Das Labyrinth

Wenn man weiß, was eine Sackgasse ist, dann ist es einem bewußt, wann man nicht mehr weiterkommt. Genauso erging es den Beamten des Bundeskriminalamts in Wiesbaden: Sie standen wie vor einer Mauer. Kriminaloberrat Wallner berichtete dem Präsidenten des BKA, daß es keine neuen Erkenntnisse gebe.

»Wieso?« kam prompt die Rückfrage, und das ärgerte Wallner am meisten. Wenn man vor sich eine Wüste hat, kann man nicht fragen: Warum wächst hier kein Baum? Er ließ sich beim Präsidenten des BKA anmelden und erstattete Bericht, kurz und präzise wie immer.

»Herr Brockler hat alles gesagt, was er wußte. Er hat Namen und Orte genannt – sie stehen im Bericht –, aber damit können wir nichts anfangen. Nach seinen Aussagen stammt das Plutonium aus Rußland, es wurde ihm in Moskau ausgehändigt. Der Empfänger der Probesendung ist nicht zu ermitteln, unsere französischen Kollegen tappen ebenso im dunkeln wie wir; der Übergabeort Paris besagt gar nichts, denn Brockler sollte ja in seinem Hotel angerufen werden, was nun hinfällig ist. Das ist der aktuelle Stand der Dinge. Der Chef der Sondereinheit V der Sûreté, ein Kriminaldirektor Ducoux, hat mir versichert, daß man in Marseille zwei Atomschmuggler verhaften konnte, aber sie haben mit dem Fall Brockler nichts zu tun. Es sind zwei Algerier, die minderwertiges Uran anboten, das man überall, wo Reaktoren stehen, beschaffen kann. Keine russische Ware. Das absolut reine Plutonium, wie es Brockler transportiert hat, ist in Frankreich bis jetzt noch nicht aufgetaucht. Herr Ducoux ist betroffen und alarmiert, und wir haben alle Unterlagen an ihn geschickt. Ich bin fest davon überzeugt, daß Herr Brockler nicht mehr weiß, als er gesagt hat. Man hat seine Ahnungslosigkeit und Gutmütigkeit ausgenutzt, was schon aus der lächerlich geringen Entlohnung für seine Kurierdienste hervorgeht.«

»Aber er wußte doch, was er transportierte!« fiel der Präsident Wallner ins Wort.

»Ja und nein.«

»Was soll das heißen?«

»Als man ihm für den zweiten Kurierdienst fünfzigtausend Mark anbot, hätte er hellhörig werden müssen. Daß etwas Kriminelles im Spiel war, ahnte er natürlich … aber nicht, was er nach Paris bringen sollte. Ich habe ihm auf den Zahn gefühlt, bis unters Zahnfleisch: Er weiß noch nicht einmal, was Plutonium ist. Uran kennt er … mehr aber nicht. Lithium, Cäsium und andere radioaktive Stoffe … keine Ahnung. Als ich ihm sagte, daß die Bombe von Nagasaki eine Plutoniumbombe gewesen sei, ist er fast vom Stuhl gefallen. Er ist ein biederer, ehrlicher Mensch.«

»Ehrlich? Na, na!« Der Präsident sah seinen Oberrat irritiert an. »Unser Rechtssystem sieht das anders. Immerhin hat er eine Straftat begangen.«

»Die bei seiner Ahnungslosigkeit geringfügig ist. Er ist nicht vorbestraft, jedes Gericht wird eine Bewährungsstrafe aussprechen. Und er hat uns geholfen, soweit sein Wissen reicht.«

»Aber es geistert Plutonium herum.« Der Präsident des BKA wischte sich über die Stirn. »Jetzt muß der BND helfen, so ungern ich mit denen zusammenarbeite …«

»Und was sollte der BND tun?«

»Über seine V-Männer herausfinden, woher das Plutonium stammt und wer hinter dem Handel steckt. Wir wissen, daß es aus Tomsk-7 kommen kann. Kann! Muß aber nicht. Von Moskau aus wird es weitergegeben. Auf welchem Wege gelangt das Plutonium von Sibirien nach Moskau? Zwanzig Gramm, das ist leicht zu transportieren, aber ein Kilogramm, das ist mit dem Bleicontainer ein schwerer Brocken! Das kann man nicht in der Hosentasche herumtragen, auch nicht in einem Rucksack.« Der Präsident wurde sarkastisch, was bei ihm selten passierte. »Das alles könnte der BND durch seine V-Männer eruieren lassen – wir haben dazu keinerlei Möglichkeiten. Wozu sonst ist er da … die Bedrohung durch Atomhandel wird zunehmen, das ist uns bewußt. Man braucht kein Prophet zu sein, um das vorauszusehen!«

»Noch tappen wir völlig im dunklen.« Wallner zog die vorgelegte Akte wieder zu sich heran. »Was nutzen uns alle Festnahmen von Kurieren, wenn wir die Abnehmer nicht kennen. Wir können nur vermuten, wer daran interessiert ist, aber beweisen können wir nichts! Auch die CIA lebt in punkto Plutonium von Theorien. Es ist noch niemandem gelungen, eine Übergabe von Plutonium zu beobachten. Wir wissen nur – wie Sie richtig sagten –, daß Uran, Plutonium und Lithium im Umlauf sind.«

»Ich rufe beim BND an.« Der Präsident des BKA zog eine saure Miene. »Ich möchte auch erfahren, wie umfangreich deren Erkenntnisse sind. Hier darf es keine Geheimniskrämerei mehr geben! Wir sollten eng zusammenarbeiten.«

Wallner kehrte in sein Dienstzimmer zurück. Kommissar Berger wartete dort bereits auf ihn.

»Was sagt der Alte?« fragte er respektlos.

»Er schaltet den BND ein.«

»Die sind doch längst mittendrin!«

»Aber sie kochen ihre eigene Suppe. Das regt ihn auf.«

»Geheimdienste sind dazu da, geheim zu sein.« Berger grinste breit. »Ich bin gespannt, was dabei herauskommt.«

»Ich auch!« Wallner warf die Akte auf den Tisch. »Eines ist mir klar: Die in Pullach wissen mehr als wir.«

Trotz des Versteckes, das ihm das BKA besorgt hatte, fühlte sich Freddy Brockler weiterhin bedroht. Er wohnte in einem Zimmer in Bruchsal, nicht weit von der Justizvollzugsanstalt entfernt. Das war der neue Name, früher hieß es Zuchthaus. Das Zimmer lag in einer Siedlung, er hatte den Namen Gustav Heiner bekommen und konnte sich frei bewegen, da keine Flucht- oder Verdunklungsgefahr bestand, aber er verließ nur sehr selten sein Versteck, um einzukaufen oder sich an der Eckkneipe mit Flaschenbier zu versorgen.

Ab und zu besuchte ihn ein Beamter des BKA oder des Landeskriminalamtes, aber das war eher Routine, denn zu Verhören gab es keinen Anlaß mehr. Daß man Brockler – Heiner – weiterhin verbarg, hatte allerdings einen realen Grund: Seine Braut Elfriede war von der Polizei entlassen worden, nachdem feststand, daß sie keine Mitwisserin war und keine Ahnung von Brocklers Schmuggel hatte. Sie war in die gemeinsame Wohnung zurückgekehrt und hatte sich bemüht, mit ihrem Freddy Kontakt aufzunehmen, aber hier wehrte Wallner ab und ließ sie wissen, daß Herr Brockler zur Zeit nicht zu sprechen sei. Auch Elfriedes Weinen und Schluchzen konnte ihn nicht erweichen, der Mord an Karel Londricky war eine deutliche Warnung gewesen, zumal man den Täter bisher nicht hatte ermitteln können. Die Polizei vermutete einen Berufskiller, der im Auftrag einer Organisation gehandelt hatte. Die russische Mafia? Auch hier überall Dunkelheit.

Es blieb Elfriede nichts anderes übrig, als zu warten, bis Brockler sich von selbst meldete. Und dann geschah das, was Wallners Herzschlag schmerzhaft beschleunigte.

An einem Abend klingelte es an Brocklers Tür, und als Elfriede öffnete, sah sie sich zwei Männern gegenüber, die sie freundlich anlächelten und mit einem Fausthieb gegen die Brust begrüßten. Der Schlag warf sie zurück, die beiden Männer stürzten in die Wohnung und verriegelten hinter sich die Tür. Bevor Elfriede begriff, was geschehen war, und um Hilfe schreien konnte, erhielt sie noch mal einen Schlag auf den Mund, der ihren Schrei erstickte. Die Unterlippe war aufgeplatzt und begann zu bluten, und als sie stammelte: »Was wollen Sie? Wer sind Sie? Bitte, nicht mehr schlagen!«, zerrten die beiden Männer sie ins Schlafzimmer und warfen sie auf das Bett.

Am ganzen Körper zitternd, schloß Elfriede die Augen. Sie wollen mich vergewaltigen, das war das einzige, woran sie denken konnte. Wehre dich nicht, sie sind stärker als du und zu zweit. Wenn du dich wehrst, bringen sie dich um. Was sie auch tun, ertrage es. Irgendwann ist es vorbei … aber du lebst. Sie blieb ganz still liegen und spannte ihre Muskeln an.

Aber die beiden Männer fielen nicht über sie her, rissen ihr nicht die Kleider vom Leib und mißbrauchten sie auch nicht. Sie setzten sich neben Elfriede auf die Bettkante, und einer von ihnen gab ihr eine Ohrfeige. Nicht so brutal wie vorher, sondern eher so, als wolle man sie aus einer Ohnmacht aufwecken.

»Mach die Augen auf!« sagte einer der Männer. Er hatte lange, auf die Schulter fallende Haare von einem Blond, das an reifen Weizen erinnerte. »Spiel nicht die Ohnmächtige! Wir haben einige Fragen an dich, und wenn du sie brav beantwortest, geschieht dir nichts. Bist du stur, schlitze ich dir mit einem Rasiermesser dein hübsches Puppengesicht auf …«

Elfriede öffnete die Augen. Der blonde Mann hielt ihr ein aufgeklapptes Rasiermesser vor das Gesicht und grinste sie an.

»Wo ist Freddy Brockler?« fragte der andere Mann. Er hatte braune, gelockte Haare, die über der Stirn schon etwas dünn wurden. Er war älter als der Blonde und höflicher.

»Ich weiß es nicht«, stammelte Elfriede. Plötzlich wußte sie, daß diese Männer Jagd auf Freddy machten, wegen des verdammten Plutoniums. Und ich weiß doch wirklich nicht, was das alles zu bedeuten hat.

Der Blonde hob das Rasiermesser. »Mäuschen«, sagte er und lächelte. »Der erste Schnitt geht quer über deine rechte Wange …«

»Glauben Sie mir: Ich habe keine Ahnung!« Elfriede sah den älteren Mann bittend an. »Die Polizei hat ihn mitgenommen. Er wollte fliehen, aber sie haben ihn erwischt.«

»Wohin wollte er fliehen?«

»Auch das weiß ich nicht.«

»Was weißt du überhaupt?«

»Nichts. Glauben Sie mir …«

»Freddy hat nie mit dir über seinen Auftrag gesprochen?«

»Wann denn? Er kehrte aus Moskau zurück, wollte duschen und dann schlafen, bekam einen Anruf, und weg war er. Wir hatten doch überhaupt keine Zeit, miteinander zu sprechen. Wann denn? Und das mit dem Plutonium habe ich erst von der Polizei erfahren. Keine Ahnung hatte ich.«

»Und weiter?«

»Was weiter? Man hat mir auf der Polizei gesagt, daß sie ihn weggebracht haben. Wohin? Keine Ahnung. Die Polizei gibt keine Auskunft. Nur soviel: Ich solle in Wiesbaden beim Bundeskriminalamt anrufen. Das habe ich getan.«

»Und?«

»Nichts! Nur Ausreden. Ich weiß wirklich nicht, wo Freddy ist.«

»Ich glaube ihr.« Der ältere Mann nickte dem Blonden zu. »Steck dein Messer ein. Das BKA hält ihn unter Verschluß.«

Der langhaarige Blonde warf einen prüfenden Blick auf Elfriede. »Sie ist ganz hübsch«, sagte er und grinste. »Und so allein. Ganz ohne Mann. Wie hält sie das wohl aus? Soll ich ihr zeigen, was ein ordentlicher Fick ist?«

Also doch! Elfriedes Körper verkrampfte sich wieder. Aber der Ältere schüttelte den Kopf.

»Laß das!« Er stand von der Bettkante auf. »Los! Gehen wir.«

»Schade.« Der Blonde erhob sich ebenfalls und klappte das Rasiermesser zu. »Sieh dir nur ihre Titten an! Die soll man so einfach liegenlassen? Geh raus … in zehn Minuten komme ich nach …«

»Geh'n wir!« Die Stimme des Älteren wurde scharf, befehlend. »Los!«

Sie verließen die Wohnung. Elfriede rannte ans Fenster und blickte auf die Straße. Sie sah, wie die beiden in ein Auto stiegen und davonfuhren. Ein dunkelblauer Audi … vom Nummernschild konnte sie sich in der Aufregung nur das B merken, die anderen Zeichen nicht. Es ging alles so schnell, und außerdem schmerzte die geplatzte Unterlippe zu sehr, um sich zu konzentrieren.

Elfriede atmete auf. Es war vorbei, und sie lebte noch. Aber Freddy war in Gefahr, das wußte sie jetzt. Mit bebender Stimme rief sie das zuständige Polizeirevier an, und siehe da: Der Beamte am Telefon reagierte sofort, ohne viel zu fragen. Name, Adresse, schildern Sie genau den Vorgang … Nichts von alledem. Innerhalb von zehn Minuten waren zwei Polizisten bei Elfriede und brachten sie zum Revier. Dies bewies, daß sie polizeibekannt war, wie es im Amtsdeutsch so schön heißt.

Nach einem kurzen Anruf beim BKA sagte der Revierleiter: »Sie werden sofort nach Wiesbaden gebracht. Was Sie erlebt haben, ist von großer Wichtigkeit.«

So lernte Elfriede Wiesbaden kennen, ohne Unkosten zu haben, und sie wurde von einem unauffälligen Privatwagen der Kölner Polizei hingefahren. Ein Oberwachtmeister saß neben ihr und unterhielt sie mit Kölschen Witzen.

Oberrat Wallner hatte auf sie gewartet und kam ihr auf dem Flur entgegen, nachdem der Portier sie angemeldet hatte. Er stellte sich vor und führte Elfriede in ein großes Zimmer, in dem er morgens immer seine Lagebesprechung abhielt.

»Nehmen Sie Platz, Frau Gremmling«, sagte er. »Vom Telefon her kennen wir uns ja schon. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Tonband mitlaufen lasse?«

»Nein …« Elfriede setzte sich zaghaft. Sie faltete die Hände im Schoß und wirkte wie ein Schulmädchen, das zum Schuldirektor bestellt wurde, um einen dummen Streich zu gestehen. Wann lernt man schon einen Kriminaloberrat kennen? Und dann noch einen von der obersten Polizeibehörde der Bundesrepublik, wie man ihr auf dem Weg nach Wiesbaden erzählt hatte. »Wo ist Freddy?« fragte sie und nahm allen Mut zusammen.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Frau Gremmling.«

»Sie wissen es nicht?«

»Ich darf es nicht.«

»Warum? Ich bin seine Verlobte …«

»Genau darum.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Denken Sie daran, was Sie heute abend erlebt haben.«

»Es war furchtbar. Ich hatte Todesangst.« Sie senkte den Kopf und schloß die Augen, ihr Körper begann wieder zu zittern. Die Erinnerung an diese Stunde nahm ihr den Atem. »Wenn sie mich jetzt vergewaltigen, habe ich gedacht, dann …«

»Haben sie es getan?«

»Nein, nein! Sie haben nur Fragen gestellt … aber vorher haben sie mich geschlagen …«

»Ich sehe Ihre aufgeplatzte Unterlippe.« Wallner nickte Elfriede aufmunternd zu. »Können Sie die Männer beschreiben?«

»Ich weiß nicht … der eine war jung, hatte hellblonde Haare, bis über die Schultern, mittelgroß, und der hatte auch das Rasiermesser … und der andere war älter, braune Haare, größer, und der hatte das Wort und hat verhindert, daß der Blonde mich … Sie wissen, was ich meine …«

»Und was haben sie gefragt?«

»Wo Freddy ist.«

»Sehen Sie, und deshalb kann ich Ihnen nicht sagen, wo Herr Brockler jetzt untergebracht ist.« Wallner legte seine Hand auf Elfriedes zitternde, gefaltete Hände. »Und was haben Sie geantwortet?«

»Daß ich nichts weiß.«

»Das haben sie Ihnen geglaubt?«

»Es ist ja die Wahrheit. Ich weiß bis jetzt noch nicht, was wirklich mit Freddy los ist.«

»Erstaunlich, daß man Sie leben ließ.« Wallner schüttelte den Kopf. Ein Killerkommando hinterläßt keine Zeugen, erst recht nicht, wenn man ihre Gesichter gesehen hat und sie später identifizieren kann. »Ich weiß nicht, wieso, aber Sie haben ein unglaubliches Glück gehabt. Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen?«

»Besonderes? Nein! Ich war so aufgeregt und hatte solche Angst … ich habe immer nur das Rasiermesser gesehen, das der Blonde mir vor das Gesicht hielt … können Sie sich vorstellen, was das für ein Gefühl ist … Wie soll mir da etwas Besonderes auffallen?«

»Kleidung.«

»Beide hatten gute Anzüge an. Hemden mit Krawatte. Doch ja …« Elfriedes Kopf zuckte hoch. Das hatte sie sich gemerkt, trotz aller Angst. »Beide sprachen Berliner Dialekt …«

»Das ist ein guter Hinweis.« Wallner sparte nicht mit Lob, um Elfriede Mut zu machen. »Es waren Berliner?«

»Ich weiß nicht, aber sie sagten ›ick‹ statt ich, und: ›Nu komm, Kleene. Sag wat. Ick zerschneid dir die Fresse!‹ Ja, so war es. Und später …«

»Was war später?«

»Als sie weg waren, bin ich zum Fenster gelaufen. Sie stiegen in einen dunklen Audi … und auf dem Nummernschild stand ein B … die anderen Buchstaben habe ich nicht behalten. Meine Lippe tat so weh … Aber B … das weiß ich genau.«

»Ganz klar Berlin!« Wallner kratzte sich den Haaransatz. Berlin … das war ein wichtiger Hinweis. Sie sind extra aus Berlin gekommen, um Brockler zu suchen. Das bewies, in welch großer Gefahr er sich befand. Und noch etwas Alarmierendes interpretierte Wallner aus diesen Fakten: Stand hinter den Killern eine Organisation? Es handelte sich bei dem Atomtransport nicht um irgendwelche Einzeltäter, sondern um eine funktionierende Organisation! Und wenn eine Atommafia – eine russische? – in das Geschäft eingestiegen war, dann war der Fall Brockler ein ganz kleiner Fisch, denn dann wurde Plutonium in großen Mengen nach Mitteleuropa eingeschleust, und dann wurde es zu einer Bedrohung der gesamten freien Welt! Man hatte nie gewagt, diesen Teufel an die Wand zu malen, aber nun war er da, lebte mitten unter uns, brachte die Vernichtung über die Grenzen! Mein Gott, wie sah die Zukunft der Welt aus?

