mißtrauen in sich aufsteigen.
»Warum gerade Libyen? Was soll ich dort?«
»Sie können von dort aus fliegen, wohin Sie wollen.«
»Das kann ich doch auch von Tel Aviv aus.«
»Ja. Aber das Ministerium, das den Flug finanziert, hat Libyen genannt. Warum, das weiß ich nicht.«
»Und wie lange muß ich noch in Israel bleiben? Ich sage es ehrlich: Diese Gastfreundlichkeit ist nicht nach meinem Geschmack.«
»Wir verstehen das nach dem, was alles vorgefallen ist. Es war wohl ein Irrtum. Doch irren ist menschlich, und verzeihen eine große menschliche Tat.«
»Ich kann also alles mitnehmen? Meine Koffer, meinen Paß, die Dollar … alles?« fragte Anassimow zweifelnd.
»Alles … außer den zweihundert Gramm Plutonium.« Der MOSSAD-Chef lachte wie über einen guten Witz. »Mr. Anassimow, Sie sind ein freier Mann! Unser Staat hat sich erlaubt, für Sie ein Zimmer im Hotel König David zu reservieren.«
»Danke. Und wie lange muß ich noch hierbleiben?«
»Nur ein paar Tage.« Der Chef lächelte ihn an wie einen guten Freund, der ein Geschenk mitgebracht hat. »Sie werden sehen, Tel Aviv ist eine schöne Stadt. Man kann sich gut amüsieren. Das Schönste aber sind die Mädchen.«
»Danke, ich habe die Nase voll von solchen Abenteuern. Ich will nach Hause! Wann kann ich gehen?«
»Sofort. Ein Privatwagen wird Sie zum König David bringen.«
Anassimow verabschiedete sich mit Handschlag. Ein Beamter brachte ihn vor das Haus. Dort wartete ein schwarzer Mercedes auf ihn. Perfekt! Wirklich perfekt diese Organisation. Man erlebt selten, daß Beamte einen Fehler eingestehen, denn ihr Berufsethos verträgt keine Entschuldigungen. Ein Beamtenfehler ist allenfalls eine Fehlinterpretation.
Mit dem merkwürdigen Gefühl, in eine gefährliche Freiheit entlassen worden zu sein, ließ sich Anassimow zum Hotel König David fahren, einem absoluten Luxusbau von orientalischer Pracht. An der Rezeption erwartete man ihn bereits. Das Timing des MOSSAD war vollkommen.
»Wir begrüßen Sie in unserem Hotel, Mr. Anassimow«, sagte der Empfangschef mit einstudierter Höflichkeit. »Wir hoffen, daß Sie sich bei uns wohl fühlen. Wir haben für Sie Appartement Nummer dreihundert reserviert.«
Anassimow nahm den Schlüssel in Empfang, ein Boy trug die Koffer, und sie fuhren mit dem Lift hinauf in das dritte Stockwerk.
Aus einem Sessel in der großen Hotelhalle erhob sich ein Herr und trat an den langen Empfangstresen.
»Ist alles in Ordnung?« fragte er.
»Wie man es gewünscht hat, Herr Rishon.«
»Dann lassen Sie das Tonband einschalten. Von jetzt ab läuft es Tag und Nacht. Ich komme jeden Morgen, die Bänder abzuholen.«
Aber die ›Wanzenüberwachung‹ brachte nichts. Anassimow führte kein Telefongespräch, hielt sich, bis auf ein paar Spaziergänge, vornehmlich in seinem Appartement auf, hörte im Radio mit Vorliebe Opernmusik oder saß vor dem Fernseher und genoß amerikanische Krimis. Am meisten aber hielt er sich in der Hotelbar auf und soff wieder wie ein Elefant. An zwei Abenden torkelte er in sein Appartement und fiel aufs Bett.
Am dritten Tag begegnete er Jermila Dorot.
Sie hatte sich auf einen Barhocker gesetzt und sah hinreißend aus.
Moskau ist eine herrliche Stadt, wenn die Sonne scheint. Dann blühen die vergangenen Jahrhunderte wieder auf, und die Schönheit der Kirchen, Paläste und Klöster, die Gigantomanie der Sowjetbauten und die Parks am Ufer der Moskwa werden zu einem ganz persönlichen Erlebnis.
Moskau im Regen – wie alle Städte im Regen – häßlich und abstoßend. Man fühlt sich irgendwie einsam und verloren in diesem Gebirge aus Stein und Beton, und man sieht plötzlich die Narben der Vergangenheit und die Gebrechen der Gegenwart.
So jedenfalls empfand es Victoria Miranda. Seit ihrem Eintreffen in Moskau war wenig geschehen, genau genommen, gar nichts. Sie lebte in der amerikanischen Botschaft, nahm ihre Mahlzeiten mit den anderen Botschaftsangehörigen ein, abends manchmal mit dem Botschafter selbst, und hatte tagsüber viel Zeit, sich mit der Stadt zu beschäftigen. Sie lernte Leute kennen, Gäste des Botschafters, hohe russische Militärs, Schriftsteller, neue Wirtschaftsbosse und sogar zwei Minister, aber an ihre wirkliche Aufgabe kam sie nicht heran.
Kevin Reed, der Botschaftsrat, dem sie formell unterstellt war, behandelte sie so, wie er sie empfangen hatte. Er hielt sie für nutzlos. Ihren Plan, sich in die Moskauer Unterwelt einzuschleusen und die Atommafia aufzuspüren, nannte er schlicht ›absoluten Wahnsinn‹. Auch bezweifelte er, daß es diese Atommafia überhaupt gab. Es gab keine Beweise dafür, nur Vermutungen, und Vermutungen in der Politik führen meistens zu einer Blamage oder gar Niederlage. Politik ist wie eine Gummiwand … je gründlicher man dagegen rennt, um so heftiger wird man zurückgeworfen.
»Wenn die CIA keinen greifbaren Gegner hat, erfindet es einen!« sagte Reed einmal im Kreis von Vertrauten. »Das ist typisch: Man muß beweisen, wofür man die Millionen von Dollar kassiert.«
Sechs Tage erduldete Victoria diese Atmosphäre … am siebten Tag zeigte sie Kevin Reed, daß sie aus dem Stall von Oberst Curley stammte. Ein Kind der Abteilung II/10, das alle Sonderrechte ausnutzen durfte.
»Ich weiß, wie Sie über mich denken, Kevin«, sagte sie. Ihre Stimme klang ruhig, aber bestimmt. »Aber das ist mir egal! Ich habe nun sechs Tage lang die Ferien in Moskau genossen und habe auch die Schonfrist erduldet. Damit ist nun Schluß! Nur weil ich ein geduldiger Mensch sein kann, habe ich bisher keine Beschwerde nach Washington geschickt.«
Botschaftsrat Reed schwieg und sah Victoria mit seinen wasserhellen Augen an. Er bereitete sich innerlich auf eine Auseinandersetzung mit ihr vor, ja, er hatte geradezu darauf gewartet, daß es zu einem Ausbruch kommen würde.
»Ich möchte umgehend eine eigene Wohnung, das ist meine Forderung Nummer eins.«
»Sagen wir Forderung Null! Ich habe Ihnen schon erklärt, daß in Moskau Wohnungsnot herrscht. Wohnungen werden nicht vermietet, sondern zugeteilt. Oder durch Korruption und Bestechung vermittelt.«
»Dann bestechen Sie!«
»Das ist eine typische CIA-Antwort.« Reed lächelte mokant. »Wir werden unsere Verbindungen spielen lassen. Was ist Forderung Nummer zwei?«
»Ich möchte eine Liste aller Lokale, Hotels und Kulturstätten haben, in denen man die neuen Wirtschaftsbosse Rußlands treffen könnte. Vor allem die mit einer befleckten Weste.«
»Da gibt es eine Menge, Lieutenant Miranda.« Reed genoß es, das Wort Lieutenant auf der Zunge zergehen zu lassen.
»Bitte. Ein paar Namen als Anfang.«
»Ein Lokal, in dem es bei vollem Licht durch die Anwesenheit einer Menge Dunkelmänner immer dunkel ist, ist die Bar Tropical. Eine Mischung von Saufpalast, sexuellem Varieté und Puff. Hier vergnügen sich die neuen Millionäre. Grob geschätzt, sitzen da pro Abend einige hundert Jahre Knast herum.«
»Das weiß man und tut nichts?«
»Wer sollte etwas tun? Die Polizei? Die ist korrumpiert. Hohe Polizeifunktionäre stehen auf den Gehaltslisten der ehrenwerten Bosse. Der KGB?« Reed lachte. »Die sitzen selbst an den Tischen oder huren in den Hinterzimmern. In Rußland hat sich viel verändert. Die Russen haben Perestroika und Glasnost falsch verstanden. Sie verwechseln Freizügigkeit mit Anarchie.«
»Dann wollen wir beim Tropical anfangen.« Victoria lehnte sich zurück. Reed zuckte mit den Schultern. Das Mädchen hat einen Stich! Sie will ins Tropical, einfach so, als wenn man in den Cafégarten des New Yorker Hotels Plaza geht.
»Haben Sie vor, in das Tropical zu gehen?« fragte er, um sich zu vergewissern.
»Ja.«
»Allein?« Reed winkte ab. »Unmöglich. Eine so attraktive Frau wie Sie allein unter besoffenen russischen Millionären … undenkbar! Wenn Sie die Bar besuchen, stelle ich zu Ihrer Begleitung zwei Mann ab.«
»Allein, Kevin!«
»Feilschen wir wie auf einem orientalischen Markt: einen Mann.«
»Nein! Ich gehe allein. Ich habe keine Angst, daß ich belästigt werde.«
»Der Central Park in New York bei Nacht ist jetzt sicherer als eine Moskauer Nacht. In New York kümmert sich die Polizei wenigstens, wenn auch ohne Erfolg, darum – in Moskau zucken die Milizionäre nur die Schultern und sagen: ›Wenn man so dumm ist, nachts durch Moskauer Parks zu gehen …‹ Aber gut, akzeptiert … Sie wollen allein ins Tropical. Aber Sie werden dennoch nicht allein sein – zwei unserer V-Männer werden schon in der Bar sitzen, bevor Sie hereinkommen.«
»Ich möchte in keiner Weise behindert werden!«
»Versprochen. Wir greifen nur ein, wenn man Sie abschleppen sollte.« Reed faltete die Hände über seinem Bauchansatz. »Noch etwas, Victoria?«
»Vorerst nicht. Am wichtigsten ist die Wohnung.«
»Natürlich. Sie ist eine Art sturmfreie Bude.« Das war im höchsten Maße anzüglich, aber Victoria nahm es ohne Regung hin und antwortete:
»Unter anderem … wenn es nötig ist …«
»Wann wollen Sie Ihre Tour beginnen?«
»Heute abend.«
»Ich besorge Ihnen die Liste. In zwei Stunden ist sie bei Ihnen. Und einen neun Millimeter Smith & Wesson bekommen Sie auch.«
»Ich brauche keine Pistole. Ich beherrsche Kung-Fu.«
»Das können die meisten Bodyguards der Bosse auch. Ich würde mich darauf nicht einlassen. Eine Kugel ist allemal schneller.«
»Sie sprechen ja so, als ginge ich geradewegs in die Hölle.«
»Hölle ist eine biblische Erfindung. Wenn Sie dort ankommen, sind Sie bereits tot. Hier aber leben Sie, und das ist ungleich schmerzhafter.«
Das Gespräch war damit zu Ende. Reed verabschiedete sich und organisierte Victorias ›Ganovenausflug‹, wie er es bezeichnete. Er stellte zwei V-Männer zur Verfügung, ließ eine Liste aller In-Lokale anfertigen und unterrichtete den Botschafter von den geplanten Aktivitäten des Lieutenants Miranda.
»Leider können wir sie nicht daran hindern«, sagte der Botschafter. »Sie gehört nicht zum Botschaftspersonal. Sie untersteht nur der CIA! Wir können sie nur beschützen. Aber da ist sie ja bei Ihnen in den besten Händen, Kevin.«
Reed bezweifelte das, aber er sprach nicht darüber.
Am Abend streifte Victoria ein enges Cocktailkleid über ihre makellose Figur, legte ein diskretes Make-up auf und band die blonden Haare im Nacken mit einer roten Schleife zusammen. Jetzt sah sie aus wie ein achtzehnjähriges Schulmädchen, das die Abwesenheit ihrer Eltern ausnutzte, um sich einen Abend lang zu amüsieren. Oder wie eine raffinierte Nutte, die auf Kindfrau machte. Je nachdem, wie man sie sehen wollte …
Ein Taxi brachte sie zum Tropical. Da sie eine Ausländerin war und zudem eine Nutte, als die sie der Taxifahrer nach einem kurzen Blick einschätzte, verlangte er einen enorm überhöhten Fahrpreis, und Victoria zahlte ohne Zögern.
Auf der Bühne des Tropical lief die erste Sexshow. Mit geübtem Blick erkannte der Türsteher sofort die Ausländerin; ein aalglatter Geschäftsführer wies ihr einen Tisch in der ersten Reihe zu.
