Nitschewo

Auch ein so qualifizierter Mann wie Colonel Curley machte einmal einen Fehler. So etwas durfte bei der CIA nicht vorkommen, aber in der Geschichte dieses Geheimdienstes waren Fehlschläge und Niederlagen schon Historie geworden. Bei Curleys Fehler schrieb man allerdings keine Weltgeschichte … oder doch?

Während die CIA alle anderen westlichen Geheimdienste über die gewonnenen Erkenntnisse informierte, vergaß Curley – unerklärlicherweise – ein wichtiges Detail, das dem Geschehen eine völlig andere Wendung gegeben hätte: Er gab die sensationelle Information, daß der Kopf des russischen Nuklearschmuggels, der Boß der russischen Bosse, ein Mann war, dem an der linken Hand ein Finger fehlte, nicht weiter. Der BND, der französische Geheimdienst, der britische, der spanische, der österreichische, der italienische – alle wußten von diesem geheimnisvollen Mann in Moskau … nur Dick Fontana in Paris und Victoria Miranda in Moskau wurden nicht unterrichtet. Warum? Curley hatte es schlichtweg vergessen.

In Paris sah Jean Ducoux, der Chef der Sondereinheit V der Sûreté, keinen Anlaß, sein Wissen an Dick Fontana weiterzugeben. Er hielt die Anwesenheit eines CIA-Agenten sowieso für sinnlos, für eine Beleidigung Frankreichs, dem man anscheinend nicht zutraute, den Atomschmuggel unter Kontrolle zu bringen. Seine nationale Seele war verletzt, und patriotisch, wie ein Franzose sein soll, empfand er Fontanas Anwesenheit als eine Provokation. So etwas bestraft man diplomatisch mit Mißachtung oder privater Ablenkung.

Bei Ducoux war es der geschickte Schachzug, Fontana, der in Paris als Likörvertreter Robert Fulton auftrat, in den ›Roten Salon‹ von Madame de Marchandais zu locken. Er rechnete sich einen vollen Erfolg aus: Fontana, der Frauenliebling und Frauengenießer, würde den Reizen der Damen im Salon kaum widerstehen können. Er würde voll beschäftigt sein, seinen Hormonspiegel zu regulieren, und dies würde sein Wirken in Paris auf ein Objekt beschränken: das Bett.

So war es für Ducoux eine fast vaterländische Aufgabe, Fontana bei Madame de Marchandais einzuführen. Es geschah an einem Abend, an dem von Süden her ein warmer Wind über Paris wehte, der die Produktion der Hormone aktivierte.

Fontana-Fulton und Ducoux trafen sich in der prunkvollen Halle des Hotels Crillon an der Place de la Concorde.

»Jetzt werden Sie gleich die Crème der Pariser Gesellschaft erleben«, sagte Ducoux voller Enthusiasmus. »Sie werden begeistert sein.«

»Ich bin gespannt wie eine Armbrust.«

»Ein guter Vergleich! Mit Brust werden Sie viel zu tun haben!« Ducoux lachte fröhlich. »Für Sie als Frauenkenner wird es eine Augenweide sein.«

»Sie übertreiben, mein lieber Ducoux.«

»Für so etwas habe ich einen Blick. So, wie Sie aussehen … wenn ich eine Frau wäre, würde mein Herz wie wild Purzelbäume schlagen.«

In fröhlichster Stimmung fuhren sie eine Stunde später zum Bois-de-Boulogne. Der Säuleneingang der weißen Villa war hell erleuchtet. Gegenüber parkten die Wagen der Gäste: Rolls-Royce, Citroën, Jaguar, Mercedes, sogar ein Ferrari in leuchtendem Rot. Daneben sah der Alfa Romeo geradezu mickrig aus, aber ausgerechnet er gehörte einem der reichsten Männer von Paris, einem bekannten Parlamentsabgeordneten.

»Die Automarken verraten schon einiges«, sagte Fontana-Fulton, als sie aus Ducoux' Peugeot ausstiegen.

»Irrtum! Bei Ihnen in New York oder in Hamburg oder in Italien mögen die Zuhälter auffällige Wagen fahren, bei uns in Paris gehört dies zur besseren Gesellschaft. Aha! Prévin ist auch da.«

»Wer ist Prévin?«

»Der Vizewirtschaftsminister. Es scheint, als habe Madame heute ein besonderes Schauspiel geplant. Lassen wir uns überraschen.«

Schon das Mädchen, das die Tür öffnete, war eine Augenweide. Zwar war sie nicht wie die Bedienung ›oben ohne‹, aber das am Körper anliegende, kurze Kleid und der tiefe Ausschnitt ließen der Phantasie freien Lauf. Sie strahlte Fontana so hinreißend an, daß Ducoux sich die Bemerkung nicht verkniff: »Nummer eins haben Sie schon erobert, Dick.«

»Hier bin ich Bob Fulton.«

»Pardon, natürlich. Von jetzt ab also Bob …«

Madame, wie immer in einem pompösen Abendkleid aus thailändischer Brokatseide, kam ihnen im Foyer entgegen. Ducoux hatte sie am Telefon neugierig gemacht, als er Fultons Besuch ankündigte. »Er ist jung, männlich schön und ein Frauenheld!« hatte er ihn vorgestellt. Und sie hatte geantwortet: »Er ist der Richtige für Rosalie … oder für Madame Lapouche, wenn sie heute kommt.« Madame Lapouche war die Gattin des Stararchitekten René Lapouche und dreiundzwanzig Jahre jünger als dieser. Eine wilde Hummel, könnte man respektlos sagen.

Nun streckte Madame de Marchandais beide Hände aus und begrüßte Fulton wie einen alten Freund.

»Willkommen bei mir!« sagte sie mit ihrer warmen Altstimme. Auch sie war vom ersten Augenblick an von Fontana begeistert. Zwanzig Jahre jünger müßte man sein, dachte sie mit leiser Wehmut, dann läge er noch heute abend in meinen Armen. »Sie werden eine Bereicherung meines kulturellen Salons sein, Monsieur …«

»Fulton. Robert Fulton. Freunde nennen mich Bob.«

»Dann darf ich Bob zu Ihnen sagen?«

»Ich bitte darum.«

Madame spielte die Unwissende perfekt. Sie hakte sich bei Fulton ein und führte ihn durch die breite Flügeltür in den ›Roten Salon‹. Ein Mädchen mit nackter Brust servierte ihm sofort ein Glas Champagner.

Fulton warf einen schnellen Blick in den Salon. Was er geahnt hatte, bewahrheitete sich: elegante, schmuckbehangene Frauen, schon etwas alkoholisierte Ehemänner oder Einzelgänger mit Jägerblick. Die attraktive Bedienung, das Buffet, der schwere Duft der verschiedenen Parfüms, die leise Hintergrundmusik aus versteckten Boxen – es war das Geigenorchester von Mantovani – und vor allem die breite, rote Teppichtreppe zu den oberen Räumen, die gerade ein Pärchen Hand in Hand hinaufschritt, dies alles ließ bei Fulton keinen Zweifel aufkommen: Das hier war ein Edelpuff, vermutlich der exklusivste von Paris.

Hinter ihm räusperte sich Ducoux und flüsterte ihm über die Schulter zu:

»Habe ich zuviel versprochen, Bob?«

»Ich bin überwältigt.« Madame hatte sie unterdessen allein gelassen und kümmerte sich um einen Gast, der sogar einen Smoking trug. Es war der Vizeminister Prévin, der offiziell und seiner Gattin gegenüber, eigentlich in der Oper sein sollte, um ›Siegfried‹ von Wagner zu hören. Aber lieber als den Drachentöter betrachtete er Madames Dienerinnen. »Eine Frage: Wie kommen Sie in diese Gesellschaft?«

»Fünfzig Prozent aus dienstlichen Gründen, Sie ahnen nicht, was man hier alles erfährt … und zu fünfzig Prozent, um dem grauen Beamtenalltag zu entfliehen. Ich mag nun mal schöne Frauen.«

»Ist das für einen Mann in Ihrer Position nicht gefährlich? Ich denke da an Erpressung.«

»Ein völlig falscher Gedanke!« Ducoux lachte. »Hier erpreßt keiner. Jeder weiß von jedem genug … das ist der beste Schutzschild.«

»Und wenn – nur angenommen – einer von diesen ehrenwerten Herrschaften dick im Nukleargeschäft steckt?«

»Dann wird er hochgenommen. Es wird nie jemand erfahren, wer den Tip gegeben hat.«

»Jean, Sie leben verdammt gefährlich.«

»Sie etwa nicht? Das bringt unser Beruf so mit sich …«

Ducoux blickte hinüber zu seinem Stammtisch. Natürlich, sie waren alle da: Jérôme Pataneau, der Physiker, Anwar Awjilah, Raffael Lumette, der Sekretär im französischen Außenministerium, und mitten unter ihnen Natalja Petrowna Victorowa in einem silberdurchwirkten Chiffonkleid. Sie trug die Haare hochgesteckt, was ihre hohen Wangenknochen noch betonte.

Ducoux ärgerte sich sofort. Er sah Awjilah, wie er gestenreich auf Natalja einredete, und schob die Unterlippe vor. Alles Lügen, was er da von sich gibt. Alles Lügen. Märchen aus tausendundzwei Nächten!

Fulton faßte Ducoux kurz am Ärmel der Clubjacke. Auch er hatte Natalja bemerkt. Ihre faszinierende Schönheit, die ihn an ein Abenteuer vor vier Jahren erinnerte, sprang ihm geradezu ins Auge.

»Wer ist denn das? Dort, am runden Tisch vor dem großen Spiegel.«

»Das ist Natalja Petrowna. Eine Russin. Eine Freundin von Madame.«

»Eine Russin? Interessant.«

»Neben ihr sitzt Anwar Awjilah, Attaché der iranischen Botschaft.«

In Fontana-Fulton schlug eine Alarmglocke an. Der Iran und Rußland an einem Tisch in einem Edelbordell? War das purer Zufall, oder war es eine geschickte Tarnung? Ducoux, du bist ein Blinder! Um diese beiden würde ich mich an deiner Stelle mehr kümmern, als um die sexbesessenen Damen, die mit dickem Make-up ihre Jugend zurückholen wollen. »Noch interessanter«, sagte er.

»Rechts neben ihr sitzt Professor Pataneau, einer unserer berühmtesten Physiker.«

»Hochinteressant. Atomwissenschaftler?«

»Seine Spezialität.«

»Und der Mann mit dem Rücken zum Spiegel?«

»Lumette. Sekretär des Außenministers.«

»Eine verdammt heiße Mischung.« Die Alarmklingel in Fulton wurde lauter. Ducoux sah ihn verwundert an. »Wie meinen Sie das?«

»Ich wollte sagen: eine illustre Gesellschaft.«

»Alles gute Freunde von mir.«

»Dann gehen wir mal hinüber, Jean, und Sie stellen mich dieser Ludmila …«

»… Natalja …«

»… vor.«

»Kommen Sie mir nicht ins Gehege, Bob! Es gibt hier genug schöne und willige Frauen.«

»Ach, so ist das?« Fulton konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Du und diese umwerfende Russin? Ducoux, denk mit dem Gehirn und nicht mit dem Schwanz.

»Ja, so ist es!« sagte Ducoux sehr ernst. »Hände weg von ihr. Wir wollen doch gute Kameraden sein.«

»So ist es, Jean. Natalja gehört Ihnen. Aber machen Sie mich trotzdem mit ihr bekannt.«

Sie gingen hinüber an den runden Tisch. Die Herren erhoben sich, als sie den neuen Gast im ›Roten Salon‹ sahen.

Ducoux stellte jeden vor und sagte dann: »Und das ist Monsieur Robert Fulton aus den USA: Er hat die Wahnsinnsidee, Frankreich mit einem neuen Likör zu beglücken.«

Die Herren gaben einander die Hand. Natalja sah Fulton aus großen, dunklen, strahlenden Augen an, und als er ihre Hand küßte, durchfuhr es sie wie ein elektrischer Schlag. Obwohl seine Lippen die Handfläche nicht berührten, spürte sie eine Hitzewelle durch ihren ganzen Arm ziehen. Es war ein anderer Handkuß als die üblichen … Fulton zog nicht ihre Fingerspitzen an seinen Mund, sondern er ergriff ihre Hand, hielt sie fest und ließ sie auch nicht los, als er sich wieder aufrichtete. Erst als sie ihm die Hand entzog, gab er sie frei. Keiner der Anwesenden hatte etwas bemerkt, es hatte sich in Sekundenschnelle abgespielt.

Eine der Bedienungen brachte sofort ein Tablett mit frischem Champagner. Fulton hob sein Glas Natalja entgegen und sprach aber alle an.

»Ich freue mich, daß Sie mich in Ihren Kreis aufnehmen. Wenn Sie ab jetzt alle meinen Cocktail Ladykiller trinken würden, wäre ich wirklich glücklich.«

Alle lachten und sanken dann wieder in ihre Sessel zurück. Fulton nahm Natalja gegenüber Platz und streichelte mit seinen Blicken ihre langen, schlanken Beine, die das Kleid nur zur Hälfte bedeckte. Ihre russisch-asiatische Schönheit, dieses Lächeln in den Mundwinkeln, das Interesse, das aus ihren Augen sprühte, und die Haltung ihres Körpers begannen Fulton gefangen zu nehmen. Dabei vergaß er aber nicht, die seltsame Konstellation dieses Tisches zu beachten: ein Iraner, ein Ministerialsekretär, ein Physikprofessor mit Nuklearfachwissen, ein Abteilungschef der Geheimpolizei und im Hintergrund, mit Madame ins Gespräch vertieft, ein Vizeminister … welch eine brisante Mischung!

Und wo gibt es mehr Kumpanei und Kontaktfreude als in einem ›Roten Salon‹, der der ›Kultur‹ dient?

Fulton unterbrach seine Überlegungen, als Natalja ihn fragte:

»Wieso nennen Sie Ihren Cocktail Ladykiller?«

»Weil er unwiderstehlich ist, wenn man nur einen Schluck getrunken hat. Man will immer mehr davon trinken. Man kann süchtig nach ihm werden … wie so vieles im täglichen Leben zur Sucht werden kann.«

»Und Sie haben keine Probe mitgebracht?«

»Ich wußte nicht, was mich hier erwartet. Verzeihung. Das nächste Mal bringe ich einen ganzen Karton mit.«

»Ich möchte ihn gern probieren.« Natalja spitzte die Lippen, als schmecke sie bereits die neue Kreation. »Ich halte viel von einer Kostprobe.«

Kaum hatte sie es gesagt, war sie über sich selbst entsetzt. Was rede ich da? Wie komme ich dazu, in diesem Fremden, in diesem Amerikaner, in diesem Schnapsfabrikanten etwas Besonderes zu sehen?! Er sieht gut aus, zu gut, könnte man sagen, aber seine Blicke sind indiskret, entblößend und wie kleine Flämmchen auf der Haut. Er ist ein Mann wie alle anderen, nur noch eingebildeter, weil er gut aussieht. Bemühen Sie sich nicht, Mr. Fulton. Es hat keinen Sinn … ich verachte solche Kerle, die nur an das Bett denken!

Aber dann hörte sie sich sprechen, als hätten ihre Gedanken keine Macht mehr über sie. »Erzählen Sie mir von Ihrem Leben, Mr. Fulton.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen.« Fulton riß seine Blicke von ihren Rundungen los. »Geboren in einem kleinen Nest in Nebraska, Schule, High-School, Universität … das übliche.«

»Was haben Sie studiert?«

»Literatur …«

»Und verkaufen jetzt Ladykiller-Cocktails?«

»Wie das Leben so spielt. Zum Schriftsteller tauge ich nicht, da fehlt mir die Phantasie und ein eigenes Stilgefühl, als Lehrer in einer Schule bin ich zu ungeduldig, bei irgendeiner Kulturbehörde bin ich fehl am Platze, weil ich mich nicht unterordnen kann – was bleibt also übrig? Cocktails zu verkaufen, das ist ein freier Job. Wenn man gut arbeitet, hat man Geld, wenn man faul ist, steht man vor der Küche der Heilsarmee an. In meinem Falle muß ich sagen: Es geht mir gut! Der Beweis: Ich bin in Paris.«

»Sie sind also außergewöhnlich fleißig?«

»Bei allem, was mich interessiert …«

Dies war eine Antwort, die Natalja unter die Haut ging. Fultons braun-grüne Augen lächelten ihr zu. Noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, unsicher zu sein. Ein Mann war für sie nur ein Objekt, über das man eine Karriere aufbauen konnte, das sie heraushob aus den muffigen Plattenwohnungen im Moskauer Arbeiterviertel, das ihr die Möglichkeit gab, ihren deprimierten Vater zu ernähren und ihre duldsame Mutter zu erfreuen. Dies hatte sie erreicht durch ihre Hingabe an Sybin, dem großen Konzernherrn. Sie war reich geworden, besaß eine eigene Datscha in den Wäldern bei Moskau, und sie zeigte ihm ihre Dankbarkeit, indem sie seine Umarmungen duldete und tat, was er wollte. Die Seligkeit einer Liebe hatte sie nie erfahren, nur das Erdulden männlicher Triebhaftigkeit … es war ihr ein Rätsel, was Liebe bedeutete. Und plötzlich saß ihr ein Mann gegenüber, gegen den sie sich innerlich wehrte, aber dessen Stimme und Blicke sie erheblich irritierten.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sich Awjilah in das Gespräch einschaltete. Während Ducoux sich eine seiner dicken Zigarren ansteckte, Pataneau sich mit Lumette über die neue Forschung in der Lasertechnik unterhielt, sagte er:

»Waren Sie schon mal in meiner Heimat? Im Iran?«

»Nein. Dort trinkt man doch keinen Alkohol.«

»Ich suche in meinen Erinnerungen, Mr. Fulton. Irgendwo habe ich Sie schon einmal gesehen.«

Vorsicht, Dick! Das kam unerwartet.

»Das kann sein.« Fulton trank einen Schluck Champagner, hielt sein leeres Glas einer der Bedienungen hin und erhielt sofort ein neues Glas und einen verheißungsvollen Blick. »Unsere Firma macht viel Reklame. In Zeitschriften, im TV, in Magazinen. Manchmal trete ich als ein Kunde auf, der sagt: ›Einmal Ladykiller, immer Ladykiller. Fragen Sie meine Frau!‹ Dämlicher geht es nicht … aber es hatte Erfolg.«

»Das wird es sein!« Awjilah lachte, aber der Ausdruck seiner Augen blieb nachdenklich, forschend und gefährlich.

Iran, dachte Fulton. Teheran. Die Fotos von den Labors, in denen man die Zündung einer Atombombe simulierte. Der Bau eines Reaktors, dessen Vollendung sich hinauszögerte, weil Rußland keine Technik mehr schickte. Die Liste russischer Nuklearexperten, die arbeitslos geworden waren und in den Iran wechselten. Vor zwei Jahren war das alles passiert. Niemand hatte ihn damals enttarnt. Wieso konnte sich Awjilah an sein Gesicht erinnern?

»Ich möchte gern mal Ihre Heimat kennenlernen«, sagte er, »aber wir Amerikaner sind bei Ihnen nicht sehr beliebt.«

»Sie kennen die Gründe. Die Politik …«

»Sie verdirbt den Menschen. Gott sei Dank bin ich ein völlig unpolitischer Mensch. Wie lange sind Sie schon hier an der Botschaft?«

»Vier Jahre.«

Er kann mich also gar nicht von Teheran her kennen. Das beruhigte Fulton ein wenig. Natalja Petrowna war aufgestanden und ging die große Freitreppe hinauf. Fulton sah ihr nach und konnte sich nicht vorstellen, daß oben in einem der Zimmer ein Liebhaber auf sie wartete.

Madame de Marchandais trat in die Mitte des ›Roten Salons‹ und hob eine kleine silberne Glocke. Ihr heller Klang ließ alle Gespräche verstummen.

»Meine Lieben«, sagte sie. »Es hat mich einige Mühe gekostet, aber es war von Erfolg gekrönt. Unser hochverehrter Gast Natalja Petrowna Victorowa hat sich überreden lassen, heute abend noch einmal Lieder aus ihrer russischen Heimat zu singen.«

Die Herren klatschten begeistert, die Damen reagierten weniger euphorisch. Seit diese Russin bei Madame wohnte, hatte sich das Klima im ›Roten Salon‹ verändert. Die Männer stellten Vergleiche an. Beim Bäumchen-wechsle-dich-Spiel war das nicht gerade angenehm für die schon etwas reiferen Damen, der einzige Trost war, daß es noch niemandem gelungen war, Natalja in die oberen Zimmer zu entführen. Sie war von einer unantastbaren Schönheit, so wie man eine wertvolle Porzellanpuppe in einem Glaskasten vor jeder Berührung abschirmt. Die Bedienungen der Madame waren dagegen keine Konkurrenz. Sie waren käuflich … eine Dame dagegen war ein persönliches Geschenk.

Oben auf der Treppe erschien jetzt Natalja. Sie hatte sich umgezogen und trug nun einen einfachen weiten Rock, eine rote Bluse, und in das Haar hatte sie künstliche Sommerblumen gesteckt, die so echt aussahen, daß man nur beim Anfassen bemerkte, daß sie aus Seide gefertigt waren. Als sie ihre Gitarre hob, sagte Ducoux leise zu Fulton:

»Jetzt erleben Sie einen Kunstgenuß, der nur uns geboten wird. Diese Stimme werden Sie für immer im Ohr behalten. Callas hin, Tebaldi her … so süß wie Natalja kann keine andere singen.«

Der erste Akkord schien die Zuhörer bereits zu verzaubern. Nach einem kurzen Vorspiel begann Natalja zu singen, ein altes Liebeslied aus Nowgorod von einem Mädchen, das träumte, ein Prinz hole sie aus der Armut in sein Schloß. Niemand verstand die russische Sprache, aber jeder spürte die Sehnsucht in der Stimme und begriff, daß die Weite des Landes den Menschen demütig und gleichzeitig sehnsüchtig machte.

Fulton starrte sie mit angehaltenem Atem an, und als ihre Blicke sich trafen, war es, als träfen zwei Blitze aufeinander und zerplatzten in der Luft, aber ihre Hitze durchdrang ihre Körper.