Hier muß wirklich der Bundesnachrichtendienst ran, dachte Wallner. Für uns ist das zwei Nummern zu groß. Wir können nur verhaften, wenn wir die Täter kennen – und das ist immer ein Glücksfall –, aber der BND hat die Möglichkeit, über seine V-Männer Informationen zu sammeln und an uns weiterzugeben. Wissen die in Pullach jetzt schon mehr als wir?

»Ich lasse Sie in ein Hotel bringen«, sagte Wallner zu Elfriede. »Zur Rückfahrt nach Köln ist es schon zu spät. Selbstverständlich übernehmen wir die Kosten. Ihre Aussagen haben uns sehr geholfen, Frau Gremmling.« Wallner erhob sich. Auch Elfriede stand auf, sie zitterte noch immer. Die aufgeplatzte Unterlippe, die man auf dem Revier in Köln mit etwas Jod behandelt hatte, brannte und war um das Doppelte angeschwollen. Jetzt, nachdem alles vorbei war, nachdem sie dem Oberrat alles erzählt hatte, überfiel sie eine große Müdigkeit und Schwäche. Sie hatte das Gefühl, in den Knien einzuknicken, und hielt sich an der Tischkante fest. Ein unbekanntes Kribbeln durchzog ihren Körper, als schwämme in ihrem Blut eine Ameisenherde mit.

»Ich … ich kann nicht mehr …«, stammelte sie. »Ich falle gleich um …«

Wallner brachte sie aus dem Zimmer. Draußen übernahm sie ein Beamter und fuhr sie sofort in ein kleines Hotel außerhalb des Stadtkerns von Wiesbaden. In ihrem Zimmer fiel Elfriede auf das Bett und hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich auszuziehen. Aber bevor sie in einen gnädigen Schlaf fiel, dachte sie noch: Was haben sie mit Freddy gemacht? Wo ist er? Wollten die beiden Männer ihn wirklich umbringen? Warum denn … er weiß doch auch nichts. Man hat seine Gutmütigkeit mißbraucht, er ist unschuldig, und von diesem verdammten Plutonium hat er auch keine Ahnung! Warum will man ihn töten?

Ihre Angst steigerte sich bis zur Panik … aber ihr Körper verlangte nach Ruhe. Und Elfriede glitt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

In einem abhörsicheren, kleinen Raum saßen zwei Tage später drei Männer und eine Frau zusammen um einen runden Tisch, tranken Fruchtsaft und hörten mit angespannter Miene zu, was einer der Männer vortrug.

Der Raum befand sich im Hauptquartier der CIA in Washington und konnte nur mit einer Chipkarte geöffnet werden. Hier wurden besonders heikle und geheime Probleme besprochen, von denen außerhalb dieses Zimmers keiner etwas wußte, außer der kleinen Gruppe der Betroffenen, die sich damit zu befassen hatten.

An diesem Vormittag saßen um den runden Tisch: der Leiter der Sonderabteilung II/10 zur Bekämpfung der Nuklearkriminalität auf militärischem Gebiet, Colonel John Curley, die Spezialagentin Victoria Miranda, im Range eines Lieutenant, Captain Bill Houseman und Spezialagent Captain Dick Fontana. Als einziger trug Curley eine Uniform, verziert mit etlichen Orden. Im Vietnamkrieg hatte er als Captain eine Sondereinheit befehligt und galt als Kriegsheld, obwohl niemand darüber sprach, welche Einsätze er erfolgreich durchgeführt hatte, aber nach der Zahl seiner Orden zu urteilen, mußten sie von großer Bedeutung gewesen sein. Er war jetzt siebenundfünfzig Jahre alt, ergraut und im Privatleben ziemlich wortkarg. Seine Ehe war vor sieben Jahren gescheitert. Gloria, seine Frau, hatte beim Scheidungsrichter angegeben, Curley sei ein Mann geworden, mit dem keine Unterhaltung mehr möglich wäre, der nur vor dem Fernsehapparat sitzt, Whisky trinkt und in seiner fernsehfreien Zeit Schallplatten anhört, am liebsten Musik von Wagner und davon am allerliebsten den Walkürenritt aus der Oper ›Die Walküre‹. Sonst lief nichts mehr … keine Zärtlichkeit, kein Sex, nicht mal ein Kuß. Die Ehe wurde wegen seelischer Grausamkeit geschieden.

Im Dienst aber war er ein gesprächiger Mann … seine Vorträge zur Lage waren präzise und von großer Sachkenntnis. Auch heute, am runden Tisch in dem kleinen Zimmer, faszinierte er seine Zuhörer.

»Wir haben seit Jahren davon Kenntnis«, sagte er, »daß es Schmuggelaktivitäten mit radioaktivem Material gibt. Ob Lithium, Uran oder Plutonium, alles ist auf dem Markt. Wir kennen die Länder, die an einer Atombombe basteln, um damit einen Machtfaktor in die Hand zu bekommen. Vor allem seit der Neuordnung der ehemaligen Sowjetunion ist die Gefahr aktuell, daß aus den bisher geheimen Produktionsstätten für waffenfähiges Nuklearmaterial kleinere oder auch größere Mengen, vor allem von Plutonium, in die interessierten Länder fließen. Wir kennen diese geheimen Atomwerke, aber uns ist auch bekannt, daß es in Rußland noch – bisher von uns nicht entdeckte – Forschungsstätten gibt. Bekannt ist auch, daß russische Wissenschaftler abgewandert sind und jetzt in verschiedenen Staaten der arabischen und der sogenannten dritten Welt tätig sind. Das schließt nicht aus, daß auch bei uns oder im europäischen Raum Plutonium verschwindet und in den Handel kommt. Trotz aller scharfen Sicherungseinrichtungen kann, ich sage: kann, Atommaterial auch bei uns verschwinden. Alles ist möglich. Unleugbar ist dagegen, daß aus Rußland Plutonium herausgeschmuggelt wird – die GUS-Staaten, Kasachstan und die Ukraine sind die Hauptlieferanten. Der Atomhandel ist nach unserem Wissen gut durchorganisiert, was darauf hinweist, daß eine große Organisation dahinter steht. Ob es die russische Mafia ist, wissen wir noch nicht, aber wir vermuten es. Nach unseren Informationen ist die amerikanische Mafia nur geringfügig an dem Geschäft beteiligt, aber das kann sich noch ändern. Ich allerdings glaube nicht daran, denn wenn die russische Mafia den Atomhandel in der Hand hat, dürfte es für unsere Jungs keine Chance geben, in das Geschäft einzusteigen und mitzumischen. Wir sind von unserer Mafia seit Jahrzehnten allerhand gewöhnt, aber gegen die russische Mafia ist sie ein geradezu biederes Unternehmen. Wie die Russen vorgehen, ist nur noch vergleichbar mit den chinesischen Triaden, aber auch die sind trotz aller Brutalität nur die Nummer zwei. Fassen wir unsere Erkenntnisse zusammen: Der Transport von radioaktivem, waffenfähigem Material ist zu einer echten Bedrohung geworden. Es geht hier nicht allein um den Bau von Atombomben, sondern vor allem auch um die tödliche Gefahr, daß Terroristen oder religiöse Fanatiker Plutoniumstaub über eine Stadt wie New York ausschütten können, was bedeutet, daß New York innerhalb von vier Tagen eine tote Stadt wäre! Ein Gegenmittel zur Plutoniumstaubvergiftung gibt es nicht! Zum Glück haben offizielle Verlautbarungen immer nur von einer Atombombe gesprochen … vom Staubtod ist nie die Rede gewesen. Er ist so fürchterlich, daß man sich in allen Regierungen einig ist, diese Variante zu verschweigen. Eine seltene Einigkeit! Aber es wird nicht lange dauern, bis die Medien auch darüber berichten, und – auch das ist zum Glück eine Eigenheit des menschlichen Charakters – man wird diese Bedrohung nicht ernst nehmen. Man liest darüber und blättert weiter. Daß es jeden treffen kann, daran denkt keiner. Es ist einfach zu unglaublich! Die breite Masse erkennt nicht die Tatsache, daß wir alle gefährdet sind, denn Irre gibt es genug auf der Welt. Wenn ihnen Plutonium in die Hände fällt, haben sie keine Hemmungen, es auch anzuwenden.« Curley atmete nach dieser langen Rede tief durch. »Das ist die Lage.«

Die Zuhörer am runden Tisch schwiegen. Betroffenheit lag auf ihren Gesichtern. Von Bomben hatten sie genug gehört, aber diese Sache mit dem Atomstaub war bis heute jenseits ihres Vorstellungsvermögens gewesen.

»Wir sitzen jetzt zusammen«, fuhr Curley fort, »um in den Atomhandel einzugreifen. Unsere Kollegen von den Geheimdiensten in Europa und Israel versuchen seit langem, Agenten in den Atomhandel einzuschleusen. Bisher mit mäßigem Erfolg. Unsere CIA hat sich vornehmlich mit dem Schutz der USA befaßt, mit militärischen Infiltrationen, mit Spionageabwehr und militärisch-kriminellen Delikten. Das ändert sich jetzt. Wir werden in die internationale Bekämpfung der Atomkriminalität einsteigen. Die neue Abteilung II/10, zu der Sie abkommandiert wurden, hat diese Aufgabe übernommen. Der Plutoniumhandel muß dort bekämpft werden, wo die Köpfe dieser Bedrohung sitzen: in Rußland! Was nutzt es, wenn man hin und wieder einen der Kuriere schnappt … sie wissen von nichts. Sie haben ihr Päckchen bekommen und transportieren es. Das ist alles, was man aus ihnen herausquetschen kann. Die Hintermänner kennt niemand. Aber an die müssen wir heran! Und dazu hat man Sie auserwählt.«

Captain Fontana meldete sich zu Wort. »Das heißt, die CIA schickt uns nach Rußland?« fragte er.

Dick Fontana war ein Typ, wie man sich aus Film und im Fernsehen einen Spezialagenten vorstellt. Groß, breitschultrig, durchtrainierter, sportlicher Körper, kurze braune Haare, Muskeln, wo sie hingehören, Sonderausbildung im Gebrauch aller Waffen und im Kung-Fu, ein markantes Gesicht mit schmalen Lippen und ausgeprägtem Kinn, aber erstaunlich zartgliedrige Hände und lange, sensible Finger wie bei einem Pianisten – und das war er auch. Er spielte vorzüglich Klavier, brillierte mit chopinschen Läufen und Beethovenscher Wucht und konnte die Tasten streicheln, wenn er Mozart spielte. Undenkbar, daß diese Hände mit einer Kraft zuschlagen konnten, die einen von den Beinen riß, vom chinesischen Kung-Fu ganz zu schweigen. Er war eben genau der Typ, den sich jeder Filmregisseur für einen Agententhriller wünschte.

»Nein, Sie nicht, Captain Fontana«, sagte Curley. »Nach Rußland, nach Moskau, wird Lieutenant Miranda gehen.«

Victoria Miranda zuckte unmerklich zusammen und straffte sich. Sie hatte ein enges, hellblaues Schlauchkleid an, das die aufregenden Formen ihrer Figur umhüllte, als sei es auf die Haut gemalt. Ihr blondes Haar trug sie offen, und wer sie ansah oder ihr irgendwo begegnete, würde sie für ein hübsches College-Girl halten. Auch bei der CIA war sie eine Glanznummer. Häufig wurde unter Kollegen gewettet, wer sie zuerst ins Bett bekäme, und alle hatten bisher die Wette verloren, sogar Dick Fontana, der anerkannte Frauenaufreißer. Es ließ sich auch nicht feststellen, ob sie irgendwo in Washington einen heimlichen Geliebten hatte. In den Bars sah man sie nie, in den Cafés saß sie immer allein, selten besuchte sie ein Restaurant und wenn, dann auch solo. Aber sie spielte hervorragend Golf, Handicap 21, und sie saß bei den großen Baseballspielen auf der Tribüne und feuerte ihre Mannschaft mit spitzen Schreien an. Aber immer allein!

»Ich soll nach Moskau, Sir?« fragte Victoria. »Ich kann doch gar kein Russisch.«

»Das ist auch nicht nötig. Sie werden der Kulturabteilung der Botschaft zugeteilt.« Curley winkte ab. »Alles andere später.«

»Und was ist meine Aufgabe?« fragte Fontana.

»Sie kommen dorthin, wo Sie am besten hinpassen: nach Paris.«

»Du Glücklicher!« entfuhr es Bill Houseman. »Übe schon mal auf deinem Klavier: Ein Amerikaner in Paris.«

»Spiele ich bereits mit großer Freude.«

Curley sah Houseman ernst an. »Sie, Captain Houseman, werden sich in Libyen niederlassen. Sie sprechen ja perfekt Arabisch.«

Bill Houseman war das genaue Gegenteil von Fontana. Mittelgroß, etwas dicklich, ein Allerweltsgesicht, der, wenn er sich einen Stoppelbart wachsen ließe, auch als Araber durchgehen würde. Mit Kopfbedeckung und in weißer Djellabah würde ihn niemand für einen Amerikaner halten. Er war ein großer Feinschmecker, verfraß sein halbes Gehalt in Gourmettempeln und hatte trotz seines Bäuchleins beneidenswerte Chancen bei den Frauen.

Aber man täusche sich nicht in Bill Houseman. Obwohl er so gar nicht dem Bild eines CIA-Agenten entsprach, war er der Beste beim Schießen und entwickelte auch sonst eine bei ihm unerwartete Behendigkeit, gleich einem Gummiball, der beim Aufprall immer wieder in die Luft hüpft. Kollegen nannten ihn ›Mr. Hophop‹.

»Libyen?« Houseman starrte seinen Chef Curley an. »In die Höhle des Löwen?«

»Das ist doch Ihr Spezialgebiet, Captain.« Colonel Curley legte die Hände auf den Tisch übereinander. »Ihre Aufgabenbereiche sind verschieden und ähneln sich trotzdem. Lieutenant Miranda, Sie werden in Moskau Kontakt zu der dortigen Mafia aufnehmen. Es wird Ihnen bei Ihrem Aussehen leichtfallen, in den internationalen Lokalen Bekanntschaften zu knüpfen. Die großen Bosse bevorzugen bestimmte Restaurants und Bars, in denen eine Frau wie Sie auffallen wird. Wie Sie vorgehen, wird Ihnen überlassen.«

»Das heißt, ich soll mit den Mafiabossen ins Bett gehen?« Victoria hatte keine Hemmungen, so zu reden. Seit einem Jahr war sie bei der CIA und hatte mit ihren vierundzwanzig Jahren schon viel erlebt, gehört und mitgemacht, allerdings hatte sie noch nie Sex eingesetzt. »Ist das bei meinem miesen Gehalt nicht ein bißchen viel verlangt?«

»Ich sagte: Ihr Vorgehen bestimmen Sie selbst. Ich würde Ihnen nie befehlen: Sammeln Sie Informationen auf der Matratze.«

»Obwohl das der richtige Weg wäre.« Houseman lachte grunzend. »Wer rammelt, der sammelt …«

»Du bist ein mieser Bock!« Miranda schüttelte ihre langen, blonden Haare über die Schultern. Wütend und mit blitzenden Augen war sie noch verführerischer. »Ist das alles, Colonel?«

»Genügt das nicht? Bringen Sie den Beweis, daß sich die russische Mafia um das Atomgeschäft kümmert … dann können wir unsere Kollegen vom russischen Sicherheitsdienst verständigen und die Organisation zerschlagen.«

»Und warum macht das der Russe nicht selbst? Ist er blind? Kann er keine V-Männer in die verdächtigen Kreise einschleusen? Es ist doch anzunehmen, daß man die Bosse längst kennt!« Fontana blickte zu Victoria hinüber. »Muß da erst eine Frau aus den USA kommen, um das Schweigen zu durchbrechen? Das muß doch für die russischen Kollegen beschämend sein, oder mischen die etwa beim Atomdeal mit?«

»Unwahrscheinlich.« Curley spielte mit seinen Fingern. »Es dringt nichts durch bis zu den Sicherheitsbehörden, und die wiederum werden daran gehindert, effektiv zu ermitteln. Wir wissen zum Beispiel, daß einige Generäle mit von der Partie sind, daß sie auf der Gehaltsliste der Mafia stehen, daß sie – nicht mit Nuklearmaterial, aber mit Waffen und Ausrüstungen – Millionengeschäfte machen, übrigens mit Billigung der Mafia, die sie deckt, damit aber auch zu abhängigen Werkzeugen macht. Aber wenn wir konkrete Beweise haben, wenn wir Namen nennen können, wird von Washington politischer Druck ausgeübt werden, dem sich Jelzin nicht entziehen kann. Auch wenn er – aus nationalem Stolz – zunächst alle Verwürfe abstreiten und als Propaganda der alten ›kalten Krieger‹ hinstellen wird. Aber damit kommt er nicht durch, die Hoover-Zeiten sind vorbei. Er muß reagieren … und damit haben wir ein Loch in die Mafiamauer gesprengt.« Er sah Victoria an. »Deshalb, Lieutenant Miranda: Informationen sammeln: Namen, Standorte, Transportwege, Lieferanten, Empfänger, Hintergründe, Kontaktpersonen und die Plutoniummengen, die frei herumgeistern. Dies ist ein weites, für uns noch brachliegendes Feld. Wir haben uns bisher nur mit dem Aufspüren geheimer Produktionsstätten befaßt, und das mit Erfolg. Jetzt müssen wir die Hintermänner des Atomhandels finden. Und dabei ist – so frivol das klingen mag – eine schöne Frau wie Sie der beste Spürhund.«

»Ich werde mein Bestes tun, Colonel.« Victoria Miranda lächelte Curley an, obgleich sich in ihrem Inneren ein beklemmendes Gefühl ausbreitete. Die Aufgabe, die man ihr zugeteilt hatte, war eine der gefährlichsten, die man sich denken konnte, und dafür kannte sie Beispiele: Bis jetzt, solange sie bei der CIA arbeitete, hatte es fünf Verluste gegeben, vor allem im Iran, dem Irak und in Syrien. Aber darüber sprach man nicht. Ihr Auftrag war vergleichbar mit dem Eindringen in das Drogenkartell der Heroinbosse von Kolumbien.

»Danke«, sagte sie kurz.