Victorias Erscheinen in der Bar löste gespannte Aufmerksamkeit aus. Ein paar Herren mittleren Alters, in Maßanzügen, aber mit offenen Hemdkragen, erkundigten sich beim Geschäftsführer, wer der ›Neuzugang‹ sei.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Eine Ausländerin, das ist sicher. Vielleicht eine Amerikanerin … der Sprache nach. Sie ist zum ersten Mal hier. Meine Herren, halten Sie sich zurück, sie könnte verabredet sein.«
Das Programm auf der Bühne fand Victoria ekelhaft. Die Mädchen waren hübsch, zugegeben, aber was sie mit ihren schönen Körpern vollführten, war übelste Pornographie. Ein Kellner fragte sie auf englisch, was er bringen dürfe, und sie antwortete ohne Zögern:
»Champagner.«
»Russischer oder französischer?«
»Französischer.«
Auch das wurde von den Herren registriert: Sie hatte also Geld. Man tippte auf die Tochter eines amerikanischen Millionärs, die eine Reise durch Rußland unternahm und der man an der Hotelrezeption gesagt hatte, sie müsse unbedingt in das Tropical, wenn sie etwas erleben möchte.
Victoria hatte gerade ihr erstes Glas Champagner getrunken, als sie an den Nebentischen eine merkwürdige Unruhe bemerkte. Der Geschäftsführer stand plötzlich vor ihr und spielte den Verlegenen.
»Darf ein Gast bei Ihnen Platz nehmen?« fragte er. »Ihr Tisch ist der einzige, an dem noch ein Platz frei ist.«
Bevor sie antworten konnte, wurde der Geschäftsführer mit einer Armbewegung zur Seite geschoben. Ein eleganter Mann mit einem schmalen Lippenbärtchen, schwarzen anliegenden Haaren und lebendigen dunklen Augen beugte sich zu ihr hinunter.
»Natürlich hat die Lady nichts dagegen, daß ich den freien Platz belege«, sagte der. »Oder irre ich mich da?«
Victoria musterte den Mann kurz. Typ Hollywood der dreißiger Jahre. Pomadisierte Haare, Menjoubärtchen, übertriebene Eleganz. Sie sah auch die Finger mit den großen Edelsteinringen, protzig, ja fast lächerlich, und sie bemerkte, daß ihm an der linken Hand ein Finger fehlte.
»Bitte!« sagte sie reserviert und zeigte auf den freien Stuhl. »Er gehört Ihnen.«
Sybin setzte sich. In der Bar ertönte ein leises Raunen, das von der Musik auf der Bühne verschluckt wurde. Natürlich Sybin, wer sonst! Laß uns alle Hoffnungen begraben … gegen Sybin kommt niemand an. Außerdem ist das Leben viel zu kurz, um es aufs Spiel zu setzen.
Unaufgefordert brachte der Kellner für Sybin Champagner und eine silberne Schale mit frischem Obst. Ein Stammgast, stellte Victoria fest. Ein interessanter bunter Vogel, der da an ihren Tisch geflattert war. Das wurde noch bestätigt, als eines der Mädchen auf der Bühne ihren Slip abstreifte und ihn ihm zuwarf. Victoria fing ihn auf und legte ihn Sybin neben das Champagnerglas. Irgend jemand im Hintergrund klatschte, aber da niemand in den Beifall einfiel, verebbte er schnell wieder.
»Fangen Sie immer Slips auf?« fragte Sybin, um ein Gespräch zu beginnen.
»Nur, wenn sie mir entgegenfliegen. Ist das die russische Art? Gehört das zum Volkstum? Von an die Wand geworfenen Wodkagläsern habe ich schon gehört.«
»In diesem Lokal ist alles möglich.« Sybin gab seiner Stimme einen tieferen, sinnlichen Klang. Interessiert glitt sein Blick über Victorias Halsausschnitt, über die Wölbungen ihrer Brüste und über ihr weißblondes Haar – sie war ein sehr schöner Anblick. Vor allem die blonden Haare regten ihn ungemein an. »Darf ich mich Ihnen vorstellen? Mein Name ist Igor Germanowitsch Sybin …«, sagte er.
»Victoria Miranda.«
»Ein Name wie Musik von Puccini.«
»Sie kennen seine Opern?«
»Ich liebe Puccini. Sie sind Italienerin?«
»Amerikanerin.«
»Aber der Name Miranda …«
»Mein Vater war Mexikaner, meine Mutter lebt in Montana und ist in Phönix geboren.«
»Sie bereisen Rußland privat?«
»Ja und nein. Ich habe Kunstgeschichte studiert und will mir jetzt die Stätten der russischen Kunst ansehen. Also halb Ferien, halb Arbeit. Ich möchte morgen das Andrej-Rubjow-Museum für altrussische Kunst im Andronikowkloster besichtigen. Dort soll es die schönsten Ikonen geben.«
»Sie haben sich viel vorgenommen, Miß Miranda. Das schafft man ohne kundige Begleitung nie. Darf ich mich als Führer empfehlen?«
»Sie verstehen auch etwas von Kunst?«
»Ich verstehe von allem etwas.« Das klang nicht überheblich, sondern überzeugend. »Meine Interessen sind vielfältig.« Sybin lächelte nach diesem Satz – so kann man es elegant ausdrücken.
Die Darbietungen auf der Bühne waren zu Ende, der Vorhang fiel. Ein Balalaikaorchester übernahm die Unterhaltung. Sie spielten Jazz und Country-Music auf den alten Instrumenten, eine nicht alltägliche Musik. Victoria gefiel sie.
Der Abend verlief harmonisch. Sybin spielte auf der Klaviatur seines Charmes und stellte fest, daß Miß Miranda offensichtlich Interesse für ihn zeigte. Aber er hütete sich, das zu testen. Die Konversation bewegte sich zwischen Kunst und Musik, Sport und russischer Geschichte, und Victoria wunderte sich, wie so ein Parvenü mit mindestens zweihunderttausend Dollar an den Fingern wirklich über alles plaudern konnte, ohne langweilig zu werden.
Gegen zwei Uhr morgens beendete Victoria das kleine Abenteuer. Sie zahlte, obgleich Sybin die Rechnung übernehmen wollte, und sie lehnte es auch ab, daß er sie mit seinem Jaguar zum Hotel bringen wollte. Sie nahm ein Taxi, und Sybin winkte ihr von der Tür des Tropical aus nach.
In ihrem Zimmer in der Botschaft setzte sie sich auf die Bettkante und ließ den Abend noch einmal an sich vorbeiziehen.
Igor Germanowitsch Sybin … was war das für ein Mann? Ein eitler Fatzke mit Manieren. Ein Emporkömmling mit Bildung. Was verbirgt sich hinter seiner Hollywoodfassade?
Morgen, im Rubjow-Museum, wollte sie mehr über ihn erfahren …
Sybins Stimme dröhnte in dem Hörer, als Dr. Sendlinger das Telefon abhob. Zunächst verstand er kein Wort, so schrie Sybin herum, und so fragte er, als Sybin Atem holen mußte:
»Was ist denn los?«
»Soll ich das alles wiederholen?« brüllte Sybin.
»Ich habe kein Wort verstanden. Ist ein Reaktor in die Luft geflogen?«
»Für Witze habe ich jetzt keinen Nerv! Anassimow ist verschwunden! Genügt das nicht?«
Dr. Sendlinger kniff die Augen zusammen und griff nach einem Zigarillo. Erst als er den ersten Zug getan hatte, fragte er:
»Was heißt verschwunden?«
»Soll ich dir das buchstabieren? V-e-r…«
»Ich begreife das nicht«, unterbrach ihn Dr. Sendlinger.
»Wer kann das begreifen? Seit zehn Tagen höre ich nichts von ihm! Planmäßig ist er in Istanbul auf das Schiff gegangen, aber nicht in Ägypten, in Alexandria, angekommen. Ich habe mir die Passagierliste der Reederei kommen lassen … Anassimow steht drauf! In Alexandria muß er – so die Reederei – mit vierzig anderen Passagieren das Schiff verlassen haben. Aber unser Mann in Ägypten hat vergeblich gewartet. Anassimow kam nicht an. Auch in Libyen ist er nicht aufgetaucht … unser Kunde ist sehr verärgert.«
»Das heißt, dein sogenannter bester Mann ist mit zweihundert Gramm reinem Plutonium zu Luft geworden!«
»Anassimow hatte mein vollstes Vertrauen! Er arbeitete schon sieben Jahre für mich. Immer Sonderaufträge, die er gewissenhaft erfüllte.«
»Ich kann dazu nur sagen: Igor, den Preis für diese zweihundert Gramm mußt du tragen.« Dr. Sendlinger sah dem Qualm seines Zigarillos nach. »Nehmen wir an, er ist aufgefallen und verhaftet worden.«
»Von wem denn? Er war ja die ganze Zeit auf dem Schiff.«
»Wie würde sich dieser Anassimow bei einem Verhör verhalten?«
»Wie ein Fisch: glotzen und schweigen.«
»Auch bei ›harter‹ Befragung?«
»Auch dann.«
»Und wenn er sich selbständig gemacht hat und die zweihundert Gramm auf eigene Rechnung anbietet? Immerhin ist das ein Millionenbetrag, da ist die Versuchung groß.«
»Er kennt keine Namen und keine Adressen. Nur Codeworte für die Übergabe. Und er hat das Schiff nicht verlassen können.«
»Es gab auf dieser Reise viele Stationen. Rhodos, Zypern, Beirut, Haifa …«
»Mit einem Kasten Plutonium zu den Israelis! Das ist doch idiotisch!« schrie Sybin. Weniger der Verlust der zweihundert Gramm erregte ihn so, sondern der Vertrauensbruch seines alten Mitarbeiters. Konnte man sich auf keinen mehr verlassen? »Außerdem hat er von Beirut aus noch angerufen. Alles planmäßig. Bedankt hat er sich sogar für diese fröhliche Urlaubsreise. Ich stehe vor einem Rätsel.«
»Was können wir tun, Igor?« Dr. Sendlinger zerdrückte den Rest seines Zigarillos in einem aus Ebenholz geschnitzten Aschenbecher. Andenken an eine Reise nach Zaire, wo er im Auftrag einer pharmazeutischen Fabrik wegen der Lieferung von Medikamenten verhandelt hatte, die letztendlich die deutsche Entwicklungshilfe bezahlte. »Wir können gar nichts tun – nur warten, ob, wo und wann dein lieber Anassimow auftaucht oder die zweihundert Gramm Plutonium.«
»Ich habe jetzt drei Kilo zusammen.«
»Wann kommen sie an?«
»Nächste Woche.«
Sie konnten jetzt frei miteinander sprechen: Dr. Sendlinger und Sybin hatten getestet, ob ihre Gespräche abgehört werden. Sybin hatte in einem Telefonat verkündet: »In Kürze läuft die Aktion gegen Jelzin an!« Keine Reaktion des russischen Geheimdienstes. Wäre man bei ihm erschienen, hätte er lachend gesagt: »Liebe Freunde … es geht um den Geburtstag von Jelzin! Wir wollen ihn mit einem Fackelzug überraschen.« Und Dr. Sendlinger hatte am Telefon gesagt: »Das Attentat auf Kohl ist gesichert.« Auch er hätte beim Eintreffen des Berliner LKA verwundert geantwortet: »Meine Herren, wir wollten lediglich dem Bundeskanzler einen großen Korb voller Rosen schicken, als Anerkennung seiner Europapolitik. Wir haben diese Aktion scherzeshalber Attentat genannt!« Aber man hätte dann gewußt, daß ihre Telefone angezapft waren.
Das war nicht der Fall. Warum auch? Dr. Sendlinger war ein renommierter Anwalt, Freund des Oberstaatsanwalts und einer Gruppe einflußreicher Politiker, und Sybin war ebenfalls über alle Zweifel erhaben. Seinen Namen kannte jeder maßgebende Mann in Moskau … vom Minister bis zum KGB-Chef, vom Generalstab bis zum Milizkommando. Einige der angesehenen Herren konnten sich aufgrund ihrer Freundschaft mit Sybin sogar eine Datscha in den Wäldern rund um Moskau leisten.