Fast eine halbe Stunde lang sang Natalja von der Steppe und den Seen Sibiriens, von den unendlichen Wäldern und den großen Strömen, von Wind und Sonne und von den Menschen, die das Glück berührten, wenn sie Rußlands Erde in den Händen hielten. Den Schluß bildete ein Ostergesang, so wie er seit Jahrhunderten ertönte, wenn der Pope das Osterbrot segnete. Christos woskresse … Christus ist auferstanden.

Nach diesem letzten Lied wagte keiner zu klatschen, nur Fulton unterbrach die Stille, indem er »Bravo!« rief. Ducoux sah ihn ärgerlich von der Seite an.

Typisch amerikanisch. Kein Gefühl für die Heiligkeit der Kunst. Ihre Götter sind Coca-Cola und Hot dogs und Hamburger in einem matschigen Brötchen. Bob, du bist ein Banause.

Nach diesem Zuruf schienen alle aus einer Art Erstarrung zu erwachen und bedachten Natalja mit stürmischem Beifall. Sie dankte mit einem tiefen Knicks und eilte dann die Treppe hinauf. Niemand sah, daß sie Tränen in den Augen hatte, nicht weil Fulton ›Bravo‹ gerufen hatte, sondern weil bei jedem Lied ihr Heimweh wuchs, stärker und stärker wurde … ein Russe in der Fremde ist immer einsam und voller Sehnsucht. Rußland, das ist die Mutter allen Lebens.

»So etwas hören Sie nie wieder«, sagte Ducoux zu Fulton.

»Ich stimme Ihnen zu. Es war einmalig. Ist Natalja eine bekannte Sängerin?«

»Nein. Es ist eine Naturbegabung, das macht sie unverwechselbar. Denken Sie an die Piaf. Auch sie konnte von keiner anderen Sängerin überboten werden … sie sang mit ihrem ganzen Herzen und hatte sich selbst ausgebildet in den Hinterhöfen von Saint-Germain-de-Près.«

»Natalja könnte mit dieser Stimme eine Weltkarriere machen. Irgendein Impresario sollte sie managen.«

»Um Gottes willen – nein! Dann wird sie eine Singmaschine und in Massenveranstaltungen verheizt. Es gibt genügend Beispiele dafür, daß große Stimmen zerbrachen, weil sie nicht sorgsam gehütet wurden.«

»Ich bin erstaunt, Jean.«

»Worüber?«

»Sie sind nicht nur ein guter Polizist, sondern auch ein großer Musikliebhaber. Was möchten Sie lieber sein?«

»Das, was ich bin. Darf ich Ihnen etwas sagen … unter Freunden?«

»Ich höre.«

»Ihr Bravoruf hat mich gestört. Es war eine Frechheit.«

»Ich konnte nicht anders, Jean.« Fulton legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich war einfach hingerissen. Verzeihen Sie mir. Da bricht mein italienisches Blut durch: Wenn wir begeistert sind, dann brüllen wir los. Besuchen Sie mal eine Oper in der Arena von Verona …«

Auf der Treppe erschien Natalja. Sie trug jetzt wieder ihr hautenges Silberkleid und schritt die Stufen unter dem Beifall der Gäste hinunter. Madame lief ihr entgegen, umarmte sie, drückte sie an sich und küßte sie auf beide Wangen.

»Du hast geweint«, sagte sie. »Ich habe es gesehen und in deiner Stimme gehört.«

Natalja schüttelte den Kopf, aber sie tat es zu heftig und bestätigte damit Madames Beobachtung. »Es war bestimmt nur wegen des traurigen Liedes vom einsamen Jäger … das klingt, als wenn jemand weint.«

»Jeder würde dir das glauben, nur ich nicht.« Madame zog Natalja zur Seite in eine Ecke, wo sie ungestört sprechen konnte. »Hast du Heimweh?«

»Auch das.« Natalja senkte den Kopf. Ist es Heimweh, fragte sie sich, oder ist es das Leben, das ich führe? Was bin ich denn? Die Geliebte eines reichen Mannes, der jeder Wunsch erfüllt wird und die mit ihrem Körper bezahlt, eines Mannes, der auch noch der Chef einer Verbrecherbande ist, die immer mehr zum wirklichen Herrscher über Rußland wird. Ist das ein Leben, dem man nachweinen sollte? Nein! Ich bin noch jung, ich habe eine Zukunft … aber wie wird sie aussehen? Was wird in zehn, zwanzig Jahren sein? Eine weggeworfene Geliebte in einer einsamen Datscha, die mit ansehen muß, wie der große Sybin seine jungen Gespielinnen verwöhnt und sie dann mit einem Tritt aus seinem Bett befördert. Eine Zukunft in Samt und Seide, aber im Herzen einsam wie die schweigende Tundra. Ist das kein Grund, zu weinen?

»Gefällt es dir nicht mehr in Paris bei mir?« fragte Madame.

»O nein, ich bin gerne in Paris.«

»Fehlt dir dein russischer Liebhaber?«

»Ich brauche keinen Mann!«

»Warum lügst du? Jede Frau sehnt sich nach einem Mann. Sonst wäre sie keine Frau.«

Natalja warf einen schnellen, verstohlenen Blick hinüber zu Fulton. Er diskutierte mit Ducoux, aber sein Blick wanderte suchend herum.

Er hielt nach Natalja Ausschau. Als er sie in der Salonecke mit Madame entdeckt hatte, nickte er ihr kaum merklich zu. Sie aber nahm dieses Zeichen wahr und wurde unsicher.

»Ich frage mich in letzter Zeit nach dem Sinn des Lebens«, sagte sie zu Madame.

»Das sollte man nie tun! Du bist reich, was willst du mehr vom Leben?«

»Geld ist nicht alles, Louise.«

»Es ist alles. Glaube einer erfahrenen Frau. Man kann sich jeden Wunsch erfüllen.«

»Man kann etwas kaufen, ja … aber was ist mit den Gefühlen? Ich bin in Gold eingegossen, eine Statue. Aber ich will leben … leben … leben …«

»Dann tu es doch. Liebe ist atemloses Leben. Liebe …«

»Ich kann nicht lieben.«

»Mein Gott! Hast du kein Herz?«

»Bei mir ist es eine Pumpe. Ein rhythmisch zuckender Muskel.«

»Wer hat dich bloß so zerstört?«

»Das Leben. Du weißt nichts von mir, gar nichts! Du bist nicht in einem Moskauer Armenviertel aufgewachsen, du hast es nie nötig gehabt, mit deinem Körper dafür zu bezahlen, daß du nicht verhungerst. Jetzt bin ich reich, ja, auch durch meinen Körper … aber ich habe dabei gelernt, jede Männerhand zu hassen, die meinen Körper berührt. Ich hatte eine andere Vorstellung vom Leben, aber die blieb Illusion.«

»Du bist noch so jung … es kann sich vieles ändern.«

»Nicht mehr. Ich bin meine eigene Gefangene.«

Sie schüttelte den Kopf und deutete damit an, daß es keine Hoffnung gab, an die sie sich klammern konnte. Mit einem traurigen Lächeln wandte sie sich ab und ging hinüber zu dem runden Tisch am anderen Ende des ›Roten Salons‹.

Die Herren sprangen sofort auf. Ducoux rückte ihr einen Sessel zurecht, Awjilah winkte nach einem Glas Champagner; Pataneau und Lumette begannen, gleichzeitig zu reden und sagten: »Ihr Gesang war grandios!«, nur Fulton verhielt sich zurückhaltend. Er sah Natalja an, schweigend, aber mit beredten Blicken. Sie verstand ihn, wandte sich ab und hob ihr Glas.

»Wenn ein Russe sein Glas hebt«, rief sie, »muß er einen Spruch sagen: Das Heute ist besser als zwei Morgen!«

»Ein guter Spruch!« Ducoux stieß mit ihr an. »Ein wahrer Spruch. Laßt uns das Heute genießen! Wo Sie auch sind, Natalja, wir sind Ihre Nachbarn.«

»Auch dafür haben wir Russen einen Spruch: Liebe deinen Nachbarn, aber bau dir eine Mauer …«

»Mauern kann man einreißen.« Fulton sagte es leichthin im Plauderton. Sie ging darauf nicht ein, bemühte sich, Fulton nicht anzusehen, und spürte dennoch in sich eine unerklärbare Unruhe.

Es wurde ein schöner Abend. Ein paar Paare verschwanden oben in den Zimmern, auch Lumette zog mit einer der Damen ab, Ducoux trank zuviel und wurde schläfrig, nur Awjilah und Fulton widerstanden allen Angeboten. Der erste, der sich verabschiedete, war Pataneau, ihm folgte kurz darauf Ducoux. Und auch Awjilah verließ kurz nach zwei Uhr morgens den ›Roten Salon‹. Fulton blieb allein zurück, saß bequem zurückgelehnt in seinem Sessel und sah Natalja mit seinem unverschämten Blick an.

»Warum starren Sie mich so an?« fragte sie ganz bewußt, um das Gespräch persönlich werden zu lassen. Es reizte sie plötzlich, die Gedanken dieses Mannes nicht nur zu ahnen, sondern auch gesagt zu bekommen. Das Spiel mit den Männern kannte sie gut genug … jetzt war es Neugier.

Fulton zuckte die Schultern, veränderte dabei allerdings seine lässige Haltung nicht. Es fehlte nur noch, daß er seine Beine auf den Marmortisch legte und sich so benahm, wie man es von Amerikanern erwartet: Kaugummi kauend und die Füße auf dem Tisch …

Fultons Antwort kam leicht und lässig:

»Soll man an einer schönen Frau vorbeisehen? Das wäre wider die Natur des Mannes und … Sie sind einmalig.«

»Was sollte einmalig an mir sein?« erwiderte Natalja.

»Welche Frage. Sie haben die Ausstrahlung einer zweiten Sonne.«

»O Himmel, Sie werden ja lyrisch.«

»Ich mache nur eine nüchterne Feststellung. Eine Frage: Was hat Sie hierher in den ›Roten Salon‹ geführt?«

»Die Empfehlung eines Freundes.«

»Dieser Ort ist unter Ihrer Würde.«

»Ich bin ein Gast von Madame und fühle mich wohl, solange mich niemand anfaßt. Und das hat noch keiner versucht, Mr. Fulton.«

»Wie kommen Sie nach Paris?«

»Mit dem Flugzeug …«

Fulton nickte. »Recht so. Auf dumme Fragen dumme Antworten!«

»Ich mache Urlaub, das wollten Sie doch hören?«

»Und was machen Sie in Moskau?«

»Ist das ein Verhör?«

»Mich interessiert Ihr Alltag. Der ›Rote Salon‹ paßt einfach nicht zu Ihnen.«

»Sie könnten sich irren, Mr. Fulton.«

»Sie sind allem Anschein nach eine reiche Russin …«

»Ich habe einen reichen Freund. Genügt das?«

»Es genügt, um daran zu glauben. Aber Sie sind nicht glücklich.«

»Ich bin sehr glücklich.«

»Und warum haben Sie dann beim Singen geweint?«

Er hat es bemerkt, er hat außer Madame als einziger meine Tränen gesehen. Er hat mein innerliches Weinen gehört. Bob Fulton, du bist ein gefährlicher Mann.

»Ein Russe ist immer traurig, wenn er fern der Heimat von seiner Heimat singt. Das ist unsere Natur. Wir können im Heimweh schwelgen. Sie, als Amerikaner, kennen dieses Gefühl nicht. Habe ich recht?«

»Wir lieben unser Land ebenfalls, aber wir können auf der ganzen Welt zu Hause sein. Das kann ein Vorteil sein.« Fulton streckte sich und griff nach einem Sandwich. Es war mit feinstem Lachs und Kaviar belegt. Unbekümmert biß er davon ab und kaute mit vollem Mund. Natalja sah ihm zu. Ist das nun eine Frechheit oder einfach seine unkomplizierte Lebensart? Sie wußte es nicht.

»Hat's geschmeckt?« fragte sie, als Fulton das Sandwich gegessen hatte. Fulton nickte.

»Sehr gut. Wollen Sie auch eines?«

»Danke.«

»Wo wohnen Sie, Natalja Petrowna?«

»Hier, bei Madame. Warum? Wollen Sie mich besuchen?«

Eine gefährliche Frage, aber Natalja bereute sie nicht. Sie spürte selbst, wie sie sich veränderte, wenn sie in seine Augen sah. Aber sie wehrte sich nicht dagegen.

»Nicht bei Madame de Marchandais. Können wir uns nicht woanders sehen? Paris hat so viele schöne Cafés und verschwiegene Plätze.«

»Sie wollen mich wiedersehen?«

»Auf jeden Fall! Aber außerhalb des roten Plüsches und ohne die schwülstige Atmosphäre. Ich möchte mit Ihnen sprechen … an der Seine, in den Gärten der Tuilerien, auf einer Bank vor Notre-Dame, auf dem Montmartre, wo wir den Malern zusehen können, oder auf dem Père-Lachaise … Man kann auf einem Friedhof wunderbar miteinander reden. Man kann dort vieles sagen, was woanders nicht möglich ist.«

»Mr. Fulton, sind Sie ein verkappter Romantiker?«

»Im Gegenteil, ich kann knallhart sein.«

»Das glaube ich Ihnen. Und wie sind Sie wirklich?«

»Das sollen Sie herausfinden, wenn wir uns treffen.« Fulton beugte sich zu ihr vor. Diese Augen, dieser Blick! Natalja wollte sich von ihm losreißen, aber sie konnte es nicht. Dieser Blick fesselte sie und machte sie reaktionsunfähig. »Natalja … haben Sie morgen für mich Zeit?«

»Wo?« fragte sie gegen ihren Willen.

»Wir treffen uns im Café de l'Opéra, um fünfzehn Uhr?«

»Ich kann nichts versprechen …«

»Schon, daß Sie nicht nein sagen, ist eine Hoffnung wert.« Fulton erhob sich, nahm ihre Hand und küßte sie, und ihren Körper durchzuckte ein heißes Beben. »Ich sehe, ich bin fast der letzte Gast. Schlafen Sie gut, Natalja … und bis morgen …«

Sie blickte ihm nach, wie er sich von Madame de Marchandais verabschiedete, und rang mit sich um ein »Nein, ich komme nicht!«. Als er den ›Roten Salon‹ verlassen hatte und im Vorraum auf ein Taxi wartete, kam Madame zu ihr.

»Ein faszinierender Mann, nicht wahr?« fragte sie.

»Wer?«

»Fulton. Ich habe euch beobachtet.«

»Er will mich treffen. Morgen, im Café de l'Opéra … aber ich gehe nicht hin.«

»Natürlich gehst du hin. Leugne nicht, denn in deinen Augen liegt ein gewisser Glanz. Du kannst eine erfahrene Frau nicht belügen! Du bist wie eine Prinzessin im Märchen, die durch ein Wunder aus einem tiefen Schlaf erwacht und eine neue Welt sieht. Du kannst nicht mehr fliehen.«

»Ich kann es! Ich hasse jede Männerhand, die mich berührt!«

Am nächsten Tag, pünktlich um fünfzehn Uhr, saß Fulton draußen vor dem Café unter der Markise. Es war ein sonniger Tag, warm und sonnendurchflutet, und Paris blühte in Heiterkeit und Lebenslust auf. Er brauchte nur zehn Minuten zu warten, dann sah er, wie Natalja aus einem Taxi stieg. Sie trug ein schlichtes, geblümtes Kleid mit einem Glockenrock, und sie sah jung und unschuldig aus, völlig anders als die Frau im engen silbernen Cocktailkleid, wie Fulton sie kennengelernt hatte. Sie hatte sich kaum geschminkt, nur die Lippen nachgezogen, und der Zauber ihres exotischen Gesichts wurde durch nichts verdeckt.

»Ich kann nur eine halbe Stunde bleiben«, sagte sie gleich bei der Begrüßung. »Ich bin nur schnell vorbeigekommen, um nicht wortbrüchig zu werden.«

Sie blieben drei Stunden lang zusammen, spazierten durch die Straßen von Paris, und in der Nähe der Place de la Concorde hakte sie sich sogar bei Fulton ein. Was sie miteinander sprachen, ist völlig unwichtig … sie fühlten sich, als streichelten sie sich mit ihren Blicken, und zum ersten Mal empfand Natalja so etwas wie Glück. Sie ließ sich treiben und einhüllen von Fultons Stimme.

Ohne irgendwelche Annäherungsversuchte brachte Fulton sie später zu einem Taxi, und sie fuhr zurück zu Madame und wußte, daß sie ein anderer Mensch geworden war.

Am nächsten Tag trafen sie sich wieder vor Notre-Dame.

Am dritten Tag wanderten sie durch das Quartier Latin.

Am fünften Tag saßen sie auf einer Bank an der Seine.

Am sechsten Tag küßten sie sich in einem Saal des Louvre. Es war ein langer, befreiender Kuß, und ihr Körper drängte sich an ihn.

Am siebten Tag sprach Fulton mit Juliette Bandu, der Concierge des Hotels Monique an der Place Pigalle. Er bemühte sich nicht um Umschreibungen, sondern fragte:

»Haben Sie etwas dagegen, Madame Bandu, wenn ich heute einen Besuch mitbringe?«

Das faltenreiche Gesicht unter den grauweißen Haaren verzog sich zu einem Lächeln.

»Eine Frau …«

»So ist es, Madame.«

»Endlich.«

Fulton sah sie erstaunt an. »Wieso endlich?!«

»Darauf habe ich gewartet. Ein Mann wie Sie und kommt immer allein nach Hause. Da gerät man auf schiefe Gedanken.«

»Sie haben geglaubt, ich sei vom anderen Ufer?«

»Muß man das nicht? Wer in Paris lebt und immer allein ist, der ist doch nicht normal.« Sie beugte sich über die Portiertheke vor und blinzelte ihn vertraut an. »Ist sie hübsch?«

»Wie eine Göttin!«

»Oh! So verliebt sind Sie, Monsieur?«

»Nein, Madame … ich liebe sie. Ich möchte sie eines Tages mit nach Amerika nehmen. Sobald meine Tätigkeit hier beendet ist.«

»Eine Französin?«

»Eine Russin.«

»Gratuliere, Monsieur. Sie gelten als die besten Ehefrauen. Für sie ist der Mann der Mittelpunkt ihres Lebens. Und so soll es auch sein. Mein Mann, Gott habe ihn lieb, war auch so, und das als Franzose. Was ich sagte und tat, es war immer richtig.«

»Daran zweifle ich keinen Augenblick.« Fulton grinste. Er konnte sich gut vorstellen, daß der selige Monsieur Bandu es nie gewagt hatte, seiner resoluten Frau zu widersprechen. Auch jetzt noch, trotz ihres Alters, war sie eine Respektsperson. Deshalb hatte er auch gefragt, um zu verhindern, daß Madame Bandu mit moralischer Entrüstung Natalja das Betreten des Hotels verbot, aber genau das Gegenteil war geschehen: Sie hatte sich über seine bisherige Sittlichkeit Gedanken gemacht.

»Soll ich etwas besorgen?« fragte sie. »Frisches Obst? Champagner? Einen Kuchen mit Sahne? Oder einen Eiersalat – den mach ich selbst. Mein Mann war von ihm begeistert.«

»Das bin ich bestimmt auch, Madame Bandu. Obst, Eiersalat und einen guten Rotwein. Wenn Sie das bereitstellen würden …«

»Wann werden Sie kommen?«

»Mittags gegen fünfzehn Uhr …«

»Oh, Sie mögen es am Tag?«

Sie sagte das ohne Zögern, es war für sie selbstverständlich, so etwas zu bemerken, und unter Freunden sowieso.

»Ich weiß nicht, ob sie länger bleiben kann«, antwortete er ebenso unbefangen.

»Ist sie verheiratet?«

»Nein, Sie braucht nicht um eine bestimmte Zeit zurückzusein.«

»Dann werde ich Ihnen eine kräftige Abendsuppe kochen.« Madame Bandu klopfte Fulton auf den Arm. Ihre Lebenserfahrung überzeugte ihn. »Ist sie erst mal oben auf dem Zimmer, wird sie auch bleiben. Da möchte ich mit Ihnen wetten, Monsieur.«

An diesem siebten Tag dachte Natalja nicht mehr an Widerstand, als Fulton zu ihr sagte:

»Ich zeige dir jetzt, wie ich wohne. Mitten im fröhlichsten Viertel von Paris. Kein Luxus, keine Champagnerbar … ein kleines, gemütliches Hotel.«

Sie nickte schweigend und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Sie wußte genau, wie der Tag enden würde, aber es war kein Widerwille mehr in ihr wie bei anderen Männern, kein Ekel, kein Haß, kein Schmutz. Nur ein kaum wahrnehmbares Zittern und Flimmern zog durch ihren Körper. Alles in ihr drängte zu ihm … es war das erste Mal in ihrem Leben, daß sie bei dem Wunsch erbebte, in den Armen eines Mannes zu liegen und wegzugleiten in einen Himmel, der bisher nur in ihren kühnsten Träumen existiert hatte.

Sie blieben bis um sieben Uhr früh auf dem Zimmer. Sie verschmolzen miteinander, als habe es nie zwei Körper gegeben. Es war ein Geben und Nehmen von so elementarer Kraft, daß sie glaubten, in diesem Feuer zu verglühen.

Das Leben der Natalja Petrowna Victorowa hatte einen Sinn bekommen, und sie war frei geworden … frei wie ein Habicht am Himmel von Sibirien …

Für Sybin war es absolut rätselhaft, warum er von Natalja nichts mehr hörte.

Der letzte Anruf aus Paris war vor drei Wochen erfolgt … und seitdem nur noch Schweigen. Drei Wochen, in denen Sybin immer wieder bei Dr. Sendlinger das Telefon klingeln ließ und immer die gleiche Frage stellte:

»Natalja ist stumm! Was kann das bedeuten? Ich mache mir Sorgen um sie. Du hast mir den ›Roten Salon‹ empfohlen … ist sie dort wirklich gut aufgehoben?«

»Nur bei Madame de Marchandais kann sie die Leute kennenlernen, die für uns wichtig sind. Wenn es eine Organisation von Atomschmugglern gibt, dann sitzt deren Oberhaupt unter Garantie an der Bar von Madame! Ich denke da vor allem an Anwar Awjilah – ein gerissener Bursche, den man im Auge behalten muß!«

»Aber warum schweigt sie? Ich bin unruhig, Paul.«

»Dazu gibt es keinen Grund. Sobald Natalja etwas erfahren hat, wird sie bestimmt anrufen.«

Aber Sendlinger besänftigende Worte trösteten Sybin nicht. In den letzten Tagen hatten sich die schlechten Nachrichten gehäuft, und die schlimmste war aus Krasnojarsk gekommen.