»Wenn Sie in Moskau so lächeln wie jetzt, hebeln Sie jeden russischen Mafioso aus den Schuhen!« sagte Curley.

»Und aus der Hose!« fiel Houseman ein.

Curley blickte Houseman strafend an. »Zu Ihnen, Captain. Sie werden in Tripolis als Teilhaber einer Ölexportfirma auftreten. Nicht Erdöl, sondern Salatöl! Der heutige Alleininhaber arbeitet bereits für uns, aber er hat Angst. Sie erhalten einen arabischen Namen, einen Originalpaß und eine typisch arabische Vita.«

»Auch fünf Frauen? Der Koran erlaubt das.« Houseman gluckste.

»Das überlasse ich Ihrer Potenz, Captain. Aber ich rate Ihnen, Ihre privaten Ambitionen unter Kontrolle zu halten. Zehn Frauenaugen sind gefährlich, schon zwei genügen. Ich weiß, ich weiß, Sie sind kein Bettplauderer … aber eine Frau hat einen schärferen Blick für die Wirklichkeit als ein Mann. Sie durchschauen einen Mann schneller, als dieser es glaubt. Sie haben doch bei uns gelernt: Die größte Gefahr für einen Agenten ist das Weib! Darüber ist schon mancher gestolpert.«

»Mit Todesfolge«, ergänzte Fontana. Ihm waren einige dieser Fälle bekannt.

»Sie sagen es, Captain Fontana.« Curley wandte sich ihm zu und lächelte nun ebenfalls. »Sie besitzen die Intelligenz und die Selbstbeherrschung, in Paris nicht in der Umklammerung schlanker Beine zu ersticken. Vorweg: Mein französischer Kollege vom Sonderdezernat V der Sûreté, Monsieur Jean Ducoux, hat uns einen Bericht über die aktuelle Lage der Atomschmuggelbekämpfung in Mitteleuropa geschickt. Darin sind auch die Erkenntnisse des deutschen BKA – das heißt Bundeskriminalamt – enthalten. Man hat einige schöne Erfolge vorzuweisen, aber immer nur diese unwissenden Kuriere von Probesendungen von Plutonium 239 erwischt. Ausfuhrland: Rußland. Hintermänner: Fehlanzeige. Empfänger: unbekannt. Genügend Vermutungen, aber keine Beweise. Theorie: Es kommen noch viele Sendungen auf den verschiedensten Wegen nach Europa. Aber auf welchen Wegen? Es ist ein Ameisentransport … aber viele kleine Mengen ergeben am Ende vier Kilogramm Plutonium … und das ist die Atombombe! Vier Kilo Plutoniumstaub, über Frankreich ausgestreut, bedeuten Millionen Tote!«

»Unvorstellbar!« sagte Fontana.

»Unser Atomphysiker Dr. Rodney Donelly wird Ihnen noch Unterricht in Atomphysik geben, damit Sie wissen, um was es sich handelt. Wir haben für diesen Informationsunterricht zwei Wochen vorgesehen, und dann schwirren Sie ab nach Moskau, Tripolis und Paris. Sie, Captain Fontana, melden sich bei Monsieur Ducoux … offiziell sind Sie Repräsentant eines amerikanischen Getränkeherstellers, der mit einer neuen Fertigcocktailmarke den europäischen Markt erobern soll. Das Gesöff heißt Ladykiller … dafür sind Sie der richtige Mann! Wenn man jemandem die Wirkung dieses Cocktails glaubt, dann Ihnen!«

»Gibt es das Gebräu vielleicht?« fragte Fontana belustigt. »Habe ich Probeflaschen im Gepäck? Ohne Muster keine Kunden, Sir.«

»Natürlich haben Sie einige Kisten Ladykiller im Gepäck!«

»Und wie schmeckt das Zeug?«

»Das werden Sie noch testen, Captain. Es soll aus Wodka, Kiwiextrakt und Kokossaft bestehen. Leicht, exotisch und erotisch.«

»Ich werde die Wirkung bei Victoria testen …«

»Täusch dich nicht.« Victoria hob den Zeigefinger. »Immer wenn ich zucke, wird's ein Tritt in den Unterleib. Zieh einen stählernen Eierwärmer an.«

Alle lachten, und als Houseman noch etwas dazu sagen wollte, rief Fontana warnend: »Halt's Maul, Bill! Es genügt!«

Colonel Curley erhob sich. »Morgen um acht beginnt der Unterricht bei Dr. Donelly. Nächste Woche lernen Sie Ihre Spezialausrüstung kennen. Dann folgen drei Tage Auffrischung Ihrer Kondition, ein ärztlicher Check-up und neue Informationen. Ich danke Ihnen.«

Die drei standen stramm, Curley ging zur Tür, steckte seinen Chip in das Schloß und öffnete die Tür. Er war sichtlich zufrieden. Er hatte die besten Agenten ausgewählt, die die CIA für diese Aufgaben zur Verfügung hatte. Ob sie es schafften, die Geheimnisse der russischen Mafia zu knacken?

Später, in der Kantine der CIA, saßen Houseman, Fontana und Victoria zusammen und tranken Espresso. Curleys Worte klangen in ihnen noch nach, und sie waren sich ihrer wichtigen Aufgabe bewußt.

»Ich komme mir vor wie 007, der in jedem Film die Welt retten muß«, sagte Fontana. »Ich hätte nie gedacht, daß so etwas Wirklichkeit werden kann. Vicky, du hast von uns allen die schwierigste Arbeit bekommen.«

»Ich schaff das schon.« Victoria starrte aus dem Fenster auf ein Stück Garten mit blühenden Blumenbeeten.»Und wenn nicht … Schicksal.«

»Und du, Bill, steckst mit deinem dicken Kopf immer in der Schlinge.«

»Ich werde mich bemühen, ein Musteraraber zu sein. Das habe ich in Saudi-Arabien gelernt. Da saß ich in der Kasbah von Medina und hämmerte als Silberschmied auf silbernen Schalen herum. Es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie mich in Tripolis outen würden.« Er nahm einen Schluck Espresso und schlug dann Fontana auf den Unterarm. »Am besten hat es dich erwischt, Dick! Paris! Place Pigalle. Schöne Weiber. Champagner. Chambre séparée.«

»Ich werde mir Mühe geben.« Fontana steckte die Hände in die Tasche und lehnte sich zurück, als säße er schon jetzt auf einer Bank an der Seine. »Kann sein, daß es ein schöner, bezahlter Urlaub wird …«

Aber da täuschte er sich gewaltig.

Seit Natalja Petrowna das Glanzstück im ›Roten Salon‹ von Madame de Marchandais war, hatte sich die Anzahl der Besucher verdoppelt.

In den gehobenen Kreisen von Paris hatte es sich schnell herumgesprochen, daß eine Russin bei Madame wohnte, ein Wunder von Frau, eine Schönheit, die selbst der begabteste Maler nicht auf die Leinwand bannen könnte, ein schwarzer Engel mit dem Körper einer Venus … nein, selbst die Venus, die Schaumgeborene, verblaßte gegen das, was Natalja jeden Abend in immer anderer Verhüllung zeigte oder ahnen ließ.

Vor allem zwei Männer wären am liebsten vor ihr niedergekniet: Ducoux und Awjilah. Wie immer mit großer Höflichkeit, bekämpften sie sich jetzt und buhlten um die Gunst, bei Natalja am Tisch sitzen zu dürfen. Sie strapazierten ihre deutschen Sprachkenntnisse bis zur Lächerlichkeit, aber keiner von ihnen wagte es, Natalja näherzukommen oder gar deutlicher seine Wünsche auszusprechen. Nur ihre Blicke waren beredt und fraßen sich in diesen Wunderkörper hinein, den nur einmal zu besitzen ein halbes Leben wert war. Natalja nahm natürlich diese Blicke wahr, aber sie hielt sich zurück, vor allem bei Ducoux, den sie sinnlich anlächelte, aber auf Distanz hielt. Weichkochen, nennt man das, knochenlos machen, das Gehirn paralysieren. Und im richtigen Augenblick nachgeben, sich öffnen und den verliebten Idioten mit Haut und Haaren fressen. Die Vernunft heraussaugen, und übrig blieb ein Häufchen Mensch, das kein Ich mehr hatte.

Natalja Petrowna hatte schon am dritten Tag entdeckt, daß sie neben ihrer Tanzbegabung auch singen konnte. Sie hütete sich, ihre Künste aus dem Moskauer Club Tropical aufzufrischen, nackt vor Madames Gästen zu tanzen und ihre geile Bärchennummer abzuziehen, die Ducoux völlig um den Verstand gebracht hätte. Sie tanzte züchtig mit den verschiedenen Männern, Konsuln, Senatoren, Millionären, Konzernchefs und Diplomaten, auch ein berühmter Schriftsteller war darunter, der Bücher voller Moralpredigten schrieb, aber wöchentlich dreimal im ›Roten Salon‹ erschien und eines von Madames barbusigen Mädchen nach oben aufs Zimmer begleitete. Den größten Erfolg hatte Natalja, als sie ihre bisher unbekannte Begabung entdeckte.

Ihr erster Auftritt war eine Sensation. Sie kam an diesem Abend in einem russischen Kostüm in den ›Roten Salon‹, einem Kostüm, das an die Kosaken erinnerte, nur trug sie keine Hosen und Stiefel, sondern einen superkurzen, engen Rock, der mehr als die Hälfte ihrer schlanken Oberschenkel unbedeckt ließ. Bei einigen Bewegungen konnte man sehen, daß sie ein blutrotes Höschen trug.

»Meine Lieben«, begann sie mit ihrer klingenden Stimme, »ich möchte Ihnen heute einige Lieder aus meiner Heimat vorsingen. Warum? Haben Sie schon mal einen Russen gesehen, der in der Fremde kein Heimweh hat? Ich träume jede Nacht von meinem schönen Land, von seinen Birkenwäldern, den Sonnenblumenfeldern, der unendlichen schweigenden Taiga, den großen Strömen, dem grenzenlosen Himmel über den Steppen, den blauen Seen, den bemalten Holzhäusern und den wogenden Weizenfeldern, die unter der Sonne golden leuchten. Ich habe Sehnsucht nach meinem Rußland, sonst wäre ich keine Russin. Und deshalb möchte ich heute von dieser Liebe zu Mütterchen singen und mein Herz auf meiner Zunge tragen.«

Sie hatte eine Balalaika mitgebracht, die sie sich am Nachmittag gekauft hatte, zupfte ein paar Takte und begann dann zu singen. Sie saß auf der Treppe, auf dem roten Teppich, und es war fast das gleiche Rot wie der Slip, der zwischen ihren Schenkeln hervorschimmerte.

Was sie sang, verstand niemand, aber was sind Worte, wenn sie eingebettet sind in diese schwermütige Musik, in der die Weite des Landes widerklang und das Rauschen der Taiga hörbar wurde.

Im ›Roten Salon‹ war es so still, das jeder glaubte, seinen eigenen Herzschlag zu hören. Einige Damen begannen sogar, lautlos zu weinen … wie alle anderen im Salon spürten sie das Heimweh, das in Nataljas Gesang mitschwang. Sie erzählte das Märchen vom eisigen Ritter, von der Not der Wolgaschlepper, von einer Nacht am Lagerfeuer in der Steppe am Ussuri und von einem Erntedankfest auf den Kornfeldern Kasachstans, und sie sang von der traurigen Liebe eines Mädchens am Baikalsee, das auf ihren Liebsten wartete, der vom Fischfang nicht mehr zurückkam, und von dem Fluß, der das Gebet eines Mädchens nach Wasser erhörte und seinen Lauf änderte … Lieder, die mit ihrer Melodie in ein Land entführten, das grenzenlos war wie die Wunschträume seiner Menschen.

Auch nachdem Natalja geendet hatte, blieb es still im Raum. Niemand applaudierte, niemand wagte es, zu klatschen – man griff schweigend zu seinem Champagnerglas, und als ein Gast, ein Generalkonsul, in ein Brötchen biß und es leise knirschte, trafen ihn strafende Blicke.

Madame de Marchandais umarmte Natalja und drückte sie an sich. »Fabelhaft, mein Kind«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Das war eine blendende Idee. Du singst jetzt jeden Abend, ja? Tu mir den Gefallen. Das wird sich in Paris schnell herumsprechen und meinen Zirkel erweitern. Du bist ein Goldstück, Natalja! Auch ich konnte die Tränen nicht zurückhalten.«

»Ich habe wirklich Heimweh, Madame.«

»Man hat es gehört, und jeder hat es gefühlt. Wo hast du so schön singen gelernt?«

»Ich habe es vorgestern erst entdeckt.« Natalja lächelte schwach. »Es ist zwar ein uralter Witz, aber hier stimmte er: Ich habe in der Badewanne gesungen und war erstaunt, wie gut es klang.«

»Und da kam dir die Goldidee!«

»Genau.«

»Und sie hat eingeschlagen. Kindchen, sing weiter … Morgen abend wieder.«

»Ich werde es mir überlegen, Madame.«

»Bitte … und sag Louise zu mir.«

Sie drückte Natalja noch enger an sich und küßte sie. Das löste den Bann … wilder Applaus erfüllte den ›Roten Salon‹, und Ducoux stürzte auf Natalja zu. Ein neuerlicher Sieg für Frankreich, denn er war schneller als Awjilah. Begeistert küßte er Natalja die Hand, und dabei spürte sie sein Zittern.

»Ich habe Rußland gesehen!« rief Ducoux enthusiastisch. »Ich habe die Augen geschlossen und alles verstanden! Natalja, Sie sind eine ganz große Künstlerin! Das haben Sie uns bis heute vorenthalten. Alle anderen Sängerinnen sind Spatzen gegen Ihre Nachtigallenstimme! Gestehen Sie, Sie gehören zu den großen Sängerinnen Rußlands!«

»Ein kleines Geheimnis muß jede Frau haben.« Natalja sagte es so kokett, daß Ducoux' Herz einen Satz machte. »Ihre Seele gehört nur ihr allein. Es gibt ein böses, aber wahres russisches Sprichwort: Meinen Körper kannst du besitzen, nicht meine Seele.«

»Nach diesem Körper sehne ich mich«, sagte Ducoux mutig. »Natalja, Sie sind wundervoll.«

Nun war auch Awjilah näher getreten. Da Ducoux bereits ihre Hand geküßt hatte, verzichtete er darauf und begnügte sich damit, erneut zu applaudieren. Nicht laut, sondern diskret, leise.

»Sie überraschen uns immer wieder, Madame Natalja«, sagte Awjilah mit dem Charme des Orientalen. »Welche verborgenen Talente besitzen Sie sonst noch?«

»Da sie verborgen sind, erwarten Sie doch wohl keine Antwort?« Nataljas Blick enthielt ein aufreizendes Flimmern. »Vielleicht – ich sage vielleicht! – erfahren Sie noch mehr von meinen Begabungen … später … irgendwann …«

»Ich warte.« Awjilahs Lächeln irritierte Natalja. Ein hintergründiges Lächeln, das ihr schon öfter bei ihm aufgefallen war. »Wir haben in unserem Land einen anderen Zeitbegriff als in Europa. Wir sagen: Bis aus einem Samen eine Blume entsteht, gehen viele Monde dahin … warum sollte sich ein Wunsch schneller erfüllen?«

»Ein guter Spruch, Anwar. Bei uns in Rußland sagen wir einfach. ›Skoro budet‹.«

»Und was heißt das?«

»Es wird bald … oder: Irgendwann einmal …«

»Ich werde es mir merken, Natalja Petrowna. Skoro budet …« Awjilah verbeugte sich leicht. »Ich werde Sie in Zukunft immer so begrüßen: Skoro budet …«

»Ich mag ihn nicht«, sagte Ducoux zähneknirschend, als Awjilah sich entfernt hatte und am Buffet eine Hirschpastete holte. »Wir sind Freunde, gewiß, aber irgendwie ist eine gläserne Wand zwischen uns. Ich kann es nicht erklären. Oder doch? Er ist mir zu glatt. Außerdem ist er Iraner … und wir wissen, daß der Iran alles daran setzt, die Atombombe zu bauen. Ich habe den Verdacht, daß über Awjilah eine Schiene des Atomhandels läuft, nur beweisen kann ich es nicht.«

»Möglich wäre es.« Natalja spürte ihren Herzschlag. Der erste Schritt zu konkreten Informationen war getan. Ducoux, bereits in Nataljas Fängen, begann, ihr gegenüber seinem Herzen Luft zu machen. Es war die typisch männliche Eigenart, einer geliebten Frau seine geheimen Sorgen zu erzählen. Warum das so ist, ist schwer zu erklären. Freud würde sagen: Es ist der in jedem Mann schlummernde Mutterkomplex … in der Frau, die er liebt, sieht er auch seine Mutter, der er alles anvertrauen kann.

»Mögen Sie Anwar, Natalja?« fragte Ducoux unvermittelt.

»Er ist ein sehr interessanter Mann. Und mögen … das ist ein dehnbarer Begriff. Ich mag sie alle hier … den Generalkonsul, den Chef der Remier-Werke, den Architekten Jappeau, den Politiker Amandé, den Abgeordneten Frujère, den Ladenkettenbesitzer Warbourg, Sie, Monsieur Ducoux …«

»Ich möchte, daß Sie mich mehr als nur mögen!«

»Das sollte man nicht fordern, sondern spüren.«

Ducoux gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Sie wich zwar aus, aber sie wies ihn auch nicht zurück, und Ducoux sah darin eine Chance. Er nahm zwei Gläser Champagner vom Silbertablett eines barbusigen Mädchens und trank auf sein heimliches Glück. Er stieß mit Natalja an und trank das Glas in einem Zug aus.

Wenig später stellte sich der Dichter Pierre Carbouche auf die Treppe und begann, aus einem seiner Werke vorzulesen. Er rezitierte mit dramatischer Stimme, und da es französisch war, was Natalja nicht verstand, ging sie hinüber zu Madame de Marchandais und lehnte sich an die seidenbespannte Wand.

»Er liebt dich, Kindchen«, sagte Madame leise.

»Wer?« Natalja sah sie erstaunt an. Gut gespielt, denn sie wußte genau, wen Madame meinte.