»Gratuliere.«
»Du siehst, meine Leute arbeiten präzise. Wawra Iwanowna in Krasnojarsk hat zwei Kilo herausgebracht, wie mir Suchanow meldet, und in Majak hat Lew Andrejewitsch Timski bisher ein Kilo gesammelt, das hat mir Grimaljuk mitgeteilt. Beide Sendungen kommen mit Frachtzügen nach Polen und von dort mit einem Transport polnischer Tiefkühlgänse nach Berlin. Da die Zollabfertigung in Frankfurt/Oder stattfindet, wird sich der Berliner Zoll nicht mehr darum kümmern. Der Lastwagen wird in Frankfurt verplompt, das ist der einfachste und sicherste Weg. Einen Kühltransporter räumt man zur Kontrolle nicht aus, die Kühlkette darf nicht unterbrochen werden. Und polnische Gänse sind eine beliebte Handelsware. Zweihundertvier Millionen Dollar sind unterwegs.«
»Ich werde persönlich die Ware über Paris zu dem Besteller bringen. Wenn wir nur wüßten, was mit Anassimow geschehen ist! Er könnte uns Schwierigkeiten bereiten. Auch wenn er die Probe nur verkauft und später nicht liefern kann, hat er dreizehneinhalb Millionen Dollar kassiert und die Abnehmer mißtrauisch gestimmt. Wer einmal betrogen worden ist, verhandelt nur noch mit geschlossenem Visier. Anassimow weiß wirklich keine Namen?«
»Ich garantiere: Nein!« Sybin versuchte, Dr. Sendlinger in Bedrängnis zu bringen. »Was ist eigentlich aus deinem Boten, diesem Kraftfahrer aus Köln, geworden?«
»Freddy Brockler? Man hat ihn zu einem Jahr mit Bewährung verurteilt. Hier hat das Gericht erstaunlich schnell gearbeitet. Es hat sich von seiner Harmlosigkeit überzeugt. Freddy läuft frei herum. Waldhaas hat darauf verzichtet, den ›Londricky-Effekt‹ anzuwenden. Brockler hatte wirklich keine Ahnung, was man ihm an den Motor geklemmt hatte.« Dr. Sendlinger hatte schnell begriffen, warum Sybin zu Brockler ablenkte. Nicht mit mir, Igor, dachte er. Hier klappt das alte Spiel nicht: Schlägst du meinen Esel, schlage ich deinen Esel. »Anassimow singt da einige Töne höher. Er weiß zuviel.«
»Er weiß nur, daß ihn in Alexandria ein Mann erwartet, der sich mit einem Codewort vorstellt. Mehr nicht. Keinen Namen.«
»Aber er kennt dich, Igor. Das genügt ja wohl, um unsere ganze Aktion zu Fall zu bringen.«
Sybin schwieg. Seine Gedanken waren die gleichen wie die von Dr. Sendlinger: Würde Anassimow wirklich schweigen, wenn er in die Hände eines Geheimdienstes gefallen war? Besaß er die Stärke, auch qualvolle Verhöre durchzustehen? Wenn Anassimow enttarnt worden war, dann kam auf seiner Reisestrecke nur der MOSSAD in Frage, denn ab Beirut hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Und der MOSSAD ist nicht zimperlich … der Erfolg der Israelis sprach für sich. Der beste Geheimdienst der Welt könnte auch einen eisernen Anassimow knacken.
»Ich werde meine Beziehungen in Ägypten, Libyen, Irak und Iran spielen lassen«, sagte Dr. Sendlinger, weil Sybin schwieg. »Irgendwo wird er auftauchen müssen, um seine zweihundert Gramm loszuwerden. Dann ist es deine Aufgabe, sofort zu handeln.«
»Anassimow wird seinen Verrat bereuen.« Sybins Stimme war dumpf geworden. »Auf meiner Liste ist sein Name bereits durchgestrichen …«
Noch aber lebte Wladimir Leonidowitsch sehr fröhlich im Hotel König David auf Kosten der israelischen Regierung. Er war überzeugt, seine Unschuld bewiesen zu haben. Der Metallkasten in seinem Koffer war von Experten des MOSSAD analysiert worden. Das Gehäuse war eine japanische Konstruktion, das Bleirohr stammte aus Vietnam, das Plutoniumpulver einwandfrei aus Rußland. Ein solch reines Plutonium 239 gab es nur in den ehemaligen geheimen Reaktorwerken von Majak oder Krasnojarsk. Damit stand für die israelischen Experten fest, daß nur Rußland der Lieferant sein konnte und daß Anassimow mehr wußte, als er zugab. Daß jemand heimlich den Kasten in seinem Koffer versteckt hätte, daran glaubte niemand. Warum sollte ein Unbekannter ausgerechnet einem Russen Plutonium aus Krasnojarsk ins Gepäck legen?
Jermila Dorot hatte an der Bar einen alkoholfreien Cocktail bestellt und wartete auf Anassimow. Zwei Barhocker weiter saß Nathan Rishon, trank ein Bier und blinzelte ihr zu, als Anassimow die Bar betrat und sich nach einem freien Platz umsah.
Er ist da. Mach deine Sache gut, Mädchen.
Jermila straffte sich, und wie sie da auf dem Hocker saß, ein Bein angezogen, eines herabhängend, konnte niemand übersehen, daß sie schlanke Schenkel hatte und einen kleinen, aber wohlgeformten Po. Eine verlockend schöne Frau, die mit gespitzten Lippen ihren Cocktail mit einem Strohhalm trank. Ein ungemein erotischer Anblick.
Genau das stellte auch Anassimow fest. Er war jetzt vierzehn Tage lang ruhiggestellt gewesen, was für einen Kraftmenschen wie ihn eine Qual war, um so mehr, wenn er angetrunken war, und das war er bereits, als er jetzt die Hotelbar betrat. Er hatte in seinem Appartement schon drei Fläschchen Wodka und Kognak getrunken, nur so zur Einstimmung, denn er war fest entschlossen, seine wiedergewonnene Freiheit nicht nur an der Bartheke, sondern auch im Bett mit einer der vielgerühmten schönen Frauen Israels zu feiern.
Nun sah er Jermila allein und attraktiv an der Bar sitzen und ihren Cocktail schlürfen, und sofort lösten seine Hormone Alarm aus. Ohne Zögern durchschritt er den Raum und setzte sich neben Jermila an den Tresen. Der Barkeeper, der ihn seit drei Tagen kannte, nickte ihm freundlich zu.
»Das gleiche wie immer, Sir?«
»Nein! Dieses Mal das, was die Dame neben mir trinkt.« Anassimow grinste Jermila unbefangen an. »Ist das gut?« fragte er.
Der Barkeeper begann einen Cocktail zu mischen, der farblich dem von Jermila ähnlich sah, aber aus einem Gemisch hochprozentigen Alkohols bestand. Schon beim ersten Schluck erstarrte Anassimow in Ehrfurcht vor der Trinkfestigkeit der Dame.
»Sie sind Stammgast?« Jermila begann das Gespräch, um ihre Kontaktfreudigkeit zu signalisieren.
»Wieso?« fragte Anassimow etwas dümmlich.
»Der Barkeeper kennt Ihre Wünsche, ohne vorher zu fragen.«
»Man hat so seine Gewohnheiten. Jeder Mensch ist im Grunde konservativ, wer immer nur Bier trinkt, wird nicht plötzlich Limonade trinken.« Das Gespräch fand auf englisch statt, und Anassimow schämte sich wegen seiner miserablen Aussprache.
Der Barkeeper servierte den Cocktail, Anassimow kippte den ersten Schluck und bekam plötzlich einen roten Kopf. Er bemühte sich, nicht zu husten, und atmete tief durch, da der Schluck im Magen noch weiter brannte. Entgeistert starrte er erst das Glas von Jermila, dann sie an.
»Alle Achtung!« sagte er. »Das schlürfen Sie so einfach durch den Strohhalm?«
»Ich trinke Cocktails immer mit Strohhalm. Es ist genußvoller.«
»So ein höllisches Gesöff?«
»Ich finde es hervorragend. Botha ist der beste Barmixer, den ich kenne. Seine Kreationen sind umwerfend.«
»Das kann man wohl sagen.« Anassimow setzte sich in Positur. Seine Wirkung auf Frauen kannte er, und wenn eine Frau so ein Teufelszeug ohne Wimpernflattern trank, hatte er keine Zweifel daran, daß man sich im Laufe des Abends näherkommen würde. »Sie wohnen auch im Hotel?«
»Nein. Ich habe eine Freundin besucht. Wir haben ein Konzert gehört: die zweite Sinfonie von Schumann in der Philharmonie, unter Mehta. Wundervoll …«
Anassimow hütete sich, das Thema aufzugreifen. Wer ist dieser verdammte Schumann, dachte er. Nie gehört. Aber man kann ja nicht alles kennen, man ist ja kein lebendes Lexikon.
»Ich liebe Beethoven mehr«, wich er aus. »Oder Semjaluk …«
»Wer ist Semjaluk?« fragte Jermila wirklich erstaunt.
Anassimow lächelte sie an und dachte: Kenne ich auch nicht, der Name ist mir eben einfallen. Klingt gut, was? Semjaluk … Und laut sagte er: »Er ist ein russischer Komponist, so um 1845 herum. Die wenigsten kennen ihn. Er verarbeitete Volkslieder zu Sinfonien, die aber selten gespielt werden. Ich behaupte: Er hätte das Zeug, ein Tschaikowsky zu sein. Aber es werden ja so viele Künstler verkannt, und Semjaluk ist einer von ihnen.«
Anassimow nahm einen neuen Schluck des Cocktails, ganz vorsichtig und zuckte unwillkürlich zusammen, als Jermila zu Botha hinüberrief:
»Noch einen Spezial, Botha!«
»Sofort, Mrs. Dorot.«
Anassimow warf einen Blick auf Jermilas Figur und bezwang seine Unruhe. »Sie heißen Dorot?« fragte er.
»Jermila Dorot.«
»Ich bin Wladimir Leonidowitsch Anassimow.«
»Mein Gott, wer soll so einen Namen behalten!« Sie lachte und trank durch den Strohhalm einen kräftigen Schluck aus dem eben servierten Cocktailglas. Anassimow sah sie fasziniert an: Sie trinkt es wie Himbeerwasser! Als Säufer kann man diese Leistung wertschätzen. Welch eine Frau! Wenn sie im Bett genauso scharf ist wie ihre Cocktails, dann war Loretta Dunkun in Kabine 017 nur fade Limonade.
»Kürzen wir ihn ab, Mrs. Dorot.« Anassimow machte auf dem Barhocker eine kleine Verbeugung. »Nennen Sie mich so, wie mich meine Freunde rufen: Wladi …«
»Das klingt, als ob man einen Hund lockt …«
Jetzt! Anassimow griff zu seinem Glas und kippte den Rest in einem Zug hinunter. Wieder wurde sein Gesicht rot, und er hatte das Gefühl, Feuer geschluckt zu haben. Jetzt!
»Ich wünschte, ich wäre ein Hund …«
»Aber nein!«
»Ein Schoßhund bei Ihnen … Sagen Sie Wladi zu mir, und ich wedele mit dem Schwanz …«
»Darauf möchte ich es nicht ankommen lassen!« Jermila blinzelte ihn an. »Was führt Sie nach Israel?«
»Ein Zufall. Ich wollte mit dem Schiff nach Alexandria. In Haifa steige ich aus, sehe mir die Stadt an, trinke etwas zuviel … und verpasse das Schiff. Eine einfache Geschichte.«
»Das kann man wohl sagen!« Jermila lachte herzhaft. »Und nun?«
»Ich habe beschlossen, noch ein paar Tage in Tel Aviv zu bleiben und dann zurückzufliegen.«
»Nach Rußland?«
»Ja. Nach Moskau.«
»Und dort warten Frau und Kinder.«
»Ich bin nicht verheiratet.« Anassimow winkte zu Botha hinüber. Noch ein Glas Höllensaft! »Und Sie?«
»Ich habe eine Modeboutique in Tel Aviv. Ich entwerfe meine Kollektion selbst. Aber ich wohne außerhalb der Stadt in einem schönen, kleinen Haus. Ich liebe die Stille, den Wind, die treibenden Wolken, den Blick in die Unendlichkeit …«
»Wie ich! Wie ich!« Anassimow ergriff plötzlich ihre Hand und küßte sie. »Verzeihen Sie mir meinen Ausbruch, bitte! Ich habe einen Onkel in Sibirien … und immer, wenn ich ihn besuche – er hat eine Datscha in der Taiga –, liege ich im Gras und starre hinauf in den weiten Himmel, und ich winke den Wolken zu, höre das Atmen der Natur in jedem Vogelgezwitscher und sauge die Luft ein wie ein betäubendes Gas …«
»Sie sind ja ein Lyriker, Wladi …«
»Danke.«
»Wofür?«
»Sie haben mich zum ersten Mal Wladi genannt.«
»Oh! Habe ich das? Das war unbewußt.«
»Bleiben Sie dabei, Jermila? Darf ich Jermila sagen?«
»Ich habe nichts dagegen.«
»Und noch eine Frage: Darf ich Ihr kleines Paradies sehen? Ihre Taiga …«
»Eigentlich nicht.«
»Eigentlich läßt Hoffnung aufkeimen.«
»Ich habe selten Besuch, sehr selten. Ich bin gern allein.«
»Machen Sie eine Ausnahme und einem kleinen Russen ein Geschenk. Bitte. Sie lieben den Wind, der die Wolken am Himmel vorantreibt … ich liebe den Wind, wenn er in den Wäldern singt. Ich verspreche Ihnen, Ihre geliebte Stille nicht zu stören.«
Sie saßen zwei Stunden lang an der Bar und tranken noch zwei Cocktails. Jermila überstand sie, ohne Wirkung zu zeigen, Anassimow dagegen sah die Zeit gekommen, in sein Appartement zu wanken. Er hatte Angst vor dem fünften Höllentrank und wollte nicht vor Jermila vom Barhocker fallen.