Wawra Iwanowna Jublonskaja war gestorben.

Ganz plötzlich … am Abend war ihre Haut gelb geworden, sie fühlte sich müde und kraftlos, ging früh zu Bett und fiel sofort in einen tiefen Schlaf. Als Suchanow am nächsten Morgen erwachte und sie, wie immer, mit einem Kuß wecken wollte, war sie tot. Kalt und steif. Suchanow stieß einen Schrei aus, der nicht mehr menschlich klang, warf sich über sie, rief immer wieder ihren Namen, küßte ihr starres, zusammengefallenes Gesicht und bettelte, ihren schmalen Körper an sich drückend: »Das darfst du nicht, Wawra. Bleib bei mir. Komm zurück! Wawra, verzeih mir, verzeih mir … Du kannst mich doch nicht allein lassen …«

Der Arzt, den Suchanow später rief, stellte nüchtern fest: Tod durch Herzversagen. Das reichte … schließlich ist jeder Tod ein Herzversagen. Über die Hintergründe informierte er sich nicht … ihm genügte, daß die Tote im Kernkraftwerk Krasnojarsk-26 gearbeitet hatte. Die Diagnose ›Strahlentod‹ war verboten, es gab offiziell in Krasnojarsk keine Reaktortoten, also blieb nur noch Herzversagen übrig.

An diesem Tag wagte es Suchanow, seinen hohen Chef Sybin einen Mörder zu nennen. Am Telefon schrie er ihn an und verlor alle Angst vor dem ›Konzern‹.

»Du hast sie ermordet!« brüllte er ins Telefon. »Du hast sie umgebracht! Du hast mir befohlen, sie mit Plutonium zu vergiften! Du Mörder! Mörder!«

»Nikita Victorowitsch, beruhige dich.« Sybin hatte die Nachricht zutiefst erschreckt. Nicht, daß Wawra gestorben war, erschütterte ihn … vielmehr traf ihn die Erkenntnis, daß mit ihrem Tod die beste und sicherste Quelle versiegt war: Es gab aus Krasnojarsk kein Plutonium mehr. Nicht mehr das fast absolut reine, waffenfähige Plutonium, mit dem man auf dem Markt Phantasiepreise erzielen konnte. Was die anderen Lieferanten beschaffen konnten, vor allem Timski in Majak, war in seinem Reinheitsgrad um einige Prozente niedriger einzustufen. Das große Geschäft von Sybins Atommafia begann zu wanken. Zwar hatte er noch nicht die Ressourcen im Norden Rußlands angezapft, die U-Boot-Basis von Wladiwostok und Murmansk, eine am Japanischen Meer, die andere hoch im Norden an der Barentssee, wo die ausrangierten Atom-U-Boote abgewrackt wurden und fast unbewacht vor sich hindümpelten, in ihrem Innern immer noch mit Brennstäben bestückt und die Magazine voller Atomraketen.

Es war Sybin bekannt, daß gerade in Murmansk der Atomdiebstahl von höheren Offizieren organisiert wurde. Der Fall des Oberstleutnants Alexej Tichomirow war sogar veröffentlicht worden und enthüllte, wie einfach es war, sich Atomwaffen anzueignen.

Tichomirow spazierte eines Abends zu einem der unbewachten Lagerhäuser der Marinebasis Murmansk, hebelte mit einem einfachen Brecheisen die Tür des Depots auf und stand vor einem Stapel von Metallbehältern. Er brach einen der Kästen auf und fand eine Anzahl von ausgebauten Atombrennstäben. Ein Selbstbedienungsladen! Tichomirow griff zu. Er holte drei Brennstäbe aus der Kiste, steckte sie in einen Rucksack und verschwand in der Nacht. Was er mitschleppte, war hochbrisant: Die Brennstäbe stammten aus den Reaktoren der abgewrackten Atom-U-Boote und enthielten zwanzig Prozent Uran 235. Mit vier Kilogramm hochangereichertem Uran erreichte Tichomirow unbehelligt seine Wohnung … den Tod im Rucksack.

Nur durch Zufall wurde der Diebstahl entdeckt: Tichomirows Bruder Dmitrij, voll des Wodkas, faselte im vertrauten Kreis bei Freunden darüber, daß in seiner Garage eine Menge Uran versteckt sei, Handelswert auf dem Schwarzmarkt sechshunderttausend Dollar. Doch der vertraute Freundeskreis schwieg nicht: Oberstleutnant Tichomirow wurde verhaftet und zu drei Jahren Arbeitslager in Sibirien verurteilt.

Aber die Quelle Murmansk sprudelte weiter. Da es den Marinebehörden und auch den anderen Nuklearzentren nicht gelang, genaue Inventarlisten aufzustellen, schätzt man jetzt, daß Hunderte von Tonnen spaltbaren Materials in den Depots fehlen. Die russischen Kontrollbehörden leugnen dies allerdings standhaft … sie wissen einfach nicht, wo es geblieben ist. Und ein Loch in den russischen Atomarsenalen zuzugeben, war glattweg unmöglich.

Bisher hatte sich Sybin für diesen Bereich des Atomschmuggels nicht interessiert. Auch hochangereichertes Uran 235 bringt auf dem Markt nicht die Irrsinnssummen, die interessierte Staaten für Plutonium 239 bezahlen. Nun aber, seit durch Wawras Tod die Quelle Krasnojarsk versiegt war, wurden für Sybin auch Murmansk und Wladiwostok interessant. Ein großes Ziel entstand vor ihm: die Kontrolle des gesamten Nuklearschmuggels. Ein Atomkartell unter Leitung des ›Konzerns‹. Dazu würde man viele Helfer brauchen, und – auch das wurde ihm klar – es würde ein blutiger Kleinkrieg werden gegen Händler, die auf eigene Rechnung weiterarbeiten wollten.

Sybin hörte am Telefon, wie Suchanow ihn immer noch mit den wüstesten Worten beschimpfte. Er unterbrach ihn und sagte in einem väterlichen Tonfall:

»Nikita Victorowitsch, laß das Schimpfen … komm nach Moskau.«

»Ich will dich nie wiedersehen, du Mörder!« schrie Suchanow.

»Du machst einen Fehler, mein Freund.«

»Willst du mich auch umbringen? Du wirst nie wieder etwas von mir hören.«

»Du bist ein guter Mann. Ich habe andere Aufgaben für dich.«

»Nicht eine einzige! Ich will deinen Namen nicht mehr hören. Ich streiche ihn aus meinem Leben. Ich habe dich nie gekannt. Ich verfluche dich!«

»Das kannst du alles tun … nur sei vernünftig. Auf dich warten sechsunddreißig Millionen Dollar, Provision für gelieferte vier Kilo Plutonium.«

»Nicht mit hundert Millionen Dollar ist Wawra bezahlbar. Nicht mit allem Geld der Welt. Du kannst sie nicht unter Geldscheinen begraben.«

»Komm nach Moskau und hol dir deinen Anteil ab.«

»Nein!«

»Als Millionär kannst du hundert Wawras bekommen.«

»So etwas kannst nur du sagen. Ich hasse dich, Igor Germanowitsch. Nach Moskau soll ich kommen? Wie wird das sein? Du gibst mir den Scheck über sechsunddreißig Millionen … und wenn ich dein Zimmer, dein verdammtes Haus, verlasse, stehen draußen im Flur zwei deiner Leibwächter und erwürgen mich! Oh, ich kenne dich zu genau …«

Er kennt mich wirklich. Sybin lächelte vor sich hin … genauso hatte er sich das gedacht. Nicht wegen der sechsunddreißig Millionen, das war kein Thema … aber Suchanow wußte zuviel, und Wawras Tod machte ihn gefährlich. Ein paar Worte von ihm zum KGB, und es gab Schwierigkeiten. Sie waren zwar zu überwinden, und es würde alles im Sande verlaufen, dazu hatte man seine Verbindungen, aber unangenehm war es doch. Nur ein toter Zeuge ist ein guter Zeuge … diese Grundregel der Mafia gehörte zur Basis aller Geschäfte. Sybin hatte sie für seinen ›Konzern‹ übernommen. Wenn Suchanow wirklich nicht nach Moskau kam, mußte man zu ihm kommen. Er dachte dabei an Georgi Andrejewitsch Gasenkow, den verläßlichen ›Sonderbeauftragten‹, der schon siebzehn Aufträge ruhig und diskret erfüllt hatte. Noch bevor sich Suchanow aus Krasnojarsk absetzen konnte, würde Gasenkow bei ihm sein.

»Überleg es dir«, sagte Sybin freundlich. »Kein Mensch wirft sechsunddreißig Millionen Dollar aus dem Fenster.«

Er legte auf und blickte nachdenklich aus dem großen Fenster. Moskau lag vor ihm, die untergehende Sonne vergoldete die Dächer und ließ jedes Haus zu einem Palast werden. Meine Stadt, dachte er, mein Reich. Ich bin der Herrscher, nicht die Puppen im Kreml. Sie kann ich tanzen lassen, wie ich will. Ich werde dieses Land regieren, weil ich überall bin: im Militär, in der Wirtschaft, in den Ministerien, im Geheimdienst, in der Struktur des gesamten Rußlands. In meinen Händen laufen alle Fäden zusammen wie bei einem Marionettenspieler. Und niemand kann mich von dieser Macht wegdrängen, weil alle die Hand aufhalten. Nur das Geld regierte die Welt, aber keiner will es wahrhaben.

Jetzt aber, bei dem Gespräch mit Dr. Sendlinger, hatte Sybin andere Sorgen.

Nataljas Schweigen verunsicherte ihn völlig. Er hörte deshalb auch nur die Hälfte dessen, was Sendlinger ihm am Telefon mitteilte.

»Die fünf Kilo sind angekommen. Sie liegen jetzt im Keller des Restaurants Zum dicken Adolf. Hat das einen Streit gegeben! Hässler wehrte sich wie ein eingekreister Bär. Aber schließlich gab er doch nach. Aus unserem Geschäft steigt man nicht einfach aus, das hat auch Hässler eingesehen.«

»Wird er zum Risiko?« fragte Sybin.

»Ich glaube nicht.«

»Wäre es nicht sicherer, diesen Hässler abzuschieben?«

Abschieben … ein harmloses Wort für einen Schuß in den Nacken. Dr. Sendlinger überlegte kurz. »Diese Art Trennung liegt mir nicht, Igor.«

»Und wie war das mit dem Polen Londricky?«

»Das hatte Waldhaas übernommen.«

»Dann sprich mit Waldhaas. Wir können keine Risiken mehr eingehen. Die fünf Kilo bei dir in Berlin sind die größte Menge Plutonium, die zur Zeit angeboten werden kann. Was jetzt zu beschaffen ist, sind kleine Mengen unterschiedlichster Reinheit, die man mischen muß, um einen guten Reinheitsgrad zu bekommen. Krasnojarsk fällt vorläufig aus … Wawra ist tot.«

»Mein Gott!« Dr. Sendlinger war echt entsetzt. »Man hat sie erwischt? Sie ist erschossen worden?!«

»Sie ist im Bett gestorben … durch Strahlenschäden.« Mehr sagte Sybin nicht darüber, die Hintergründe gingen Sendlinger nichts an. Ein Mann, der den Ast, auf dem er sitzt, selbst absägt, wird immer sagen, er sei abgebrochen. Und Sybins Plan, in alle Nuklearbetriebe Vertrauensleute zu setzen, von Murmansk bis Ostkamennogorsk, von der Ukraine bis nach Kasachstan, von der chinesischen Grenze bis Leningrad, das nun wieder St. Petersburg hieß, dieser Plan war eine Aufbauarbeit, die Zeit forderte. Man kann ein Imperium nicht zusammenhalten wie einen Sandhaufen. Dazu braucht man Überblick, die richtigen Leute und keine Skrupel, Unwillige oder gar Gegner in das Abseits zu schicken. Bis zu dem Tag, an dem Sybin zum Synonym für Macht geworden war, mußte man sich mit einem Kleinhandel von Nuklearmaterial begnügen. Es würde zunächst vor allem zu einem Angebot von Uran 235 kommen … von diesem stand genügend zur Verfügung. Fünfundzwanzig Kilogramm Uran 235 ergibt auch eine Atombombe, und es ist billiger als das reine Plutonium. »Uns bleiben jetzt noch vier Zulieferer. Aber die können nur kleine Mengen heranschaffen. Der wichtigste Mann ist jetzt Lew Andrejewitsch Timski in Majak. Er ist einer der wenigen, die an waffenfähiges Plutonium herankommen.«

»Und der Nachfolger von dieser Wawra?«

»Da ist im Augenblick nicht heranzukommen. Krasnojarsk müssen wir eine Zeitlang vergessen.« Sybin wich wieder aus. Ob Suchanow überlebte oder liquidiert wurde – er fiel für diesen Job aus. Was ist mit Professor Iwan Semjonowitsch Kunzew und seiner Tochter Nina, der lesbischen Ärztin? Aus Semipalatinsk hatte er seit Monaten nichts mehr gehört. In den geheimen Labors, die Kunzew leitete, operierte man auch mit reinem Plutonium, aber von dort war, wenn Kunzew wirklich mitspielen sollte, auch nur eine grammweise Lieferung möglich. Aber in seinem Forschungszentrum experimentierte man auch mit der Neuentdeckung Californium, einem Nuklearmetall, das bei einer Spaltung die Sprengkraft einer Neutronenbombe noch übertreffen sollte. Die Californiumforschung gehörte zu den geheimsten Projekten Rußlands. Selbst Sybin war sie unbekannt gewesen, bis Dr. Sendlinger ihn darauf hingewiesen hatte. Ein Gramm Californium kostete auf dem Schwarzmarkt zwei Millionen Dollar! Ein astronomischer Preis! Und Kunzew spielte damit in seinem Institut herum. Da gab es nur eine Entscheidung: Natalja muß wieder nach Semipalatinsk fliegen.

Natalja!

Sybin beendete das Gespräch mit Dr. Sendlinger abrupt. »Was ist mit dem Käufer der Kilo?« fragte er.

»Ich fliege in drei Tagen nach Wien und treffe ihn dort. Kann er nicht zahlen, fliege ich weiter nach Paris.«

»Zu dieser Madame mit dem ›Roten Salon‹?«

»Den werde ich natürlich auch besuchen. Soll ich Natal ja etwas ausrichten?«

»Nein. Ich fliege mit.«

»Igor Germanowitsch, das ist Unsinn!«

»Es ist kein Unsinn, Natalja zu besuchen!«

»Deine Anwesenheit könnte viel verderben.«

»Ich bin ein reisender Russe, ist das so ungewöhnlich?«

»In den ›Roten Salon‹ kommt man nur auf Empfehlung von einem Bürgen rein. Ich kann dich nicht hineinbringen. Ich bin selbst nur Gast und kann nicht bürgen.«

»Dann warte ich vor der Tür, und du schickst Natalja heraus.«

»Das ist völlig unmöglich, Igor, Paris ist nicht Moskau, wo man zu einer Frau sagen kann: Geh hinaus, draußen wartet einer auf dich!«

»Ich werde Natalja sprechen! Sie ist doch nicht eingemauert! Ich fliege mit. Morgen bin ich in Berlin.«

»Igor, bleib in Moskau und warte ab. Ich werde mit Natalja sprechen.«

»Nein! Ich fliege mit dir nach Paris.«

Damit brach Sybin das Gespräch ab und warf den Hörer auf die Gabel. Nur einen Moment dachte er an die aparte Amerikanerin Victoria Miranda und an seine Verabredung, ihr das Andrej-Rubjow-Museum mit seiner einmaligen Ikonensammlung zu zeigen, aber seine Sorge um Natalja und seine wachsende Eifersucht überwogen. Eifersucht … das war es im Grunde, was ihn am Denken hinderte. Wenn eine Frau, die man bis zur Selbstaufgabe liebt und die das weiß, sich über drei Wochen in Schweigen hüllte, mußte das einen anderen Grund haben als einen Mangel an Mitteilungsbedürfnis.

Sybin erließ an seine verschiedenen ›Direktoren‹ noch neue Instruktionen, holte genügend Dollars von der Bank, um in Frankreich fürstlich leben und Natalja Schmuck kaufen zu können … natürlich bei den berühmtesten Juwelieren von Paris. Wie alle neureichen Russen bezahlte er bar, und dies waren die beliebtesten Kunden an der Côte d'Azur und in Paris.

Am nächsten Morgen flog er nach Berlin. Er nahm sich eine Suite im Grandhotel Maritim in der Friedrichstraße und rief Dr. Sendlinger an.

»Ich bin da!« sagte er. »Wann fliegen wir nach Paris?«

»Übermorgen. Wo bist du jetzt?«

»Im Maritim. Komm zu mir.«

Dr. Sendlinger sah Waldhaas an, der vor ihm in einem Ledersessel der Kanzlei saß.

»Er ist da!« sagte er. »Er kommt einfach von diesem Weib nicht los! Der reichste Privatmann Rußlands hängt am Rockzipfel einer Edelnutte! Kann man das verstehen?«

»Sie wird ihre Qualitäten haben«, antwortete Waldhaas. Genüßlich trank er den fünfundzwanzig Jahre alten Whisky, den ihm Sendlinger angeboten hatte.

»Auch andere Frauen haben Pfeffer im Hintern!«

»Pfeffer ist nicht gleich Pfeffer, da gibt es Unterschiede! Diese Natalja muß voll Wahnsinnspfeffer sein.«

»Noch nicht einmal. Sie wirkt wie ein Mensch, dessen Blut nur fünfundzwanzig Grad warm ist.«

»Das sind die schlimmsten.« Waldhaas lachte. »Ich will nichts aus dem Nähkästchen hören, Paul, aber ich wette um meine Potenz, daß du versucht hast, bei ihr zu landen, und daß dein Maschinchen elend abgestürzt ist …«

»Du wirst sie kennenlernen.«

»Ich? Wie denn?«

»Du fliegst mit nach Paris.«

»Das ist mir neu.« Waldhaas stellte sein Whiskyglas auf den Tisch. Er war in den vergangenen Jahren etwas dicklich geworden. Niemand traute ihm mehr zu, daß er in SED-Zeiten ein guter Sportler gewesen war und als Major der Stasi sogar zweimal den ersten Preis der ›Offiziersolympiade‹ gewonnen hatte. Jetzt, als größter Baustoffhändler Berlins, schwamm er keine dreitausend Meter mehr, sondern paddelte in den Geldscheinen des Baubooms. So etwas macht bequem.

»Jetzt hast du es gehört«, sagte Sendlinger.

»So einfach geht das nicht. Ich habe Termine, Besprechungen, Baustellenbesichtigungen, muß zum Bausenator … ich kann nicht einfach weg wie du. Du hängst ein Schild an deine Tür: Vorübergehend keine Sprechstunden. Ich kann das nicht.«

»In diesem Falle kannst du es. Du mußt Sybin überwachen.«

»Was Besseres fällt dir wohl nicht ein?«

»Ich kann mich um ihn nicht kümmern. Ich muß die fünf Kilo Plutonium verkaufen. Außerdem habe ich durch eine Verbindung zu einem russischen General vier SS-25-Raketen und sechs SS-20 zu verkaufen. Sie liegen transportbereit im Hafen von Odessa. Dabei stört Sybin nur. Du mußt Sybin beschäftigen, Ludwig.«

»Soll ich mit ihm von Puff zu Puff ziehen? Dafür hat er doch seine Natalja.«

»Es kann sein, daß sie einen Heidenkrach miteinander bekommen. Dann dreht Sybin durch – und das mußt du verhindern. Laß ihn nie aus den Augen!«

»Soll ich unters Bett kriechen, wenn sie bumsen?« Waldhaas schüttelte energisch den Kopf. »Das mach ich nicht mit. Sybin ist unberechenbar. Er würde mich ohne Zögern umbringen. Um es klar zu sagen: Mein Leben ist mir zu wertvoll.«

»Es geht um rund vierhundert Millionen Dollar, du Rindvieh! Wir haben eine gemeinsame Firma. Dein Anteil beträgt, nach Abzug aller Kosten, rund siebzig Millionen Dollar. Dafür kann man wohl für ein paar Tage einen Sybin überwachen! Das war doch deine Spezialität bei der Stasi: Überwachung von Dissidenten.«

Waldhaas verzog das Gesicht. Er wollte nicht mehr an die Vergangenheit erinnert werden. Das war eine Zeit, die er verdrängt hatte. Dr. Sendlinger ahnte seine Gedanken und sagte hart:

»Und vergiß nicht, wer dich von allen Verdachtsmomenten befreit hat, und wer dir die weiße Weste angezogen hat. Was wärest du jetzt ohne mich?«

»Schon gut, Paul.« Waldhaas winkte ab. Laß die Vergangenheit ruhen. In vielen Bezirken ist es wieder wie früher … überall sitzen auf den wichtigen Stühlen alte Bekannte, jetzt mit einem strahlenden Demokratiebewußtsein. Vor allem in den ländlichen Gebieten sind die alten Genossen die fanatischsten Wiederaufbauer geworden. Millionen aus dem Topf der Solidaritätsabgabe rinnen durch ihre einnahmegeübten Hände. »Ich fliege mit!«

Später besuchten sie Sybin im Grandhotel Maritim. Sie fuhren zu seiner Suite hoch und trafen einen Mann an, der vor Nervosität hin und her lief. Ab und zu blieb er stehen, goß sich ein Wasserglas voll Wodka ein und trank es, als sei es kaltes Wasser. So kann nur ein Russe saufen, dachte Dr. Sendlinger. Nach zwei Wassergläsern voll Wodka läge ich in der Ecke.

»Ich brauche noch drei Kilo Plutonium, Igor Germanowitsch«, sagte er eindringlich. »Und ich habe auch Lithium 6, Cäsium 137 und Uranoxid U 305 angeboten. Ich warte auf die Proben und auf die Aufstellung der Liefermenge.«

Sybin blieb ruckartig stehen und starrte Sendlinger an. Nur in seinen Augen erkannte man, wie sehr er unter Alkoholeinfluß stand.

»Das interessiert mich im Moment einen Dreck!« schrie er Sendlinger an.