»Ducoux.«

»Aber nein …«

»Doch. Ich beobachte seine Blicke. Ich sehe, wie er dir bei jedem Schritt, den du tust, nachstarrt. Er frißt dich mit Blicken auf.«

»Das tun die anderen auch, Louise.« Natalja lachte leise. »Männer! Ein schöner Busen und schlanke Beine, und schon rollen sie mit den Augen. Das kommt bei mir nicht an.«

»Ducoux ist keiner, der den Frauen nachjagt.«

»Er sieht auch nicht wie ein Jäger aus …«

»Seit drei Jahren ist er Mitglied des Zirkels … aber er hat noch keines meiner Mädchen aufs Zimmer mitgenommen. Und die anderen Damen, diese gelangweilten Ehefrauen, die ihre Vernachlässigung hier vergessen wollen, die haben ihn nie interessiert.«

»Und warum ist er dann im ›Roten Salon‹?«

»Er flüchtet.«

»Flüchtet? Wovor?«

»Vor seiner Frau. Ducoux ist seit zweiundzwanzig Jahren verheiratet. Ein fataler Irrtum von ihm. Er hat es mir mal gebeichtet: Er war damals ein kleiner Beamter gewesen, ein Kriminalassistent. Verdiente so viel, daß er sich ab und zu an der Place Pigalle in ein Café setzen und sich einen Pastis gönnen konnte. Bei einem Opernbesuch, man spielte ausgerechnet den ›Liebestrank‹ von Donizetti, lernte er in der Pause Beatrice kennen, als er sich am Buffet ein Wurstbrötchen und ein Glas Landwein holte. Weiß der Teufel, welchen Narren Beatrice Monnier, genannt Bébé, an dem kleinen Beamten gefressen hat … von da an trafen sie sich öfter. Du mußt wissen, die Monniers sind Millionäre. Ein Schloß an der Loire, eine ganze Etage am Boulevard Haussmann, ein Landhaus bei Saint-Tropez … Monnier ist der Federnkönig von Frankreich. Von der kleinsten Uhrfeder bis zur gewaltigen Eisenbahnfeder. Monnier stellt alles her, was federt. Sein Reichtum ist sagenhaft. Und seine Tochter Bébé krallt sich ausgerechnet den kleinen Ducoux. Sie heiraten, der Vater kauft ihnen eine ganze Etage im schönsten Arrondissement … und dann ging es los. Bébé befahl: Du bindest diese Krawatte um, du ziehst diesen Anzug an, du nimmst dieses Hemd, hier sind deine Schuhe, kämm deine Haare aus der Stirn, Sonntag fahren wir in die Normandie, nimm die Hummerschere richtig in die Hand, kratz nicht auf dem Teller herum, wisch dir den Mund ab, sitz gerade am Tisch, faß das Weinglas am Stiel an, paß auf, daß deine Krawatte nicht in die Suppe hängt, scharre nicht immer mit den Füßen, dusch dich, bevor du ins Bett kommst, was, du bist schon fertig, ich noch nicht, ein Egoist bist du, hast dein Vergnügen und denkst nicht an mich, wir fliegen morgen an die Riviera, melde dich für vier Tage krank, wer bist du denn, ein beamteter Hinternlecker, was du bist, bist du nur durch mich, hör endlich auf mit dem Polizeikram … So ging das jahrelang. Wie Ducoux das alles geschluckt und ausgehalten hat, ist ein Wunder an Selbstbeherrschung. Hätte er Beatrice umgebracht, jeder Richter hätte ihn freigesprochen! Aber Ducoux erwürgte seine Bébé nicht … er suchte sein Glück in der Flucht. Zuerst floh er in seine Dienststelle, wo er ein Bett aufschlug, später nahm er einen Posten als Oberkommissar in Lyon an, wohin ihm Beatrice natürlich nicht folgte … das wurden seine glücklichsten und fröhlichsten Jahre. Aber dann ernannte man ihn zum Chef der Sonderabteilung V der Sûreté, und er mußte zurück nach Paris. Bébé triumphierte. Das alte Spiel begann von neuem, und es half nichts, daß Ducoux entdeckte, daß sich Beatrice während seiner Lyoner Zeit mit jungen Männer vergnügt hatte, mit Italienern und Algeriern. Aber Scheidung! Nein! ›Eine Monnier läßt sich nicht scheiden!« brüllte ihn der Schwiegervater an. ›Auch wenn du jetzt ein hohes Tier bei der Geheimpolizei bist … für mich bist du immer noch ein kleiner Hosenscheißer!‹ Und so sah Ducoux keinen anderen Ausweg, als zu mir zu kommen. Im ›Roten Salon‹ fühlte er sich endlich wohl, saß in einer auserwählten Gesellschaft, konnte anspruchsvolle Gespräche führen und ist nun dabei, sich in dich zu verlieben! Natalja, genaugenommen ist Ducoux ein armer, herumirrender Hund, der Liebe und Geborgenheit sucht.«

»Ich kann ihm beides nicht geben, Louise.« Natalja blickte hinüber zu Ducoux, der sich mit einem Literaturprofessor unterhielt. Schriftsteller Carbouche zitierte noch immer aus eigenen Werken, obgleich ihm keiner zuhörte. Er berauschte sich an seinen eigenen Worten, als habe er Haschisch geraucht.

»Wegen deines russischen Freundes?«

»Auch …«

»Aber du liebst ihn doch nicht!«

»Ich könnte auch Ducoux nicht lieben. Nie! Nie! Ich liebe niemanden.«

»Das weiß ich.« Madame de Marchandais legte den Arm um Nataljas Taille. »Mach ihm eine Freude.«

»Ich soll mit Ducoux auf ein Zimmer gehen?«

»Und wenn es nur einmal ist. Es würde ihn glücklich machen … er hat es verdient.«

»Bin ich eine Hure?«

»Du bist kein Engel. Ich habe einen Blick dafür. Du bist dein Körper. Er ist eine Hülle, ein Einkaufsbeutel, in den man etwas hineinsteckt. Verändert sich dadurch der Beutel? Man wäscht ihn, und er ist wieder sauber.«

Natalja ließ Madame stehen, ging in die Eingangshalle und auf die Toilette. Dort überdachte sie nüchtern ihre Lage.

Ducoux mußte ertragen werden, das war ihr klar. Ohne sich hinzugeben und damit Ducoux sein letztes bißchen Verstand zu rauben, kam sie an die Dokumente nicht heran, die Sybin brauchte. Aber jetzt, da sie Ducoux' Lebensgeschichte kannte, hatte sie Mitleid mit ihm. Das war für sie ein neues, fremdes Gefühl. Mitleid. Selbst als man ihren Vater aus der Fabrik hinauswarf und ihre Mutter auf dem Schwarzmarkt alles verkaufte, was sie entbehren konnten, hatte sie kein Mitleid empfunden, sondern Wut. Blanke Wut. Und sie hatte sich gesagt: Ich werde diese Männergesellschaft ausnutzen, ich werde die Männer vor mir kriechen lassen, ich werde meine Stiefel auf ihren Nacken setzen, ich werde sie zum Wahnsinn treiben, ich werde sie aussaugen und sie zerstören.

Der weitere Hergang ist bekannt: Offiziersliebchen, Direktorenhure, Nackttänzerin, Sexakrobatin, Geliebte eines der mächtigsten Männer Rußlands … eine Mafiakönigin. Ein Körper als Geschäftseinlage. Ein Körper als Beteiligungskapital. Das Ziel ist erreicht. Warum sollte sie jetzt den armen, gequälten, nach Liebe suchenden Ducoux vernichten? Das hatte er nicht verdient.

Ist das Mitleid, fragte sie sich, oder ein Hauch von Skrupel? Ein Anflug von Menschlichkeit?

Jemand rüttelte an der Toilettentüre.

»Ich komme gleich!« rief Natalja.

»Nun mach schon!« Eine helle Frauenstimme. »Ich warte schon seit Minuten …«

»Nur noch einen kleinen Augenblick.«

»Mein Gott, soviel kann man doch nicht im Darm haben!«

»Jeder scheißt auf seine eigene Art!« schrie Natalja.

Dann riß sie die Tür auf. Ihre Augen funkelten.

»Oh, Sie sind es«, sagte die wartende Dame beschämt. »Pardon, das habe ich nicht gewußt.«

Sie war wirklich eine Dame. Die Gattin eines Staranwalts. Sie bevorzugte Männer mit Glatze, was sie mehrmals pro Woche im ›Roten Salon‹ kundtat.

Natalja kehrte in den Salon zurück. Madame stand an der Tür, als habe sie auf Natalja gewartet.

»Ich gehe zu Bett«, sagte Natalja. »Ich bin müde.«

»Jetzt schon? Aber der Abend hat doch gerade erst begonnen. Es kommt noch eine Delegation von schwedischen Fabrikanten.«

»Meine Fabrik ist geschlossen!« Das klang frivol, aber dennoch endgültig. »Ich sehe genug einsatzbereite Maschinen.«

»Kindchen, ich wollte dich nicht beleidigen …« Madame war ehrlich betroffen.

»Das kann man nicht. Ich habe einen Körper aus Wachs, davon tropft alles ab.«

In ihrem Zimmer war sich Natalja nicht klar darüber, ob sie Sybin noch anrufen sollte. Was sollte sie ihm sagen? Daß der Attaché Awjilah ein Verbindungsmann zu Plutoniumanbietern war? Das nutzte Sybin wenig … er wollte Namen haben. Namen, um die Konkurrenz zu liquidieren. Von Awjilah hatte er schon durch Dr. Sendlinger gehört und ihn auf seine Liste gesetzt. Aber Sendlinger hatte interveniert.

»Ich werde diesen Iraner auf unsere Seite holen«, hatte er gesagt. »Ihm ist es egal, wer liefert. Die Hauptsache ist: Es wird geliefert. Vielleicht kann Natalja diesbezüglich etwas vorfühlen.«

Natalja, immer wieder Natalja. Wie die Arie des Figaro. Natalja hier, Natalja dort, Natalja oben, Natalja unten …

Sie beschloß, nicht anzurufen.

Sie legte sich auf das breite Bett, starrte an den seidenen Betthimmel und dachte an Ducoux.

Ich kann ihn nicht zerbrechen, ich bringe es nicht fertig … aber wie komme ich an die Geheimakten heran, ohne seinen Verstand außer Kraft zu setzen? Und wenn ich sie habe, was wird er dann tun? Er ist Offizier, er lebt mit der heiligen Ehre eines Franzosen und Patrioten … er wird nur eine einzige Konsequenz kennen, die Schande seines Verrates zu tilgen und seine Ehre wiederherzustellen: Er wird den Lauf seiner Pistole an seine Schläfe setzen. Er wird wegen mir sterben …

Wer hilft mir, wenn ich schreie: Was soll ich tun …?

Da sich Natalja so früh zurückgezogen hatte, entging ihr, daß Ducoux einen Anruf erhielt und, ohne sich von den anderen Gästen zu verabschieden, aus dem ›Roten Salon‹ stürmte. Nur Madame erwischte ihn noch in der Garderobe.

»Was haben Sie, Jean?« fragte sie überrascht. »Es ist doch nicht wegen Natalja Petrowna …?«

»Ich muß sofort weg! Dienstlich.«

»Jetzt?«

»Wir sind immer bereit, Louise. Es ist etwas geschehen.«

»Ein Mord …?«

»Damit haben wir nichts zu tun.« Ducoux zögerte. »Versprechen Sie völliges Stillschweigen?«

»Ich schwöre es sogar!«

»Im Flughafen Charles de Gaulle ist eine Verhaftung erfolgt. Das heißt, sie ist verpatzt worden! Die Gepäckkontrolle hat …« Er winkte ab. »Ich erzähle es Ihnen morgen. Ich muß sofort hin.«

Im Flughafen erwartete man Ducoux in einem Raum der Zollpolizei. Draußen vor der Tür hielten drei Flics Wache, im Zimmer standen mindestens zehn Beamte rundherum an der Wand, und mitten im Raum stand ein Hartschalenkoffer. Siebzig mal vierzig mal zwanzig Zentimeter, hellblau mit grauen Streifen. Sogar ein Arzt der Airportklinik Charles de Gaulle war gekommen und drückte sich wie die anderen an die Wand.

Ducoux schüttelte den Kopf. »Meine Herren«, sagte er voll Sarkasmus, »Ihr Abstand vom Objekt könnte im Ernstfall Ihr Leben nicht retten.« Er ging auf den Koffer zu, nahm ihn am Henkel und hatte Mühe, ihn hochzuhalten. Er ließ ihn vorsichtig wieder auf den Betonboden zurücksinken. »Ich bitte um Ihren Bericht!«

»Bei der Kofferkontrolle fiel uns auf, daß der Passagier schwer an ihm zu schleppen hatte, als wenn er Blei transportierte.«

»Da haben Sie ganz richtig gedacht. Da ist Blei drin, eine Menge Blei.«

»Wir haben den Mann also kontrolliert, haben ihn aufgefordert, den Koffer zu öffnen, aber er tat es nicht. Seine Antwort: Das geht nicht. Ich habe dafür keinen Schlüssel. Ich frage: Wieso keinen Schlüssel? Sie haben den Koffer doch gepackt! Der Mann antwortet nicht, stößt meinen Kollegen Brunell zur Seite und flüchtet. Hinaus aus der Zollkontrolle in die große Halle. Dort ist er im Gewühl der Passagiere untergetaucht. Die Polizei hat sofort alles abgesperrt, aber der Mann war verschwunden. Auf ihn muß draußen ein Auto gewartet haben.«

»Oder er saß gemütlich im WC! Ein alter Trick!« Ducoux betrachtete den hellblauen Schalenkoffer und ahnte, was er enthielt. Er wußte in diesem Augenblick aber auch, daß mit diesem Fund eine Lawine losgetreten wurde, die internationales Entsetzen auslöste. Der Koffer wurde zwar sofort zur Geheimsache erklärt, aber bei irgendeiner Dienststelle gab es immer ein Loch, durch das Informationen hinaussickerten. Er kannte Zeitungen und Magazine, die Riesensummen für solche Informationen zahlten. Der Skandal war vorprogrammiert.

»Ich lasse den Koffer gleich abholen«, sagte Ducoux. »In spätestens einer Stunde wissen wir, was transportiert wurde.«

Knapp eine Stunde später, wie erwartet, lag der Bericht des Leiters des Instituts für Atomphysik, Professor Dr. Jérôme Pataneau, auf Ducoux' Tisch. Inhalt des Koffers: In einem gut gesicherten Bleicontainer waren zweihundert Gramm reines, waffenfähiges Plutoniumgranulat mit einer Reinheit von achtundneunzig Prozent. Herkunftsland vermutlich Rußland.

»Da haben wir den Mist nun im eigenen Haus!« sagte Ducoux zu den Beamten seiner Sonderkommission, die um ihn versammelt waren. »Merde! Zweihundert Gramm … das reicht aus, um ganz Paris zu vergiften. Meine Herren, dort, wo diese zweihundert Gramm herkommen, ist noch mehr unterwegs. Dieses Mal nicht über Deutschland – jetzt sind wir dran! Der Koffer kommt aus Moskau, das steht auf dem Kofferanhänger, und ich habe hier die Passagierliste der Maschine vor mir liegen: hundertneunundachtzig Namen, neun Nationen. Aber es ist kein russischer Name dabei! Alles, was wir wissen, ist: Hier ist ein Koffer aus Moskau mit waffenfähigem Plutonium gelandet. Der Kurier ist flüchtig … und das ist eine Blamage für die französischen Sicherheitsbehörden! Ein Skandal! Hätten wir den Mann, hätten wir auch eine Spur. So irren wir wieder wie in einem Labyrinth herum, ohne Hoffnung, den Ausgang zu finden. Ich sage noch einmal: Merde!«

Die Meldung, die in den nächsten Stunden in alle Welt flog, zu allen befreundeten Geheimdiensten, löste bei den Dienststellen die unterschiedlichsten Reaktionen aus.

Die amerikanische CIA teilte mit, daß ein hochqualifizierter Mitarbeiter nach Paris unterwegs sei.

Der israelische Geheimdienst MOSSAD drückte seine tiefe Sorge aus, daß der Plutoniumhandel nur einen Zweck habe, nämlich die Vernichtung Israels durch die islamischen Gegner. Er sparte auch nicht mit Vorwürfen und bezeichnete die europäischen Sicherheitsbehörden als zu sorglos und nicht schlagkräftig genug.

Der britische Geheimdienst teilte nüchtern mit, im Königreich habe man keine Erkenntnisse, daß Atomschmuggel auf englischem Gebiet stattfinde. England sei dafür auch völlig ungeeignet – es läge außerhalb der Schmuggelstraßen.

Der deutsche Bundesnachrichtendienst – BND – mauerte. Er bestätigte den Eingang des Berichtes aus Paris, weiter nichts. Kein Kommentar, keine Hinweise, keinen Erfahrungsaustausch.

Italien und Spanien reagierten impulsiv. Sie schickten Listen mit Namen von Mafiamitgliedern und Untergrundorganisationen, wie Nordspaniens Seperatistenorganisation ETA, und informierten über einige Funde von Uran- und Plutoniumproben, die man entdeckt hatte. Die verhafteten Personen – sogar eine Frau war darunter – schwiegen, wie nicht anders erwartet. Aber es hatte sich immer nur um wenige Gramm radioaktives Material gehandelt. Zweifellos Proben, um ins Geschäft zu kommen.

Am freundschaftlichsten antwortete des BKA. Oberrat Wallner teilte Ducoux alles mit, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte. Er listete alle Funde auf, gab den Stand der Ermittlungen bekannt, die Protokolle der Verhöre und erläuterte die Zusammenarbeit mit dem BND. Wallner zog daraus den Schluß, daß es sich hier um einen großen und internationalen Atomschmuggel handeln müsse, bei dem Material für Atombomben geliefert wurde. Ein Milliardendeal. Obwohl man fast mit absoluter Sicherheit wisse, daß das Plutonium aus Rußland abfloß, könne man das noch nicht publizieren. Auch die Abnehmer seien bis heute nur vermutet. Reale Tatsache aber ist: Von den fünf offiziellen Nuklearmächten ist Rußland das einzige Land, das waffenfähiges Plutonium produziert und lagert.

Ducoux gab seinem Kollegen Wallner recht. Er hatte die gleichen Gedanken und erkannte, wenn er vor der großen Europakarte stand, auch den Weg der tödlichen Bedrohung: von Rußland über Deutschland, Polen oder Tschechien nach Frankreich und weiter von Marseille hinüber zu den arabischen Ländern und in die dritte Welt. Weg Nummer zwei: Rußland, Tschechien, Österreich, Italien, von dort per Schiff nach Nordafrika, Jemen, Syrien, Irak und Iran. Ein riesiger Umweg … aber ein sicherer. Je mehr man eine Ware hin und her verschiebt, um so besser kann man die Spuren verwischen. Weg Nummer drei: Rußland, Polen, Deutschland, Frankreich, Spanien und dann per Schiff weiter. Es gab in Marseille und in anderen Hafenstädten Kapitäne, die für den Transport eines Koffers einen guten Nebenverdienst kassierten und nicht fragten, was der Koffer enthielt. Vor allem Kapitäne, die mit eigenen Schiffen auf eigene Rechnung fuhren, widerstanden oft nicht der Versuchung, ein paar tausend Dollar nebenbei und ohne Buchführung in die Tasche zu stecken.