»Sehen wir uns morgen wieder?« fragte er mit schwerer Zunge.
»Ich habe es mir überlegt.« Jermila strich ihm über das Gesicht. »Wir fahren morgen zu meinem Haus.«
»Sie sind eine wundervolle Frau, Jermila. Wladi wird morgen auf Sie warten.«
»Um zehn Uhr hole ich Sie ab.«
»Das Hündchen wird ganz zahm sein.«
Er beugte sich über ihre Hand, küßte sie, rutschte dann vom Hocker und verließ, schwankend wie ein Seemann bei rauher See, die Bar.
Nathan Rishon kam zu Jermila hinüber. Er hatte die ganze Zeit an der Theke gesessen und fünf Bier getrunken.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
»Wir fahren morgen in mein Haus. Für Sie war es langweilig, nicht wahr?«
»Ich habe jetzt einen Bierbauch!« Rishon zog die Brauen zusammen. »Ich werde Silberstein erklären, daß es eine Frechheit ist, mir an der Bar nur Bier zu genehmigen. So arm ist unser Staat nicht! Also morgen. Ich fahre voraus. Wenn es kritisch wird, schlagen Sie eine Scheibe ein. Ich bin dann sofort bei Ihnen. Bis morgen also.«
Er verließ die Bar. Jermila unterschrieb die Rechnung, die Botha ihr vorlegte. Dann verließ auch sie das Hotel König David, ging zu einem japanischen Wagen und fuhr davon. Natürlich hatte sie eine Wohnung in Tel Aviv und auch einen Hund, der auf sie wartete.
Nur hieß er nicht Wladi – so kann man Dackel nennen –, sondern Bobo und war ein eleganter Afghane.
Pünktlich um zehn Uhr am nächsten Vormittag betrat Jermila die Hotelhalle. Sie trug ein schlichtes, weißes Kleid, das elegant hätte sein können, wenn es nicht extrem kurz gewesen wäre. Man sah ihre langen schlanken Beine, die durch die hochhackigen Schuhe noch länger wirkten – ein anregender Anblick.
Anassimow wartete in der Halle. Sein Gesicht war etwas aufgedunsen, denn die höllischen Cocktails kreisten noch in ihm. Um so mehr wunderte er sich über Jermila. Wie macht sie das bloß, dachte er, als er sie in die Halle hereintrippeln sah. Sie sieht aus wie die ewige Jugend, wie einem Verjüngungsbad entstiegen, so taufrisch und fröhlich, daß es schon eine Provokation ist. Ich alter Säufer wirke dagegen wie ein zerknitterter Sack. Verdammt, wie kann eine Frau soviel schlucken, ohne eine Reaktion zu zeigen!
Er ging ihr entgegen, versuchte ein kurzes Bellen und sagte:
»Wladi begrüßt Frauchen …«
Jermila lachte. Sie hatte Bobos Leine mitgebracht und hielt sie jetzt hoch. Anassimow zuckte zusammen. Er streckte den Kopf vor und sagte:
»Wenn Sie Wladi anbinden wollen … er ist bereit. Er ist für alles bereit.«
»Die Leine ist für unartige Hunde. Ich zeige sie Ihnen nur zur Sicherheit.«
»Ich gehorche Ihnen aufs Wort.«
»Kommen Sie.«
Sie gingen zu Jermilas Auto, stiegen ein und sahen sich an. Anassimow atmete schwerer.
»Wie lange fahren wir?« fragte er.
»Drei Stunden.«
»So lange?«
»Mein Haus liegt in einer Wüstenoase …«
»Wüste …?«
»Ja. In einem Kibbuz. Er heißt ›Shalom‹.«
Kibbuz. Anassimow kaute an seiner Unterlippe. Für ihn war das Wort Kibbuz zu einem Reizwort geworden. Die Tage im Haus des MOSSAD hingen ihm noch in den Knochen. Die pausenlosen Verhöre, Tag und Nacht die gleichen Fragen, das heiße, karg eingerichtete Zimmer … er hatte sich vorgenommen, das Wort Kibbuz zu hassen. Und nun wohnte diese wundervolle Frau ausgerechnet in einem Kibbuz! Das Schicksal kann wirklich pervers sein.
»Wie kommen Sie dazu, ausgerechnet in einem Kibbuz zu wohnen?« fragte er.
»Die Stille … die Wüste … der Frieden. Darum heißt der Kibbuz auch ›Shalom‹. Das ist der Boden unserer Ahnen, das Land Abrahams. Aber das verstehen Sie als Russe nicht. Ich nehme an, Sie wurden gottlos erzogen. Fahren wir …«
Als sie Tel Aviv verlassen hatten und von dem blühenden Küstenstreifen weg ins Landesinnere fuhren und die Sandwüste erreichten, hatte Anassimow bereits seine linke Hand auf Jermilas Oberschenkel liegen. Daß sie ihn nicht abwehrte, deutete er dahingehend, daß es ihr nicht unangenehm war, von ihm berührt zu werden. Innerlich schwelgte er bereits bei dem Gedanken, ihren schlanken Körper in seinen Armen zu halten und ihr lustvolles Stöhnen zu hören und von ihren langen Beinen umklammert zu werden. Der Gedanke nahm so fest von ihm Besitz, daß er versucht war, sie aus dem Wagen zu zerren und gleich neben dem Auto in den heißen Wüstensand zu drücken. Das wäre etwas Neues für ihn gewesen – er hatte mit Frauen schon viele Situationen erlebt, aber im Wüstenstand hatte er es noch nicht getan.
Während der Fahrt durch die heiße Landschaft sprachen sie nur wenig miteinander. Anassimow linke Hand streichelte ab und zu Jermilas Oberschenkel, glitt höher und verhielt am Rand ihres Slips, weiter wagte er sich nicht. Er dachte an Loretta Dunkun und an ihre gemeine Reaktion, als alles vorbei gewesen war. Damit hatte ja alles angefangen, und niemals hätte irgend jemand das Plutonium entdeckt, wenn der Ausflug ins Bett der Kabine 017 nicht stattgefunden hätte. Bis zu dieser Stunde wußte Anassimow noch nicht, wie er Sybin das alles erklären sollte, wenn es überhaupt möglich war, den Verlust von zweihundert Gramm Plutonium als Unfall darzustellen. Würde ihn Sybin überhaupt anhören oder ihn gleich liquidieren? Was zählen da die Jahre der treuen Zusammenarbeit?! Er kannte die Gesetze des ›Konzerns‹ zu gut, er war selbst daran beteiligt gewesen, als man vier Verräter aus den eigenen Reihen bestrafen mußte und ihre Leichen in Säure auflöste.
Angst kroch in Anassimow hoch. Flüchten? Wohin? Mit den wenigen Dollars in der Tasche ein neues Leben anfangen? Wie kann man das? Wäre es möglich, für immer bei Jermila zu bleiben, wenn ihr erstes Zusammensein sie süchtig nach ihm werden ließ? Oder war es besser, dem MOSSAD alles zu sagen und sein Wissen zu verkaufen? Israel würde es sich etwas kosten lassen, die Hintergründe des Atomschmuggels zu erfahren … schließlich richtete sich der Bau einer islamischen Atombombe ausschließlich gegen Israel. Es war der am meisten gefährdete Staat. Oder war Amerika besser? Die CIA würde ihn mit offenen Armen aufnehmen und nicht versuchen, mit harten Verhörmethoden die Wahrheit aus ihm herauszupressen.
»Woran denken Sie?« fragte Jermila. Sie durchquerten gerade einen neuen Kibbuz. Eine Reihe von Häusern war noch nicht fertiggestellt. Die künftigen Bewohner, vor allem junge Leute, wohnten noch in Zelten.
»An die Zukunft«, antwortete Anassimow und streichelte wieder ihren Schenkel.
»Sie müssen doch ein Lebensziel haben, Wladi.«
»Ich hatte eines. Aber plötzlich sieht alles anders aus.«
»Erklären Sie mir das. Sie haben doch einen Beruf.«
»Ich habe Schlosser gelernt und besitze eine kleine Werkzeugfabrik.« Die Lüge ging ihm flott von den Lippen. »Aber sie steht vor der Pleite. Wir werden von den großen Konzernen gefressen. Ich befürchte, daß diese Reise meine letzte war. Am liebsten möchte ich hierbleiben.«
»Ausgerechnet in Israel?«
»Es heißt, hier hätte jeder eine Zukunft, wenn er fleißig ist, und man braucht Fachleute. Ich bin ein Fachmann, und ich kann arbeiten wie ein Elefant.«
»Aber Sie haben doch schon Ihr Ticket nach Moskau.«
»Papier! Das kann man zerreißen.« Anassimow seufzte. »Wenn ich sehe, welch ein glückliches, schönes, friedvolles Leben Sie führen, Jermila, sorglos und erfolgreich. Ein schönes Haus in einer Oase …«
Jermila warf einen kurzen Blick zur Seite. Du Heuchler, jetzt kommt die Mitleidstour. Jetzt hoffst du auf die Mutterinstinkte der Frauen. Und transportierst Plutonium zur Vernichtung meiner Heimat!
»Wissen Sie, daß noch nie ein Mann mein Haus betreten hat?«
»Wirklich?«
»Sie sind der erste.«
»Ausgerechnet ich? Jermila, Sie machen mich glücklich.«
»Männer bringen Unruhe ins Haus. Ich aber will in der Stille leben.«
»Mit dem Wind und den Wolken.«
»So ist es.«
»Und ich bringe keine Unruhe in Ihr Haus?«
»Nein.« Sie lachte plötzlich laut auf. »Sie sind Wladi, der Hund!«
Nach drei Stunden Fahrt durch Wüste und staubige Hitze erreichten Sie den Kibbuz ›Shalom‹. Es war ein großes Dorf, umgeben von Feldern und Anpflanzungen, fruchtbarer Boden, der Wüste durch künstliche Bewässerung abgerungen, und die weißen Häuser wirkten gepflegt mit ihren Obst- und Gemüsegärten. Sie fuhren an dem eigenen Elektrowerk vorbei, an drei Pumpstationen und einer Kaserne, vor der ein Posten Wache hielt. Das gefiel Anassimow weniger gut.
»Soldaten!« sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich dachte, Sie wollten hier in Frieden leben?«
»Hier herrscht Frieden … aber der Frieden muß gesichert werden. Immer wieder überfallen islamische Terrorgruppen die Kibbuze oder die Zufahrtsstraßen. Das Fürchterlichste aber wäre, wenn diese Fanatiker in den Besitz von Atomwaffen gelangten. Finden Sie nicht auch?«
Sie sah ihn dabei direkt an und suchte in seinem Gesicht nach einer Reaktion. Anassimow nickte mehrmals. »Das wäre eine Sauerei!«
»Immer wieder hört man von Atomschmugglern. Warum wollen sie den Tod für Israel verkaufen?«
»Das Geld, Jermila. Das verfluchte Geld! Das allein ist es. Millionen von Dollar hängen daran.«
»Und an die Millionen Menschen, die dabei sterben können, denkt keiner?«
»Nein. Für diese Saukerle ist es ein Geschäft wie jedes andere. Wenn ich Leder oder Felle verkaufe, müssen vorher erst die Rinder und Schafe dran glauben … verkaufe ich Atomwaffen, kümmere ich mich nicht darum, was man damit macht.«
»Ich möchte einmal einen solchen Schmuggler sehen.« Jermila hielt vor einem kleinen Haus, dessen Mauern bunt bemalt waren. Es war ein kubischer Bau, wie ein großer Würfel, den ein Riese in die Wüste geworfen hatte. An den Außenwänden kein Fenster, nur eine blaugestrichene, hölzerne, dicke Tür. Das Leben fand im Innenhof statt, einem Atrium mit einem kleinen Brunnen … der Gipfel des Luxus in der Wüste. »Ich würde ihm ins Gesicht schlagen!«
»Ich nicht!« Anassimow tätschelte erneut ihren Oberschenkel. »Ich würde ihn ohne Zögern erschießen …«
Jermila stieg schnell aus. Ekel erfaßte sie und eine grenzenlose Wut. Ihr Schenkel, den seine Hand gestreichelt hatte, schien zu brennen. Du elender Schuft, dachte sie. Mit zweihundert Gramm bestem Plutonium reist du herum und würdest jeden Schmuggler erschießen. Ich möchte es tun, hörst du, hier auf der Stelle, aber ich darf nicht. Ich muß mich vor dir ausziehen, dich im Bett auf meinem Körper dulden, um aus dir herauszuholen, was du weißt. Ich muß eine Hure sein, um meinem Vaterland zu dienen. Wißt ihr, was ihr da von mir verlangt? Mit diesem Mann zu schlafen, verätzt meinen Körper. Das kann man nicht mehr unter der Dusche abspülen, das bleibt in die Haut eingebrannt. Ich werde nicht mehr der Mensch sein, der ich vorher war.