»Ein Dreck, der Millionen Dollar wert ist.«

»Das Geschäft läuft uns nicht weg … aber Natalja ist weg!«

»Wer sagt das?«

»Ich fühle es! Dieses Schweigen hat einen Grund!«

»Es kann viele Gründe haben«, schlug Waldhaas vor. »Zum Beispiel: Man könnte Verdacht geschöpft haben, und sie wird überwacht.«

»Sie hat ein Zimmer in der Villa und ein eigenes Telefon.«

»Das mühelos angezapft werden kann.«

»Wäre sie doch im Ritz geblieben, da kann sie keiner überwachen. Warum mußte sie in den ›Roten Salon‹ umziehen? Es war deine verrückte Idee!«

»Sie war die beste! Bei Madame de Marchandais trifft Natalja alle, die sich in unser Geschäft einklinken könnten. An erster Stelle ist das Anwar Awjilah und als gefährlicher Gegner Jean Ducoux, der Chef der Sondereinheit V der Sûreté. Er jagt uns. So jovial er aussieht, so raffiniert ist er. Ich habe ihn ja zum Freund gewonnen.« Dr. Sendlinger nahm Sybin den Wodka aus der Hand. Entgeistert starrte dieser ihn an. Das hatte bisher noch niemand gewagt. »Laß das Saufen, Igor. Reiß dich zusammen. Es steht mehr auf dem Spiel als diese Natalja.«

»Meine Natalja!« schrie Sybin. »Keiner weiß, was sie für mich bedeutet! Ihr Atem ist auch mein Atem! Ihr Lachen ist auch mein Lachen. Ihre Traurigkeit ist auch meine Traurigkeit.«

»Ich habe immer geglaubt, Natalja kann gar nicht lieben. Sie ist nur Körper, nie Seele.«

»Aber ich liebe sie! Das wirst du nicht verstehen!«

»Nie werde ich das verstehen. Du wickelst dich in eine Lüge ein. Du backst aus Illusionen zuckersüße Plätzchen, die du nie verdauen kannst. Man sollte dich durchschütteln und dir in beide Ohren schreien: Wach auf!«

»Ich bin wach. Und wie wach ich bin! Deshalb fliege ich ja nach Paris.«

Dr. Sendlinger warf Waldhaas einen schnellen Blick zu. Er nickte zurück. Verstanden. Ich werde Sybins Schatten sein. Er hat sein Gehirn um Natalja verknotet … hoffentlich muß man es nicht, wie Alexander den Gordischen Knoten, zerschlagen. Warum kann eine Frau einen Mann in den Wahnsinn treiben … gibt es nicht genügend Frauen auf der Welt? Warum muß es genau diese eine sein?

Waldhaas schüttelte den Kopf. Er hatte diese Probleme nie gehabt. Wenn die eine ging, stand eine andere schon vor der Tür. Man könnte ihn als Macho beschimpfen. Sei's drum, aber er lebte ruhiger.

Am nächsten Tag flogen sie statt nach Wien sofort nach Paris. Sie stiegen im palastartigen Hotel Crillon ab und bezogen Zimmer, die Sybin an die Prunkräume des Katharinenpalastes in St. Petersburg erinnerten. Und plötzlich glaubte Sybin zu wissen, warum Natalja schwieg: Sie war überwältigt von der Pracht, und sie stellte Vergleiche an mit der Datscha, die ihr der reichste Mann Rußlands geschenkt hatte. Gegen den Pariser Prunk war sie eine Hütte für Wildhüter.

Sybin trat an das große Fenster und blickte hinunter zur Place de la Concorde.

Du sollst leben wie eine französische Königin, dachte er. Natalja, ich werde eines der verfallenen russischen Schlösser kaufen, das schönste, und für dich wiederaufbauen, mit allem Glanz, als wohne der Zar darin. Verzeih mir … ich habe Paris ja bis heute nicht gekannt. Verzeih mir, dem Proleten, der dir jetzt ein Stück des Himmels kaufen kann.

Sybin, ein Mann von schnellen Entschlüssen, schrieb sofort ein Fax, das ein herbeigeklingelter Page zur Telefonzentrale des Hotels brachte. Es lautete:

»Ab morgen werden drei Architekten alle verlassenen Schlösser oder Adelssitze an der Allee von Peterhof und Puschkin auf ihren baulichen Zustand hin untersuchen und in Details fotografieren. Auch die bereits verfallenen Palais werden bewertet. Ich wünsche, daß mir in zehn Tagen die Expertisen vorliegen. Sybin.«

Mit dieser Idee, für Natalja ein Adelsschloß zu kaufen, ging Sybin zufrieden ins Bett. Er glaubte zu wissen, Nataljas heimliche Wünsche damit erfüllen zu können.

Genau um dieselbe Stunde lag Natalja in dem kleinen Zimmer des Hotels Monique in Fultons Armen, unendlich glücklich, innerlich befreit und zum ersten Mal erkennend, was Liebe ist: vollkommene Hingabe und Erfüllung aller Sehnsucht.

Und unten in der Küche kochte Madame Juliette Bandu eine kräftige Gulaschsuppe – ein Mann, der etwas leistete, mußte auch etwas Gutes essen.

Sie hatte Natalja Petrowna in ihr Herz geschlossen wie eine Mutter, die für ihren Sohn nur das Beste wollte.

Den ersten Schock erlebten Dr. Sendlinger und Waldhaas, als Sybin nicht, wie abgemacht, im Frühstücksraum erschien. Sie waren für zehn Uhr verabredet, und als es halb elf wurde, ließ Sendlinger in Sybins Zimmer rufen. Die Antwort elektrisierte ihn.

»Sybin ist nicht da!« sagte er zu Waldhaas, der sich angewöhnt hatte, zum Morgenkaffee auch einen Kognak zu trinken. »Er meldet sich nicht.«

»Er wird in der Badewanne sitzen. Was der gestern wieder gesoffen hat! Er muß einen Schwamm statt einer Leber haben.«

»Er ist weg, Ludwig, er hat das Hotel um acht Uhr verlassen.«

»O Scheiße!« Waldhaas verfiel in den Jargon der früheren Jahre. »Jetzt haben wir den Mist. Ich kann doch nicht vor Sybins Tür auf dem Flur schlafen!«

»Damit haben wir nicht gerechnet. Ahnst du, wohin er gefahren ist?«

»Zum ›Roten Salon‹. Wir müssen sofort hinterher.«

»Um diese Zeit läßt man keinen Gast herein.« Sendlinger trank noch schnell eine Tasse Kaffee. »Da schläft alles noch.«

»Und wenn er so lange Klingelterror macht, bis jemand kommt? Wenn er draußen steht und ›Natalja‹ brüllt? Ihm ist jetzt alles zuzutrauen. Sein Verstand ist blockiert.«

»Um acht Uhr ist er weg … jetzt haben wir Viertel vor elf … da kann schon alles passiert sein.« Sendlinger warf seine Serviette auf den Tisch. »Verdammt, wenn wir zu spät kommen …«

Sie nahmen ein Taxi, ließen es zwei Straßen von der Villa entfernt parken und gingen zu Fuß zu der schloßartigen weißen Villa. Waldhaas blieb stehen. »Donnerwetter«, sagte er. »Das ist ein Brocken. Wie kann man mit einem Puff soviel verdienen?«

»Madame de Marchandais hat das Haus von ihrem Mann geerbt. War's der dritte oder der vierte, ich weiß es nicht mehr. Sybin ist nicht hier. Ich sehe keinen Wagen.«

»Wie du sagst: Sie haben ihn nicht hineingelassen.«

»Und da gibt er auf? Da stimmt was nicht. Ein Sybin gibt nie auf. Schwierigkeiten zertrümmert er. Aber er ist nicht hier, das ist fast wie ein Wunder!«

»Vielleicht hat man ihn doch ins Haus gelassen?«

»Einen Fremden, einen Unbekannten … niemals. Das würde Madame nie zulassen.«

»Wenn er sich als Nataljas Mann ausgibt? Oder er hat denjenigen, der öffnete, einfach niedergeschlagen und tobt jetzt im Haus herum.«

»Dann wäre längst die Polizei hier.«

»Was tun wir also?«

»Wir fahren zum Hotel zurück. Vielleicht ist Sybin längst zu Hause und hat nur einen Spaziergang gemacht.« Dr. Sendlinger wischte sich über die Stirn, auf der kalter Schweiß perlte. »Was mich beruhigt, ist, daß er nicht da ist. Es hätte auch anders kommen können.«

Hier irrte Dr. Sendlinger.

Es hätte nicht schlimmer kommen können.

Sybin war wenige Minuten nach acht Uhr mit einem Taxi vor der Villa am Bois-de-Boulogne angelangt und bewunderte mit zusammengekniffenen Augen das feudale Gebäude.

Hier also wohnt sie, dachte er. Natalja, ich werde dir ein Schloß schenken, gegen das diese Villa ein Gesindehaus ist. Ich weiß jetzt, was du brauchst und wie geizig ich war. Du bist eine Kaiserin der Schönheit, und wie eine Kaiserin sollst du auch leben.

»Warten Sie hier«, sagte er zu dem Chauffeur. Der verstand ihn natürlich nicht, aber als Sybin ihm zweitausend Francs hinhielt und eine Geste macht, hierzubleiben, verstand ihn der Taxifahrer sofort. Die Sprache des Geldes ist international, da gibt es keine Grenzen.

Kurz vor neun Uhr kam ein Taxi angefahren und hielt vor der Villa. Sybin beugte sich vor. Als er Natalja aus dem Wagen steigen sah, wollte er die Tür aufreißen, aber dann umklammerte seine Hand den Griff.

Ein Mann stieg hinter Natalja aus, umarmte sie, zog sie an sich und küßte sie ungeniert und lange. Während der Umarmung streichelte sie seinen Rücken und drückte ihren Körper an ihn, und er griff in ihr schwarzes Haar, zerwühlte es und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, von der Stirn über die Wangen, zu den Ohren und dann hinunter bis zur Halsbeuge, und sie bog sich in seinen Armen zurück und krallte ihre Finger in seinen Rücken, als habe die Nacht nicht gereicht, ihre Leidenschaft zu bändigen.

Sybin starrte durch das Fenster und war blaß geworden. Der Taxifahrer vor ihm schnalzte mit der Zunge und sagte: »Das ist Liebe! Man kann nie genug kriegen. Mademoiselle ist wunderschön.«

Da er französisch sprach, verstand Sybin ihn nicht, aber der Klang der Stimme sagte ihm genug. Die Worte trafen ihn wie Peitschenhiebe. Es war ihm unmöglich, wegzusehen, wie Natalja nach dieser Kußorgie die Treppen hinauf zur Tür sprang, mit dem Schlüssel aufschloß und dem Mann noch einen Handkuß zuwarf, ehe sie in der Villa verschwand.

Fulton stieg wieder ins Taxi und zog die Tür hinter sich zu.

»Hinterher!« sagte Sybin mit kaum wiedererkennbarer Stimme. »Hinterher!« Er zeigte auf den wegfahrenden Wagen und hielt seinem Fahrer noch einmal zweitausend Franc hin. Auch jetzt verstand der Fahrer … viertausend Francs an einem ruhigen Morgen, da fährt man gerne einem Kollegen hinterher.

Während der Fahrt durch Paris hatte sich Sybin weit in das Polster zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Er fühlte keine Wut, keine Mordlust, keinen Vernichtungswillen … Er kam sich nur leer vor, hineingestoßen in eine unendliche Einsamkeit, in einen luftleeren Raum, in dem er schwerelos herumschwebte. Und da war eine Stimme, die rief: Du hast sie verloren! Sie braucht kein Schloß mehr von dir. Nicht einmal eine Hütte … sie ist glücklich auf einem kleinen Fleck dieser Erde … ein Fleck, so groß wie ein Bett. Natalja Petrowna hat ihre Seele entdeckt.

Sybin verkrampfte die Finger ineinander, so fest und unkontrolliert, daß die Gelenke knackten. Aber er spürte keine Schmerzen. Er sah nur immer wieder das Bild der sich leidenschaftlich Küssenden, diesen angedeuteten Beischlaf in aller Öffentlichkeit, diese Hingabe ohne Zeit und Raum.

Er schrak hoch, als das Taxi bremste. Der Fahrer drehte sich zu ihm um. »Da sind wir.«

Sybin drückte das Gesicht gegen die Autoscheibe. Er sah den Mann, der ihm Natalja weggenommen hatte, aus dem Wagen steigen und ein Haus betreten. Auf einem vergilbten Schild stand: Hotel Monique.

Hier wohnt er also. Hier, in einem kleinen, alten Hotel … nicht in einer Luxusherberge … in einer schäbigen Absteige am Rande des Vergnügungsviertels. Mit einem solchen Mann, mit einem solchen Niemand, mit einem solchen Penner geht sie ins Bett. Ihr könnte die Welt zu Füßen liegen, und sie legt sich lieber auf eine speckige Matratze wie die billigste aller Moskauer Huren. Wer ist dieser Mann, der ihr mehr wert ist als ich? Kann eine Königin ein Dreckschwein lieben? Sie kann es … ein Engel fällt in die Gasse.

Er las noch einmal das Schild, merkte sich den Namen Monique, tippte dem Fahrer auf die Schulter und zeigte nach vorn. »Fahr los, zurück. Es gibt den alten Sybin nicht mehr.«

Der Taxifahrer, der keim Wort verstand, schüttelte den Kopf, aber Sybins Handbewegung deutete er richtig. »Wohin?« fragte er und zeigte geradeaus.

»Hotel Crillon …«

Im prunkvollen Foyer des Hotels saßen Dr. Sendlinger und Waldhaas; sie sprangen sofort auf, als Sybin durch die große Glastür kam. Beide waren sichtlich erleichtert.

»Wo warst du?« fragte Sendlinger. Sybin war blaß. »Warst du bei Madame de Marchandais? Hast du Natalja gesprochen?«

»Nein.«

Sybin ließ sich in einen tiefen Sessel fallen und zog die Beine an. Gesprochen. Natalja. Was hätte ich zu ihr gesagt, wenn sie mir gegenübergestanden wäre? Zusammen mit diesen Mann, der in einer Kaschemme wohnte und in den sie fast hineinkroch. Worte? Hätte ich ein Wort gesagt? Was hatten Worte noch für einen Sinn? Vielleicht hätte ich die Hände um ihren Hals gelegt und sie erwürgt. Oder nicht? Wär es nicht sinnvoller, den Mann zu töten, der sie mir weggenommen hat? Das ist die einzige Lösung … erst den Mann, dann sie … aber nicht, bevor ich weiß, wer er ist.

»Wo warst du?« fragte Dr. Sendlinger noch einmal, dieses Mal eindringlicher.

»Ich bin herumgefahren. Nur so … herumgefahren. Paris ist eine schöne Stadt … aber St. Petersburg gefällt mir besser.«

»Du läßt dich morgens um acht allein durch Paris fahren?«

»Ich hatte plötzlich Lust dazu.« Sybin schloß die Augen und drückte den Kopf an die Sessellehne. Das Bild, wie Natalja und der Kerl sich auf der Straße küßten, dieses verdammte Bild schob sich zwischen ihn und seine Umwelt. Er nahm Sendlinger und Waldhaas kaum wahr, die zweite Halle des Crillon wurde erfüllt von diesem Bild, er verstand die Worte nicht mehr, er nahm nur noch Geräusche wahr, und sein Körper begann zu schmerzen, das Atmen fiel ihm schwer, in seinen Schläfen rauschte es, und seine Nerven vibrierten.

Natalja Petrowna, einen Sybin betrügt man nicht. Einen Sybin verläßt man nicht. Was einem Sybin gehört, gibt er nicht wieder her. Du bist mein Eigentum geworden, und niemand bestiehlt mich ungestraft.

»Ich werde nachher Ducoux anrufen und mich mit ihm am Abend im ›Roten Salon‹ treffen«, hörte er Dr. Sendlinger sagen. »Wo willst du den Abend verbringen? Oper? Theater? Oder Moulin Rouge? Pigalle? Quartier Latin? Ludwig führt dich überallhin, wohin du willst.«

»Ich gehe mit dir zu dieser Madame …«

»Unmöglich!«

»Nichts ist unmöglich bei Igor Germanowitsch Sybin!«

»In Moskau mag das zutreffen … aber hier ist Paris. Als was soll ich dich Madame oder Ducoux vorstellen? Als der Welt größter Nuklearlieferant?«

»Ich bin ein Exporteur …«

»Das stimmt sogar. Du exportierst den Tod.«

»Und du verkaufst ihn und gibst ihn weiter. Der ehrbare Rechtsanwalt in Berlin. Der Freund hoher Politiker. Ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse. Der jedem fröhlich die Hand drückt und im Keller eines Lokals fünf Kilogramm reines Plutonium versteckt.«

»Was soll das?« Waldhaas schüttelte entsetzt den Kopf. »Ihr streitet euch herum wie zwei wütende Jungen! Ihr seid doch keine Kindsköpfe! Du bist ein Lump, nein, du bist ein Schuft, und beide sitzt ihr im selben Boot, und jeder bohrt es an. Man kann doch vernünftig über alles reden.«

»Ich möchte Natalja sehen und sprechen«, sagte Sybin trotzig. »Nur darum bin ich in Paris.«

»Wenn ich Natalja bei Madame sehe, werde ich ihr sagen, daß du im Hotel auf sie wartest.« Sendlinger winkte einem Pagen und bestellte für sich einen Pernod. »Zufrieden, Igor?«

»Nein.« Sybin nahm ihm das Glas weg und trank es in einem Zug leer. »Ein fürchterliches Zeug! Wie kann man so etwas trinken.« Er hustete und wischte sich mit einem Taschentuch, das rotgestickte Initialen I.G.S. verzierte, die Nase.

»Wie kann man euren Büffelgraswodka trinken! Der Franzose liebt Pernod.«

»Du willst Natalja ins Hotel schicken! Und wenn sie nicht kommt …«

»Warum soll sie nicht kommen? Wenn sie hört, daß du in Paris bist, wird sie am liebsten zu dir fliegen wollen …«

Sybin starrte ziellos in die Halle. Alles verschwamm wie hinter einer Milchglasscheibe. Dann wieder das verfluchte Bild: Natalja eng an einen Mann gedrückt, seinen Rücken streichelnd, ein Kuß, der alles vergessen ließ … Sie wird nicht ins Hotel kommen, sie wird sich aus Angst vor mir verkriechen, sie wird Paris verlassen und sich irgendwo verstecken. Sie wird ahnen, warum ich nach Paris gekommen bin, und sie weiß, daß kein Weinen und kein Flehen mehr hilft. Wer einen Sybin verletzt, hat das Recht verloren, zu leben.

»Wann gehst du zu dieser Madame?«

»Heute abend, sobald ich mit Ducoux gesprochen habe. Morgen früh kann ich dir sagen, wer vier Kilo Plutonium gekauft hat. Dann hat jeder von uns hundert Millionen Dollar in der Tasche.« Sendlinger bestellte einen neuen Pernod. »Und nicht nur das. Ich werde Aufträge für Sprengköpfe und Raketenzündstoff mitbringen. Wieviel kann ich anbieten?«

»General Lucknetschow hat mir zwanzig Sprengköpfe versprochen. Von einem Verschrottungsplatz für SS-20-Raketen werden bis Ende des Jahres fünfundzwanzig Treibsätze abgezweigt werden.« Sybin zählte unlustig seine Warenlager zusammen. Er durchschaute Sendlingers Taktik, vom Thema Natalja abzulenken. »In Sewerodwinsk, einem Hafen der Nordmeerflotte, liegen auf der Werft ›Swjesdotschka‹ vierundzwanzig Atom-U-Boote, die nicht abgewrackt werden können, weil die Werft die Stromrechnungen nicht bezahlt hat und man den Strom deshalb abgestellt hat. In allen U-Booten sind die Kernreaktoren noch an Bord. Keiner kümmert sich darum. Sie werden jetzt heimlich ausgebaut und liefern Uran 237 mit einem Anreicherungsgrad von sechzig Prozent. Das ist typisch für Atom-U-Boot-Reaktoren.«

»Igor! Davon weiß ich ja nichts!« rief Sendlinger. Es klang anklagend, aber Sybin winkte ab.

»Es ist auch eine Quelle. Die Wachtürme rund um das Werftgelände sind nicht besetzt; früher standen da schwerbewaffnete Soldaten. Der Elektrozaun ist an vielen Stellen aufgeschnitten, denn er kann wegen Strommangel nicht geladen werden.« Sybin gab sich Mühe, sich auf die Informationen zu konzentrieren. »Ich habe aus dem Marinestab erfahren, daß über hundert Atom-U-Boote in russischen Häfen herumliegen und nicht ausgebaut werden können, weil die Wiederaufbereitungsanlage Tscheljabinsk-65 völlig überlastet ist. Die Firma ›Majak‹ arbeitet mit halber Kapazität, weil die Arbeiter seit drei Monaten keinen Lohn mehr bekommen haben. Für uns ist das gut … wer hungert, verkauft alles, was sich verkaufen läßt. Bei Majak liegt in erster Linie Nuklearmaterial. Deshalb hat unser Mann Timski auch über ein Kilo Plutonium heranschaffen können. Dabei hat er einen neuen, sicheren Transportweg gefunden: Jeder männliche Arbeiter in Tscheljabinsk-65 wird mit Detektoren beim Verlassen des Werksgeländes abgetastet … aber nicht die schwangeren Frauen! Was tut der listige Timski? Er steckt jeder Schwangeren ein paar Gramm Plutonium unter den Rock … und draußen ist die Ware! Wie die Ameisen schleppen die Frauen das Plutonium ins Freie. Diesen Trick geben wir jetzt auch an die anderen Atomwerke und Forschungsinstitute weiter. Zehn Weiber mit je zehn Gramm im Kleid, das sind schon hundert Gramm. Auf diese Weise bekommen wir schnell die Menge zusammen, die wir brauchen.«

»Und haben Hunderte von Mitwisserinnen! Igor, das ist ein gefährlicher Weg, den dieser Timski da entdeckt hat.«

»Der sicherste! Jede Frau erhält für einen Transport ein Pfund Fleisch oder eine luftgetrocknete Wurst oder einen halben Liter Sonnenblumenöl. So etwas schlägt man nicht aus … zu Hause warten die hungrigen Mäuler. Und wenn eine den Mund aufmachen sollte – warum sollte sie, so patriotisch ist keiner, den man um den Lohn betrügt –, aber gut, eine macht den Mund auf, dann werden die anderen dafür sorgen, daß sie schnell keinen Ton mehr herausbringt. Frauen sind da anders als Männer. Ein Mann kann – idiotisch die meisten – politisch denken … eine Frau denkt an die Kinder und an das Geschrei: ›Mamutschka, ich habe Hunger!‹ So muß man das sehen … dann schläft man ruhiger.«

»Ich kann das alles anbieten?« fragte Dr. Sendlinger. In diesem Augenblick war ihm Sybin unheimlich. Wo überall hatte er seine Finger hineingesteckt, was und wer stand unter seiner Kontrolle, arbeitete für ihn oder knüpfte Verbindungen?