Ducoux mußte sich damit abfinden, daß Frankreich – neben Deutschland – die Hauptdrehscheibe für Nuklearschmuggel geworden war. Was in Deutschland nicht entdeckt wurde, wurde nach Frankreich gebracht. Und – auch darüber war sich Ducoux im klaren – es war ein ununterbrochener Transport, immer kleine Mengen … ein Ameisentransport, und am Ende stand die Atombombe, die Bedrohung der ganzen Welt.

Als letzter meldete sich das österreichische Sicherheitsbüro in Wien. Dort hatte man – wie in Deutschland – einschlägige Erfahrungen mit Atomschmuggel gemacht. Auch hier waren es immer nur kleine Mengen gewesen, aber erstaunlicherweise zum größten Teil minderwertige Ware, nicht vergleichbar mit den hochwertigen Funden in Deutschland und Frankreich. Diese Funde wurden nicht veröffentlicht, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Über die Herkunft der Ware ist nichts bekannt. Die festgenommenen Straftäter sind zwei Ungarn, drei Tschechen, ein Pole und zwei Kroaten. Alle aus dem ehemaligen ›Ostblock‹, was vermuten läßt, daß das Nuklearmaterial auch aus dem Osten stammt. Wahrscheinlich aus Rußland, dies ist aber unbewiesen. Die Straftäter schweigen.

Ducoux las noch einmal die Stellungnahme der CIA durch. Was ihm gar nicht gefiel, war die Mitteilung, daß ein Spezialist unterwegs nach Paris war. Was wollte er hier? War er klüger als die Sûreté? Brachte er Röntgenaugen mit?

Bei der nächsten Besprechung der Sonderabteilung drückte es Ducoux so aus:

»Washington schickt uns einen CIA-Mann rüber. Mir ist schleierhaft, was seine Aufgabe hier ist. Soll er uns zeigen, wie man mit verdeckten Ermittlern arbeitet? Hält man uns für unfähig? Es ist die typische amerikanische Überheblichkeit, die da exportiert wird. Frankreich kann sich allein helfen! Ich sehe nur Komplikationen auf uns zukommen.«

Ducoux' Nationalstolz war beleidigt worden, auch die anderen Beamten der Sûreté teilten seine Meinung: Wir brauchen keine Amerikaner, um Frankreichs Sicherheit zu garantieren, und nicht nur die Frankreichs, sondern auch die Sicherheit der übrigen Welt, die sich durch eine neue Atommacht bedroht fühlen könnte – vor allem Israel.

Es war vorauszusehen, daß der Spezialist der CIA in Paris einen schweren Stand haben würde. Am besten wäre es, ihn in den ›Roten Salon‹ abzuschieben, sinnierte Ducoux. Dort ist er gut aufgehoben, kann nach Herzenslust vögeln und fällt uns nicht auf die Nerven. Genauso machen wir es: Madame de Marchandais soll sich um ihn kümmern. Er soll Paris genießen und uns in Ruhe lassen.

Kein guter Anfang für Dick Fontana, der zu diesem Zeitpunkt in einer Maschine nach Paris saß.

Es bereitete Sybin großes Unbehagen, daß ihm Natalja Petrowna keine Nachricht aus Paris schickte. Seit vier Tagen hatte sie nicht mehr angerufen. Im Hotel Ritz sagte man ihm, daß Madame Victorowa vor zwei Tagen abgereist sei. Nein, ein Ziel habe sie nicht angegeben. Es sei auch unüblich für ein Haus wie das Ritz, danach zu fragen. Daraus schloß Sybin, daß Natalja zu dieser mondänen Puffmutter in den ›Roten Salon‹ gezogen war, aber sie hatte ihm weder die Anschrift noch die Telefonnummer durchgegeben. Er konnte sich dieses Schweigen nicht erklären.

Am fünften Tag ohne Nachricht rief er Dr. Sendlinger in Berlin an. Er wählte den späten Nachmittag, denn vormittags hatte Sendlinger meistens Verhandlungstermine an den verschiedenen Gerichten, am frühen Nachmittag empfing er besondere Mandanten, an deren Prozessen er besonders gut verdiente, aber so gegen siebzehn oder achtzehn Uhr ließ er keinen mehr in seine Kanzlei. Das war die Zeit, in der er einen starken Kaffee und einen alten französischen Cognac trank, die Zeitungen und Nachrichtenmagazine las oder mit den Mittelsmännern der Atomaufkäufer telefonierte. Er konnte das gefahrlos tun, da sein Telefon nicht abgehört wurde. Dr. Sendlinger hatte zur Berliner Staatsanwaltschaft beste Beziehungen, ein Oberstaatsanwalt war zudem ein Kommilitone aus der Studentenzeit und gehörte zum Stammtisch, der im Dicken Adolf von Adolf Hässler regelmäßig tagte. Wie konnte da ein Verdacht auf Sendlinger fallen? Eine weißere Weste als die von Sendlinger konnte es gar nicht geben.

Sybin versuchte, seine innere Erregung nicht durch seine Stimme zu verraten, und begrüßte Sendlinger mit einem: »Hallo! Hier ist die Stimme Moskaus! Wir melden: Wodka und Weiber bereit zum Verbrauch!«

»Igor Germanowitsch!« Sendlinger lachte. »Wieviel Gramm ›Grüner Teufel‹ hast du schon getrunken? Gibt es was zu feiern?«

»Ich bin nüchtern wie eine Holzsandale!« Sybin räusperte sich. Wie formuliert man die Fragen am besten, ohne daß Sendlinger sich wundert. Nataljas Schweigen ging ihn nichts an. »Es ist merkwürdig … aber seit deiner Erzählung muß ich immer öfter an den ›Blauen Salon‹ in Paris denken.« Er sagte bewußt ›blau‹.

»›Roter Salon‹, Igor.«

»Rot! Natürlich. Lohnt es sich, nach Paris zu fliegen?«

»Wegen Madames Zirkel?« Sendlinger schüttelte den Kopf. »Nein! In Moskau gibt es schönere Mädchen als im ›Roten Salon‹, vor allem jüngere. Die Damen, die dort Bäumchen-wechsle-dich spielen, sind über das Mittelalter hinaus. Die meisten jedenfalls. Attraktiv und elegant, solange sie geschminkt sind.«

»Was ist das eigentlich für ein Laden?«

»Ein Edelbordell, das habe ich dir doch erzählt. Nur sitzen da keine käuflichen Huren herum, sondern Damen der feinen Gesellschaft von Paris. Ehefrauen, deren Männer einen bekannten Namen haben und die außerhalb des Salons unnahbar und unantastbar wirken. Geschmückte Engel der Moral. Aber wehe, wenn sie bei Madame sind – da entdecken sie, daß ein Bett nicht nur zum Schlafen erfunden wurde. Aber deswegen nach Paris zu fliegen, wäre sinnlose Verschwendung. So etwas kannst du in Moskau billiger und vor allem besser haben. Eure Frauen haben den besten Ruf!« Sendlinger hielt inne und wußte plötzlich, warum sich Sybin nach dem ›Roten Salon‹ erkundigte. »Ist Natalja in Paris?«

»Ja. Warum?« Das klang abwehrend, aber einen Sendlinger schüttelt man nicht ab.

»Sie wollte doch den ›Roten Salon‹ besuchen.«

»Hat sie.«

»Und?«

»Sie hat Ducoux und Awjilah kennengelernt.«

»Bravo! Wer ist der Bessere im Bett?«

»Natalja hat noch mit keinem geschlafen! Sie gibt sich hochgeschlossen wie früher eine russische Großfürstin.«

»Dann muß sie sich gewaltig verändert haben.« Sendlinger lachte wieder. »Natalja bei Madame – das müßte doch eine Sensation sein! Was erzählt sie dir?«

»Wenig.« Sybin ballte die Faust. Es hatte keinen Sinn, Sendlinger zu täuschen, dazu war er zu intelligent. »Sagen wir eher, nichts.«

»Und das regt dich auf? Igor Germanowitsch, das ist ein Beweis, daß es ihr gutgeht. Sie ist voll mit deinem Auftrag beschäftigt. O Gott, bist du plötzlich eifersüchtig? Willst du deshalb nach Paris? Sybin, die Grundregel in unserem Geschäft ist: keine persönlichen Gefühle! Kein Seelenschmalz! Gefühle vernebeln das Gehirn, und im Nebel zu fahren ist immer gefährlich!« Sendlingers Stimme wurde ernst und von großer Eindringlichkeit. »Igor, wenn du jetzt in Paris auftauchst, ist alles umsonst gewesen. Das Geschäft ist kaputt! Ein neureicher Russe drückt Ducoux die Hand. Er ahnt doch sofort, woher dein Geld stammt. Vom Proletarier zum Millionär … den Aufstieg wittert doch ein blinder Hund. Bleib bloß in Moskau!«

»Ich bin unruhig, Paul.«

»Du lieber Himmel … du liebst Natalja wirklich?«

»Ja, ich liebe sie.«

»Obwohl du weißt, wie und was sie ist?«

»Ich weiß auch, wie und was ich bin! Natalja und ich gehören zusammen. Jetzt, da sie nicht bei mir ist, vermisse ich sie. Sie fehlt mir überall. Ich kann hundert Frauen haben, wenn ich will … aber ohne Natalja werde ich immer einsam sein. Ich brauche sie wie ein Vogel den Himmel, wie ein Wolf die Taiga, wie ein Kosak sein Pferd. Du verstehst das nicht …«

»Nein. Natalja ist zur Liebe nicht fähig.«

»Das weiß ich … aber sie ist um mich, ich kann sie ansehen, ich kann sie bewundern, ich besitze sie …«

»Ihren Körper …«

»Sie ist ein Teil meines Lebens geworden!«

»Nur solange du sie bezahlst, ihr eine Datscha schenkst, sie in Gold und Perlen und Edelsteine packst. Sie ist kalt und verkauft sich an dich.«

»Aber sie gehört mir! Ich werde Natalja nie wieder wegschicken. Nie mehr!«

»Du bist ihr hörig! Sie hat dich mit Haut und Haaren verschlungen.«

»Nenn es, wie du willst! Ich bin der glücklichste Mensch der Welt, wenn sie bei mir ist.«

»Trotzdem fährst du nicht nach Paris! Hörst du, Igor Germanowitsch: Du fährst nicht zu ihr! Sie wird ihren Auftrag erfüllen und dann nach Moskau zurückkehren, zu dir. Dann kannst du sie von mir aus wieder festhalten … aber erst muß sie die Informationen bringen. Igor, wecke deine Vernunft wieder auf! Du bist einer der mächtigsten und reichsten Männer der GUS-Staaten, du hast mehr Einfluß als Jelzin, du regierst mit deinem ›Konzern‹ das Land, nicht die Männer im Kreml. Und wenn wir das Nukleargeschäft kontrollieren, sind wir die Herrscher der ganzen Welt.«

Und den Markt der biologischen Waffen, dies ist die Zukunft, aber das sprach er nicht aus.

»Und wenn sie in den nächsten Tagen nicht anruft?« Die Stimme klang so kläglich, daß Sendlinger so etwas wie Mitleid verspürte.

»Dann schlucke es, Igor!« sagte er hart. »Sie wird ihre Gründe haben … und sie können nur gut für uns sein. Warte es ab. Ihr Russen seid doch Weltmeister im Warten und Dulden.«

Und damit beendete Dr. Sendlinger das Gespräch und ließ einen traurigen Sybin zurück.

Und Wawra Iwanowna lebte immer noch.

Für Nikita Victorowitsch war das ein Wunder. Wäre er gläubig gewesen, hätte er gebetet und den nächsten Popen um einen Segen gebeten, so aber versuchte er verzweifelt, Sybins Rat zu befolgen und Wawra mit Milch vollzupumpen. Allem Anschein nach half es, Wawra fühlte sich wieder stärker, ihre Hautfarbe verlor den gelblichen Ton, ihr Haarausfall kam zum Stillstand, und die Haare wuchsen wieder nach. Gehorsam trank sie am Tag soviel Milch, wie sie nur konnte … Nikita hatte allen Wein versteckt, den Selbstgebrannten Wodka verschenkt, die Liköre weggeschüttet, und auch Wasser bekam Wawra nicht zu trinken, nur Milch … Milch … Milch. Das weiße Wundermittel besorgte Nikita direkt von den Bauern in der Umgebung von Krasnojarsk; jeden Tag fuhr er mit seinem kleinen Wolgawagen in den Dörfern herum und bezahlte einige Rubel mehr für die Liter, als die Bauern auf dem freien Markt erhalten würden. Es war eine gute, fette, nur gesiebte Milch, die nicht abgerahmt wurde, sondern von der Kuh direkt in die Kannen von Nikita floß.

Nur eines bedachte Nikita in seinem Enthusiasmus nicht: Auch die Kühe waren geringfügig verstrahlt, das Gras, das sie fraßen, war belastet, das Heu verseucht … die ganze Gegend um Krasnojarsk-26 atmete den unsichtbaren, schleichenden Tod. Die Sterblichkeit an Leukämie war siebenmal höher als in anderen Städten, und die Anzahl der Geburten von mißgebildeten Babys häuften sich ebenfalls. Trotzdem schien die Milch das einzige Mittel zu sein, das Wawra noch retten konnte, auch wenn Nikita es nicht verstand. Für ihn blieb es eben ein Wunder.

»Ein Kilogramm Plutonium 239 habe ich schon zur Seite gebracht«, sagte Wawra eines Tages. »Es war ganz leicht. Ich habe die Fässer in meiner neuen Eigenschaft als Leiterin der Atomdeponie gezählt und ein Faß weggerollt in einen anderen, unterirdischen Keller. Keiner hat es gemerkt … aber ich habe das Fehlen des Kilogramms sofort gemeldet und die Schuld meinem Vorgänger zugeschoben. Er wird es schwer haben, seine Unschuld zu beweisen, da er doch mit Abnehmern verhandelt hat.«

»Du bist ein gefährliches Weib!« sagte Nikita und umarmte sie. »Ein raffiniertes Luder … ich bin stolz auf dich. Zählt denn keiner nach?«

»Nein. Die Direktion vertraut mir. Was ich melde, gilt als Tatsache, da kümmert sich keiner darum. Nicht einmal eine Wache steht vor den Bunkern. Wozu auch? Das Reaktorgebiet und die Trennanlagen und Labors sind die sichersten aller Atomfabriken in Rußland. Das hat neulich sogar eine Kommission des Atomministeriums in Moskau festgestellt, und man hat uns Belobigungen ausgesprochen.«

»Ich werde es sofort an Sybin durchgeben.«

»Er weiß doch, daß ich vier Kilo besorgen kann.«

»Das war ein Versprechen … jetzt haben wir ein Kilo wirklich in den Händen. Wawra, du bist reich! Millionärin.«

»Wir sind reich, mein Schatz. Ich tue es doch nur für dich …«

Sybin nahm die Nachricht mit großer Freude auf. Als Suchanow am Telefon sagte: »Ich habe auf Großmütterchens Grab einen großen Kranz gelegt!« antwortete Sybin: »Sie hat es verdient. Nikita Victorowitsch, du bist ein guter Kamerad. Meinen Dank wirst du noch bekommen.«

An diesem Abend mußte Wawra keine Milch trinken … sie leerten eine Flasche Krimsekt und liebten sich bis zum Morgengrauen. Auch darin war Wawra ein raffiniertes Luder; sie beschäftigte Nikita so lange, bis er Arme und Beine von sich streckte und fast weinerlich sagte: »Ich kann nicht mehr!«

Und sie antwortete, auf ihm liegend wie eine warme Schlange: »Warum gibst du mir auch soviel Milch? Sie macht mich stark wie eine Wölfin …«

Wenn ein Amerikaner nach Paris kommt, ist das für ihn ein besonderes Erlebnis. Gewohnt, zwischen Hochhäusern und in Straßenschluchten zu leben und die abgasgeschwängerte Luft der Großstädte einzuatmen, wirkt auf ihn Paris mit seinen breiten Boulevards, den verträumten Plätzen, den Stadtpalästen, den Bistros und Cafés, wo sich das Leben an den Tischen und Stühlen auf der Straße abspielt, den wundervollen Brücken über die Seine, dem Künstlerviertel von Saint-Germain-des-Prés, wo auch Hemingway seine Hungerjahre verbracht hatte, den Alleen und der verführerischen Eleganz der Frauen wie eine eigene Welt.

Natürlich gab es auch in Washington und New York Plätze, die die Herzen öffneten. Der Central Park, die Auen am Potomac, der Hudson, das romantische New Jersey, das Capitol, der Ehrenfriedhof von Arlington, das Memorialdenkmal mit der Riesenfigur von Lincoln, die Freiheitsstatue … aber alles war gigantisch, irgendwie erdrückend und vor allem im Sinne der Historie eine Hymne auf die Neuzeit. In Paris dagegen atmeten die Jahrhunderte … hier erstrahlten Geist und Kultur schon zu einer Zeit, in der Washington noch eine elende Siedlung war und Manhattan ein unbewohnbares Sumpfgelände. Solch ein Spaziergang durch die Geschichte und Kultur der Alten Welt faszinierte jeden Amerikaner – ob er vor Notre-Dame stand oder vor dem Kölner Dom, vor Michelangelos Pietà, vor Leonardo da Vincis Abendmahl oder der Mona Lisa, dem Tower oder dem Hradschin in Prag, jeder war ergriffen von der ewig lebenden und ständig gegenwärtigen Historie.

Dick Fontana war einer der wenigen Amerikaner, die ein solches Gefühl nicht zuließen. Er war nicht wegen der Schönheit von Paris gekommen, sondern um einzutauchen in das organisierte Verbrechen, das sich der tödlichsten Bedrohung der Welt zugewandt hatte: dem Plutonium.