Warum erlaubt ihr mir nur nicht, ihn zu töten …
»Wir sind da«, sagte sie, da Anassimow im Wagen sitzen blieb.
»Ein lustiges Haus.« Er stieg aus und bewunderte die Wandmalereien. »Verrückt, aber schön.«
»Ich habe es selbst bemalt.«
»Wirklich? Dann will ich es ein Kunstwerk nennen.«
Sie ging zu der blauen Tür, schloß sie auf und winkte. Anassimow beeilte sich, ihr zu folgen. Sie betraten einen fast leeren Vorraum, an dessen Wand als einziger Schmuck ein großes Gemälde des alten Jerusalem hing. Aber die hintere Wand bestand aus einer hohen Glastür, die den Blick freigab auf einen säulengestützten Bogengang und den Innenhof, ausgestattet mit blühenden Büschen, kleinen Palmen und dem kleinen, plätschernden Brunnen.
»Bezaubernd!« rief Anassimow. »Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Sie sind eine glückliche Frau, Jermila. So wie Sie leben … davon träume ich. Verdammt, ich möchte hierbleiben! Ich möchte nicht wieder zurück nach Moskau.«
Das glaube ich, dachte sie. In Moskau wirst du nicht mehr lange leben. Die zweihundert Gramm Plutonium, die du verloren hast, sind dein Todesurteil. Wer auch immer hinter dem Schmuggel steckt – er wird keine Gnade kennen. Wer in diesem Geschäft Millionen von Dollar in den Sand setzt, hat die Berechtigung zu leben verloren.
Sie gingen unter dem Bogengang zu einem Zimmer, dessen Glaswand Jermila zur Seite schob: der Wohnraum. Rattanmöbel mit bunten Chintzbezügen, ein großer gläserner Tisch, zwei Bauernschränke aus rötlichem Holz, auf dem Kachelboden ein hellgrüner Wollteppich, wie die Nomaden ihn knüpfen. Und in der Ecke eine Bar mit Gläsern und einer Flaschenbatterie.
Anassimows Augen begannen zu glänzen. »Hier fühle ich mich wohl!« rief er und ging sofort zur Bar. »Sogar einen Wodka haben Sie! Jermila, ich habe gesehen, daß Sie gern trinken und eine Menge vertragen können. Das macht sie mir doppelt sympathisch.«
Er hätte anders reagiert, wenn er gewußt hätte, daß eine Stunde vorher Nathan Rishon all diese Flaschen aus Tel Aviv hierhergebracht und stilvoll aufgebaut hatte. Auch für die Kühlung hatte er gesorgt und dabei einen Fehler begangen: Er hatte einen Kübel mit Eiswürfeln bereitgestellt. Wie kommen Eiswürfel in ein tagelang nicht bewohntes Haus? Aber Anassimow merkte es nicht … er sah die Flaschen, dachte an die bevorstehenden Stunden und verlor seine Vorsicht in der Vorfreude. Es war wie bei vielen Männern in einer solchen Situation: Der Verstand schien sich automatisch abzuschalten.
Als Anassimow zu der Wodkaflasche griff, hielt Jermila seine Hand fest.
»Darf ich das übernehmen? Ich bin die Gastgeberin. Wodka? Bei der Hitze. Wäre da ein Longdrink nicht besser?«
»Ich trinke alles, was auch Sie trinken.« Anassimow ging zu einem der Rattansessel und ließ sich hineinfallen. Er streckte die Beine weit von sich und fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Er sah Jermila zu, wie sie den Drink mixte, ohne wahrzunehmen, was sie da zusammenbraute und daß es zwei verschiedene Gläser waren. Die Fahrt hatte ihn etwas ermüdet, dazu kam, daß er noch unter den Nachwirkungen der höllischen Cocktails litt. Und wieder bewunderte er Jermila, die so frisch und fröhlich aussah, als habe sie im Morgentau gebadet.
»Zum Wohle und darauf, daß Sie der erste Mann in diesen Mauern sind!« sagte sie und reichte Anassimow sein Glas.
Er nahm es, hob es hoch und schrie:
»Na sdorowje! Das ist russisch und heißt ›Auf die Gesundheit‹. Wie sagt man bei uns: Schmeckt dir der Wodka nicht mehr, dann gehe zum Sargtischler! Mir schmeckt er immer. Jermila, es ist eine alte Weisheit: Der Trunkene kennt keine Gefahr! Machen Sie es uns Russen nach … verachten Sie die Gefahr!«
Sie stießen miteinander an, und während Jermila ihr Glas leerte, rollte Anassimow mit den Augen, trank sein Glas ebenfalls leer und seufzte dann laut auf.
»Der hat es in sich!« sagte er und hauchte in die Luft. »Dabei bleiben wir.«
Jermila stellte ihr Glas ab und blickte auf Anassimow hinunter.
»Ich gehe …«
»Gehen? Wohin?«
»Ins Bad, unter die Dusche. Wenn ich fertig bin, können Sie sich duschen. Wir sind beide voller Staub.«
»Ein genialer Gedanke.«
Anassimow blickte ihr nach, als sie das Zimmer verließ. Sie duscht sich, und wenn sie wieder herauskommt, ich wette, alter Junge, dann hat sie nur einen Bademantel an und nichts darunter. Genauso werde ich es auch machen. Was dann folgt, ist so sicher, wie eins plus eins zwei ist. Wladimir, stärke dich für die Schlacht.
Er ging zur Bar, griff nach der Wodkaflasche und trank ein paar große Schlucke, ohne sich zu wundern, daß die Flasche eisgekühlt war. Er genoß das angenehme Gefühl der Leichtigkeit, das in ihm wuchs, dieses Gefühl, auf Wolken zu schweben, das ihn immer überfiel, wenn er eine gewisse Menge Wodka getrunken hatte. Die Welt um ihn herum wurde schwerelos. Hinzu kam ein ihm fremdes Gefühl – er fühlte sich euphorisch, er hätte alles, was er sah, küssen können: die Flaschen, die Sessel, die Schränke, den gläsernen Tisch, einfach alles. Er begann, alle Gegenstände zu lieben, als seien sie Leiber, Arme, Beine, Köpfe … es mußte Jermilas Longdrink sein, der die Wirklichkeit so verzauberte.
Anassimow starrte Jermila aus flackernden Augen an, als sie aus dem Bad kam. Wie er gedacht hatte, so war es: Sie hatte einen weißen Bademantel an und nichts darunter.
»Jetzt sind Sie dran, Anassimow!« hörte er ihre Stimme.
»Ich komme! Ich fliege! O Jermila, Sie sind ein Wunder …«
Auch unter der Dusche verlor sich nicht das Gefühl, alles warte auf seine Umarmung. Im Gegenteil, unter den warmen und dann kalten Strahlen der Dusche fühlte sich Anassimow wie eine griechische Sagengestalt, die durch die Welt zog, um alles und jeden zu beglücken.
»Hier geb ich dir ein Fläschchen mit«, hatte Nathan Rishon zu Jermila gesagt, bevor er ihr vorausgefahren war. »Der Inhalt ist farb- und geschmacklos. Misch ihm das in die Getränke … es verändert seinen Charakter. Es ist eine Art Wahrheitsdroge; wir haben es im Labor getestet und das Ergebnis war sensationell. Samuel Bier hat es selbst an sich erprobt. Bier ist der Leiter des Labors. Ein mutiger Mann … denn nach Einnahme von zehn Tropfen der neuen Droge hat er gestanden, im letzten Jahr zwei Geliebte gehabt zu haben, darunter die Frau eines Mitarbeiters. Gab das einen Aufstand! Die Droge enthemmt einen Menschen total. Wenn Anassimow das schluckt, würde er alles erzählen, was er weiß. Aber Vorsicht, zuviel von dem Zeug, und ein Mensch kann zum reißenden Tier werden! Fang vorsichtig mit zehn Tropfen an.«
Anassimow kam aus dem Bad zurück. Den an einem Haken hängenden Bademantel ignorierte er. Nackt rannte er ins Wohnzimmer und sah Jermila auf der Couch liegen. Sie schrak hoch, ihr Bademantel verrutschte und gab ihre Brüste frei. Sie starrte Anassimow an und spürte, wie sich ihr der Hals zuzog. Noch nie hatte sie eine so ausgeprägte und starke Männlichkeit wie bei ihm gesehen … doch es war ein Anblick, der keinerlei Lust erzeugte, sondern nur Schrecken und Angst. Wie ein Stier rannte Anassimow auf sie zu und blieb vor ihr stehen.
»Jermila …« Es war ein heiseres Keuchen, das von seinen Lippen kam. »Ich bin verrückt geworden.« Dann sank er vor ihr auf die Knie und drückte sein Gesicht zwischen ihre Schenkel. Jermila erstarrte.
Fünfzehn Tropfen waren doch zuviel gewesen – zehn hätten genügt. So, wie es Rishon ihr geraten hatte.
Aber Jermilas Angst erwies sich als unnötig: Später, nach ausgiebigem Streicheln und vielen Küssen, lagen sie zusammen auf dem dicken Wollteppich vor der Couch, und Anassimow hatte die Augen geschlossen, umklammerte ihre Brüste und war glücklich.
»Ich habe dich belogen …«, sagte er mit einer Stimme, die so schwebte, wie er sich fühlte. »Ich bin kein Schlosser. Ich bin ein Freund …«
»Von wem?« Jermila preßte die Lippen zusammen, als er den Druck seiner Hände auf ihren Brüsten verstärkte.
»Von einem der mächtigsten Männer Rußlands.«
»Erzähle …«
Sein umnebeltes Gehirn machte einen Sprung. »Der MOSSAD besteht nur aus Idioten!«
»Ist das wahr?«
»Der beste Geheimdienst der Welt. Zum Lachen! Ich habe sie hereingelegt. Ich habe sie getäuscht. Sie haben mir alles geglaubt, was ich gesagt habe. Alles nur Idioten!«
»Wer ist dein bester Freund?« fragte Jermila. »Nenn mir seinen Namen.«
»Seinen Namen nennt man nicht, und wenn, dann nur mit Ehrfurcht. Er ist dabei, einen Großhandel mit atomarem Material aufzubauen. Überall sitzen seine Mitarbeiter, in allen Nuklearstädten Rußlands, in allen Reaktorbetrieben, in allen Atomforschungsinstituten. Wenn jemand sagt: Ich brauche zwei Kilo Uran oder zwei Kilo Plutonium … er liefert es. Er kann alles besorgen. Und die höchsten Herren sind seine Freunde, so kann ihn keiner angreifen … alle beschützen ihn, denn alle verdienen an ihm. Ein heimlicher Herrscher. Und ich bin auch sein Freund …«
»Wie heißt er? Lebt er in Moskau?«
»Ja, in Moskau … und überall.« Anassimow legte seinen Kopf auf Jermilas Bauch. Er küßte ihren Nabel, glitt dann tiefer. »Er könnte mit seinen Atomen die Welt beherrschen.«
»Sein Name, Wladi!«
Ein letzter Widerstand in seinem Hirn hinderte Anassimow daran, den Namen auszusprechen. »Ein guter und gefährlicher Freund. Elegant wie aus einem Modeblatt. Und die Finger voller Ringe. An jedem ein Ring. Schade, daß er nur neun Finger hat.«
»Neun Finger?«
»An der linken Hand fehlt ihm ein Finger. Ein Geburtsfehler. Wer seine linke Hand länger als drei Sekunden ansieht, kann Prügel bekommen. Aber das hat noch keiner getan. Jeder blickt daran vorbei. So mächtig ist er …«
»Und er ist der Kopf der Plutoniummafia?«
»Ohne ihn läuft nichts. Nur er kommt an Plutonium heran. Vielleicht noch einige Generäle im Norden Rußlands oder in der Ukraine, in Wladiwostok oder Murmansk, wo die Atom-U-Boote verschrottet werden, aber auch sie bekommt er in seine Hand. Er kann sie alle kaufen. Geld spielt keine Rolle.«
»Sein Name, Wladi. Sein Name!« Jermila schob seinen Kopf von ihrer Scham weg. Anassimow atmete schwer, als bekomme er kaum noch Luft. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte er nach Sauerstoff.
»Igor Germanowitsch …«
»Und weiter?«
Anassimow verdrehte plötzlich die Augen, umklammerte Jermilas Leib, begann zu zittern und fiel dann zur Seite. Er lag auf dem Rücken, völlig erschlafft, hinweggetragen aus dieser Welt, als habe er Morphium genommen.
Diese verdammten fünfzehn Tropfen … fünf zuviel.
Jermila erhob sich, stellte das kleine Tonband ab, das hinter einem Couchfuß lag, und ging zum Fenster. Sie winkte kurz hinaus. Alles in Ordnung. Zufrieden entfernte sich Nathan Rishon. In dem kurzen Moment ihres Winkens sah er, daß Jermila nackt war, und das tat ihm körperlich weh. Jetzt sollte man ihn umbringen. Jetzt, wo er alles gesagt hat.