»Du kannst alles verkaufen, was aus Militärbeständen stammt.«

»Das hast du bisher verschwiegen.«

»Lenin sagte: Glauben ist gut, Kontrolle ist besser. Als ich dich kennenlernte, warst du für mich ein Unbekannter, der große Töne spuckte. Das kann jeder … spitz die Lippen, und aus der Trompete kommt ein Ton. Ich habe dich jetzt fast zwei Jahre lang beobachtet, und mein Vertrauen – das wirst du gemerkt haben – wurde immer größer.« Wieder nahm Sybin Sendlingers Pernod und trank ihn. »Wir haben noch viel zu besprechen. Auch über deinen Bakterienwahnsinn habe ich nachgedacht.«

»Das ist die Zukunft, Igor Germanowitsch.«

»Aber noch nicht greifbar. Was greifbar ist, das ist Natalja!«

Dr. Sendlinger verdrehte die Augen und bestellte den dritten Pernod. Er hoffte, diesen nun selbst trinken zu können.

»Vergiß wenigstens jetzt Natalja. Ich treffe heute abend zwei Vertreter interessierter Länder. Darum kann ich dich nicht mitnehmen! Ich muß meine Tarnung behalten, verstehst du das denn nicht? Wenn ich mit einem Russen ankomme, wird Ducoux trotz aller Freundschaft mißtrauisch. Er weiß, wie der Atomschmuggel läuft. Nur Namen kennt er nicht. Wenn er deinen Namen erfährt, wird er sofort mit Moskau Verbindung aufnehmen.«

»Ist denn bei euch jeder Russe verdächtig?«

»Nein, aber jeder, der in den Kreis des ›Roten Salons‹ einsteigen will.«

»Ich bin ein Urlauber, weiter nichts!«

»Und Ducoux ist ein versierter Polizist. Gerade jetzt, seit einige Kuriere mit russischem Nuklearmaterial enttarnt worden sind, ist für ihn jeder unbekannte Russe zunächst verdächtig. Vor allem, wenn er so reich ist wie du! Der erste Gedanke: Woher kommt plötzlich dieser Reichtum. Der zweite Gedanke: Gehört er zur neuen russischen Mafia?«

Sybin verzog den Mund, als habe er Essig getrunken. Als er erneut nach Sendlingers Glas griff, zog dieser das Glas aus seiner Reichweite. »Ich mag das Wort Mafia nicht«, sagte Sybin ärgerlich. »Es gibt keine russische Mafia! Wir sind ein privates Großunternehmen, weiter nichts. Wir helfen, das neue Rußland in die internationale Marktwirtschaft einzugliedern.«

»So kann man das auch nennen.« Waldhaas lächelte spöttisch. »Wenn einer von der angegebenen Straße abweicht, verunglückt er tragisch.«

»Bei großen Transaktionen gibt es manchmal Unfälle. Das muß man einkalkulieren.« Sybin starrte erneut in die weite Hotelhalle. Wer ist dieser Mann, bohrte es in ihm. Immer wieder die gleiche Frage, wie bei einem Sprung in einer Schallplatte, wer ist der Mann … wer ist der Mann … »Aber da kann es auch Fehlkalkulationen geben«, sprach er weiter und senkte dabei seine Stimme, als stünde er an einem Grab und nehme für immer Abschied. »Ich habe Natalja alles gegeben, was sie sich wünschte. Ich habe nie nein gesagt. Was habe ich falsch gemacht?«

Dr. Sendlinger wurde es zuviel, immer nur dieses Gejammer zu hören. Für ihn war die Reise nach Paris nach langer, langer Vorbereitung die Erfüllung seiner Pläne: mit einem Geschäft über Hunderte von Millionen Dollar die Zentrale für waffenfähiges Plutonium 239 zu werden. Zusammen mit Sybins Organisation würde er den illegalen Markt für Nuklearbeschaffung kontrollieren. Was bedeutete dagegen eine Natalja Petrowna?

»Du hast sie zu sehr verwöhnt, das ist alles!« sagte er ziemlich grob. »Und das Verrückteste: Du hast dich in sie verliebt, wirklich verliebt.«

»Ja. Ich liebe sie.«

»Du bist ihr hörig. Das ist das Schlimmste, was einem Mann passieren kann. Das ist eine Art Wahnsinn und weiter verbreitet, als man weiß. Einer Frau hörig zu sein, bedeutet, sein Ich aufzugeben, sein Hirn zu verlieren, sein Leben in einen einzigen Schoß zu werfen. Igor Germanowitsch … vergiß nicht, daß du einer der mächtigsten Männer Rußlands bist! Das ist dein Leben, das ist deine Aufgabe heute und in Zukunft …«

»Du nimmst mich also nicht mit in den ›Roten Salon‹?«

»Nein, auf gar keinen Fall. Aber ich werde Natalja sagen, daß sie zu dir ins Hotel kommen soll …«

»Ich warte.« Sybin erhob sich und nickte Sendlinger und Waldhaas zu. »Ich bin auf meinem Zimmer.« Und dann, ganz leise, aber für die beiden hörbar: »Wenn sie nicht kommt, bringe ich sie morgen um …«

Er drehte sich schroff um, ging zum Lift und fuhr nach oben. Waldhaas starrte ihm mit sorgenvollem Gesicht nach. »Er tut das wirklich …«

»Ich werde Natalja warnen.« Dr. Sendlinger blickte auf seine Uhr. Es war Zeit, sich mit Ducoux in Verbindung zu setzen. »Ich weiß nicht, warum sie schweigt …«

»Mir ist das kein Rätsel. Ein anderer Mann …«

»Das scheidet aus. Sie haßt Männer. Sie ekelt sich vor ihnen.«

»Und wenn sich das geändert hat?«

»Nicht bei Natalja. Irgendein Kindheitserlebnis muß bei ihr so tief sitzen, daß es sie total verändert, sobald sich ihr ein Mann nähert. Da hilft auch die Pariser Luft nichts. Ein anderer Mann? Niemals!«

»Kennst du Natalja so gut?«

»Ich habe sie in Moskau beobachtet … und sie hat es mir gesagt. Indirekt, aber deutlich genug. Glaub mir, ich wäre gern mit ihr ins Bett gegangen. Sie ist eine Edelnutte, habe ich gedacht. Sie treibt's mit jedem, von dem sie sich einen Vorteil erhofft. Ich habe mich gründlich geirrt. Vor einem anderen Mann braucht Sybin keine Angst zu haben.« Dr. Sendlinger stand auf und zog sein Jackett gerade. »Ich rufe jetzt Ducoux an. Und was machst du?«

»Ich muß auf Sybin aufpassen, sagst du. Ein Wachhund darf seinen Posten nicht verlassen.«

»Sybin wird auf seinem Zimmer bleiben. Sieh dir Paris an, aber fall nicht in eine Löwengrube, die Mademoiselle heißt …«

Waldhaas setzte sich an die um diese Stunde leere Bar, trank ein Bier und überlegte, was mit der Zeit anzufangen wäre. Er entschloß sich, Notre-Dame zu besichtigen und dann an den Ufern der Seine bei den Boukinisten in den antiquarischen Kostbarkeiten zu wühlen. Alte Bücher – man konnte Schätze darunter entdecken.

Sybin blieb allein im Hotel zurück, aber darauf hatte er nur gewartet. Gegen sieben Uhr abends rief er bei Dr. Sendlinger und Waldhaas in deren Suiten an und erhielt keine Antwort. Um ganz sicher zu sein, daß sie das Crillon verlassen hatten, fuhr er mit dem Lift hinunter in die Halle und tat so, als habe er gerade das Hotel betreten. Der Chefportier starrte auf das Schlüsselbrett und schüttelte den Kopf. Er sprach englisch.

»Die Gentlemen haben das Haus verlassen. Wollen Sie eine Nachricht hinterlegen, Sir?«

»Nein, danke. Ich melde mich wieder.«

Sybin verließ das Crillon und ließ sich ein Taxi herbeiwinken. Während Dr. Sendlinger wie ein alter Freund von Ducoux empfangen wurde und Waldhaas an der Seine bummelte und Mädchen nachblickte, ließ sich Sybin zum Hotel Monique fahren und folgte damit dem Gefühl, Natalja zu treffen. Sie wird kommen, das spürte er wie ein Eisen, das sein Herz umschloß. Sie wird kommen, und dieser Mann wird sie wieder erst morgen früh zurückbringen in die weiße Villa am Bois-de-Boulogne. Sie wird die ganze Nacht in seinen Armen liegen und ihn mit der Leidenschaft lieben, die er kannte und die bei ihm nur gespielt war. Hier aber schien ihre Liebe echt zu sein, ihr wochenlanges Schweigen war ein Beweis dafür. Ein Mann, dem sie nur ihren Körper anbot, hätte sie nicht daran hindern können, in Moskau anzurufen.

Sybin bezahlte, stieg aus dem Taxi und stellte sich dem Hotel gegenüber in den Hauseingang eines verwahrlosten Hauses, in dessen Treppenhaus es nach gebratenem Fisch stank. Wie bei Onkel Wanja, dachte Sybin. Damals, als kleiner, armer Junge war ich froh gewesen, wenn ich einen gebratenen Stör bekam, den der Onkel selbst gefangen hatte.

Seine Ahnung bestätigte sich: Nach zwanzig Minuten Warten hielt ein großer Citroën vor dem Hotel Monique, und Natalja stieg aus. Sie schloß den Wagen ab und verschwand durch die alte Eichentür.

»Ich brauche heute dein Auto«, hatte sie zu Madame de Marchandais gesagt. »Gibst du ihn mir?«

»Du willst wieder zu ihm?«

»Ja.«

»Keinen Abend bist du mehr zu Hause, das fällt allen auf. Und daß Bob Fulton nicht mehr kommt, erkläre ich immer damit, daß er für seine Firma unterwegs ist. Man glaubt es mir, nur Ducoux macht ein Gesicht, als wolle er mir sagen: Lüg nicht so infam!«

»Ich liebe Bob … ich liebe ihn wirklich, Louise. Ich habe zum ersten Mal gefühlt, was Liebe ist. Es ist wie ein Wunder über mich gekommen.«

»Es mußte einmal geschehen, das habe ich gewußt. Aber ausgerechnet ein Amerikaner? Ein Vertreter für Cocktails!«

»Er hätte auch Schafzüchter sein können …«

»Dann hätte ihn Ducoux nicht mitgebracht.« Madame nickte und küßte Natalja auf die Stirn. »Nimm meinen Wagen. Was lüge ich den anderen heute vor? Wann kommst du zurück?«

»Morgen früh … aber früher als sonst. Ich muß noch einen Koffer packen.«

»Du willst verreisen?« Madame war entsetzt. Die Nachricht traf sie so unerwartet, daß sie sich in einen der Sessel fallen ließ. »Zurück nach Moskau?«

»Nein. Mit Bob nach Marseille.«

»Was willst du in Marseille?«

»Bob will dort eine Filiale gründen. Ich begleite ihn.« Sie sah, wie fassungslos Louise war, beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Stirn. »Warum machst du dir Sorgen? Ich komme doch wieder. Ich bleibe in Paris, solange Bob auch hier ist.«

»Ihr wollt zusammenbleiben?«

»Darüber haben wir noch nicht gesprochen …«

»Und dein reicher Freund in Moskau?«

»Ich weiß nicht, ich habe Angst, ihm zu sagen: Ich komme nicht mehr nach Moskau zurück.«

»Du willst deinen ganzen Reichtum wegwerfen wegen dieses Fulton? Natalja, du kannst nicht mehr klar denken! Wach auf!«

»Wach auf! Das hast du mir auch gesagt, als ich noch alle Männer haßte. Nun liebe ich wirklich … und wieder ist es falsch? Wenn ich an Igor denke, beginne ich zu frieren. Sind Millionen Dollar so wichtig?«

»Man kann ruhiger damit leben.«

»Nein, nicht leben. An Igors Seite kann niemand leben! Was Leben ist, bestimmt er, und er bestimmt auch, wer leben darf und wer nicht. Er ist der Herr … und spielt Gott!«

»Du hast nie seinen Namen genannt. Wer ist er?«

»Ein Mann, der Geld verdient, das andere ihm zutragen.«

»Ein Fabrikant?«

»Nein, eher ein Händler. Er verkauft alles, was Geld bringt. Er sieht das Gold auf der Straße liegen, an dem alle anderen vorbeigehen.«

»Also ein Genie …«

»Auf seine Art, ja. Und er liebt mich … das ist das Schreckliche. Wenn er mich in die Arme nimmt, beginne ich zu frieren. Und dann schließe ich die Augen und werde zur Schauspielerin in einer leidenschaftlichen Liebesszene. Danach könnte ich mich anspucken, ich hasse mein Spiegelbild und schreie mir ins Gesicht: Du elende Hure! Davor will ich fliehen … weg aus Moskau, mit Bob irgendwohin, und das alte Leben vergessen.«

»Du wirst es nie vergessen, Natalja. Es ist in dich eingebrannt. Es ist wie eine Tätowierung, die man nie wieder los wird. Ob dieser Fulton der richtige Mann ist?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich ihn liebe und daß ich, zum ersten Mal in meinem Leben, glücklich bin.«

Das war vor einer Stunde gewesen. Jetzt stieg Natalja aus Madames Citroën, und Sybin knirschte mit den Zähnen, als er sie das Hotel Monique betreten sah. Sie sah wie eine Elfe aus in ihrem kurzen, buntgeblümten Sommerkleid und den schwarzen Haaren, in die sie an der linken Schläfe mit einem Clip eine rote Rose geklemmt hatte.

Sybin war unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Etwas, das war sicher, mußte geschehen. Seinen ersten Gedanken, ihr nachzulaufen und sie noch im Eingang zu röten, verwarf er wieder. Warum sie töten, dachte er. Damit bestrafe ich mich selbst. Nein, den Mann soll man töten … das trifft sie härter, das wird sie wieder vernünftig machen, das wird eine Warnung für sie sein … vor ihren Augen stirbt ihr Geliebter, und dann wird sie morgen bei Bulgari oder van Cleef and Arpel's den teuersten Schmuck kaufen, den sie haben. Die Erinnerung an diesen Alarm wird man mit Gold ersticken. Nein … sie muß weiterleben, wieder zurück nach Moskau kommen, und dort wird sie die Pläne sehen für einen neuen Palast, der gekauft worden ist. In St. Petersburg, an der Straße nach Puschkin … ein Schloß, wie es der sagenhafte Stroganoff nicht gehabt hat. Und sie wird diesen verdammten Mann vergessen, der es gewagt hat, sie mir wegzunehmen!

So mußt du es machen, Igor Germanowitsch: Töte ihn!

Sybin löste sich aus dem Schatten der Haustür, überquerte die Straße und betrat das Hotel Monique.

Den Plan, den Fulton-Fontana entwickelt hatte, hielt Ducoux für absolut verrückt.

Typisch amerikanisch – das war seine Meinung zu allem, was Fulton ihm vortrug. Eine Wahnsinnsidee, die man in einem Kinofilm einem unbedarften Publikum vorsetzen kann, aber nicht einem Geheimdienst, der eine große Tradition zu wahren hat. Die häufig fehlgeschlagenen Abenteuer der CIA waren hinreichend bekannt, und Ducoux hatte kein Interesse, in ein Unternehmen dieser Art einzusteigen. Die Blamage, die unausweichlich folgen würde, war für alle tödlich. Ducoux hatte nicht die Absicht, frühzeitig in Pension zu gehen.

Das Gespräch fand in einem abhörsicheren Zimmer der Sûreté statt. Nur Ducoux war anwesend und rauchte eine Zigarre, während Fulton seinen Plan präzisierte. Erst später, wenn man sich in groben Zügen einig geworden war, sollten der Innen- und der Außenminister verständigt werden. Natürlich auch Präsident Mitterrand.

»Ich habe mir nun alles angehört«, sagte Ducoux, als Fulton einmal Atem holte. »Und ohne zu unterbrechen. Erlauben Sie mir eine Frage: Meinen Sie das alles im Ernst?«

Fulton sah Ducoux so ungläubig an, als hätte dieser plötzlich behauptet, er sei taub geworden. Das gibt es doch nicht! Ich rede über eine halbe Stunde, und er pafft seine Zigarre und fragt, ob es mein Ernst ist!

»Ich verstehe ihre Frage nicht«, antwortete Fulton, noch immer höflich.

»Fassen wir zusammen: Was wissen wir bisher durch die Ermittlungen des MOSSAD, der Sûreté, des deutschen BND, des BKA, des englischen Geheimdienstes, des russischen Bundessicherheitsdienstes FSB, der vor kurzem noch KGB hieß, des österreichischen Sicherheitsdienstes und Ihrer CIA:

1. Es gibt laufend Transporte radioaktiven Materials aus Rußland nach Mitteleuropa.

2. Die Abnehmer sind noch unbekannt, aber es gibt noch nicht bewiesene Aktivitäten von sogenannten Atomschwellenländern.

3. Neben den vielen kleinen Anbietern von Nuklearproben, vor allem Plutonium, Uran und Lithium, ist durch die Israelis ein wichtiger Kurier enttarnt worden, ein Russe namens Anassimow. Er ist bei einem Verhör in Libyen durch Agenten der CIA an einem plötzlichen Herzversagen gestorben.«

»So ist es«, sagte Fulton nüchtern. Curley hatte ihn von der Pleite unterrichtet, und er hütete sich, diesen halben Mißerfolg Ducoux einzugestehen. Das mokante Lächeln hätte er nicht ertragen.

»Weiter:

4. Wir wissen durch Anassimow, daß hinter dem Schmuggel von Nuklearmaterial eine straffe Organisation steht, eine Art Mafia russischer Machart.

5. Der Kopf dieser Organisation soll Igor Germanowitsch heißen. Nachnamen konnten durch den plötzlichen Herztod von A. nicht in Erfahrung gebracht werden. Ungemein wichtig ist der Hinweis, daß dieser Igor an der linken Hand nur vier Finger hat. Das ist der einzige konkrete Hinweis, der für die Fahndung ungemein wichtig ist.

6. Alle Erkenntnisse laufen darauf hinaus, daß mit weiteren, und dieses Mal größeren Mengen von Plutonium und Uran zu rechnen ist. Der Hauptweg des Materials ist bekannt: Polen - Deutschland - Frankreich - arabische Länder. Aber auch Nordkorea ist im Gespräch, dafür laufen die Verbindungen über Rumänien.«

Ducoux streifte vorsichtig die Asche von seiner Zigarre, dabei sah er Fulton herausfordernd an.

»Und das ist alles!« betonte er. »Was kann man damit anfangen? Warten. Und während wir warten, laufen die Transporte an uns vorbei. Bei den Russen ist es wie bei den chinesischen Triaden: Absolutes Schweigen ist oberstes Gebot! Wer nur ein Wort aushustet, spuckt kurz danach Blut.« Ducoux sah die brennende Spitze seiner Zigarre an. »Und diese straffe Organisation wollen Sie unterlaufen?«

»Der Plan der CIA ist, an die Hintermänner heranzukommen. Ich habe es Ihnen doch in allen Einzelheiten erklärt: Ein V-Mann von uns oder auch mehrere treten als potentielle Käufer auf. Auf einer Luxemburger Bank sind vierhundert Millionen Dollar deponiert. Die Bankbescheinigung liegt vor und wird jeden Anbieter überzeugen.«

»Und Sie glauben, daß der Mann mit den neun Fingern darauf hineinfällt?«

»Wenn es ihn überhaupt gibt, aber ich habe da so meine Zweifel.«

»Ihre Zentrale glaubt daran. Ihr V-Mann hat ja sogar die Vornamen herausgekitzelt.«

»Das kann von Anassimow auch nur ein Selbstschutz gewesen sein, um den Verhören zu entgehen. Wirf einem Hund einen Knochen hin, und er knurrt nicht mehr.« Fulton schüttelte den Kopf. »Ich verlasse mich nicht auf nur eine Spur … dafür sind die Angebote zu breit gestreut. Immer wieder tauchen neue Anbieter auf, die miteinander nichts zu tun haben. Auch kommen die Plutonium- oder Uranproben aus völlig verschiedenen Kernkraftwerken oder Nuklearlabors, was lediglich beweist, wie löcherig die russischen Kontrollen sind. Da arbeiten mehrere Gruppen parallel und gegeneinander. Der Neunfingermann ist nur einer der Bosse. Mir geht es darum, durch unsere Scheinaufkäufer die Quellen zu entdecken. In Zusammenarbeit mit dem russischen FSB können dann die Löcher gestopft werden. Es hat wenig Sinn, die Kuriere mit ihren Pröbchen verantwortlich zu machen … sie sind wie Unkraut, das munter weiterwächst, wenn man die Wurzel nicht rausreißt.«

»Ich weiß, wie die CIA sich das vorstellt: Man verhandelt als Käufer mit den Probeanbietern, bestellt zwei oder drei oder mehr Kilogramm Plutonium, die der kleine Kurier natürlich nicht liefern kann, sondern den Auftrag weitergibt an die Männer im Hintergrund. Der Kaufpreis ist in Luxemburg hinterlegt … nun liefert mal schön. Wie und wo und wann, das wird sich dann schon noch herausstellen. Der große Coup ist gelungen.«

»So ähnlich.« Fulton musterte den gemütlich rauchenden Ducoux. Meinte er es ernst, oder machte er sich über ihn lustig?