Bei seiner Verabschiedung in Washington hatte Colonel Curley gesagt:

»Captain Fontana, was Ihnen in Paris auch begegnet, vergessen Sie nie: Es geht um den Weltfrieden und um den internationalen Terrorismus. Auf die russischen Quellen haben wir keinen Einfluß, auch wenn wir uns auf diplomatischem Wege um eine enge Zusammenarbeit bemühen, aber wir wissen auch, daß in Rußland Korruption bis in die höchsten Kader reicht und es unmöglich ist, einen General zur Bekämpfung des Nuklearschmuggels zu aktivieren, selbst wenn er von der Mafia besser bezahlt wurde denn als General. Es bleibt also nur eine Möglichkeit, den Transport von Plutonium und Uran zu behindern, indem wir in die Organisation eindringen. Ich sage: behindern! Verhindern ist völlig unmöglich, solange die Kontrollen in den russischen Reaktorwerken weiterhin so oberflächlich sind. Und das wird so bleiben, das wissen wir alle. Aber die Transporte empfindlich zu stören, das wäre schon ein Erfolg. Vor allem die Namen der Hintermänner sind der Schlüssel zu allen Aktionen. Das ist Ihre vordringlichste Aufgabe, Captain Fontana: Namen! Keine Aktionen gegen den Schmuggel … das übernehmen wir. Enttarnen Sie die Hintermänner, dann rollen auch die Köpfe. Lieutenant Miranda und Captain Houseman werden das in Moskau und Tripolis auch versuchen.« Curley sah seinen Spezialagenten mit kalten Augen an. »Ist alles klar, Captain?«

»Alles klar, Sir.«

»Unsere Botschaft in Paris hält für Sie eine Spezialausrüstung bereit. Sie ist Ihnen gestern per Diplomatengepäck vorausgeflogen. Es sind Neuentwicklungen unserer Waffentechniker. Speziell für solche Einsätze wie diesen.« Curley gab Fontana die Hand. Ein fester Händedruck. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

»Danke, Sir.«

»Wenn Sie in Paris ankommen, gehen Sie sofort zur Botschaft, die hat auch Ihr Quartier besorgt.«

»Jawohl, Sir.«

»Und seien Sie vorsichtig, Captain. Nicht 007 – James Bond – spielen.«

»Ich werde mich bemühen, Sir.« Fontana sah Curley in die Augen. Kalt wie Blaustahl, dachte er. Im Vietnamkrieg muß er ein scharfer Hund gewesen sein. »Und wenn ich angegriffen werde?«

»Dann zeigen Sie, daß Sie zu einer Elitetruppe gehören.«

Das war klar ausgedrückt. »Danke, Sir!« sagte Fontana. »Ich werde das zu keiner Zeit vergessen.«

»Hoffentlich –«, antwortete Curley, aber da hatte Fontana das Zimmer bereits verlassen und hörte es nicht mehr.

Nun war Fontana in Paris gelandet und ließ sich vom Airport sofort zur amerikanischen Botschaft fahren. Die Schönheit der Stadt flog an ihm vorbei, zu schnell, um einzelne Bauten genauer zu betrachten. Aber schon dieser erste, flüchtige Eindruck ließ ihn ahnen, daß er sich in Paris wohl fühlen würde. Diese Stadt war so völlig anders als Washington oder New York, keine Wolkenkratzer, das höchste Bauwerk war der Eiffelturm, und die historischen Bauten mit ihren schönen Fassaden strahlten Geborgenheit aus, im Gegensatz zu den seelenlosen Beton- und Glashochhäusern amerikanischer Großstädte, Riesenklötze, in denen Tausende arbeiteten, die nach Büroschluß fast fluchtartig die modernen Burgen verließen.

In der amerikanischen Botschaft mußte er erst drei Kontrollen durchlaufen, ehe er nach einem Anruf der Anmeldung von einem Botschaftssekretär empfangen wurde. Er führte Fontana in den zweiten Stock und ging wieder. In dem großen Zimmer, das Fontana betrat, warteten drei Männer auf ihn. Sie erhoben sich aus ihren Sesseln und sahen Fontana mit deutlicher Spannung und Neugier an.

»Sie also sind der Wunderknabe!« sagte einer der Männer. Er stellte sich als Botschaftsrat vor, zuständig für den militärischen Bereich. In den Akten im Pentagon wurde er als General Allan Burgner geführt, in Paris hieß er William Hudson. Nicht gerade einfallsreich, aber unauffällig. Zu seinem Aufgabengebiet gehörte auch die Betreuung von Geheimdienstagenten; obwohl man mit Frankreich befreundet und Nato-Partner war, hatten die USA ihre V-Männer an allen wichtigen Stellen sitzen. Freundschaft hebt Beobachtung nicht auf, und Mißtrauen verhindert unliebsame Überraschungen.

»Wir freuen uns«, sagte Hudson und schüttelte Fontana die Hand, »daß Sie nach Paris gekommen sind. Eine scheußliche Sache, das mit dem Plutonium. Zweihundert Gramm auf einmal – das ist die größte, uns bekannte Menge, die bisher in Umlauf war. Die Sûreté ist entsetzt, vor allem, weil der Kurier flüchten konnte. Wir alle vermuten, daß diese Sendung nicht isoliert zu betrachten ist … da geistert sicherlich noch mehr durch Europa. Die Franzosen wissen nur eines: Der Mann, der flüchten konnte, sprach Französisch mit einem östlichen Akzent. Er war gut gekleidet, ungefähr dreißig Jahre alt, Haarfarbe unbekannt, und er trug eine Sportmütze. Was kann man damit anfangen?«

»Nichts!« Fontana begrüßte die beiden anderen Herren, von denen sich ein kleiner, dicker Mann als Waffeningenieur vorstellte, der Konstrukteur geheimer Agentenausrüstung.

»Was wohl am wichtigsten ist: Sie wohnen im Hotel Monique. Kein Luxuskasten, den kann sich die CIA nicht leisten. Ein gutes Mittelklassehotel mit sauberem Zimmer, Dusche, WC und einem reichhaltigen Frühstück, in der Nähe von Place Pigalle, also mitten im legendären, aber etwas überbewerteten Vergnügungsviertel von Paris. Da ist in Hamburg oder Rom mehr los. Wissen Sie, wo es die schärfsten Weiber in Europa gibt?«

»Nein.«

»Man sollte es nicht glauben: in Kopenhagen! Doch das nur nebenbei. James Bulver wird Ihnen Ihr Handwerkszeug zeigen.«

Der kleine dicke Bulver ging zu einem Tisch und zog ein Tuch weg, das die Gegenstände bedeckt hatte, die sauber ausgerichtet – wie bei einer Parade – nebeneinanderlagen. Fontana trat an den Tisch heran. Die anderen beiden Herren standen hinter ihm. Der dritte Mann hatte sich Fontana noch nicht vorgestellt, sondern ihm nur die Hand gedrückt. Dick nahm es mit Erstaunen, aber kommentarlos hin.

»Was Sie hier sehen, Dick –«, sagte Bulver und zeigte auf einen dicken Drehbleistift mit Clip, »ist zum Schreiben und zur Selbstbefreiung da. Wenn man sie eingesperrt hat oder wenn Sie keinen Ausweg mehr sehen, also in aussichtsloser Lage sind, wie man so nett sagt, dann nehmen Sie den Drehbleistift, drehen ihn um neunzig Grad nach rechts herum, der Bleistift rutscht nach unten weg, es bleibt eine Öffnung. Im Inneren der Hülse liegt eine Minirakete mit einer ungeheuren Durchschlagskraft. Der Clip ist dann gleichzeitig der Abzugshebel.«

»Also doch James Bond …«, sagte Fontana spöttisch.

»Wir haben uns durch die Phantasie der Filmleute anregen lassen, ich gebe es zu. Was sie uns als Trick vorspielen, kann man sogar real konstruieren. Das ist das Verblüffende. Im Film zeigte man einen Agenten, der mit einer Schirmspitze tötete. In der Spitze war ein schnell wirkendes Gift. Später wurde bekannt, daß KGB-Agenten auf die gleiche Weise unliebsame Zeitgenossen liquidierten: mit einer Schirmspitze! Auch der Füllfederhalter als Waffe ist nicht neu … bisher konnte man mit ihm Minipatronen abschießen oder vergiftete Stahlpfeile … neu ist nur, daß es uns gelungen ist, eine Minirakete einzubauen mit einer enormen Sprengkraft. Wenn sie zum Beispiel einen menschlichen Körper trifft, bleibt nur noch Gulasch zurück.«

Bulver lachte über seinen Vergleich, aber er war der einzige, der darüber lachen konnte.

»Wir werden nachher im Garten mit diesem ›Drehbleistift‹ eine Betonscheibe zertrümmern.« Bulver zeigte auf eine, der Natur täuschend ähnlich nachgebildeten Plastiknelke, gelbrot gesprenkelt mit beweglichen Blütenblättern. »Auch das ist eine Weiterentwicklung: eine Knopfkamera, im Knopfschlitz des Anzugsrevers zu tragen. Normalstellung Weitwinkel, durch das Wegschieben des oberen Blütenblattes nach links wird sie zur Telekamera. Das ist neu!« Bulver zeigte auf ein Hemd mit einem gestärkten Kragen. »Sie haben Kragenweite dreiundvierzig, Dick … das Hemd paßt Ihnen also. In den Kragen eingenäht, wie in einem Futteral, ist eine dünne, reißfeste Schnur aus einem Spezialstahl … man kann damit blitzschnell einen Menschen erwürgen. Außerdem wirkt der dünne Stahl wie ein Messer, damit kann man also auch den Hals durchschneiden! Eine völlig lautlose Angelegenheit.«

»Sind alle Agenten damit ausgerüstet?« fragte Fontana und befühlte den Kragen. Der Stahldraht war kaum tastbar.

»Nur die Spezialagenten, Dick.«

»Victoria Miranda und Bill Houseman auch?«

»Natürlich.« Bulver grinste breit. Man sah ihm an, wie stolz er auf seine Konstruktionen war. »Für Lieutenant Miranda haben wir eine ganz spezielle Selbstverteidigungswaffe entwickelt: eine Vaginalgiftnadel.«

»Wie bitte?« Fontana erstarrte. Was er da hörte, war ungeheuerlich.

»Das Instrument wird – wenn nötig – in die Vagina eingeführt wie ein Pessar. Wenn beim Geschlechtsverkehr der Mann dagegenstößt, löst er einen Mechanismus aus, der eine winzige Giftnadel in den Penis schießt. Der Mann stirbt innerhalb von drei Minuten. Für die Frau ist das ungefährlich, denn die Giftnadel, besser gesagt der Giftpfeil, bleibt im Penis stecken, und die Frau kommt mit dem Gift überhaupt nicht in Berührung. Wir haben gedacht, daß Victoria so etwas gebrauchen kann, im Falle einer Vergewaltigung, oder wenn das Objekt aus Sicherheitsgründen getötet werden muß. Für den Mann ist es ein absoluter Freudentod … ein kleiner Stich, und dann tritt auch schon die Atemlähmung ein.«

»Eine teuflische Waffe.« Hudson hüstelte und mußte sich die Nase putzen. »Gnade uns Männern, wenn so was in die Serienfertigung ginge …«

Sie lachten alle, aber es war ein etwas gequältes Lachen. Bulver zeigte noch einige andere Neuentwicklungen, die das Töten vereinfachten, aber er hatte auch einen Schlüssel erfunden, mit dem man jedes Schloß öffnen konnte. Eine geniale Konstruktion, die jedem Einbrecher alle Türen öffnen würde.

»Damit, Dick, sind Sie für alle Fälle gerüstet«, sagte Bulver. »Mehr kann man auf so kleinem Raum nicht tun. Ich wünsche Ihnen nur, daß Sie die Dinger nie gebrauchen werden.«

Nach der Schießübung mit dem ›Drehbleistift‹ im Garten der Botschaft fuhr Fontana mit einem Taxi zu seinem Hotel Monique nahe der Place Pigalle. Es war wirklich ein sauberes Hotel, die Concierge gab ihm seinen Zimmerschlüssel, verzichtete auf eine Eintragung im Gästebuch und fragte nur: »Wie lange bleiben Sie, Monsieur?«

»Ich weiß es nicht, Madame.«

»Bezahlt ist für einen Monat.«

»Ich werde sicherlich verlängern.«

»Frühstück von sieben bis zehn.«

»Ich werde es nicht vergessen. Ich bin ein großer Frühstückesser, Madame.«

»Wurst und Eier?«

»Beides.«

»Tee oder Kaffee?«

»Kaffee bitte.«

»Kommen Sie spät ins Hotel zurück? Es ist ab dreiundzwanzig Uhr geschlossen. Ich gebe Ihnen einen Schlüssel.«

»Das ist sehr freundlich, Madame.«

»Sie sprechen gut französisch, Monsieur.«

»Meine Mutter war Französin, mein Vater Ire. Mein Großvater ist nach Amerika ausgewandert. Er fand in Irland keine Arbeit.«

Die Concierge, Madame Juilette Bandu, eine biedere, grauhaarige, mollige Frau, deren Lebenserfahrung sich in den Falten ihres Gesichtes spiegelte, schloß Fontana sofort in ihr Herz. Für sie war er eines der armen Schweine, wie sie hier auf dem Montmartre zu Tausenden herumliefen, keiner dieser verwöhnten Söhne reicher Eltern, die sich am Pigalle austobten, bevor sie die Töchter anderer reicher Väter heiraten mußten, um die Vermögen zusammenzulegen. Ein Auswanderersohn aus Irland, der sich in Paris mit dem Vertrieb eines neuen Getränkes herumschlagen mußte, ein ganz mieses Geschäft, denn gerade in Frankreich war der Markt gesättigt. Außerdem trinkt ein anständiger Franzose nicht so ein Gesöff wie einen süßen Cocktail, sondern Wein, vor allem roten, oder Pastis, Cognac, Champagner und Pernod. Schon Whisky oder Gin sind eine Ausnahme, und ehe man einen ›Ladykiller‹, wie der neue Cocktail heißen sollte, trinkt, greift ein Franzose lieber zum Cointreau, wenn es schon süß sein soll.

Madame Bandu hatte diese Informationen von dem Herrn bekommen, der für Fontana das Zimmer im Hotel Monique gemietet hatte. Er meldete ihn als einen Robert (Bob) Fulton an … der offizielle Name Fontanas in Paris. Nur die Botschaft und in Kürze Jean Ducoux wußten seinen richtigen Namen.

»Monsieur Fulton«, sagte Madame Bandu voll mütterlicher Fürsorge, »wenn Sie einen Wunsch haben, sagen Sie ihn mir. Ich bin immer für Sie da.«

»Das ist sehr lieb von Ihnen, Madame. Aber im Augenblick habe ich keine Wünsche. Doch ja, einen habe ich: Ich möchte schlafen. Der Flug von Washington nach Paris, die Zeitverschiebung, das merkt man doch. Ich lege mich sofort hin … und bin für niemanden zu sprechen.«

»Ich werde dafür sorgen, daß Sie nicht gestört werden, Monsieur. Schlafen Sie gut.« Sie blinzelte ihm wie eine alte Verschwörerin zu und zierte sich doch, weiter zu sprechen. Doch dann fragte sie mutig: »Monsieur, haben Sie eine Probe Ihres ›Ladykiller‹ bei sich?«

»Morgen kommt per Luftfracht eine große Kiste an.« Fontana lachte und klopfte Juilette Bandu auf die Schulter. »Sie bekommen natürlich eine Originalflasche.«

»O danke, Monsieur.«

»Aber das ist doch selbstverständlich.«

Fontana ging auf sein Zimmer, zog sich aus, duschte und sprang nackt ins Bett. Es dauerte keine fünf Minuten, und er lag in tiefem Schlaf.

Wie vereinbart wurde Victoria Miranda von einem Wagen der amerikanischen Botschaft am Moskauer Flughafen Scheremetjewo II abgeholt.

Das Flughafengebäude, das 1980 zur Olympiade fertiggestellt wurde und eine Kopie des Flughafens von Hannover-Langenhagen darstellt, war für den sich rasant entwickelnden Flugverkehr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion viel zu klein geworden. Damals hatte man nicht mit einem solch großen Ansturm westlicher Besucher gerechnet, denn wer zu jener Zeit nach Moskau reiste, wurde sofort in die Kontrollmechanismen eingebunden. Ob Zollkontrolle, Taxifahrt, Hotel oder Stadtbummel … es wurde alles überwacht und registriert. Wer damals nach Moskau flog, mußte wirklich einen guten Grund haben. Urlaubs- oder Vergnügungsreisen nach Rußland bildeten die Ausnahme, sie waren abenteuerlich und verlangten von dem Touristen eine Elefantenhaut. Dementsprechend wurden diese Mutigen auch bewundert.

Auf der Fahrt von Scheremetjewo zur dreißig Kilometer entfernten Innenstadt von Moskau erhielt Victoria die ersten, speziellen Informationen. Der Botschaftsrat, der sie abgeholt hatte, ein Mr. Kevin Reed, leitete das Handelsdezernat der Botschaft, war aber in Wirklichkeit der Kopf der CIA in Rußland. Über ihn liefen alle Berichte der V-Männer und Agenten, der russischen Sympathisanten und der Vielzahl russischer ›Augen‹. Für den Chef der neuen russischen Spionageabwehr, Sergeij Stepachin, wäre ein Einblick in den Panzerschrank Reeds zur größten Beglückung seines Lebens geworden und hätte den Tod von Hunderten von CIA-Informanten bedeutet.

»Ich weiß zwar nicht, was sie in Moskau noch tun sollen, was wir nicht schon längst tun«, sagte Reed bewußt unhöflich, »aber mit den Chefs in Washington ist kein vernünftiges Gespräch mehr möglich. Sind denn dort alle von Hysterie ergriffen worden, seit man in Paris diese zweihundert Gramm Plutonium gefunden hat?«

»Ich habe ein genau umrissenes Programm, Kevin«, antwortete Victoria kühl, »und ich hoffe, daß Sie mich dabei unterstützen.«

»Da werden Sie eine Menge durcharbeiten müssen, Victoria. Allein die Tätigkeit der Mafia zu überwachen, ist ein Full-Time-Job. Sie hat die Finger überall drin, es gibt im neuen Rußland nichts, aber auch gar nichts, bei dem die Mafia oder sogar hohe Militärs und Parteifunktionäre nicht mitmischen. Das ist ein einziger Klumpen aus Korruption, Bestechung und brutalster Machtdemonstration. Ich weiß wirklich nicht, was Sie in dieser Privathölle machen sollen.«

»Kontakte suchen und knüpfen.«

»Mehr nicht?« Reed lachte sarkastisch. »Sie – oder Washington – glauben wirklich, nur weil Sie eine attraktive Frau sind, könnten Sie sich in die Nuklearszene einschleichen? Welche Naivität! So etwas kann nur jemand ausknobeln, der keine Ahnung von der Wirklichkeit hat, einer am grünen Tisch, der nie an der vordersten Front gewesen ist.«

»Und was hat die vorderste Front bisher erobert?« Auch Miranda konnte zynisch werden. Reed starrte sie böse an. »Was haben Ihre Informanten erreicht?«

»Wir kennen sämtliche, ehemals geheimen Stätten, in denen Nuklearforschung und Plutoniumherstellung betrieben wurden oder werden. Zwar sind viele Betriebe geschlossen worden, aber wir wissen, daß ungefähr neunhundert Tonnen Plutonium in Rußland gelagert sind. Die größte Menge auf der Welt.«

»Aber Sie wissen nicht, wer gestohlenes Uran, Lithium und Plutonium über Deutschland, Frankreich und Italien an die Abnehmer liefert, und wie.«

»Das ist eine gut funktionierende Organisation, und es sind Privatanbieter, Einzelpersonen, die mit Unterstützung korrupter Militärkreise arbeiten.«

»Namen bitte!«

»Nur Vermutungen. Wir können nichts beweisen.«

»Warum nicht?«

»Welche Frage!« Reed wurde sichtbar ärgerlich. »Beweisen Sie, daß der Teufel einen haarigen Schwanz hat!«

»Das kann man, wenn man dem Teufel die Hand reicht.«

»Und das wollen Sie versuchen!«

»Ja.«

»Und was macht Sie so sicher?«

»Weil ich eine Frau bin!« Victoria lehnte sich in das Polster zurück. Der Wagen näherte sich den Vororten von Moskau. »Ganz einfach.«

»Die Strategie der Weiber!« sagte Reed mit größter Bosheit. »Besteht die CIA nur noch aus Idioten?! Als ob die neuen Mächtigen in Rußland eine amerikanische Puppe nötig hätten! Ausgerechnet eine Barbie aus den USA!«

»Ihr Charme ist umwerfend, Kevin.« Victoria blickte aus dem Fenster. Sie fuhren gerade durch ein Stückchen Kiefernwald. Warum Reed so unhöflich zu ihr war, konnte sie sich nicht erklären. Anstatt erfreut über eine gute Zusammenarbeit zu sein, machte er von Beginn an klar, daß sie nicht mit seiner Unterstützung rechnen könnte. Die Botschaft duldete sie in Moskau, mehr aber auch nicht. »Wo werde ich wohnen?« fragte sie.