Nachdem sich Jermila überzeugt hatte, daß Anassimow wie narkotisiert schlief, zog sie sich an und verließ das Haus. Rishon erwartete sie in einem Siedlungshaus, nahm das Tonband an sich und fuhr sofort nach Tel Aviv zurück. Bevor er abfuhr, fragte er noch:
»War's schlimm?«
»Nein. Zum letzten ist es nicht gekommen. Ich müßte sonst genäht werden.«
»Solch ein Bulle?«
»Unvorstellbar.«
»Das Glück ist bei den Tapferen.« Rishon grinste. »Du glaubst nicht, wie mich das beruhigt. Paß weiter auf dich auf.«
»Er wird bis morgen durchschlafen … und dann ist alles vorbei.«
Noch in der Nacht wurde das Tonband ausgewertet. Bei allen Geheimdiensten in England, Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich und in der Schweiz, bei der Nato und in Spanien, den skandinavischen Staaten und der CIA tickten die Fernschreiber.
Höchste Gemeinstufe. Neue Erkenntnisse:
a) Alle frei verkäufliche Nuklearware stammt aus den GUS-Staaten und anderen ehemaligen Sowjetstaaten.
b) Der Nuklearhandel wird von einem Syndikat in Rußland geleitet.
c) Der Kopf des Syndikats hat die Vornamen Igor Germanowitsch, Nachname noch nicht bekannt.
d) Betreffender Person fehlt an der linken Hand ein Finger (!).
e) Das Syndikat kann jede Menge Plutonium 239 oder Uran 235 beschaffen.
f) Höchste Kreise, u.a. Generäle und Leiter von Instituten, sind an dem Handel beteiligt.
g) Hauptabnehmer sind islamische Staaten.
h) Verbindungen zu privaten Terrorgruppen unwahrscheinlich, da Material zu teuer. Aber Gefahr bei staatlich unterstützten Fanatikergruppen.
Im Hauptquartier der CIA hieb Colonel Curley mit der Faust auf das Faxgerät. »Der MOSSAD! Verdammt noch mal, Jungs … warum ist er besser als wir? Wir sind doch keine blinden Maulwürfe! Aber das verspreche ich euch: Ich werde eure fetten Ärsche in Schwung bringen!«
In Wiesbaden sagte am nächsten Morgen Oberrat Wallner bei der Morgenbesprechung:
»Was uns der MOSSAD da faxt, ist zu neunzig Prozent ein alter Hut. Der BND hat uns das mitgeteilt. Interessant ist nur die Information von dem Mann mit den neun Fingern. Igor Germanowitsch. Ausgerechnet Germanowitsch. German … das ist wieder was für die britische Boulevardpresse. Und er soll der Kopf der Atommafia sein! So einen Burschen muß doch der KGB im Handumdrehen finden. Jetzt wäre es an der Zeit, daß der BND mit seinen russischen Kollegen einmal Tacheles redet.«
»Was kommt dabei heraus?« Kommissar Berger schüttelte den Kopf. »Solange der Russe bestreitet, daß auch nur ein Gramm Plutonium aus seinen Werken stammt, ist der Vorhang zu. Wir werden mit dem Atomschmuggel leben müssen … heute, morgen und in den nächsten Jahren.«
»So Gott will. Amen.« Wallner wedelte mit dem Fax. »Wer fängt den Mann, dem ein Finger fehlt …?«
Anassimow wirkte elend und unglücklich, als man ihm in Tel Aviv die Flugtickets aushändigte.
Am Morgen nach dem Tag im Kibbuz war er wie willenlos gewesen und hatte die Rückfahrt wie im Halbschlaf erlebt. Ich kann nichts mehr vertragen! Das war eine für ihn alarmierende Feststellung. Ein paar Wodkas hauen mich um, lähmen mein Gehirn, liegen wie Bleiplatten in meinem Kopf. Ich weiß nicht mehr, was alles geschehen ist, ob ich mit Jermila geschlafen habe, und fragen will ich sie nicht, das wäre eine Blamage. Ist das das Schicksal eines alten Säufers: das Aussetzen der Erinnerung? Wladimir Leonidowitsch, machen dich jetzt schon ein paar Wodkas zum Wrack?
Jermila war, wie immer, frisch und voller Lebenslust. Sie trällerte beim Frühstück ein Liedchen, lief in engen Shorts und einem knappen Baumwollhemd herum, auf das ein bunter Papagei gedruckt war. Sie sah hinreißend schön aus und brachte Anassimow in arge Bedrängnis. Hab ich oder nicht … Immer die gleiche Frage. Jermila jedenfalls tat so, als seien sie jetzt gut bekannt.
Nach einer heißen Fahrt setzte sie Anassimow vor dem Hotel König David ab. »Alles Gute für die Zukunft«, sagte sie. Die Hand gab sie ihm nicht.
»Sehen wir uns wieder, Jermila?« Anassimows Stimme klang sehr dünn.
»Warum?«
»Ich liebe dich …« Seine Blicke flehten sie an. »Und du?«
»Solche Fragen mag ich nicht. Steig bitte aus.«
»Warum hast du mich dann in den Kibbuz gebracht? In dein Haus?«
»Eine dumme Laune, nimm es nicht zu ernst.«
»Habe ich mich danebenbenommen?«
»Nein, du hast dich völlig korrekt benommen. Steig jetzt bitte aus.«
Er öffnete die Tür, blieb aber daneben stehen, obwohl Jermila wieder den Motor anließ. »Ich muß dich wiedersehen. Daß ich in Israel bleiben möchte … das war keine dumme Rede, kein besoffener Spruch. Ich will es wirklich.«
»Darüber reden wir noch.« Jermila sagte es, um endlich von ihm fortzukommen. Sie wußte, daß er in zwei Stunden seine Flugtickets überreicht bekam und den Befehl der Polizei, endgültig und für immer Israel zu verlassen.
Sie zog die Tür zu, winkte ihm kurz und fuhr schnell davon. Anassimow starrte dem Wagen nach. Darüber reden wir noch … das heißt, wir sehen uns wieder. Danke, Jermila.
In seinem Appartement warf er sich auf das Bett und versuchte, sich an die vergangene Nacht zu erinnern. Er kam bis zu dem Punkt, als Jermila mit dem weißen Bademantel vom Duschen kam … dann hörte die Erinnerung auf. Was weiter geschehen war, blieb im dunkeln. Ein völliger Erinnerungsverlust. Für Anassimow eine niederdrückende Erkenntnis.
Er schrak auf, als ohne anzuklopfen zwei Männer eintraten. Einen von ihnen kannte er. Zvi Silberstein, der Kerl, der ihn im Verhör zermalmen wollte, aber sich schließlich sogar entschuldigt hatte. Einer der MOSSAD-Idioten, wie Anassimow sie nannte.
Er blieb auf dem Bett liegen und zog nur die Beine an.
»Was wollen Sie denn hier?« fragte er angriffslustig.
»Haben Sie vergessen, daß Sie noch die Tickets bekommen? Hier sind sie.«
Silberstein warf ihm die Flugscheine zu. Sie landeten auf Anassimows Brust.
»Ich will nicht fliegen«, sagte er.
»Sie haben hier gar nichts zu wollen.«
»Ich bleibe in Israel.«
»Das bestimmen wir. Sie fliegen.«
»Und wenn nicht?«
»Dann wechseln Sie von einem Hotelzimmer in eine Zelle, bis Sie vernünftig geworden sind.«
»Ich werde nach Israel zurückkehren.«
»Sie werden kein Visum bekommen.«
»Dann reise ich illegal ein.«
»Und landen wieder in der Zelle.« Silberstein blickte Anassimow mit kalten Augen an. »Neben mir, das ist Herr Samuel Kozkow. Er wird Sie zum Flieger begleiten. Sie fliegen zuerst nach Alexandria und von dort nach Tripolis.«
»Was soll ich in Libyen?«
»So ist uns befohlen worden.«
»Ihnen … aber nicht mir. Ich kann von Alexandria aus fliegen, wohin ich will. Zuerst nach Kairo, dann nach Europa, vielleicht nach Rom, und von Rom zurück nach Tel Aviv.«
»Das haben wir verhindert. In Alexandria nimmt Sie einer unserer Männer in Empfang und setzt Sie in die Maschine nach Tripolis.«
»Und wenn ich am Flughafen schreie: ›Das ist einer vom MOSSAD! Nehmt ihn fest. Er ist ein Spion! Er ist ein Spion!‹ Ihr Mann hat keine Chance.«
»Sie auch nicht! Ihr erstes Wort würde auch Ihr letztes sein. Aber Sie wollen doch weiterleben.«
»Wann fliege ich von Tel Aviv ab?«
»Morgen um neun Uhr fünfzehn.«
»Dann bestellen Sie einen Träger. Ich werde stockbesoffen und nicht transportfähig sein.«
Silberstein verzog den Mund. Es sah aus, als wolle er Anassimow anspucken.
»Glauben Sie mir: Wir bekommen Sie in den Flieger. Darin haben wir Erfahrung.« Er zögerte, aber dann sagte er doch noch zum Abschied: »Ich wünsche Ihnen kein weiteres gutes Leben. Sie sind für mich ein Massenmörder, ein skrupelloser Vernichter, der tausendfachen Tod verkauft. Ich sollte Sie töten!«
»Aber Sie dürfen es nicht.« Anassimow lachte Silberstein in das versteinerte Gesicht. »Ich bin ein harmloser Schiffspassagier, bei dem Plutonium gefunden wurde, von dem er nicht weiß, wie es in seinen Koffer gelangt ist, und das regt Sie auf. Ich habe Verständnis dafür … der große, berühmte MOSSAD muß Erfolge vorweisen. Irrtümer kratzen am Image. Es tut mir leid, Ihnen als Opfer nicht dienen zu können.«
»Lachen Sie nur, Anassimow. Wir lachen später … und lauter.«
Silberstein und Kozkow verließen das Appartement und warfen hinter sich die Tür zu.
»Wenn er wüßte, was wir wissen«, sagte Silberstein auf dem Flur, als sie auf den Lift warteten. »Er würde sich in die Hose machen.«
»Oder sich selbst umbringen.«
»Dazu ist er zu feige. Sich selbst die Pistole an die Schläfe zu setzen, dazu gehört Mut oder Verzweiflung. Beides kennt er nicht.«
Um neun Uhr fünfzehn am nächsten Morgen war Anassimow wirklich volltrunken, als Kozkow ihn abholte. Mit Hilfe des Chauffeurs schleppten sie ihn in den Wagen und am Flughafen in das Flugzeug. Der Flugkapitän war bereits unterrichtet und verstaute Anassimow auf den hintersten Sitzen. Die Maschine war halb leer so hatte Anassimow genügend Platz, um sich auf drei Sitzen auszustrecken.
»Nur kotzen darf er nicht«, sagte der Flugkapitän zu Kozkow. »Dann sperre ich ihn in der Toilette ein.«
Dies war aber nicht nötig. Kurz vor Alexandria wachte Anassimow auf und wusch sich auf der Toilette das Gesicht. Brav setzte er sich auf einen Sitz und nickte der Stewardeß zu.
»Ein Bier!« sagte er. »Mir brennt der Hals.«
Und auch die zweite Station klappte: Ein unscheinbarer Mann in einem Leinenanzug nahm ihn in Alexandria in Empfang und ging mit ihm in das Flughafenrestaurant. Er stellte sich als Jabal Mubarraz vor und sah auch aus wie ein Araber.
»Sie sind also ein Agent!« sagte Anassimow zu ihm. »Eine Made im Speck, eine Laus im Haar.«
»Ich diene meinem Vaterland«, antwortete Mubarraz, ohne beleidigt zu sein. »Und was sind Sie?« Er rümpfte die Nase, als ströme Anassimow einen elenden Gestank aus. »Sie sind der größte Mistkerl unter der Sonne.«
Am Abend vorher teilte der MOSSAD in einem zweiten Fax – aber nur der CIA – mit, daß der Plutoniumschmuggler Anassimow am nächsten Morgen nach Libyen abgeschoben würde. Eine genaue Beschreibung und ein Funkbild folgten. Colonel Curley pfiff durch die Zähne und reagierte sofort. Sein Telefonanruf holte Captain Houseman, der jetzt Djamil Houssein hieß, aus dem Bett.
»Bill, Sie bekommen Arbeit!« sagte Curley. »Morgen trifft mit einer Maschine aus Alexandria ein russischer Atomkurier in Tripolis ein. Wladimir Leonidowitsch Anassimow. Groß, breit, markantes Gesicht mit Hakennase. Ist nicht zu übersehen. Kümmern Sie sich um ihn. Er ist ein Offizier der russischen Mafia und kennt alle maßgebenden Leute des Syndikats, vor allem den ›Paten von Moskau‹ … ein Mann, dem an der linken Hand ein Finger fehlt. Dessen Namen kennen wir noch nicht. Bill, es ist Ihre Aufgabe, Anassimow zum Sprechen zu bringen. Vielleicht kann Ihnen Abdul Daraj dabei helfen; ich glaube, er hat weniger Skrupel als Sie.«
Das war deutlich genug. Anassimows Schicksal war nun vorherbestimmt.