»Nehmen wir an, es klappt wie nach Plan. Spielen wir das mal theoretisch durch.« Ducoux befeuchtete den linken Zeigefinger mit der Zunge und betupfte eine Stelle des Deckblattes der Zigarre, die sich abgelöst hatte. »Sie bekommen die Nachricht: Die bestellten Kilogramm Plutonium sind da. Sie liegen abholbereit in Bulgarien. Was nun?«

»Wir werden sagen: nicht Bulgarien, sondern Österreich.«

»Wird erfüllt. Der Stoff liegt eine Woche später in Salzburg. Drei kleine Stahlbehälter mit einem Innenmantel aus Blei. Unauffällig, dem Aussehen nach wie drei Thermoskesselchen voller Suppe. Ich nehme an, Ihre Männer holen in Zusammenarbeit mit der österreichischen Sicherheitsbehörde die Kästchen ab. Vorher treffen Sie sich natürlich mit dem Transporteur, der auch die vereinbarten dreihundertachtzig Millionen Dollar in Empfang nehmen soll. Dieser Mann ist natürlich auch nicht der Boß – wie Sie es nennen –, sondern ein Vertrauter des Bosses. Sie haben also wiederum nur einen der kleinen Kuriere an der Leine. Und nun läuft das Geschäft so ab: Ware nur gegen Sicherstellung des Kaufpreises auf einem Schweizer Nummernkonto. Offizielle Version gegenüber der Bank: ein Industriedeal mit Erdöl und sibirischen Diamanten. Die CIA gibt die Dollar also frei?«

»Pro forma … Irgend jemand muß sie ja abholen.«

»Wie leichtsinnig! Sie bezahlen blind, ohne zu wissen, ob in den Kästen auch Plutonium ist! Wenn es nun Puderzucker oder feinster Wüstensand ist, wie bei Proben schon vorgekommen?«

»Das ist Vertrauenssache. Der Anbieter will ja im Geschäft bleiben.«

»Eine fragwürdige Einstellung. Mit dreihundertachtzig Millionen Dollar in der Tasche braucht man keinen Deal mehr durchzuziehen! Das reicht für einen sorglosen Lebensabend. Ein Betrug ist also vorprogrammiert! Und nehmen wir an, es ist wirklich Plutonium in den Suppenkesselchen … aber nicht hochangereichert, nicht waffenfähig, statt zweiundneunzig Prozent nur vierzig Prozent. Wen können Sie verantwortlich machen? Den armen, kleinen Überbringer? Und bei der Analyse stellt sich dann heraus, daß der Stoff aus verschiedenen Kernkraftwerken zusammengeschüttet wurde. Ein wertloser Plutoniumcocktail … ähnlich Ihrem Cocktail Ladykiller, den Sie hier in Paris einführen wollen.«

»Sie machen sich über mich lustig, Monsieur Ducoux!« sagte Fulton gepreßt.

»Nein. Ich denke nur logisch.«

»Logisch ist: Der Lieferant will die Millionen Dollar haben, also muß er auch gute Ware liefern.«

»Aber die Ware kann man nicht wie einen Apfel in der Hand halten und sagen: Das ist Handelsklasse eins. Und das Prüfungsverfahren, ob Plutonium wirklich das Pu 239, also rein und waffenfähig ist, erfordert komplizierte Analysen. So lange wird der Verkäufer nicht warten wollen.«

»Das muß er, sonst bekommt er keinen Cent!«

»Dann platzt das Geschäft … und die CIA steht wieder mit heruntergelassener Hose da. Was hat die ganze Mühe gebracht? Nichts! Wie immer: Sie haben die kleinen Zuträger erwischt … der Mann im Hintergrund bleibt der große Unbekannte. Und während Sie sich noch mit Ihren drei oder vier Kilo beschäftigen, ziehen die anderen Nukleartransporte an Ihnen vorbei …«

»Sie vergessen unsere Agenten in Rußland. Nicht nur wir, auch der FSB, der BND und Ihre Sûreté haben ihre Leute an den interessanten russischen Stellen sitzen. Und sie arbeiten jetzt endlich zusammen und nicht mehr gegeneinander. Es gab in der ganzen Welt keine bessere Kontrolle als die durch den KGB! Das hat jetzt der FSB übernommen. Nur der Name wurde geändert. Sogar die Zentrale ist geblieben: die Lubjanka!«

Ducoux legte seine halbgerauchte Zigarre in den Aschenbecher. Ein schlechtes Deckblatt … es blätterte ab, zu trocken gelagert. Die Kiste bekommt der Zigarrenhändler Chantal morgen zurück. Eine gute Zigarre muß in einer Klimatruhe gelagert werden.

»Wenn wir gute Agenten haben … wozu brauchen wir dann noch Ihren abenteuerlichen Scheinkauf? Das gibt nur einen wilden Presserummel rund um die Welt, Rußland wird beschuldigt, und die Russen dementieren natürlich und sind beleidigt, was ihr gutes Recht ist. Die verrücktesten Behauptungen werden geglaubt, Magazine und Illustrierte leben wochenlang von dieser Sensation, Politiker werden diffamiert, endlich kann man Unbequemen in den Hintern treten und dem Staat ans Bein pinkeln, alle Welt regt sich auf … und was war wirklich los? Ein Windei ist geplatzt! Was hat man an neuen Erkenntnissen gewonnen? Nichts! Alles war schon vorher bekannt. Und die Atomverkäufe laufen weiter. Monsieur Fulton, da glaube ich schon eher an einen Erfolg, wenn wir uns an den Mann mit den neun Fingern halten, an diesen geheimnisvollen Igor Germanowitsch … das allein scheint eine heiße Spur zu sein! Was uns fehlt, ist schlicht der Nachname. Haben wir den, kann Rußland den Atomschmuggel beobachten. Irgendwann einmal wird einer der Boten seinen Namen nennen, um sich von einer Bestrafung freizukaufen. Bis dahin können wir nur auf den ›Kommissar Zufall‹ hoffen.«

Dieses Gespräch hatte am Vortag stattgefunden. Jetzt stand Sybin vor dem Hotel Monique und hatte sich vorgenommen, das zu tun, wozu er sonst seine Spezialisten einsetzte: töten!

Nur: wie tötete man einen Menschen, ohne eine Waffe zu haben? Mit den bloßen Händen? Mit einem Strick? Woher jetzt einen Strick nehmen? In Filmen ist das einfach: Man reißt das Telefonkabel aus der Wand oder eine Gardinenschnur vom Vorhang, auch die eigene Krawatte kann in solcher Situation nützlich sein, aber gab es in dem schäbigen Zimmer, in dem Nataljas Geliebter hauste, überhaupt ein Telefon und eine Gardine? Und immer wieder die gleiche Überlegung: Wenn er stärker ist als ich? Er sah, soweit es Sybin beurteilen konnte, sehr sportlich aus, nicht wie einer, der nach einem Fausthieb wehrlos wird.

Sybin erwog das alles, bevor er die Tür des Hotels öffnete. Er zog die Hand, die schon auf der Klinke lag, zurück und ging an der schmutziggrauen Fassade entlang bis zur nächsten Straßenecke.

Es war lange her, seit er mit eigener Hand einen Menschen getötet hatte. Damals war er noch jung gewesen, ganze siebzehn Jahre alt. Breschnew regierte, obwohl schon sehr krank, das Sowjetreich im Sinne von Lenin und Stalin, der ›kalte Krieg‹ mit den USA lähmte die Wirtschaft, und der KGB hatte alle Hände voll zu tun, die Unzufriedenheit im Lande zu unterdrücken und unbequeme Kritiker in sibirische Lager zu verbannen oder in Irrenhäusern verkommen zu lassen. Das war die Zeit, in der Sybin mit drei anderen Freunden nach dem Muster der amerikanischen Mafia eine ›Gesellschaft‹ gründete, deren Geschäftsbereich sich vor allem auf das Land konzentrierte: Auf den Sowchosen und landwirtschaftlichen Genossenschaften verschwanden Getreide, Gemüse, Fleisch, Käse, Butter, Sonnenblumenöl, überhaupt alles, was eßbar war; aus Schuhfabriken verließen Lastwagen voller Schuhkartons die Laderampen und kamen nie in den Zielorten an; die Großschneidereien verbuchten plötzlich unerklärliche Stoffengpässe und rätselhaft war auch, daß pharmazeutische Werke einen Schwund meldeten, den man mit den veralteten Maschinen begründete: Es würde zuviel Ausschuß fabriziert.

Alle diese Gegenstände tauchten später auf den schwarzen Märkten in den russischen Großstädten auf, in Minsk und Smolensk, in Irkutsk und Jakutsk, in Leningrad und Odessa, überall dort, wo die Menschen in langen Schlangen anstanden, um ein ›Sonderangebot‹ zu ergattern. Die Logistik der ›Gesellschaft‹ war straff durchorganisiert, aus den drei Gründern waren in kürzester Zeit viertausend ›stille Mitarbeiter‹ geworden, und da mußte auch Sybin, allein zur Aufrechterhaltung der Disziplin bei den Fabrikdirektoren und den Verteilern, eigenhändig tätig werden. Er hatte ständig eine geladene Makarovpistole im Hosenbund stecken, und wenn er eine größere ›Inspektionsreise‹ antrat, fuhr in einem Geigenkasten – wie in den dreißiger Jahren bei Al Capone in Chicago – eine Kalaschnikowmaschinenpistole mit. Es gab dann einige unerklärliche Todesfälle, die in Moskau in der Zentrale des KGB archiviert wurden. In Moskau selbst war es ruhig … auf dem dortigen Schwarzmarkt tauchte keine heiße Ware auf, und es gab keine Erschossenen: Sybin hatte sich vorgenommen, seine Heimatstadt sauberzuhalten.

So hatte alles angefangen. Heute kontrollierte der ›Konzern‹ alles, was produziert und verkauft werden konnte, kassierte Schutzgelder, hatte das Bordellwesen fest in der Hand, überwachte den Drogenmarkt und war nun, nach den Abrüstungsverträgen, in das Nukleargeschäft eingestiegen. Rußland war in Sybins Hand … und ausgerechnet er stand jetzt an einer Straßenecke auf dem Montmartre, starrte vor sich hin und wußte nicht, womit er den Mann töten könnte, der ihm Natalja weggenommen hatte.

Er überquerte die Kreuzung, ging ziellos weiter, vorbei an Cafés und Bistros, an den ersten Huren und an einem Sexshop, auch eine Errungenschaft der neuen Freiheit, und sah plötzlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein hellerleuchtetes Geschäft mit zwei großen Schaufenstern. Anders als sonst in Europa, vor allem in Deutschland, ist in Frankreich das Ladenschlußgesetz liberaler und kundenfreundlicher. Es gibt sogenannte ›Magazins‹, die bis zweiundzwanzig Uhr und länger geöffnet haben und in denen man alles kaufen kann, was zum Leben gehört … ein Warenhaus im kleinen.

Sybin stellte sich vor die große Glastür und blickte in das Geschäft. Sie werden etwas haben, womit man töten kann, sagte er sich. Keine Waffen, aber es gibt noch andere Möglichkeiten, einen Menschen umzubringen. Sein Körper ist weich und seine Hirnschale dünn, und er hat keine Krallen und keine Reißzähne wie ein Raubtier, keine Hörner wie ein Büffel – man muß ihn nicht erschießen. Der Mensch ist ein wehrloses Geschöpf.

Er betrat das kleine Kaufhaus, ging zwischen den Regalen hindurch und stand dann vor einer Wand, an der Werkzeuge aller Art für Heimwerker hingen, aber auch Messer und Beile aller Größen.

Sybin wählte ein schmales, langes Messer aus, das einem Dolch ähnelte, und wog dann sorgsam einige Beile in der Hand. Er entschied sich für ein mittelgroßes, nicht zu schweres, gut in der Hand liegendes Beil mit einem griffigen Stiel, ging zur Kasse, bezahlte den lächerlich geringen Preis – wie billig ist es, einen Menschen zu töten –, packte die Sachen in eine längliche Tüte und verließ zufrieden das Magazin.

Ein Beil und ein Messer.

Wie ganz am Anfang seines Weges zur Macht – da war es ein Taschenmesser gewesen, mit dem er eine Halsschlagader durchtrennt hatte.

Sybin ging den Weg zurück zum Hotel Monique. Als er von weitem das alte, angerostete Schild sah, atmete er tief durch.

Fast eine halbe Stunde wartete Victoria Miranda in der Eingangshalle des Andrej-Rubjow-Museums auf Igor Germanowitsch Sybin. Sie fand keine Erklärung dafür, warum er nicht kam, aber wenn er verhindert war, hatte er ja keine Möglichkeit gehabt, sie zu verständigen. Er wußte nicht, wo sie in Moskau wohnte, denn nach dem Barbesuch hatte sie sich von ihm verabschiedet und war mit einem Taxi weggefahren. Und was sie von ihm wußte, war nur sein Name und daß er ein erfolgreicher Geschäftsmann war. Jeder, der ihn kannte, begegnete ihm mit einer gewissen Ehrfurcht, die manchmal fast untertänig wirkte. Vor allem im Tropical benahmen sich der Geschäftsführer, die Kellner, die Barmixer und sogar die Gäste, soweit sie Russen waren, so, als sei der Zar selbst in das Lokal gekommen. Victoria Miranda hatte sich während der Stunden, die sie zusammen am Tisch saßen, immer wieder gefragt: Wer ist dieser Sybin? Wer ist der Mann, der an jedem seiner neun Finger einen klotzigen Ring trägt und aussieht wie ein Filmstar der dreißiger Jahre?

Am nächsten Morgen hatte sie Kevin Reed gefragt, aber der hatte nur geantwortet:

»Moskau hat zirka fünf Millionen Einwohner, und einer davon heißt Sybin. Wie soll man ihn kennen?« Reeds Antwort war fast beleidigend.

»Er muß ein reicher Mann sein«, insistierte Miranda.

»Auch davon gibt's jetzt in Moskau mehr, als man kennen sollte. Die meisten sind Ganoven, Gauner oder Funktionäre.«

»Den Eindruck machte er nicht.«

»Was interessiert Sie so an ihm?«

»Er scheint in Moskau sehr bekannt zu sein. Er könnte mir die Richtung weisen zu den Personen, die ich suche.«

»Victoria …« Reed sprach jetzt zu ihr wie zu einem Kind. »Wenn es wirklich eine Atommafia gibt, was von Kennern der Szene bezweifelt wird, dann sitzen die Paten nicht mit Sybin an einem Tisch. Sie bleiben unter sich, und sie kommen nie allein!«

Victoria richtete sich steif auf und blickte Reed böse an. »Woher wissen Sie, daß Sybin allein ins Tropical gekommen ist?«

»Meine Liebe …« Reed grinste sie unverfroren an. »Haben Sie geglaubt, ich lasse Sie allein im Moskauer Sumpf fischen?«

»Das ist eine Unverschämtheit. Ich verbitte mir das!«

»Ich nehme Ihren Protest zur Kenntnis … aber es bleibt dabei. Ich bin für Sie verantwortlich.«

»Das sind Sie nicht!«

»Sie sind eine amerikanische Staatsbürgerin und stehen daher automatisch unter unserem Schutz.«

»Ich habe mich nur der CIA gegenüber zu verantworten!«

»Davon spricht keiner. Was Sie tun, ist ganz allein Ihre Sache. Aber Ihre Sicherheit – das ist unsere Sache.«

»Und wie weit gehen Sie?« Victoria war so wütend, daß sie Reed provozierte und etwas sagte, was eine Dame eigentlich nicht sagt. »Wenn ich mit Sybin ins Bett gegangen wäre, hätte dann auch einer von der Botschaft neben dem Bett gestanden?«

Reed lächelte sie an wie ein gütiger Vater. »Das hätte ich Ihnen nie zugetraut, Victoria, das ist nicht Ihr Stil. So gut habe ich Sie in den wenigen Tagen schon kennengelernt.«

»Ich habe den Befehl zum uneingeschränkten Einsatz bekommen.«

»Mag sein, aber Sie setzen sich selbst Grenzen.« Reed hatte keine Lust, dieses unergiebige Gespräch fortzusetzen. »Wir werden versuchen, diesen Sybin ausfindig zu machen. Okay? Und eine Wohnung haben wir auch für Sie in Aussicht, mitten in der Altstadt. Wir bekommen in drei Tagen Nachricht, ob sie geräumt ist.«

»Hervorragend. Ich danke Ihnen, Kevin.«

»Keine Ursache. Ich halte Ihren Plan nach wie vor für blödsinnig. Was dem russischen Geheimdienst nicht gelingt, das soll der CIA in einem fremden Land gelingen? Da kann man sich doch nur an den Kopf fassen.«

Victoria ging hinauf in ihr Zimmer. An dem, was Reed gesagt hatte, war etwas Wahres dran. Aber er kannte Sybin nicht. Ein eitler Mann wie dieser Sybin würde sie in die richtigen Kreise einführen, schon, um ihr zu zeigen, welches Ansehen er genoß. Sie war sich sicher, mit Sybin den Schlüssel zur geheimen, aber trotzdem überall spürbaren Macht zu haben.

Jetzt allerdings, einen Tag später, stand sie in der Eingangshalle des Rubjow-Museums und war enttäuscht, daß Sybin seine Verabredung nicht eingehalten hatte. Sie wartete noch eine Viertelstunde, um ganz sicher zu sein, daß er sich nicht nur verspätet hatte, nahm dann ein Taxi und ließ sich zum Tropical fahren. Der Fahrer sah sie zweifelnd an – ins Tropical, am hellichten Tag? Noch dazu eine Ausländerin? Seit wann beschäftigt die Sexbar ausländische Mädchen? Eigentlich läuft es ja umgekehrt: Man exportiert die Mädchen in den Westen. Ein ständiger Strom hübscher Russinnen fließt über die Grenzen in das Paradies der Kapitalisten, gut organisiert von einer Firma, die Mädchen als Handelsware betrachtet.

Der Taxifahrer lud Victoria vor dem Tropical ab und bekam dafür fünf Dollar, ohne daß er einen Preis zu nennen brauchte. Er steckte sie ein und fuhr eilig davon. Eine Neue, eine Ahnungslose … fünf Dollar … sie weiß noch nicht, was fünf Dollar jetzt in Rußland wert sind.

Es dauerte eine Zeitlang, bis sich auf das anhaltende Klingeln die Tür des Tropical öffnete. Der Geschäftsführer, der offensichtlich im Haus wohnte, starrte Victoria mit verquollenen Augen an, erkannte aber sofort die schöne Amerikanerin wieder, an deren Tisch er Igor Germanowitsch geführt hatte. Mit seinem mangelhaften Englisch fragte er:

»Haben Sie etwas im Lokal vergessen, Lady?«

»Ja.« Sie lächelte ihn herausfordernd an.

»Wir haben keine fremden Gegenstände gefunden.«

»Ich habe die Adresse von Mr. Sybin verloren …«

Der Name Sybin ließ ihn sofort hellwach werden. »Das ist unmöglich, Lady!« sagte er abweisend. »Mr. Sybin hinterläßt nie seine Adresse.«

»Bei mir hat er eine Ausnahme gemacht.«

»Das glaube ich nicht.«

»Aber Sie kennen doch seine Adresse?«

»Nein. Ich habe keine Ahnung.«

Sie wußte, daß er log, und sie sah auch, daß er sich zusammenrollte wie ein Igel und die Stacheln aufstellte. Er würde jetzt kein Wort mehr sagen, auch wenn sie ihm hundert Dollar hinhielt. Aber eines hatte sie an der Reaktion des Geschäftsführers erkannt: Sybin mußte ein mächtiger Mann sein. Dieser eitle Fatzke mit seinen neun beringten Fingern, seinem Menjoubärtchen und den pomadisierten Haaren erzeugte Angst. Jetzt war ihr auch erklärbar, warum sich bei seinem Erscheinen in der Bar die Stimmung schlagartig verändert hatte und alle zu ihrem Tisch gestarrt hatten.

Wer war Igor Germanowitsch Sybin?

Und in diesem Augenblick explodierte in ihr die Erkenntnis: Er ist einer der geheimnisvollen Mächtigen, die, sich selbst im Hintergrund haltend, nicht nur Moskau, sondern ganz Rußland kontrollieren und an Hunderten von Fäden die Marionetten dirigieren, die das neue Rußland repräsentieren.

Victoria spürte plötzlich ihren Herzschlag: Sie war auf dem richtigen Weg. Jetzt mußte sie sich an ihn hängen, bis er – stolz, sie erobert zu haben – sie dem Boß der Bosse vorstellte. Dem Paten von Moskau. Dem Herrn über Plutonium und Uran. Dem Mann, der diese Welt vernichten konnte.

Wo aber war Igor Germanowitsch Sybin?

»Ich muß ihn sprechen«, sagte sie zu dem Geschäftsführer des Tropical. »Ich muß ihn unbedingt sprechen.«

»Kommen Sie heute abend wieder zu uns.«

»Sie glauben, daß er auch kommt?«

»Wahrscheinlich, er ist oft bei uns. Oder …« Der Geschäftsführer zögerte, aber sagte es dann doch: »Sie können ihn im Kasan finden, Lady. Dort ißt er besonders gern. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Er war noch so freundlich, ihr ein Taxi zu bestellen, denn um diese Zeit fuhr keines durch diese Gegend. Er blickte ihr nach und schüttelte den Kopf. Alle sind sie gleich, diese Weiber, dachte er und schloß hinter sich die Tür. Immer hinter den Männern her. Und am schlimmsten sind die Ausländerinnen …

In der amerikanischen Botschaft konnte es sich Victoria nicht verkneifen, zu Kevin Reed ins Dienstzimmer zu gehen. Er blickte hoch und ahnte nichts Gutes, als er ihren triumphierenden Blick sah.

»Sie brauchen sich nicht mehr zu bemühen. Kevin!« sagte sie. Er bemerkte sehr wohl, wie gut ihr diese Worte taten. »Ich weiß, wo ich Sybin treffen werde: im Restaurant Kasan.«

»Nobel, nobel!« Reed griff nach einer Akte und schlug sie auf, als habe er eine dringende Arbeit zu erledigen. »Da sieht man, wo unsere Steuergelder bleiben …«

»Affe!« sagte Victoria und warf hinter sich die Tür zu.

Aber Sybin tauchte auch am Abend nicht im Kasan auf, statt dessen eine Reisegruppe lärmender Finnen.

Ohne etwas zu essen, verließ sie das Restaurant. Dann morgen, dachte sie. Oder übermorgen. Ich habe Zeit, Igor Germanowitsch …

Als Sybin die kleine Empfangsdiele des Hotels Monique betrat, war Madame Juliette Bandu gerade damit beschäftigt, im Hinterzimmer frische Sardinen zu braten. Das ganze Haus stank nach Fisch, was Sybin so unangenehm war, daß er trotz seiner inneren Anspannung nur flach atmete.