»Vorerst in der Botschaft. Wir haben genug Platz.«

»Das ist gegen die Planung! Colonel Curley sagte mir, daß eine Wohnung in der Stadt gemietet wird.«

»Eine Wohnung in der Stadt! So etwas kann auch nur einer versprechen, der Moskau vom Stadtplan oder vom Fernsehen her kennt. In Moskau herrscht permanente Wohnungsnot. Noch immer müssen vier Personen in zwei Zimmern leben und sich Badewanne und Scheißhaus teilen. Oft haben zwei Familien sogar nur eine gemeinsame Küche! Aber der Herr Colonel Curley will eine eigene Wohnung mieten! Und dann noch innerhalb von drei Wochen!«

»In der Botschaft zu wohnen, ist Unsinn!« Victorias Stimme wurde zum ersten Mal schneidend. Reed starrte sie entgeistert an. »Ich muß völlig selbständig handeln können, allein und unabhängig. Wenn ich Sie jemals brauchen sollte, was ich bezweifle, rufe ich Sie. Major Reed, ich habe eine Menge Sondervollmachten in meiner Tasche, die ich nicht gegen Sie verwenden möchte.«

»Ich kann bei dieser Wohnungssituation keine Wohnung herbeizaubern!«

»Diplomaten haben auch in Rußland einen Ausnahmestatus! Außerdem gibt es jetzt genug private Anbieter und Wohnbaugenossenschaften, die frei über ihre Wohnungen verfügen können.«

»Das sind alles Gangster. Der Immobilienmarkt ist fest in Mafiahand.«

»Das ist ja wunderbar. Das ist genau das, was ich suche: eine Mafiawohnung, besser kann es gar nicht kommen! Da bin ich als Mieter schon einen Schritt weiter.«

»Die Kerle verlangen irre Mieten!«

»Bezahlen Sie das oder die CIA?«

Reed spielte den Beleidigten. Sein männlicher Stolz hinderte ihn daran, Victoria anzuerkennen und nachzugeben. Die CIA in Moskau war er, Reed, nicht eine herübergeschickte Puppe, die glaubte, mit langen Beinen den Moskauer Untergrund zu erobern. Curleys Idee oder wer auch immer sie geboren hatte, war ein Blödsinn, ein Überbleibsel aus dem Chicago der zwanziger und dreißiger Jahre, wo man einen Gangsterboß im Bett überführen konnte. Die Zeiten hatten sich geändert, und außerdem war man hier in Rußland, und hier liefen die Dinge völlig anders, verglichen mit den Gesetzen der Mafia in Italien oder Übersee. Hier funktionierten die Geschäfte ähnlich denen der chinesischen Triaden: Verräter, Spitzel, Überläufer, Ungehorsame, Verdächtige oder diejenigen, die zuviel wußten, wurden ganz einfach erschossen … entweder an abgelegenen Orten oder auch auf offener Straße. Ein Menschenleben ist in diesen Kreisen absolut wertlos.

Ein solches Schicksal sollte Victoria Miranda nicht ereilen, damit hing Reeds Ärger zusammen, es war nicht nur seine Ablehnung gegenüber Spezialagentinnen. Er wollte Victoria ersparen, in den Lauf einer Kalaschnikow zu blicken. Von Curley war es unverantwortlich, eine Frau wie sie nach Moskau zu schicken. Bei seinem nächsten Urlaub in den USA wollte Reed ihm das ins Gesicht sagen.

In der Botschaft empfing der Botschafter selbst seinen neuen Gast. Er begrüßte die noch immer wütende Victoria mit einem Handschlag, wünschte ihr viel Glück und ließ sie auf ihr Zimmer führen.

Es war ein schönes, großes, helles und sogar luxuriös eingerichtetes Zimmer, aber für Mirandas Zwecke völlig ungeeignet. Wie Fontana in Paris zog sie sich aus, stellte sich unter die Dusche und wickelte sich dann in ein großes Badetuch ein, legte sich auf das Bett und schlief sofort ein. Im Schlaf strampelte sie sich frei – es war ein warmer Tag in Moskau – und lag in herrlicher Nacktheit in dem gedämpften Licht, das durch die zugezogene Gardine schimmerte.

So fand Reed sie vor, als er ins Zimmer kam, um Victoria die Einladung des Botschafters zum Abendessen zu überbringen. Sie hatte vergessen, das Zimmer abzuschließen.

Reed blieb eine Weile an der Tür stehen und betrachtete sie. Plötzlich stellte er sich vor, wie dieser makellos schöne Körper aussehen würde, wenn Victoria in die Hände der Mafia fiel, entlarvt als Spitzel der CIA. Eine Vorstellung, die einen kalten Schauer über Reeds Rücken jagte.

Ich werde mit Curley Verbindung aufnehmen, sagte er sich. Ich werde ihn zusammenscheißen, auch wenn er Colonel ist und ich nur Major bin. Was er sich da ausgedacht hatte, war kein vaterländischer Einsatz, sondern ein Mordkommando. Jawohl, ein Mord an Victoria.

Er verließ leise das Zimmer, ging hinunter in sein Büro und grübelte darüber nach, wie man Victoria daran hindern könnte, sich so sinnlos zu opfern, denn Reed war davon überzeugt, daß sie keinerlei Chancen gegenüber der Mafia hatte. Man würde ihre Absichten sofort durchschauen, ihr eine Falle stellen und sie dann liquidieren. Und sie würde für immer verschwunden sein, ihre Leiche würde nie gefunden werden, aber ihr Name würde auf der Ehrentafel der CIA stehen, und keiner würde fragen oder erfahren, daß ihr Einsatz idiotisch gewesen war.

Reed sah sich plötzlich einer Aufgabe gegenüber, die zu einer Herzensangelegenheit wurde …

Djamil Houssein, wie Houseman jetzt hieß, landete mit einem tunesischen, einwandfreien Paß, dessen Bild einen stoppelbärtigen, typischen Araber zeigte, in Tripolis mit einem Passagierschiff, das Leonardo hieß. Es kam aus Genua und hatte dreihundertsiebzig Personen an Bord, die eine Mittelmeerkreuzfahrt gebucht hatten.

Von New York war Houseman nach Rom geflogen, von Rom nach Genua, hatte sich dort in einem kleinen Hotel am Hafen umgezogen und verließ es als Djamil Houssein. Er trug Kopftuch und Djellabah, sprach ein kehliges Englisch und pflegte seinen Stoppelbart wie Jassir Arafat. Er sah sogar fast so aus wie Arafat, und auf dem Schiff wurde er ehrfurchtsvoll angestarrt, bis sich herumgesprochen hatte, daß er nicht Arafat war.

Für Houseman war das der Beweis, daß seine Tarnung perfekt war. Selbst der Kapitän der Leonardo war bei Housemans Einschiffung unsicher geworden, auch als er in der Passagierliste Djamil Houssein las. »Das kann ein Deckname sein«, sagte er zu seinem Ersten Offizier, bis er sich davon überzeugen ließ, daß Arafat nicht mit einem Schiff von Genua nach Tripolis fährt, sondern fliegen würde.

An der Pier im Hafen von Tripolis erwartete ihn bereits sein Kompagnon, der libysche Ölmühlenbesitzer und Großhändler Abdul Daraj. Obwohl sie sich noch nie gesehen hatten, breitete Daraj beide Arme aus und drückte Houseman an sich und küßte ihm die Stirn.

»Willkommen, Bruder!« rief er so laut, daß alle Umstehenden ihn hörten. »Wie lange habe ich auf dich warten müssen! Endlich hat Allah meine Gebete erhört.«

Und Houseman-Houssein rief ebenso laut: »Welche Freude, die geliebte Heimat wiederzusehen. Mein Bruder, das Heimweh hat mich zerrissen! Wo ist es schöner als in Libyen? Laß mich den Heimatboden küssen.«

Er fiel auf die Erde, berührte den schmutzigen Betonboden mit den Lippen und erhob sich wieder. Die Umstehenden waren gerührt. Das ist ein Mensch, der die Erde seiner Vorfahren liebt …

Daraj fuhr einen silbernen Mercedes, was bewies, daß seine Ölmühle eine Goldgrube sein mußte. Houseman wunderte sich, wie ein so wohlhabender Araber, der offensichtlich nichts entbehrt, ein V-Mann der CIA sein kann? Was trieb ihn dazu, sein Land zu bespitzeln? Die Dollars, die er von der CIA bekam, könnte er leicht aus der Portokasse seiner Unternehmen holen. An Geld konnte es also nicht liegen, es mußte andere, tiefere Gründe haben. Houseman nahm sich vor Daraj noch heute danach zu fragen.

Der Autoverkehr im modernen Tripolis glich fast dem in Manhattan. Daraj hupte sich den Weg frei, er fuhr so forsch durch das Gewühl von Autos, Lastwagen und Motorrädern, daß Houseman jeden Moment mit einem Zusammenstoß rechnete. Erst außerhalb der Stadt, wo die Viertel der Wohlhabenderen lagen und erst recht in dem Villenviertel mit seinen großen, bewässerten Gärten, den Palmenhainen und blühenden Sträuchern, ließ der Verkehr merklich nach, um zwischen den Privatparks fast gänzlich aufzuhören. Ihr Mercedes war auf den letzten Metern der einzige Wagen auf der Straße.

Daraj hielt vor einer typischen arabischen Villa: kein Fenster, nur eine dicke geschnitzte Tür in der Hauswand, flaches Dach, das als Terrasse diente und mit Zwergpalmen in großen Kübeln die Blicke Fremder abwehrte, dafür aber ein üppig blühender Vorgarten, ein gepflegter Rasen und ein gebogenes Eingangstor an der Straße. Ein breiter Weg, mit Marmorplatten belegt, führte zu einer Vierfachgarage.

Wie von Zauberhand öffnete sich das hohe, schmiedeeiserne Tor. Aus dem Inneren des Hauses schien der Eingang überwacht zu werden.

»Über Mangel an Luxus kannst du dich nicht beklagen«, sagte Houssein beeindruckt. »Das erinnert mich an unsere Ölmillionäre, nur holen sie das Öl aus der Erde.«

»Ich auch, mein Bruder Djamil. Ich auch. Meine Ölbäume wachsen auch auf der Erde. Allah segne den fruchtbaren Boden.«

Die schwere Haustür öffnete sich. Ein Diener in weißer Livrée erschien und verbeugte sich vor Houseman. An der Ausbuchtung der linken Rockseite erkannte er mit geübtem Blick, daß der Diener eine Waffe trug, eine großkalibrige Pistole. Aha, so friedlich, wie das hier alles aussieht, ist es also nicht!

»Das ist Ramunabat«, sagte Daraj. »Eine treue Seele, ein Inder. Ich habe ihn halbverhungert von einer Straße in Bengasi aufgelesen. Er ließe sich für mich in Stücke schneiden.«

»Noch mehr Überraschungen, Abdul?«

»Mein Innengarten. Aber sieh selbst.«

»Und deine Frau?«

»Ich habe keine Frau. Die letzte habe ich vor vier Jahren weggejagt. Sie war schön und geil, aber sie schnüffelte mir nach. Als sie mein Funkgerät entdeckte, war es vorbei.«

»Verdammt – sie hätte dich verraten können!«

»Sie konnte es nicht … Ramunabat hat sich ihrer angenommen.«

Houseman verstand. Er fragte nicht weiter, sondern ließ sich von dem überraschen, was er noch hören und sehen würde.

Der Innengarten war ein Wunderwerk arabischer Gartenkunst. Ein Springbrunnen schoß eine Wasserfontäne in die Sonne, die aus dem weitgeöffneten Maul eines großen Löwen spritzte. Von mit weißem Marmorkies bedeckten Wegen durchzogen, wiegten sich Blumenrabatte und Palmen im leichten, warmen Wind, rankten sich Rosen an Spalierwänden empor, zog ein Duft vielfältiger Blüten über den englisch kurzgehaltenen Rasen. Unter einer goldfarbenen Markise standen weiße Gartenmöbel … ein Tisch, vier Sessel, eine Liege und eine fahrbare Bar.

»Wenn das Allah sieht!« sagte Houseman, der von dem Haus begeistert war. So etwas hatte er bisher nur in Filmen gesehen, die in Miami, Florida oder Kalifornien spielten. Märchenvillen für einen armen Captain der CIA. Abdul Daraj hob abwehrend beide Hände.

»Die Bar ist nur für Gäste bestimmt, Djamil. Und – so hat es Mohammed bestimmt – als Medizin, wenn sie Leiden lindern kann. Ich bin ein kranker Mensch, mein Magen macht mir Sorgen.«

Während der Diener Ramunabat Housemans Gepäck in das Gastzimmer trug, ein kleiner Palastraum für sich mit einem großen Marmorbad und vergoldeten Armaturen, setzten sich Daraj und Houseman in den Garten. Die Sitzauflagen der Sessel waren mit besten, weißen Gänsedaunen gefüllt. Im Gegensatz zu Fontana und Victoria war Houseman munter und fröhlich, denn er hatte keinen anstrengenden Flug hinter sich, keine Zeitverschiebung – die hatte er schon in Genua überwunden –, sondern er war gemütlich in einer Kabine der Leonardo quer über das Mittelmeer gefahren worden. Fast eine kleine Urlaubsreise auf Kosten der CIA.

Um direkt auf das Thema zu kommen und keine langen Umwege zu machen, sagte Houseman zu Beginn des Gespräches:

»Abdul, du bist ein reicher Mann …«

»Das ist relativ.«

»Wer sich so ein Haus wie dieses und einen großen Mercedes leisten kann, gehört nicht gerade zu den Armen.«

»Das hast du bereits gesagt.«

»Und ich wiederhole es, ich bin beeindruckt. Kann man mit Salatöl soviel Geld verdienen?«

»Nein.« Das war eine ehrliche Antwort. Abdul goß sich und Houseman ein großes Glas Fruchtsaft ein. »Für dich mit Wodka gemischt?«

»Gern. Du schwimmst im Geld. Warum arbeitest du dann für die CIA?«

»Eine gute Frage, Djamil.«

»Auf keinen Fall wegen des miesen Geldes, das du dafür bekommst.«

»Da hast du recht.«

»Weshalb also, Abdul?«

Houssein trank einen Schluck, lehnte sich in den Polstern zurück und faltete die Hände über dem Bauch. Er trug einen knöchellangen, schneeweißen Haikh aus einem Baumwoll-Seiden-Gemisch, der seine untersetzte Figur verbarg. Houseman hätte gewettet, daß er einen dickeren Bauch hatte als er. Sein hellbraunes Gesicht durchzogen einige Falten, als seien es Narben, und diese hatte er auch: Pockennarben, Erinnerungen an eine Krankheit in Kinderjahren. Er war kein schöner Mann, bestimmt nicht, aber ein interessanter Kopf, den das Leben zwischen Wüste und Meer geprägt hatte.