In Alexandria brachte Mubarraz mit einem gefälschten Sonderausweis Anassimow bis an das Flugzeug und war erst zufrieden, als sich die Maschine in die Luft erhob. Er blickte ihr nach und hob wie zum Abschied die Hand. Er ahnte, daß Anassimow Rußland nie wiedersehen würde.
»Da ist er!« sagte Houseman zu Daraj, als sie die unverwechselbare Gestalt Anassimows in der Reihe vor der Paßkontrolle entdeckten. »Es wäre schlecht für ihn, wenn er Widerstand leistet.«
Anassimow passierte die Paßkontrolle ohne Schwierigkeiten. Er hatte ein Dreitagevisum, natürlich gefälscht, und als Russe gehörte er zu den Freunden Libyens. Es gab für ihn keine lange Formalitäten.
In der Flughafenhalle sah er sich um und suchte ein Informationsbüro, das ihm ein Hotelzimmer vermitteln konnte. Die Reise nach Libyen war ein Witz und der MOSSAD wirklich ein Idiotenverein … mit dem nächstmöglichen Flugzeug wollte er Tripolis wieder verlassen. Aber wohin fliegen? Auf keinen Fall nach Moskau, in die Arme von Sybin oder seiner Henker. Denn daß der Verlust von zweihundert Gramm Plutonium sein Todesurteil bedeutete, hatte Anassimow begriffen. Es gab dafür keinerlei Entschuldigung, und daß es ausgerechnet in israelische Hände gelangt war, potenzierte nur noch seine Schuld. Die Welt ist groß und schön … aber ohne Geld war sie ein Sumpf, der jeden vogelfreien Menschen verschluckte.
Während des Fluges hatte Anassimow über einen Ausweg nachgedacht: Wie wäre es, wenn ich mein Wissen verkaufe? Genügend Dollar für ein neues Leben … das könnte eine Information, wie ich sie anzubieten habe, wert sein. Aber wer wird sie mir abnehmen! Deutschland, die USA, Frankreich? Am meisten betroffen war Deutschland, das wußte er von Sybin. Durch Deutschland lief der wichtigste Transportweg, in Berlin lebten die Kontaktleute zu den Abnehmern, die auch die Millionensummen über Schweizer Banken kassierten. Das waren wichtige Hinweise … aber von Deutschland würde er nie die Summe bekommen, die er für ein neues Leben brauchte. Auf eine solche Erpressung ließ sich keine deutsche Behörde ein.
Wohin, verflucht noch mal, sollte er fliegen?
In die USA? Amerika war am ehesten bereit, auf diesen Handel einzugehen.
Anassimow beschloß, in Tripolis in aller Ruhe darüber nachzudenken. Drei Tage hatte er noch Zeit, dann mußte seine Entscheidung gefallen sein.
Er wollte gerade einen Flughafenangestellten anhalten, um ihn zu fragen, wo die Hotelvermittlung sei, als ihn eine Hand am Rücken berührte. Anassimow fuhr herum und blickte in das Gesicht von zwei Orientalen in der typischen arabischen Landestracht. Houseman-Houssein und Abdul Daraj lächelten ihn freundlich an.
»Sie sind Herr Anassimow?« fragte Houssein.
»Ja!« Anassimow starrte sie verwundert an. »Woher kennen Sie mich?«
»Es freut uns, daß Sie wohlbehalten in Tripolis gelandet sind.«
»Dafür haben Sie ja gesorgt …«
»Wir?«
»Sie sind doch vom MOSSAD!«
»Da müssen Sie uns verwechseln.« Daraj schüttelte seinen Kopf. »Wer ist MOSSAD?«
»Woher kennen Sie meinen Namen? Woher wissen Sie, daß ich heute in Tripolis lande?« Anassimow spürte ein alarmierendes Mißtrauen. »Wer sind Sie?«
»Zwei Freunde von Ihnen.«
»Zum Teufel, ich habe Sie noch nie gesehen! Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Bitte, beruhigen Sie sich, Wladimir Leonidowitsch. Die Leute werden schon aufmerksam.« Houssein trat näher an ihn heran. »Wir möchten Sie einladen, mit uns zu kommen.«
»Nein!« Anassimow fühlte, wie ein Schauder seinen Körper ergriff. Der KGB! Sie sind vom KGB. Die Genossen sind überall, warum nicht auch in Libyen? Sybin hatte es durch seine Beziehungen erreicht, die Verfolgung aufzunehmen. Aber woher wußte er überhaupt, daß ich in Tripolis lande? Ich habe die Israelis unterschätzt … sie haben mich abgeschoben in die Hände des russischen Geheimdienstes. »Ich komme nicht mit! Erst sagen Sie mir, wer Sie sind.«
»Ich bin Djamil Houssein«, sagte Houseman, »und das hier ist Abdul Daraj. Sind Sie jetzt klüger?«
Anassimow traf der Spott wie ein Faustschlag. Er blickte sich verzweifelt um, sah zwei Polizisten mit Maschinenpistolen durch die Halle patrouillieren, und atmete auf.
»Verschwinden Sie!« sagte er grob. »Dort ist Polizei. Ich werde um Hilfe rufen.«
»Versuchen Sie es.« Daraj grinste verhalten. »Sehen Sie mich mal genau an, Anassimow. Nein, nicht das Gesicht … tiefer … tiefer …«
Anassimows Blick glitt an Darajs Djellabah entlang, und plötzlich erkannte er, daß sich der Lauf einer Waffe auf ihn richtete, genau auf seinen Magen. Unter dem Stoff war die Zielrichtung genau zu erkennen.
»Wenn Sie mich erschießen, wird die Polizei auch Sie töten!« sagte er heiser vor Angst.
»Das möchte ich bezweifeln. Ich warte hier auf einen guten Bekannten, da rempelt mich jemand von hinten an und will mir meine Handtasche entreißen. Es war Notwehr – es wird eine Untersuchung geben. Mehr nicht. Einem Libyer glaubt man mehr als einem toten Russen … das sehen Sie doch ein!«
Dieses Argument überzeugte Anassimow. »Was will der KGB von mir?«
»Was ist KGB?«
»Sie können mich nicht täuschen. Ich kenne Ihre Methoden zu gut. Sie haben den Befehl, mich zu liquidieren. Tun Sie es hier vor aller Augen. Ich rühre mich nicht von der Stelle!«
Das klang mutig, aber für Anassimow war es die letzte Möglichkeit, sein Leben zu retten.
»Ich habe mich getäuscht –«, sagte Houssein. »Ich habe Ihnen etwas mehr Intelligenz zugetraut, aber Sie sind ein dummer Mensch. Was faseln Sie da von einem KGB? Wer will Sie liquidieren, wie Sie es ausdrücken? Im Gegenteil, wir sind froh, daß Sie leben. Wir warten schon lange auf Sie. Aber wir wußten nicht, daß Sie einen Umweg über Alexandria nehmen, und dann auch noch mit einem Flugzeug. Es hieß immer, Sie kommen mit einem Schiff. Erst heute haben wir erfahren, daß Sie umdisponiert haben.«
Anassimow wurde unsicher. »Wer hat Sie informiert? Wer sind Sie wirklich?«
»Erlauben Sie, daß wir lächeln. Sie haben doch eine Probe bei sich. Zweihundert Gramm Plutonium. In Alexandria sollten sie das Kästchen abliefern. Statt dessen landen Sie in Tripolis. Warum?«
Anassimow fiel es schwer, zu begreifen, was die beiden Männer andeuteten. »Sie … Sie sollten mich in Alexandria erwarten?«
»Endlich begreifen Sie!«
»Sie sind die Kontaktpersonen?«
»Ihre Gedanken ordnen sich wieder …«
»Und warum bedroht mich dann Ihr Freund mir einer Waffe?«
»Ein natürliches Mißtrauen, Herr Anassimow. Bei unserem Geschäft kann man nicht vorsichtig genug sein.« Houssein zeigte hinüber zum Kofferband, auf dem jetzt das Gepäck anrollte. »Kommen Sie, ich helfe ihnen, Ihre Koffer zu holen, und dann fahren wir zu mir, um alles Weitere zu regeln. Zu Ihrer endgültigen Beruhigung: Wir haben den vereinbarten Betrag in Dollars besorgt. Er liegt bei mir …«
Anassimow spürte ein Kribbeln unter der Kopfhaut. »Sie haben die fünfzehn Millionen Dollar in bar bei sich im Haus.«
»Achtzehneinhalb Millionen Dollar waren vereinbart.«
»Aber sie sollten doch auf ein Schweizer Bankkonto überwiesen werden.«
Aha! Houssein warf einen kurzen Blick zu Daraj. Das war ein wichtiger Hinweis. Reaktionsschnell antwortete er:
»Das hat man uns nicht gesagt, nur die Summe genannt. Selbstverständlich überweisen wir den Betrag auf das Schweizer Konto. Wir brauchen von Ihnen nur die Kontonummer und den Namen der Bank.«
Am Kofferband holten sie Anassimows zwei Koffer ab, und Daraj klopfte liebevoll gegen einen von ihnen. »Mein Goldschatz«, sagte er und lachte Anassimow an. »Endlich bist du bei mir angekommen. Es ist doch dieser Koffer?«
»Ja. Dazu muß ich etwas erklären.«
»Später, bei mir zu Hause. Jetzt fahren wir erst in eine freundlichere Gegend. So eine Flughafenhalle deprimiert mich; sie sind dazu geschaffen, daß man sie schnell verläßt. Ich habe immer das Gefühl, Teil einer Hammelherde zu sein.«
Anassimow sah keinen Anlaß mehr, den beiden Männern zu mißtrauen. Vor dem Flughafen wartete ein großer Wagen, dessen Hersteller er nicht kannte, aber dieses Auto vertrieb seine letzten Zweifel, als er hinter dem Steuer einen livrierten Chauffeur sitzen sah. Wer sich solch einen Luxus leisten konnte, brauchte keine Visitenkarte mehr. Er war, gerade in diesem Geschäft, über jeden Zweifel erhaben.
Ramunabat stieg aus, öffnete die Hintertüren, machte vor Anassimow eine Verbeugung und fuhr dann in forschem Tempo in die Stadt hinein.
Auch Anassimow war begeistert von der weißen Villa. Daraj führte ihn herum, zeigte ihm das Zimmer, in dem Anassimow wohnen sollte. Es war ein Luxus, der ihn überzeugte, an der richtige Stelle zu sein. Wer so residierte, zählt kein Geld mehr.
Nur die zweihundert Gramm Plutonium fehlten!
Wie würde sich die Stimmung ändern, wenn er den Verlust zu erklären versuchte?
Zunächst aber duschte sich Anassimow ausgiebig, und danach fühlte er sich kräftig, mutig und geistig klar und schlenderte in den riesigen Wohnbereich mit den geschnitzten Säulen und der vergoldeten Decke. Houssein und Daraj saßen in tiefen, mit bestickter Seide bezogenen Polstern und rauchten Zigarren.
»Jetzt bin ich wieder voll da!« rief Anassimow und klatschte in die Hände. »War ein bißchen zuviel gestern abend. Mein Befinden würde noch besser werden, wenn ich jetzt ein Gläschen Wodka bekommen könnte.«
»Wladimir Leonidowitsch, Sie befinden sich in einem islamischen Haus … da gibt es keinen Alkohol. Allah hat es verboten. Aber wenn Sie einen Fruchtsaft mögen …«
»Nur im Notfall.«
»Dies ist ein Notfall.« Houssein wartete auf eine Reaktion, aber Anassimow verstand die Anspielung nicht.
Ramunabat brachte auf einem silbernen Tablett ein Glas Orangensaft, Anassimow griff nach dem Glas und trank es, ohne abzusetzen, leer. »Ha! Hatte ich einen Durst!« stöhnte er. »Kennen Sie das auch, daß Sie glauben, Feuer in der Kehle zu haben?«
Houssein antwortete mit einer Gegenfrage. »Haben Sie schon mal achtzehneinhalb Millionen Dollar auf einem Haufen gesehen? Zu je fünfzigtausend Dollar gebündelt. Sie glauben nicht, was das für ein Haufen Papier ist.«
»Ich habe noch nicht einmal tausend Dollar gesehen. Es muß ein geradezu erotischer Anblick sein. Achtzehneinhalb Millionen Dollar!«
»Kommen Sie mit. Sie liegen in einem Keller, geschützt durch ein Meter dicke Mauern.«
Houssein und Daraj erhoben sich aus ihren Sesseln. Houssein ging voraus, Daraj hinterher. Sie hatten Anassimow in die Mitte genommen wie einen Gefangenen, aber er merkte es nicht; er dachte auf dem Weg in den Keller nur daran, wie man den Verlust von zweihundert Gramm Plutonium – ohne schuldhaftes Verhalten einzugestehen – erklären sollte. Noch suchte Anassimow nach einer Geschichte, die glaubhaft klang.