Was ist nur aus Natalja in diesen drei Wochen geworden, überlegte er. Sie hätte in einem Schloß wohnen können, aber sie lebt in diesem Fischgestank! Welche Macht muß dieser Mann über sie haben, daß sie alles vergißt, was früher ihr Leben gewesen ist: Luxus, blumiges Parfüm, der gläserne Wintergarten in der Datscha, die teuersten Kleider der internationalen Modeschöpfer, ein Jaguarwagen, Pelzmäntel aus Wildnerz und Zobel, Schmuck der weltbesten Designer, alles, alles hatte sie bekommen … und sie tauschte es ein gegen ein Bett in einem schäbigen Hotel.

Sybin drückte die große Tüte mit dem Beil und dem Messer an sich und trat an die Rezeption.

Da niemand kam, griff er nach der auf der Theke stehenden Handglocke und klingelte kräftig. Ihr Ton war hell und durchdringend und rief Madame Bandu aus dem Hinterzimmer.

»Guten Abend, Monsieur«, sagte sie und putzte ihre Hände an einer blauen Kittelschürze ab. »Sie wollen ein Zimmer, Monsieur?«

Sybin verstand sie natürlich nicht und zeigte auf sich. Madame Bandu erkannte jetzt auf den zweiten Blick, daß der Zimmersuchende ein Ausländer sein mußte.

»Ich … Russe«, sagte Sybin.

»Ah! Ein Russe!« Madame Bandu warf einen schnellen Blick zur Treppe. Sie war keine dumme Frau, auch wenn sie etwas einfältig wirkte. Sie begriff sofort, daß es einen Zusammenhang geben mußte zwischen dem Mann, der vor ihr stand, und der wunderschönen Frau, die Bob Fulton seit Tagen mitbrachte. »Sie ist Russin«, hatte er zu ihr gesagt und ihr fünfzig Dollar auf den Tisch gelegt. »Besorgen Sie uns jeden Abend Kaviar, Madame, und eine Stange Brot dazu.«

Und sie hatte geantwortet: »Und Butter und gehackte Eier und Zwiebeln und einen guten, leichten Meursault. Ich weiß, wie man Kaviar ißt, Monsieur.«

Auch heute hatte sie das Tablett mit dem auf Eis liegenden Kaviar hinauf ins Zimmer gebracht und freute sich, daß sie zwei so glückliche Menschen bei sich beherbergen konnte. Fulton hatte auch den Namen der schönen Russin genannt: Natalja Petrowna. Und Madame Juliette sprach sie von da an auch nur mit Natalja an. Ihr gefiel der Name … er zerging ihr auf der Zunge wie ein knuspriges Croissant.

»Wer sind Sie, Monsieur?« fragte sie. In ihrer Stimme lagen Abwehr und Mißtrauen.

Sybin hob die Hand und zeigte nach oben. Seine Ringe blitzten im Licht der Deckenlampe. »Natalja Petrowna!« sagte er.

Madame Bandu schüttelte schnell den Kopf. »Non!« Das mußte auch ein Russe verstehen. »Non! Nicht da …«

Sybin hörte nur das Nein und drückte die Tüte an sich. Er hatte Natalja ins Haus gehen sehen, und ihr Citroën stand noch auf der Straße, sie war also nicht weggefahren, während er sein ›Werkzeug‹ gekauft hatte. Er wölbte die Unterlippe etwas vor und kniff die Augen zusammen.

Madame, einen Sybin belügt man nicht, nicht in Rußland und auch nicht in Paris. Wer einen Sybin belügt, wird sein Leben lang daran denken. Es gab Lügner, die später ohne Zunge herumliefen, und es gab Lügner, die nichts gesehen haben wollten, die kurz darauf ihre Augen verloren. Doch bisher hatte er sich nicht selbst darum gekümmert – er hatte sich nur den Vollzug melden lassen. Hier war es anders. Er war allein, und eine alte Frau belog ihn.

Ein Funken Mitleid glomm in ihm auf. Mütterchen, dachte er, nun ganz ein Russe, ich muß dir weh tun. Verzeih, aber es gibt keinen anderen Weg diese Treppe hinauf. Um meine Ehre geht es, mein Stolz ist zertreten worden, man hat mir meine Seele geraubt, meinen Glauben an eine wirkliche Liebe gemordet … da kannst du mir nicht im Weg stehen, Mamutschka. Ich muß es tun, sonst müßte ich mich bei jedem Blick in den Spiegel bespucken.

Er nickte Madame Bandu freundlich zu, ging zu ihr hinter die Rezeption, umarmte sie, und noch bevor sie sich aus der Umarmung befreien konnte, drückte Sybin zu. Er preßte ihre Halsschlagader so fest zusammen, daß eine plötzliche Blutleere im Gehirn entstand. Bewußtlos sackte sie zusammen. Sybin zog sie an den Beinen ins Hinterzimmer und legte sie dort auf ein altes, rotes Sofa. Auf dem Herd brutzelten die Sardinen in einer tiefen Pfanne. Er ging hin, überwand seinen Ekel, schob die Pfanne von der Kochplatte und schaltete den Elektroherd aus. Um ganz sicher zu sein, drückte er noch einmal auf die Halsschlagader, fesselte Juliette mit zwei verknoteten Handtüchern und schob ihr eine Serviette als Knebel in den Mund.

»Es dauert nicht lang, Mamutschka!« sagte Sybin und betrachtete das Bündel Mensch. »Es ist schnell vorbei. Nur eine böse Erinnerung bleibt zurück, mehr nicht …«

Auf der Treppe öffnete er die Tüte und holte das lange, schmale Messer heraus, steckte es in seinen Gürtel, nahm das Beil und wog es in der Hand. Der Schwerpunkt war gut ausgewogen … ein Schwung, nur ein Hieb aus der Schulter heraus, so spaltete man schnell einen Kopf.

Ohne sich Mühe zu geben, leise zu sein, ging Sybin über den Flur und lauschte an jeder Tür. Auf diesem Stockwerk gab es acht Zimmer, und sein Gefühl sagte ihm, daß sich Natalja hinter einer der Türen aufhielt, vielleicht im Begriff war, sich auszuziehen oder gar schon mit ihrem Liebhaber im Bett lag, einem leidenschaftlichen Vorspiel hingegeben.

Es war das letzte Zimmer.

Sybin hörte leise Radiomusik – nicht Borodin oder Glinka, die er so liebte und sehr oft hörte, wenn er mit Natalja zusammen war, nein, es war amerikanische Popmusik, und ein Sänger mit einer Fistelstimme piepste herum. In Sybins Ohren klang es wie das Gegeneinanderreiben von zwei Stahlnägeln.

Es war ein Fehler, daß die Tür nicht verriegelt war. Fulton wartete noch auf den gut gekühlten Weißwein, den Madame Bandu heraufbringen wollte. Sonst war alles wie immer: ein Tisch, gedeckt mit einer weißen Decke, mit geeistem Kaviar und einigen Zutaten, zwei Weingläser, zwei Porzellanteller, die Bestecke, das frische Baguette und sogar kunstvoll gefaltete Servietten.

Fulton saß mit dem Rücken zur Tür und trank einen Whisky, was einem Feinschmecker die Haare zu Berge gestellt hätte. Whisky pur vor Kaviar – das war barbarisch! Aber Fulton, in seiner amerikanischen Unbekümmertheit, hatte Lust auf einen harten Drink, bevor er sich mit Natalja über den Kaviar und den trockenen Weißwein hermachte.

Er saß mit bloßem Oberkörper am Tisch, nur bekleidet mit einer Hose, barfuß, und er wippte mit den Füßen zum Takt der Melodie aus dem Radio. Er hatte die Musik so laut gedreht, daß er nicht hörte, als sich die Tür leise öffnete und Sybin ins Zimmer trat. Natalja war nicht da, aber ihre Kleider lagen über einer Stuhllehne, die zierlichen, hochhackigen Schuhe standen neben dem aufgeschlagenen Bett.

Sybin zog die Schultern hoch. Als im Radio eine Pause entstand und eine Ansage für die neuen Musiknummern ertönte, hörte Sybin das Rauschen von Wasser und Nataljas Stimme. Sie sang, sang im Badezimmer unter der Dusche. Das kannte er, denn er hatte oft vor der Badezimmertür gestanden und verzückt auf die Lieder gelauscht, die sie trällerte. Und er wußte, daß sie jeden Moment aus dem Bad kommen und sich in ihrer überirdischen Nacktheit an den Tisch setzen würde, mit glänzenden, rätselhaft kindlichen Augen, um zu sagen: »Igor, ich freue mich, daß du gekommen bist. Ha, das Bad hat mir gutgetan. Gib mir ein Glas Wein, Igor …«

Lüge! Alles nur Lüge! Nur ihr Mund sprach warme Töne, innerlich blieb sie kalt. Nur ihr Körper war bereit, ihre Seele aber kapselte sich ab. War es hier anders? Gab sie hier auch ihre Seele hin?

Sybin wog erneut das Beil in seiner Hand. Die Popmusik setzte wieder ein und übertönte alle Geräusche. Mit zwei Schritten, es war ein kleines Zimmer, stand Sybin dicht hinter Fulton, starrte auf seinen Nacken, seine Schultern, seinen Hinterkopf, es war so einfach, jetzt zuzuschlagen und ihm den Schädel zu spalten, aber er tat es nicht.

Man erschlägt keinen Mann von hinten. Man muß seinem Gegner in die Augen schauen, muß seine Angst, sein Entsetzen, seinen brechenden Blick genießen, um das Glück des Tötens auskosten zu können. Nur so stellt sich die Befriedigung ein, die Rache vollendet zu haben.

Sybin holte tief Atem und hob gleichzeitig das Beil.

»Dreh dich um!« schrie er. »Sieh mich an!«

Fulton reagierte reflexartig. Er wirbelte herum, sah das blitzende Beil, sprang zur Seite und rollte sich ab, so wie er es gelernt und in zahllosen Kung-Fu-Trainingskämpfen praktiziert hatte. Sybins mörderischer Hieb zerschmetterte den Stuhl. Mit einem wilden Aufschrei stürzte er sich auf Fulton, aber dieser war schon wieder auf die Beine geschnellt, wirbelte um die eigene Achse, hob das rechte Bein und trat aus der Drehung heraus gegen Sybins Brust. Der Schmerz, der Igors Körper durchraste, war so stark, daß ihm das Beil aus der Hand fiel und über den Boden schlidderte. Nach einer Sekunde Verblüffung hatte er begriffen, daß sein Gegner ein Kung-Fu-Kämpfer war, und dann erwiderte er Fultons Angriff mit einem Sprung und einem Handkantenschlag, begleitet von einem hellen Aufschrei.

Fulton konterte den Hieb mit seiner weitgeöffneten Hand, riß Sybin an sich und warf ihn über die Schulter gegen die Wand. Aber auch Sybin war sofort wieder auf den Füßen und setzte zu einem neuen Sprung an. Hochspringen und in sein Gesicht treten. Igor, das hast du doch vor zwanzig Jahren bei dem Mongolen gelernt, weit weg in Sibirien, am Fluß Ussuri. Damals hast du Tiger geschossen, um zu überleben. Der KGB jagte dich, als seist du selbst ein Raubtier, und es blieb dir nichts anderes übrig, als dich im einsamen Sibirien zu verstecken. Da hast du den Mongolen getroffen, und er hat dich gelehrt, wie man sich verteidigt und wie man überlebt.

Fast gleichzeitig sprangen Sybin und Fulton in die Höhe und trafen in der Luft aufeinander. Beim Zusammenprall ertönte ein dumpfer Knall, Fulton kam als erster auf dem Boden auf und schlug Sybin die Faust in den Magen. Aber er war nicht schnell genug, der Hieb prallte an Sybins Hüftknochen ab. Gleichzeitig trat Sybin nach hinten aus, traf Fultons Brust und schleuderte ihn gegen das Bett.

Benommen schüttelte Bob Fulton den Kopf. Er wollte sich aufrichten, als er Sybin auf sich zukommen sah, und er sah auch das lange Messer in dessen Hand, vorgestreckt, um ihn aufzuspießen. Im letzten Moment ließ er sich fallen und rollte zur Seite. Sybin krachte auf das Bett, sein Messer stieß in die Matratze … und dann blieb Fulton wie paralysiert auf dem Boden liegen und starrte auf Natalja.

Sie war beim ersten Geräusch aus dem Bad gestürzt, nackt und naß, hatte das auf dem Boden liegende Beil mit beiden Händen ergriffen, schwang es jetzt weit über ihren Kopf, und als Sybin vom Bett hochschnellte, sie fassungslos anstarrte und mit sich überschlagender Stimme »Natalja!« schrie, ließ sie das Beil niedersausen, mitten in die Stirn.

Ein Blutschwall schoß aus dem gespaltenen Schädel hervor und spritzte über Nataljas nackten Körper. Sybin schwankte, suchte Halt, das Blut nahm ihm die Sicht, aber sie wußte, daß er sie ansah. Sein Mund öffnete sich, als wolle er ihr etwas zurufen … da ergriff sie noch einmal das Beil, das neben das Bett gefallen war, riß es hoch und schlug erneut zu. Sybins Hirnschale platzte auf, und erst da brach er zusammen, rollte ihr vor die Füße.

Natalja warf das Beil weg. Sie sank in sich zusammen, als habe sie keine Knochen mehr, jeder Muskel versagte, sie stürzte kopfüber auf das Bett und blieb unbeweglich liegen.

Fulton kroch zu ihr hin, zog sich an der Bettkante hoch und legte sich neben sie. Er hat mir die Wirbel zertrümmert, dachte er und wunderte sich, wie nüchtern er das feststellen konnte. Ich bin gelähmt. Ich kann mich nicht mehr bewegen, ich werde nie wieder gehen können, nichts mehr greifen können. Ich werde für den Rest meines Lebens steif in einem Spezialbett liegen – nur denken werde ich noch können.

Er wußte nicht, wie lange er so neben Natalja gelegen hatte, aber dann versuchte er, die Hand zu heben.

Die Hand ließ sich bewegen.

Bewege das Bein.

Das Bein bewegte sich.

Richte dich auf.

Sein Oberkörper gehorchte.

Steh auf.

Und er stand auf.

Er begriff dieses Wunder nicht, aber als er Natalja ansah, die völlig blutverschmiert war, nahm er sie auf seine Arme und trug sie hinüber ins Badezimmer. Er legte sie in die Wanne, drehte das Wasser auf und begann, Sybins Blut und Hirnmasse von ihr abzuwaschen. Ich kann es, schrie er innerlich, ich habe Kraft, ich bin nicht gelähmt, Natalja, wir haben es überlebt.

Während er sie wusch, erwachte sie aus der Ohnmacht und setzte sich in der Wanne auf.

»Bleib ganz ruhig«, sagte Fulton. »Ganz ruhig. Es ist alles vorbei.«

»Ist er tot?« Sie umklammerte seinen Arm. »Ist er wirklich tot? Kann er nicht wieder aufstehen?«

»Du hast einen verdammt harten Schlag. Von mir bekommst du nie ein Beil in die Hand.« Er versuchte ein Lachen, drückte sie an sich und küßte sie. Sie zitterte am ganzen Körper. »Du warst sehr tapfer, du hast unser Leben gerettet. Er muß ein Verrückter gewesen sein. Was wollte er von mir? Steht plötzlich da, brüllt mich in einer fremden Sprache an und schlägt zu.«

»Es … es war russisch … Bob, o Bob …« Sie drückte ihr Gesicht gegen seine Brust und begann zu weinen. Als er sich aus ihrer Umklammerung befreien wollte, krallte sie sich an ihm fest.

»Russisch?« Fulton umfaßte mit beiden Händen ihr Gesicht, zog es zu sich empor und zwang sie, ihn anzusehen. Sie schloß sofort die Augen, ihr Zittern verstärkte sich. »Er war deinetwegen da? Du kennst ihn? Er wollte mich deinetwegen töten?«

»Es ist Sybin …« Ihre Stimme brach, und sie begann wieder zu weinen. Fulton spürte, wie sich ihre Fingernägel in seinen Rücken gruben. Das kannte er von ihr: Sie konnte kratzen und die Nägel in sein Fleisch drücken, wenn ihre Leidenschaft sie mitriß und sie nicht mehr wußte, was sie tat. Jetzt aber war es Verzweiflung, war es das Suchen nach einem Halt.

»Wer ist Sybin?« fragte er, schwer atmend. Und ehe sie eine Antwort stammeln konnte, schrie er in ihr Gesicht: »Dein Geliebter aus Moskau?«

Sie nickte. Fulton erstarrte.

»Hast du gewußt, daß er nach Paris kommt?« schrie er Natalja an und schüttelte sie. »Sag die Wahrheit! Verdammt, sag die Wahrheit … du hast gewußt, wer ich bin?«

»Und wer bist du?« Sie riß die Augen auf und starrte ihn an. Ihr leises Weinen hörte schlagartig auf, nur das tränenlose Schluchzen vibrierte noch durch ihren Körper. »Du … du bist nicht Robert Fulton?«

»Nein. Ich bin Captain Dick Fontana von der CIA!«

Ihre Umklammerung erschlaffte, ihre Finger mit den scharfen, spitzen Nägeln glitten an ihm hinunter. Sie wäre zurück in die Wanne gerutscht, wenn er sie nicht am Kopf festgehalten hätte.

»Du hast gewonnen«, sagte sie leise. »Ihr habt alle gewonnen. Endlich ist es vorbei …«

Noch immer begriff Fontana nicht, wer der Tote war. Es war zu abwegig, jenseits allen Vorstellungsvermögens.

»Was habe ich gewonnen?«

»Ich habe ihn getötet – mein Gott, ich habe ihn getötet.« Sie umklammerte den Rand der Wanne, als Fontana sie losließ. »Ich habe ihn erschlagen … mit einem Beil … Ich habe Igor Germanowitsch Sybin erschlagen …«

In Fontana schlug es ein wie ein Blitz. Das eisige Gefühl wurde von einer großen Hitze weggefegt. Sein Mund wurde trocken.

»Sag das noch einmal. Der Tote nebenan ist Igor Germanowitsch? Der … der Boß der Atommafia?«

»Der mächtigste Mann Rußlands …«

»Und du warst seine Geliebte?«

»Er hat mich dazu gemacht. Er hat meine Eltern und mich vor dem Verhungern gerettet. Was weißt du von Rußland, was weißt du von Menschen in Not, was weißt du von mir? Sybin hat mich aus dem Dreck geholt – und ich mußte ihm dankbar sein.«

»Mit deinem Körper! Mit diesem verdammten Körper!« schrie er.

»Ich habe Igor nie geliebt, nie. Glaube es mir. Gehaßt habe ich ihn. Immer wieder habe ich mir vorgestellt, daß jemand ihn tötet … nur ich konnte es nicht tun. Und jetzt habe ich es doch getan. Deinetwegen, um dich zu retten … er hatte das Messer, du hattest nichts. Ich mußte es tun!«

»Und du bist nach Paris gekommen, in diesen feinen ›Roten Salon‹ der Madame de Marchandais, um Kontakte mit Atomkäufern zu knüpfen?«

»Ich sollte die Namen von Konkurrenten herausfinden, die in Sybins Markt eingedrungen waren. Er wollte der Alleinherrscher sein. Er wußte, daß in Paris und Marseille unbekannte Anbieter tätig waren.« Sie lehnte den Kopf gegen den Wannenrand und tastete nach seiner Hand. »Ich habe dieselbe Aufgabe gehabt wie du … stimmt das?«

»Ja. Ich sollte den Kopf der Organisation oder Hinweise auf ihn suchen.«

»Er liegt nebenan, zweimal gespalten.«

Sie stieg aus der Wanne und schlang das Badetuch um ihren Leib. Ein paar Blutspuren waren an der Wannenwand zurück geblieben – Fontana drehte die Handdusche auf und spülte sie weg. Während er zusah, wie das Wasser gurgelnd im Abfluß verschwand, wurde er ruhiger und konnte wieder nüchtern denken, unbelastet von dem brennenden Gefühl, mit Natalja die Geliebte des meistgesuchten Mannes in den Armen gehalten zu haben.

»Ich habe eine Idee …«, sagte er.

»Verzeihst du mir?« Natalja lehnte an der Wand des Bades. Aus ihrem Haar lief das Wasser über ihr Gesicht, aber sie trocknete es nicht ab.

»Was soll ich dir verzeihen?«

»Daß ich die Geliebte von Sybin war.«

»Ich habe nie vorausgesetzt, daß du noch Jungfrau bist.« Es sollte ironisch klingen, aber sie hörte die Bitterkeit heraus.

»Auch wenn du es nicht mehr glaubst«, sagte sie, »ich liebe dich. Du bist der erste Mann, der mich überzeugte, daß es wirklich Liebe gibt. Ich habe nicht gewußt, was Liebe ist. Glaub es mir …«

Er ging nicht auf ihr Geständnis ein, er überhörte es, als habe sie nichts gesagt.

»Wir müssen Sybin wegschaffen«, sagte er und lehnte sich ihr gegenüber an die Wand. »Niemand soll erfahren, was hier geschehen ist. Wir haben Sybin in Paris nicht gesehen. Aber man wird ihn finden … und dann werden die Unbekannten, mit denen er gearbeitet hat, reagieren. Es wird Panik geben, Ratlosigkeit, eine hektische Betriebsamkeit … wer liefert jetzt Plutonium und Uran? Mit wem muß man neue Verbindungen knüpfen? Ist jetzt das Händlernetz zerrissen? – Das ist die große Chance, aus einem aufgewühlten Teich die dicksten Fische herauszuholen!« Er sah sie mit gerunzelten Augenbrauen an. »Zieh dich an …«

»Es … es ist alles im Zimmer. Ich kann nicht hinausgehen, ich kann nicht …«

Er verstand sie, verließ das Badezimmer und holte die Wäsche und das Kleid, die über der Stuhllehne hingen, und dazu mußte er mit einem großen Schritt über Sybin steigen. Er lag in einer riesigen Blutlache – es war ein Anblick, der starke Nerven erforderte.

Nataljas Kleidung über dem Arm, beugte sich Fontana über die Leiche. Seine letzten Zweifel wurden vom Anblick der linken Hand des Toten beseitigt. Es fehlte ein Finger. Er war der ›Neunfingermann‹, wie Ducoux ihn nannte, der Boß aller Bosse.

Natalja hat die Welt von einer großen Gefahr befreit, dachte er, dafür müßte ihr die ganze Menschheit dankbar sein. Aber was wird nun aus ihr? Kann sie noch in Moskau leben? Bleibt sie in Paris? Wovon will sie leben? Mit Sybins Tod ist auch die frühere Natalja gestorben. Wie wird die neue Natalja aussehen? Wird es einen neuen Geliebten geben, der sie verwöhnt? Oder wird sie der Star im ›Roten Salon‹, für jeden käuflich, der das nötige Geld hat? Verdammt, Dick, mach dir auch darüber Gedanken! Sie hat dir dein Leben gerettet und ihres damit zerstört. Und jetzt willst du sie fallenlassen, weil sie einem Sybin gehorcht hat, der sie aus dem Dreck holte und zur reichen Frau machte. Ist das unehrenhaft? Warst du nicht willens, sie in dein Leben mitzunehmen? Und jetzt soll alles vergessen sein, weggewischt durch die dumme Eifersucht, daß sie die Geliebte eines anderen Mannes gewesen ist? Gibt es im Leben nicht auch mal einen Schlußstrich, hinter dem ein neues Leben beginnt? Haben wir nicht mehrere Leben, die wir durchschreiten? Dick, du liebst sie doch; seit du sie kennst, hast du den Wunsch gehabt, sie mit nach Washington zu nehmen. Du hast dir auch schon überlegt, was du Curley sagen willst, wenn er verbieten sollte, daß du eine Russin heiratest. Das Sicherheitsrisiko! Soll die Politik eine Liebe zerstören? »Sir, ich bitte um meine Versetzung!« hatte Dick Fontana sagen wollen. »Und wenn das nicht möglich ist, bitte ich um meine Entlassung aus dem Dienst.« So sehr liebst du sie, daß du die Uniform ausziehen willst! Dir ist, zum Teufel, nicht gleichgültig, was aus ihr wird! Du wirst sie mitnehmen nach Washington!

Er stieg wieder über Sybin hinweg, ging in das Badezimmer und hielt Natalja ihre Kleidung hin. Sie stand noch so da, wie er sie verlassen hatte: an die Wand gelehnt, das Handtuch um die Hüften geschlungen, mit nassen Haaren.

Fontana bezwang sich, um sie nicht an sich zu ziehen und in die Arme zu nehmen. Da sie sich nicht rührte, legte er die Kleidung über den Wannenrand und sagte:

»Ich gehe hinunter zu Juliette. Sie muß uns helfen.«

»Laß mich nicht allein. Bitte …« Wieder begann sie zu zittern.

»Wovor hast du Angst? Sybin steht nicht wieder auf. Wir müssen ihn loswerden. Wir müssen ihn mit deinem Wagen wegschaffen.«

»Mit meinem Wagen … Bob, ich kann nicht …«

»Ich bin Dick, gewöhne dich daran.« Es klang härter, als er wollte. »Und du kannst. Wir bringen ihn aus Paris hinaus und legen ihn irgendwo ab, aber so, daß man ihn schnell findet. Dabei muß uns Juliette helfen.«

»Ich … ich kann ihn nicht mehr ansehen!« sagte sie voller Verzweiflung.

»Du wirst sogar helfen, ihn wegzutragen.«

»Nein! Nein!«

»Juliette muß alle Spuren verwischen. Sybin ist nach Paris gekommen und wurde erschlagen. Von wem, warum und was er in Paris wollte, wird für die Polizei ein Rätsel bleiben. Auch für die, die mit ihm zusammengearbeitet haben.« Er zog ihr das Handtuch von den Hüften. »Los! Zieh dich an.«

»Bleib hier, Dick!« schrie sie.

Er hatte die Tür aufgestoßen und das Badezimmer verlassen. Sie zog die Tür schnell wieder zu und verriegelte sie, als könne Sybin wirklich hereinkommen.

Schon auf der Treppe rief Fontana nach Madame Bandu, aber sie gab keine Antwort. Als er an der Rezeption stand, hörte er aus dem Hinterzimmer ein leises Wimmern. Er stürzte in den Raum und sah Juliette gefesselt und geknebelt auf dem roten Sofa liegen. Sie zerrte an den Fesseln, aber Sybin hatte die Handtücher gut verknotet.

Zuerst riß Dick den Knebel aus Madame Bandus Mund und löste dann die Verknotung. Kaum konnte Juliette wieder frei atmen, stieß sie einen Schrei und dann einen Fluch aus, den Fontana nicht verstand. Erst dann schrie sie:

»Wo ist der Russe? Wo steckt er?«

»Bei mir.«

Sie sprang vom Sofa, und Fontana wunderte sich, wie beweglich die alte Dame noch war. Ihr faltiges Gesicht glühte, und ihre Blicke spuckten Feuer. Sie wollte an ihm vorbeirennen, aber Dick hielt sie am Arm fest.

»Lassen Sie mich los, Bob!« schrie sie. »Ich will ihm zwischen die Beine treten! Rühreier mache ich aus ihm!«

»Nicht nötig, Madame. Er spürt es nicht mehr.« Fontana ließ ihren Arm los. Madame Bandu wischte sich die schweißnassen Haare aus der Stirn.

»Was heißt das?« fragte sie, plötzlich kleinlaut geworden.

»Das, was ich sage.«

»Bob! Sie haben den Russen …« Ihr Atem stockte. »Nein …«

»Doch! Er wollte mich und Natalja umbringen, mit einem Messer und einem Beil. Es war Notwehr … wirklich nur Notwehr …«

»Das ist das erste Mal, daß jemand im Monique stirbt. Auch die Polizei war noch nie bei mir.«

»Sie wird auch jetzt nicht kommen, Madame. Sybin, so hieß der Russe, war nie hier gewesen. Wir müssen alle Spuren verwischen. Vor allem das Blut im Zimmer …«

»Viel … viel Blut?«

»Sehr viel …«

»Du lieber Himmel!«

»Sie müssen die Dielen scheuern, jede Ritze. Am besten ist es, das Holz wird hinterher gestrichen. Aber vorher muß die Leiche weg.«

»Wohin? Man kann sie doch nicht in den Mülleimer werfen.« Madame Bandu war sichtlich beruhigt. Daß dieser Russe, der sie mißhandelt hatte, tot war, freute sie. Sie hätte ihn in ihrer ersten Wut auch töten können. Er war als Mörder ins Haus gekommen und hatte seine gerechte Strafe erhalten.

»Wir werden ihn mit Nataljas Wagen wegbringen. Aber wir können ihn nicht über die Straße tragen. Kann man von rückwärts an das Hotel heranfahren?«

»Ich habe einen kleinen Hof … aber die Gasse dazu ist zu schmal für das Auto. Da kommt nur ein Handkarren durch.«

»Ich muß es versuchen, Juliette. Rückwärts … dann können wir Sybin in den Kofferraum laden, ohne daß es jemand sieht. Es genügt, wenn ich am Anfang der Gasse stehe.«

Sie gingen die Treppe hinauf, aber bevor Fontana die Tür des Zimmers öffnete, hielt er Madame Bandu noch einmal fest.

»Erschrecken Sie nicht«, sagte er. »Es ist kein schöner Anblick. Haben Sie starke Nerven?«

»Muß man die nicht haben bei einem Hotel am Pigalle?«

»Sein Kopf ist gespalten.«

»Ich werde es ertragen.«

Sie betraten das Zimmer, und trotz der Warnung zuckte Madame Bandu heftig zusammen. Aber nicht wegen Sybins Anblick, sondern wegen des vielen Blutes, in dem er lag.

»So eine Sauerei!« sagte sie empört. »Wie soll ich das je wieder sauber kriegen? Ich werde das Zimmer drei Wochen lang nicht vermieten können. Mein bestes Zimmer.«

»Ich bezahle Ihnen die drei Wochen, Madame.«

»Das habe ich gehofft.« Sie sah sich um, als suche sie etwas. »Wo ist Natalja?«

»Im Badezimmer. Sie hat Angst vor dem Toten.«

»So ein Unsinn! Der harmloseste Mensch ist der Tote! Vor den Lebenden muß man Angst haben.« Sie ging zur Badezimmertür und schlug mit der Faust dagegen. »Komm heraus!« rief sie resolut. »Sei nicht so hysterisch! Der Kerl muß weg.«

Natalja schob den Riegel zurück und kam heraus. Sie hatte sich angezogen, aber als sie einen schnellen Blick auf Sybin warf, verzerrte sich ihr Gesicht: das Beil in der Blutlache, der Schädel, zweimal gespalten … und das hatte sie getan, ohne zu zögern, ohne nachzudenken, mit der Kraft der Verzweiflung. Jetzt war es ihr unbegreiflich, daß sie zu so etwas fähig gewesen war.

»Ich fahre den Wagen zur Gasse«, sagte Dick und nahm den Autoschlüssel vom Tisch. Der Kaviar lag nun in dem geschmolzenen Eis, das bereits in Scheiben geschnittene Baguette war getrocknet, und noch immer wurde im Radio Popmusik gespielt. Er schaltete das Gerät aus. »Haben Sie eine alte Decke, Madame? Wir müssen ihn einwickeln, sonst versaut er Madame Marchandais' Wagen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er aus dem Zimmer. Kurz darauf hörte Natalja, wie der Motor angelassen wurde. Sie stand am Fenster, mit dem Rücken zu dem Toten, und starrte auf die dunkle Straße. Um diese Zeit waren viele Menschen unterwegs, das Vergnügungsviertel von Montmartre erwachte zum nächtlichen Leben.

Nach wenigen Minuten kehrte Fontana zurück. »Es geht«, sagte er, »der Wagen paßt wie ein Korken in den Eingang der Gasse. Von der Straße aus ist nichts zu sehen. Schaffen wir ihn weg, Natalja, du nimmst die Beine, ich trage ihn unter den Achseln. Madame, sie drücken ihn in der Mitte hoch.«

Natalja würgte, als sie Sybins Beine packte. Sie biß sich auf die Lippen, und als Fontana »Jetzt! Hoch!« kommandierte, riß sie Sybins Beine in die Höhe und machte die ersten Schritte. Er war schwerer, als sie gedacht hatte, und sie hatte Mühe, Stufe für Stufe die Treppe hinunterzusteigen, ohne zu stolpern oder auszurutschen.

Sie schafften es bis zum Kofferraum des Citroën und schoben keuchend und schwer atmend die Leiche hinein. Fontana schlug den Deckel zu.

»Geschafft!« sagte er.

»Wir haben die Decke vergessen.« Madame Bandu lehnte sich gegen den Wagen. »Pardon, Bob.«

»Wir werden den Kofferraum auswaschen, bevor wir den Wagen abliefern.«

»Wo wollt ihr die Leiche loswerden?«

»Ich habe gedacht, wir werfen sie an einer einsamen Stelle außerhalb von Paris in die Seine.«

»Schlecht, sehr schlecht – man wird ihn herausfischen.«

»Das soll man ja.«

Madame Bandu starrte Fontana fassungslos an. Sie verstand nichts mehr, aber sie fühlte, daß hier etwas geschehen war, das sie nie begreifen würde.

»Wer war dieser Sybin?« fragte sie.

»Das ist eine lange Geschichte, Madame.« Fontana blickte auf seine Hände, die voller Blut waren. »Ich werde sie Ihnen erzählen, wenn wir viel Zeit haben.« Juliette nickte. Sie wußte, daß er es nie erzählen würde.

Sie blieb am Eingang der Gasse stehen, bis Fontana und Natalja weggefahren waren, und ärgerte sich gewaltig, daß sie nun das Blut wegwischen und die Betten neu beziehen mußte.

Irgendwo außerhalb der Stadt, an einer mit Büschen dichtbewachsenen Uferstelle, zerrten Dick und Natalja mühsam Sybin aus dem Kofferraum, schleiften ihn die Uferböschung hinunter und warfen ihn in die Seine. Die Strömung riß den Toten mit, seine Jacke blähte sich auf und hielt ihn wie eine Schwimmweste über Wasser, aber als sie sich voll Wasser gesogen hatte, versank Sybin im Fluß.

Natalja blickte ihm nach, bis das Wasser ihn verschluckte. Sie hob die Hand und sagte laut:

»Nitschewo!«

Nichts!

Es war ihr letzter Gruß an ein vergangenes Leben …

Im ›Roten Salon‹ der Madame de Marchandais trafen sich Ducoux und Dr. Sendlinger wieder. Louise nannte Sendlinger einen alten Freund, küßte ihn auf beide Wangen und machte ihm das Kompliment, daß er gut aussehe. Eines der Mädchen brachte ihm ein Champagnerglas und flüsterte: »Vierzehn, Monsieur.« Das war ihre Zimmernummer im ersten Stockwerk der Villa.

Sendlinger hatte kein Interesse, seinen Abend mit einer bezahlten Frau zu verbringen. Er ging hinüber zu dem runden Stammtisch, begrüßte Ducoux, Pataneau, Lumette, einen François Lasanna, der ein Abteilungsleiter einer Behörde bei der EU und daran beteiligt gewesen war, das bahnbrechende Gesetz zu formulieren, wie lang, wie dick und wie krumm eine der EU genehme Banane zu sein hat.

Auch Anwar Awjilah war gekommen und gab Dr. Sendlinger die Hand. Sie blinzelten sich kaum merklich zu … es war das Zeichen, daß das Plutonium 239 zur Übergabe bereitstand. Wirklich vier Kilogramm? Awjilah war gespannt – morgen in der iranischen Botschaft würde man mehr wissen.

Dr. Sendlinger blickte sich suchend um. Enttäuscht fragte er:

»Ist Natalja Petrowna nicht hier?«

»Sie ist verreist.« Madame de Marchandais, die Sendlinger gefolgt war, machte ein bedauerndes Gesicht. »Nach St. Tropez …«

»Natalja ist schon seit einer Woche nicht mehr bei uns.« Ducoux fingerte eine seiner Zigarren aus einem silbernen Etui. »Wir vermissen sie sehr.«

»Sie wollte eigentlich gestern zurück sein.« Louise trank einen Schluck Champagner. Wenn sie log, bekam sie immer eine trockene Kehle vor Aufregung. »Und Monsieur Fulton ist auch nicht da.«

»Er hat mir gesagt, er müsse nach Lyon … wegen seines Ladykillers.« Auch Ducoux log glaubhaft. Dr. Sendlinger, der zum ersten Mal den Namen Fulton hörte, versuchte einen Witz.

»Sind Sie sicher, Jean«, fragte er, »daß dieser Herr in Lyon ist und nicht in St. Tropez, Ladys killt?«

Ducoux fand das gar nicht lustig. »So etwas kann nur jemand sagen, der Natalja kaum kennt.«

Dr. Sendlinger verkniff sich ein Grinsen. Mein lieber Ducoux, wenn du wüßtest, mit wem du sprichst. Wenn jemand Natalja Petrowna kennt, dann bin ich es. Du bist ein alter Esel, der sich einbildet, Eindruck auf sie gemacht zu haben, und du ahnst nicht, daß sie dich verführerisch anlächelt, um an das Material der Sûreté heranzukommen, an die Informationen, die ihr über den Nuklearhandel gesammelt habt, damit Sybin, der für euch große Unbekannte, die Konkurrenz ausschalten kann.

Ohne Natalja wurde es Sendlinger schnell langweilig im ›Roten Salon‹. Die halbnackten Mädchen riefen bei ihm mehr Ablehnung als Interesse hervor, mit einer der ›Damen der Gesellschaft‹ wollte er auf gar keinen Fall eine Affäre beginnen, das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel ekelte ihn an und war nicht seine Sache. Warum also bei Madame bleiben?

Er hatte noch einen schnellen Blickkontakt mit Awjilah, verabschiedete sich von allen und verließ die Villa. Ein Taxi, das er hatte bestellen lassen, holte ihn ab und brachte ihn zum Hotel Crillon.

In der prunkvollen Halle sprang Waldhaas auf, der in einem der Sessel saß und offensichtlich auf Sendlinger gewartet hatte. Er stürzte ihm entgegen und machte einen verzweifelten Eindruck.

»Sybin ist weg!« rief er mit unterdrückter Stimme. »Ich wollte ihn mitnehmen ins Crazy Horse … sein Zimmer ist leer.«

»Was soll das heißen?« Sendlingers gute Laune verflog schlagartig. »Er ist wieder allein losgezogen?«

»Er ist jedenfalls nicht mehr da.«

»Ist es nicht möglich, daß du einen einzigen Mann im Auge behältst?« Sendlinger war wütend. »Was hast du denn vierzehn Jahre lang bei der Stasi getan? Hunderte von Menschen überwacht … und das hat fabelhaft geklappt. Und jetzt kannst du nicht einmal einen Mann festhalten?«

Waldhaas setzte sich beleidigt in den nächsten Sessel und verzichtete auf eine Entgegnung. Es war für ihn ein Trauma, auf seine Stasi-Vergangenheit angesprochen zu werden. Das war vorbei und aus … jetzt war er einer der größten Baustoffhändler Berlins. Wer redet denn noch von der fatalen Vergangenheit – nur die Gauck-Behörde, die alle verfügbaren Akten der Stasi durcharbeitete … na ja, eine Langzeitbeschäftigung für einige Beamte. Den Namen Waldhaas suchte man vergeblich in der Hinterlassenschaft des DDR-Staatssicherheitsdienstes, er hatte alle ihn betreffenden Papiere verbrannt und auch wichtige Ermittlungsberichte, die ihn hätten belasten können. Dann war er untergetaucht in der Menge und hatte sogar am Brandenburger Tor gejubelt, als man die Mauer einriß und es wieder ein vereintes Deutschland gab. Er fand es unerhört, daß Sendlinger die Vergangenheit wieder hervorkramte und ihn damit attackierte.

»Wie war es im ›Roten Salon‹?« fragte er ablenkend. »Hast du Natalja gesprochen?«

»Sie ist verreist. Nach St. Tropez.«

»Meine Ahnung … da steckt ein Mann dahinter.«

»Oder einfach nur die Lust, das Mittelmeer zu sehen. Sie soll noch diese Woche zurückkommen.«

»Und was sagen wir Sybin? Wie ich ihn kenne, fliegt er sofort nach Nizza, um Natalja in St. Tropez zu suchen. Hast du ihre Adresse?«

»Nein.«

»Aha! Auch der superkluge Dr. Sendlinger macht Fehler.«

»Sie kommt morgen oder übermorgen zurück, habe ich gesagt. Viel wichtiger ist, daß ich morgen nachmittag Awjilah in der iranischen Botschaft treffe. Der Vertrag ist perfekt: vier Kilogramm Plutonium.«

»Da wird Hässler Halleluja schreien, daß er das Zeug nicht mehr in seinem Keller verstecken muß.«

»Und für uns bedeutet das rund zweihundert Millionen Dollar. Du kannst deinen dämlichen Baustoffhandel aufgeben.«

»Im Gegenteil – ich werde investieren. Berlin wird bis über das Jahr zweitausend hinaus eine Baustelle bleiben.« Waldhaas blickte Sendlinger an. Was er jetzt sagte, war sein unumstößlicher Wille. »Und – Paul – das ist der letzte Deal, bei dem ich mitmache. Ich steige aus! Ich habe mehr Geld, als ich verfressen kann! Geld wird in dem Moment unwichtig, wo man genug davon hat. Ich kann mir jeden Wunsch erfüllen – was will ich mehr?« Er lachte kurz auf und blickte in Sendlingers verärgertes Gesicht. »Und was hast du in Zukunft vor?«

»Ich mache weiter. Plutonium wird nie aus der Mode kommen, solange es Machthunger und Fanatiker gibt. Und Waffen werden auf der ganzen Welt gebraucht. Außerdem will ich das Geschäft mit den Bakterien und Viren aufbauen.«

»Meinst du das im Ernst?!«

»Es ist das Geschäft der Zukunft. Bomben machen Krach, Bakterien sind lautlos und unsichtbar – und viel wirksamer.«

Waldhaas zuckte die Schultern, als wehe ihn ein eisiger Windhauch an. »Du bist unersättlich«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Du hast kein Gewissen. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte dich nie kennengelernt.«

Dr. Sendlinger schüttelte den Kopf, als könne er Waldhaas nicht verstehen. Für ihn waren Geld und Macht die einzigen Kriterien, die den Wert des Lebens bestimmten. Ein Gewissen kann sich nur der leisten, der jeden Monat sein festes Gehalt erhält.

»Gehen wir schlafen, Ludwig«, sagte er. »Ich bin müde.«

»Und Sybin?«

»Wird morgen früh in seinem Bett liegen. Ich vermute, daß er die Kunstfertigkeiten einer Pariser Hure studiert. Aber auch das hat Grenzen, eigentlich ist es doch immer dasselbe. Gute Nacht, schlaf gut.«

»Du auch!«

Waldhaas wartete, bis Sendlinger mit dem Lift nach oben fuhr, ging dann in die Bar und trank zwei Gläser seines Lieblingsgetränks. Cuba libre – Cola mit Rum.

Gegen zwei Uhr früh ging auch er auf sein Zimmer.

Sybin war noch nicht zurückgekommen, und Waldhaas hatte keine Lust mehr, noch länger auf ihn zu warten.

Am nächsten Morgen zogen zwei städtische Arbeiter Sybin an einem Auffanggitter aus der Seine.

Er schwamm zwischen leeren Dosen, abgerissenen Ästen, einem aufgeweichten Pappkarton, verendeten Fischen und einer toten Katze mit dem Gesicht nach unten im Fluß. Die Arbeiter zogen ihn ans Ufer, starrten verblüfft auf die dicken Ringe an den neun Fingern, sahen sich an, blinzelten sich zu und waren sich einig. Sie zogen die Ringe von Sybins Fingern, und da man neun nicht durch zwei teilen kann, bekam der eine vier und der andere fünf Ringe. Das war gerecht, denn er hatte den Toten zuerst gesehen.

Sie schleiften ihn die Böschung hinauf und putzten sich dort die Hände an den Arbeitshosen ab.

»Den haben sie aber zugerichtet«, sagte der eine, »zweimal den Kopf eingeschlagen.«

»Wetten«, sagte der andere, »das war 'n Zuhältermord. Mit den Ringen … wer trägt denn schon solche Ringe?«

»Möglich. Rufen wir die Polizei.« Er klopfte auf seine Rocktasche und lächelte strahlend. »Jetzt hab ich für Martine ein Geschenk zum Geburtstag und für Weihnachten. Ich sag's doch immer: Das Geld liegt auf der Straße, man muß es nur aufheben.«

Nitschewo …