Der Keller war wirklich wie ein bombensicherer Bunker. Die Luft war stickig, die Felswände grauweiß und die Decke aus dicken Balken. Hier unten war es geisterhaft still … es war unmöglich, daß ein Laut von draußen herein- oder hinausdrang.
An der Kellertür erwartete sie Ramunabat. Er ließ Houssein eintreten … und dann geschah alles blitzschnell. Ein Baseballschläger traf Anassimow mitten auf den Schädel, er glotzte Ramunabat an, dann fiel er um und wurde von Daraj und seinem Diener aufgefangen. Sie schleiften ihn in den Keller, banden seine Arme an dicke Hanfstricke, die über eine Rolle zu einer Kurbel führten. Mit ihr zog Ramunabat den aus einer Kopfwunde blutenden Anassimow an der Wand hoch, bis er zehn Zentimeter über dem Boden hing.
»Das erinnert mich an mittelalterliche Folterkammern«, sagte Houssein und gab Ramunabat ein Zeichen. Der ›Mann für alles‹, wie Daraj ihn nannte, zog Anassimow die Hose aus, riß ihm die Jacke und das Hemd vom Körper, zog ihm Strümpfe und Schuhe aus und zog den nackten Körper noch ein paar Zentimeter hoch.
»Vor allem der Name ist wichtig«, sagte Houssein, klopfte Daraj auf die Schulter und verließ den Keller. Ramunabat hob einen Eimer mit Wasser hoch und übergoß damit den nackten Körper.
Das erste, was Anassimow von sich gab, als er aus seiner Ohnmacht erwachte, war ein Brüllen. Dann zog er die Beine an, trat nach vorn, aber Daraj stand außer Reichweite vor ihm und wartete, bis der erste, sinnlose Widerstand abebbte. Anassimow starrte ihn aus weitaufgerissenen Augen an. Das Blut aus der Kopfwunde rann über sein Gesicht und verklebte die Wimpern.
»Ich glaube, ich bin dir eine Erklärung schuldig«, sagte Daraj freundlich. »Wenn wir uns austauschen – dein Wissen gegen meine Befragungsmethode –, könnten wir uns einig werden.«
»Was wollt ihr von mir?« schrie Anassimow und stieß sich von der Wand ab. »Ja, ich habe das Plutonium verloren, die Israelis haben es! Ich kann das alles erklären.«
»Was geht mich dein Scheißplutonium an? Mich interessieren andere Dinge. Hör zu: Für jede falsche Antwort wird die Ramunabat mit dem Baseballschläger einen Schlag auf deine Knochen geben und auch auf deinen Bullenschwanz. Das wird verdammt weh tun. Also rede und spiel nicht den Helden. Ramunabat schlägt dich in Stücke.«
»Was wollt ihr von mir?« brüllte Anassimow. Der Schweiß brach ihm aus und ließ seinen nackten Körper glänzen. Als er zur Seite blickte, sah er Ramunabat vor einer Schüssel mit glühender Holzkohle stehen, in die er eine große Heckenschere gesteckt hatte, damit die Stahlklingen glühten. In maßlosem Entsetzen bäumte sich Anassimow auf und erstarrte dann.
»Frage eins: Wie heißt der Mann mit den neun Fingern?«
»Ich kenne keinen solchen Mann!« schrie Anassimow.
Mit regungslosem Gesicht schlug Ramunabat zu. Der Baseballschläger krachte gegen den rechten Beckenknochen. Anassimow schrie hell auf und strampelte mit den Beinen.
»Frage zwei.« Daraj schüttelte den Kopf, als wolle er sagen: Welch ein dummer Mensch bist du doch, Wladimir Leonidowitsch! Läßt dich quälen und weißt genau, daß du für immer verloren hast. Du kannst dein Schicksal abkürzen, ihm aber nicht entfliehen. Sieh es doch ein … »Welche Bank in der Schweiz und welche Kontonummer?«
»Ich weiß es nicht!«
Der Baseballschläger … dieses Mal auf die rechte Schulter. Anassimow war es, als spalte sich seine Schulter. Wie ein Feuer zog der Schmerz durch seinen Körper.
»Ich weiß es wirklich nicht!« schrie er. »Ich bin nur ein Kurier! Ein kleiner, unbedeutender Laufbursche! Glaubt mir doch … Bankennamen, Kontonummern, Herkunft des Plutoniums, die Preise, alles wissen nur ein paar Manager des Syndikats. Bei uns heißt es Konzern.«
»Wie ist der Name des Bosses?«
»Igor Germanowitsch …«
»Das wissen wir bereits. Der Nachname …«
»Ich kenne nur seine Vornamen.«
Der Baseballschläger. Dieses Mal auf das rechte Knie. Anassimow wurde es schwarz vor den Augen. Er konnte sein rechtes Bein nicht mehr bewegen, es hing leblos herunter.
»Wladimir, du bist das größte Rindvieh, das je herumgelaufen ist!« Daraj gab ihm einen Tritt gegen das gebrochene Knie. Anassimow heulte auf. Tränen liefen über sein blutverschmiertes Gesicht und vermischten sich mit dem Schweiß, der aus allen Poren quoll. »Für wen willst du den Märtyrer spielen? Wer dankt dir das jemals? Für deine Mafia bist du bereits ein toter Mann! Hier kannst du am Leben bleiben, wenn du die richtige Antwort gibst. Also: Wer ist der Boß?«
»Ich weiß es nicht!«
Wieder der Baseballschläger. Dieses Mal zerschmetterte er die linke Hüfte. Anassimow spuckte Blut, streckte sich und fiel in Ohnmacht. Daraj nickte Ramunabat zu. Ein neuer Eimer voll Wasser holte Anassimow aus seiner gnädigen Bewußtlosigkeit zurück.
Er starrte vor sich hin, und es war zu erkennen, daß er kaum noch etwas wahrnahm, daß es für ihn nur noch unerträglichen Schmerzen gab. Daraj war sich nicht sicher, ob er überhaupt noch etwas hören konnte. Aber mit dem Gleichmut eines Orientalen fragte er weiter.
»Reduzieren wir alle Probleme auf eines: Nenn mir den Namen des Neunfingermannes, dann bist du erlöst. Nur den Namen noch, weiter nichts.« Keine Antwort. Daraj sah den geschundenen Körper kopfschüttelnd an und winkte dann Ramunabat zu.
Der Inder ging mit starrer Miene zu dem glimmenden Holzkohlenfeuer und zog an den Isoliergriffen die große Heckenschere aus der Glut. Die langen Metallschneiden schimmerten rot: glühender Stahl. Die Schere von sich haltend, ging er wie eine mechanische Puppe mit ruckartigen Schritten auf Anassimow zu.
»Zum letzten Mal –«, sagte Daraj und trat nahe an den zerschundenen Körper heran. Er sah Anassimow in die Augen, aber in dessen Augenhöhlen lagen die Augäpfel wie blutig gefärbte Kugeln, ohne Ausdruck, ohne das geringste Erkennen, nur die Lider, blutverklebt, zuckten bei jedem Atemzug, die wie das Klappern einer Kinderrassel klangen.
»Hörst du mich?«
Keine Regung. Anassimow schien nur noch ein Stück aufgehängtes Fleisch zu sein.
»Nenn den Namen … dann wird Ramunabat darauf verzichten, dir dein Monogramm auf den Bauch zu brennen. W-L-A … das sind verdammt viele Buchstaben! Überleg es dir.«
Anassimow reagierte nicht mehr. Er hörte nichts mehr, er löste sich in Schmerzen auf, seine Augen sahen nichts mehr, aber – merkwürdig und unerklärbar –, er nahm noch Gerüche wahr. Und er roch jetzt den glühenden Stahl, den Ramunabat an seinen Leib hielt. Er erinnerte sich an das Kohlenfeuer und an die Heckenschere in der Glut und wußte, was ihm bevorstand. Und plötzlich war er wie vom Schmerz befreit, wie von einem kühlenden Wind umweht, er hing nicht mehr mit zerschmetterten Knochen an der Wand, sondern er fühlte sich losgelöst, war sogar in einer freudigen Stimmung, ein warmes Licht streichelte seinen Körper, er versuchte, die Augen zu öffnen, er wollte dieses herrliche Licht sehen und ihm entgegenfliegen … und dann war Dunkelheit um ihn, als wenn man einen Lichtschalter ausgeschaltet hätte.
»Halt!« Daraj hob die Hand. Ramunabat ließ die glühende Heckenschere sinken. »Er spürt nichts mehr. Er hat sich davongemacht. Bind ihn los und schaff ihn weg. Aber so, daß ihn keiner mehr findet.«
Nachdem Daraj den Keller verlassen hatte, fand er Houseman-Houssein in der riesigen Wohnhalle, die einem der Säle in der Alhambra, dem Sultanspalast bei Granada, glich. Natürlich besaß auch Daraj eine Bar, nur sah sie keiner, weil sie in eine Wand eingebaut war, die sich um eine Achse drehen ließ. Dort prangte ein riesiger, geschliffener Spiegel in einem üppigen, mit Gold belegten, geschnitzten Rahmen. Houssein hatte die Wand herumgedreht und lehnte nun an der Bartheke. Er hatte Whisky in sich hineingeschüttet und starrte Daraj aus starren Augen an.
»Was ist?« fragte er und umklammerte sein Whiskyglas.
»Es ist vorbei.«
»Hast du den Namen?«
»Nein. Sein Herz setzte plötzlich aus.«
»Scheiße!« Houssein nahm einen kräftigen Schluck. »Nichts? Keine Andeutung?«
»Nichts. Er war ein verdammt zäher Bursche. Das hätte ich ihm nie zugetraut.«
Houssein atmete tief durch und soff weiter. Er mußte sich irgendwie betäuben … dem Gedanken, daß ein Mensch zu Tode gefoltert worden war und er diese Grausamkeit auch noch geduldet hatte, war nur im Nebel des Alkohols zu entkommen. Sogar bei der CIA galt die Menschenwürde als unantastbar, wenn auch hin und wieder an der Grenze des Vertretbaren gearbeitet werden mußte. Aber auch die ›harte Befragung‹ gipfelte nie in einer Folterung … es war undenkbar, eine solche Methode anzuwenden. Nun war es geschehen, und Houssein wurde wieder zu dem wohlerzogenen Captain Bill Houseman, der keinen anderen Ausweg sah, als das Grauen mit Whisky zu betäuben.
Ganz anders reagierte Daraj. Er ärgerte sich maßlos und bezichtige sich selbst, versagt zu haben, und verfluchte Anassimow, der sich so schnell aus seinem Körper gelöst hatte. Die glühende Heckenschere hätte ihn zum Sprechen gebracht, dessen war sich Daraj sicher. Statt dessen flüchtete er sich in den Tod. Den Triumph des Stärkeren hatte Anassimow ihm nicht gegönnt.
Daraj flüchtete nicht in den Alkohol. Aber irgend etwas mußte er tun, um seine Enttäuschung, seine Wut, seine Niederlage erträglich zu machen. Er riß einen arabischen Krummsäbel, eine Nachbildung des heiligen Schwertes des Kalifen, von der Wand, stürzte hinaus in den Garten und begann, mit wuchtigen Schlägen die Blumen zu köpfen. Wäre ihm jetzt jemand über den Weg gelaufen, hätte er ihn auch getötet. Erst als die Büsche vor der Terrasse jegliche Form verloren hatten, beruhigte er sich und setzte sich in einen der herumstehenden Korbsessel. Das Krummschwert fiel klirrend auf die Marmorplatten. Aus der Halle kam Houssein ins Freie geschwankt, er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
»Wenn … wenn ich jetzt eine Pistole hätte«, lallte er, »wüßte ich, was ich tun würde. Du Mörder …«
»Du heuchlerischer Hund!« In Daraj brach trotz guter Erziehung der Haß eines Moslems gegen Andersgläubige hervor. »Du großschnäuziger Christ! Wirst du wieder beten: Herr, vergib mir. Ich bereue! Und dann bist du von aller Schuld befreit? Wer hat befohlen, daß ich Anassimow fragen soll?«
»Fragen, nicht töten!«
»Das hast du nicht gesagt!«
»Du hast es nicht verstanden!«
»Der Schuldige soll jetzt ich sein? Warum bist du nicht mitgekommen in den Keller? Weil du ein Feigling bist, ein elender Feigling! Der Gentleman, der sich auf der Straße die Schuhe putzen läßt, weil Blut daran klebt.«
Houssein-Houseman antwortete nicht. Er bog den Kopf in den Nacken, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und rutschte in dem Sessel nach vorn. So blieb er, halb liegend, sitzen und rührte sich nicht mehr.
Daraj sah ihn an, beugte sich zur Seite und spuckte ihm auf die Hände.
Und er beherrschte sich, nicht nach dem Krummschwert zu greifen und Houssein den Kopf abzuschlagen …