»Weshalb?« wiederholte Daraj gedehnt. »Das hat nichts mit Geschäften zu tun, nichts mit der Politik … es ist etwas Privates. Libyen hat Schulden bei mir, moralische Schulden, und da es diese nicht anerkennt oder abzahlt, muß ich mir meine Genugtuung auf andere Weise holen.«

»Das mußt du mir erklären, Abdul. Übrigens: Ich bin erstaunt über deinen Reichtum. Colonel Curley erzählte, daß du kurz vor dem Konkurs stündest, und ich – die offizielle Version – als dein Partner in den Betrieb eintrete und dich saniere.«

»Genauso habe ich den Behörden gegenüber argumentiert. Das ist glaubhaft … es gibt genug Geschäftsleute, die eine große Villa bewohnen, aber in ihrem Geschäft laufen die Ratten herum. Wen kümmert das? Die wahre Kunst zu leben, ist eine Erfindung des Orients. Du kommst als Partner und rettest mich, das verschafft dir hohes Ansehen.«

»Damit ist noch nicht beantwortet, warum du für die CIA arbeitest.«

»Im Jahre 1969 stürzte Muammar al Gadhafi das Königshaus von Libyen und ernannte sich selbst zum Staatschef. Alle, die dem König gedient hatten, wurden grausam verfolgt und für ihre Treue bestraft. Sie wurden ausgepeitscht, kamen in Straflager oder wurden erschossen. Man nannte sie Schädlinge des Volkes, Blutsauger oder korrupte Banden. Mein Vater war einer von ihnen … in den Augen der neuen Regierung. Er war Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium. Gadhafi ließ meinen Vater so lange auspeitschen, bis er unter den Schlägen der Peitsche aus Nilpferdhaut starb. Meine Mutter wurde in ein Lager verschleppt – ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Meine jüngere Schwester wurde vergewaltigt, von zehn Männern nacheinander. Sie war noch unberührt … aber als man sie danach fand, war ihr ganzer Unterleib aufgerissen. Kein Arzt behandelte sie aus Angst, als Verräter zu gelten … sie starb an inneren Blutungen und einer Infektion. Mein Bruder wurde erschossen, als er meiner Schwester zu Hilfe kam. Es gab keine Familie Daraj mehr.«

»Und du?«

»Ich war so feige, mich zu verkriechen – in einem unterirdischen Gang, den man in den Felsen geschlagen hatte. Die Revolutionäre fanden zum Glück den Einstieg nicht – so habe ich überlebt. Ich bin dann weitergeflüchtet nach Bengasi und wohnte bei einer Schwester meiner Mutter im Ziegenstall: zwei Jahre lang. Dann hatte sich die Lage beruhigt, Gadhafi war alleiniger Herrscher, gestützt auf die Macht des Militärs, und seine Widersacher waren vernichtet. Das Volk jubelte ihm zu, er versprach, Libyen zu einer Weltmacht zu machen. So ist es immer bei Revolutionen: Es fließt viel unschuldiges Blut, aber die Masse des Volks vergiß es schnell. Ich habe die Vernichtung meiner Familie nicht vergessen! Ich bin zurück nach Tripolis und habe die Ölfabrik meines Onkels übernommen, der gerade im Sterben lag, und ich habe eine Exportfirma gegründet. Da erschien eines Tages ein Mann, der zwar einen arabischen Namen trug wie du, Djamil, aber ein Amerikaner war. Er wußte – woher, blieb ein Rätsel – vom Schicksal meiner Familie und erinnerte mich in langen Gesprächen daran, daß es zur Ehre eines Moslems gehöre, Unrecht zu rächen. Der Mann war von der CIA, das gestand er später, und er schlug mir vor, aus dem Untergrund Gadhafi zu bekämpfen. Zwei Dinge wären interessant, eine Gefahr für den Frieden und müßten bekämpft werden: der Terrorismus und die Herstellung von Atombomben und Bakterienwaffen. Beides gehörte zu Gadhafis Machtplänen. Neben dem Nordjemen war Libyen eine Fluchtburg und Ausbildungsstätte für Terroristen gewesen. Es lieferte Waffen und unterstützte Aktionen, wo immer sie stattfanden. Vor allem Attentate in Israel und Deutschland waren beliebt. Das Problem Bombe war die zweite aktuelle Bedrohung der freien Welt: Gadhafi baute in der Wüste geheime Labors und Produktionswerke für B-Waffen, also für biologische Vernichtungsbomben, die mit Viren oder Bakterien ganze Länder verseuchen konnten. Sein großer Traum ist eine Plutonium- oder Wasserstoffbombe. Hier arbeiten Wissenschaftler – darunter einige russische Experten – an neuen Konstruktionen. Raketen besitzt Libyen schon genug … mit Reichweiten von über achttausend Kilometern, damit haben sie ganz Europa im Griff! Aber die Atomsprengköpfe für die absolute Atombombe fehlen, und auch das Plutonium, Uran und Lithium! Doch jetzt, nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der Abrüstungspolitik des neuen Rußlands, der katastrophalen Lage der Atomzentren mit ihren Massenentlassungen und Schließungen, hat sich dies schlagartig geändert. Jetzt wird Atommaterial überallhin geschmuggelt, für alle, die daran interessiert sind. Es gibt nicht nur eine Atommafia, sondern bis in die höchsten Regierungsstellen und Militärverwaltungen führen die Spuren der Lieferanten oder Vermittler. Jeder will die Hand aufhalten und sie sich vergolden lassen. Plutonium geistert durch die Welt – wieviel, das weiß niemand!«

»Und was ist dabei deine Aufgabe?« fragte Houseman.

»Ich beobachte und nenne Namen. Durch mich hat Amerika von den geheimen Produktionsstätten in der Wüste erfahren. Durch mich sind bisher dreiundzwanzig Terroristen in Israel, Deutschland, Frankreich und Spanien verhaftet worden … ich habe überall meine Ohren, und ich sehe mehr als andere. Außerdem habe ich Verbindungen bis in Gadhafis Nähe aufgebaut.«

Abdul Daraj sagte es nicht ohne Stolz, und er konnte wirklich stolz sein, denn seine Erfolge beeindruckten sogar die oberen Spitzen der CIA. Er war einer der besten ausländischen ›Residenten‹, den die CIA zur Zeit hatte. Was er meldete, war immer eine Tatsache, nie ein schwer nachweisbares Gerücht. Deshalb hatte Abdul jetzt auch eine Frage an Houseman.

»Ich habe mich seit Tagen gefragt, warum man dich nach Tripolis geschickt hat, Djamil.«

»Um dir beizustehen, Abdul.«

»Ich habe alles im Griff. Mehr Informationen, als ich bekomme, kann niemand anderer herbeischaffen.«

»Es geht speziell um Plutoniumaufkäufe.«

»Auch das erfahre ich.«

»Danach und nur, wenn der Deal okay ist.« Houseman trank sein Glas Orangensaft aus. Ramunabat war nirgends zu sehen, aber er wußte, daß er immer in der Nähe war und ihn beobachtete. Abdul war ein vorsichtiger Mann; auch ein CIA-Agent kann auf zwei Schultern tragen. Bei dem geringsten Zweifel würde Ramunabat seine ›Pflicht‹ tun. »Wir müssen es vorher wissen!« sagte Houseman.

»Das ist fast unmöglich.«

»Nicht bei unserem Vorhaben.«

»Du versetzt mich in Spannung.«

Houseman sah sich mehrmals um, aber er bemerkte nichts Verdächtiges. »Hört uns keiner zu?«

»Nein. Wir sind allein.«

»Ramunabat?«

»Ist im Haus.«

Houseman atmete tief durch. Jetzt ließ er die Katze aus dem Sack … würde sie Mäuse fangen? »Unsere Idee ist es, selbst als Käufer aufzutreten …«

Abdul schwieg. Er goß sich neuen Fruchtsaft ein, und Houseman sah, daß seine Hand dabei leicht zitterte. Natürlich, dachte er. Bei dieser Idee kann man zu zittern anfangen. Ihm geht es jetzt wie mir, als Curley mir diesen Plan mitteilte. Auch ich hatte das Gefühl, jemand zupfe an meinen Nerven.

»Wir?« ließ sich Abdul endlich vernehmen. »Wir?«

»Ja. So lernen wir die Hintermänner kennen … und wieviel Plutonium angeboten wird.«

»Wir werden nur Kontakt mit den Kurieren bekommen, und die kennen keine Hintermänner.«

»Wenn man bedenkt, welche Verhörmethoden im Orient üblich sind …« Houseman schob die Unterlippe vor. »Jede Loyalität hat Grenzen.«

»Eine reine Theorie.« Abdul schüttelte ein paarmal den Kopf. »Nehmen wir an, uns gelingt es, einen Verkäufer zu interessieren. Nehmen wir weiter an, er liefert uns Plutonium … was kostet das überhaupt?«

»Das Kilo so um die sechzig bis achtzig Millionen Dollar, je nach Reinheit.«

»Wahnsinn!« Abdul riß die Augen auf. Die Summe schlug ihm auf den Magen, er hüstelte. »Das kann doch keiner bezahlen!«

»Ich werde das Geld beschaffen, das ist zweitrangig. Für die Sicherheit der Welt ist das ein geringer Betrag.«

»Gut, wir bekommen das Plutonium. Und was machen wir damit?«

»Wir bieten es über einen Mittelsmann in Libyen an.«

»Verrückt! Und lebensgefährlich.«

»Ohne Risiko kein großes Geschäft.« Houseman faltete die Hände über seinen Bauch. Er strahlte Überzeugung aus, daß der Plan der CIA ins Schwarze träfe. »Die libysche Regierung wird auf das Angebot anspringen, hoffen wir. Dann haben wir zweierlei erreicht: Erstens haben wir Kontakt mit den maßgeblichen Regierungsstellen, und zweitens haben wir den Beweis, daß Libyen noch immer heimlich an einer Atombombe bastelt. Das wird dann große politische Auswirkungen haben. Abdul, das wäre doch ganz auf der Linie deiner privaten Rache!«

Wieder schwieg Abdul Daraj. Was Houseman-Houssein da erzählte, hörte sich zwar verlockend an, war aber ein reines Todeskommando. Genausogut hätte man sagen können: Geh zu Gadhafi in sein Haus oder zu seinem Zelt und schieß ihn nieder. Das war unmöglich, sonst wäre es in den vergangenen dreiundzwanzig Jahren längst geschehen.

»Es geht nicht«, sagte Abdul nach langem Überlegen. »Es ist unmöglich. Wir bekommen die Sicherheitspolizei an den Hals. Bevor man sich die Blöße gibt, von einem Unbekannten Bombenmaterial zu kaufen …«

»Jeder Anbieter ist ein Unbekannter. Die Basis solcher Geschäfte ist die Anonymität. Das respektiert jeder Interessierte. Vor allem, wenn man ihm vier Kilo verspricht … Vier Kilo ist die kritische Menge zur Herstellung einer Plutoniumbombe der Größenordnung, wie sie auf Nagasaki gefallen ist.«

»Und wer soll den Vermittler spielen?«

»Der Deal wird über Paris und Marseille abgewickelt werden. Verhandlungspartner wird ein Monsieur René Duval sein. In Wirklichkeit heißt er Dick Fontana, Captain der CIA, und ist gerade in Paris eingetroffen, wo er sich Robert Fulton nennt. Repräsentant einer Likörfabrik.«

»Ziemlich kompliziert das alles«, versuchte Abdul, sarkastisch zu sein.

»Fontana spricht perfekt französisch, auch wenn er in Paris als Amerikaner radebrechen muß. Wenn Libyen mit ihm in Verbindung tritt, in Frankreich natürlich, sind wir außer Sichtweite deines Geheimdienstes.«

»Warum dann der Umweg über uns? Dieser Duval kann doch auch mit der anderen Seite – den Lieferanten – in Kontakt kommen.«

»Das könnte zu Schwierigkeiten führen. Eine Anfrage direkt aus Libyen ist glaubwürdiger als ein Franzose, der nur Zwischenhändler sein kann. Und wenn, wie wir vermuten, das Plutonium aus Rußland kommt, greift in Moskau unsere süße Victoria Miranda ein. Sie ist als neuer Kulturattaché schon in der Botschaft in Moskau eingetroffen. Mit anderen Worten: Wir werden einen Ring um den Nuklearschmuggel bilden, einen Kreis, aus dem es kein Ausbrechen mehr gibt! Und wenn wir dann einen eindeutigen Beweis haben, daß höchste Kreise in Rußland an dem Deal beteiligt sind, wird man auch Rußland zur größerer Wachsamkeit und effizienteren Sicherheitsvorkehrungen auffordern, auch wenn man dort alles leugnen wird – und das ist zu erwarten!«

»Ein Plan, bei dem sich mir der Magen rumdreht …«

»Angst, Abdul?«

»Ja. Ganz ehrlich: ja! Du kennst Libyen nicht. Wir sind keine naiven Wüstensöhne mehr … wir sind ein ganz und gar modernes Volk, das viel gelernt hat und im Chor der Weltmächte mitsingt! Unser Öl – nicht das Salatöl, sondern das Erdöl – hat uns mächtig gemacht. Was wäre die europäische Industrie ohne libysches Erdöl?« Abdul wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er schwitzte, und das geschah selten. »Unsere Geheimpolizei ist hervorragend, das kann ich wohl behaupten. Ich habe genügend Erfahrungen mit ihr.«

»Du machst also nicht mit, Abdul?«

»Ich muß wohl … aber ich steige sofort aus, wenn der Verdacht auf meine Firma fällt. Den Kopf mußt du hinhalten, Djamil Houssein … ich werde als der Betrogene dastehen, als der Getäuschte, und nicht verhindern, daß man dich jagt!«

»Welch eine Kameradschaft!« Houseman stand von seinem Gartensessel auf. »Okay, ich übernehme allein das Risiko. Unser Dreierbund – Fontana, Miranda und ich – werden das Kind schon schaukeln. Nur eines noch«, Housemans Stimme wurde sehr ernst, auch seine sonst eher fröhlichen Augen blickten kalt auf Abdul, »wenn du einen Fehler machst, wenn irgendwas durch deine Schuld schiefgeht, habe ich keine Hemmungen, dich umzulegen. Und deinen Ramunabat dazu! Alles ist wichtiger als dein fetter Arsch.«

Er ließ Abdul allein und ging in sein prächtiges Zimmer. Unter der Dusche stellte er fest, daß parfümiertes Wasser aus dem Brausekopf sprühte.

Daraj blieb sitzen und starrte vor sich hin.

Wie schnell sich ein Leben ändern kann …

Es dauerte eine Stunde, bis man Fontana bei Jean Ducoux vorließ.

Er hatte sich zwar telefonisch angemeldet und einen Termin genannt bekommen, aber als er im Hauptquartier der Sûreté empfangen wurde, sagte ihm ein Beamter, Ducoux sei im Augenblick in einer wichtigen Konferenz.

Das war die Unwahrheit. In Wirklichkeit saß Ducoux ins einem Büro, trank einen Pernod und rauchte eine Zigarre. Er hing düsteren Gedanken nach, düster deshalb, weil es um die Ehre Frankreichs ging.

Er war also da, der Amerikaner von der CIA. Mit aller Hochnäsigkeit würde er gleich ins Zimmer kommen und kundtun, daß die USA ihn geschickt hätten, um den Nuklearschmuggel effektiver zu bekämpfen. Damit wäre dann ausgedrückt – mit höflichen Worten –, daß die Sûreté ein Gartenzwergverein sei und er, Ducoux, eine Flasche, die man vergessen hatte, wegzuräumen. Diese persönliche Beleidigung vermochte Ducoux noch zu schlucken, aber daß man mit einer solchen Meinung Frankreich beleidigte, war nicht mehr zu akzeptieren.

Ducoux wandte eine uralte, aber immer wieder wirksame Taktik an: Er ließ den Besucher erst einmal schmoren, mitgebrachte Aggressionen verdampfen dabei. Vor allem aber zeigt man damit, daß man angestrengt arbeitet und auch bei einem CIA-Offizier keine Ausnahme macht. Ein Franzose ist zu stolz, um sich kritisieren zu lassen, und schon gar nicht von einem Amerikaner.

Ducoux genoß in aller Ruhe seine Zigarre und einen zweiten Pernod, ehe er einen Knopf auf seinem Schreibtisch drückte.

Der Vorzimmerbeamte nickte Fontana zu, der in einem Journal blätterte. »Sie können hinein. Der Chef ist da.«

Bereits beim Eintritt wußte Fontana, daß man ihn verschaukeln wollte. Im Zimmer hing dick der Zigarrenqualm, und es gab keinen zweiten Ausgang, den Ducoux hätte benutzen können – die Konferenz hatte er also mit sich selbst abgehalten. Er hatte Fontana bewußt eine Stunde warten lassen.

Mit einem breiten Lächeln ging Fontana auf Ducoux zu, der sich hinter seinem großen Schreibtisch erhoben hatte. Klein und dicklich wirkte er wie ein biederer Pensionär, dessen Lebensaufgabe es geworden war, Zierfische zu züchten.

»Ich heiße Sie in Paris willkommen, Mr. Fontana«, sagte Ducoux in einem halbwegs guten Englisch. Und er zuckte zusammen, als Fontana ihn sofort verbesserte:

»Ich heiße Robert Fulton, Sir, Fontana ist ein Name, den nur wir zwei in diesen Diensträumen kennen.«

Der erste Tritt! Ducoux spürte ihn fast körperlich wie einen Schmerz am Schienbein. Du arroganter Pinkel, dachte er. Aber warte: Ich trete zurück.

»Davon weiß ich nichts! Man hat mir keinen Robert Fulton avisiert, nur einen Dick Fontana.«

»Wer hat das gesagt?«

»Ihre Botschaft und Ihr CIA-Hauptquartier.«

Fontana-Fulton winkte lässig ab. »Typisch«, sagte er und grinste breit. »Wenn man ihnen zwei Dinge sagt, haben sie nach einer Stunde eines vergessen. Einigen wir uns darauf, daß man mich hier Fulton nennt. Bob Fulton.«

»Mir ist es egal, wie Sie heißen, also Fulton. Bitte, setzen Sie sich, Herr Fulton.«

Sie gaben sich kurz die Hand, und Fontana setzte sich, Ducoux blieb stehen. Auch ein uralter Trick: Wer steht, ist dem gegenüber, der sitzt, im Vorteil. Der Sitzende kommt sich kleiner vor, weil er nach oben blicken muß.

»Hat man Ihnen meinen Beruf genannt, wegen dem ich nach Frankreich gekommen bin?«

»Natürlich nicht.«

»Ich bin Repräsentant einer Likörfabrik in den USA, der mit einer neuen Kreation den Markt in Frankreich sondieren soll. Ein Spezialcocktail mit dem flotten Namen Ladykiller.«

»Sehr sinnig.« Ducoux verzog die Mundwinkel zu einem schwachen Lächeln. »Wenn das Ihr wahrer Beruf wäre, hätten Sie wenig Chancen, den französischen Markt zu erobern. Wir haben genug eigene Liköre und Cocktails.«

»Meinen Auftrag kennen Sie, Sir.« Fontana war nicht bereit, über Liköre zu diskutieren. »Die CIA ist der Ansicht, daß über Frankreich, vor allem über Marseille, Nuklearmaterial an gewisse moslemische Staaten verschoben wird.«

»Das wird vermutet! Bewiesen ist gar nichts.«

»Nach Ihren Berichten haben Sie einige Atomschmuggler festgenommen.«

»Nur mit Proben. Die größte Menge waren zweihundert Gramm Plutonium, aber wegen seiner Unreinheit nur bedingt waffenfähig.«

»Zweihundert Gramm sind alarmierend viel. Wo zweihundert Gramm sind, da gibt es auch noch mehr. Davon sind wir überzeugt.«

»Das waren auch unsere Überlegungen.« Nun setzte sich Ducoux Fontana gegenüber hin. Aber das war ein Fehler, denn was Fontana jetzt antwortete, war ein Grund, sofort wieder aus dem Sessel hochzuschießen.

»Dann war es – verzeihen Sie das offene Wort unter Kollegen – ein Fehler, den Dealer festzunehmen.«

Ducoux erstarrte innerlich. Diese Rotzjungen von der CIA! Werfen mir einen Fehler vor. Mir! Ich habe schon als Kriminalbeamter ermittelt, als dieser Fontana noch in die Windeln schiß!

»Was hätten Sie getan?« fragte er.

»Ich hätte so getan, als sei nichts bemerkt worden, und dann den Burschen Tag und Nacht beschattet, bis zur Übergabe seiner zweihundert Gramm an den Käufer – und dann zugegriffen. So hätte man doppelt zugegriffen: den Kurier und den Interessenten, und wir hätten andere Erkenntnisse gehabt als jetzt.«

»Es ging uns um die Sicherstellung des Plutoniums. Stellen Sie sich vor, wir hätten den Dealer aus den Augen verloren.«

»An so was soll man nicht einmal denken. Nun haben Sie das Plutonium, aber der Dealer konnte flüchten, alle Spuren sind verwischt. Die Herkunft des Nuklearmaterials ist nicht bekannt …«

»Unsere Laboratorien haben den Verdacht, daß es aus Rußland stammt.«

»Beweise?«

»Nein.«

»Also nur Vermutungen, damit kann man nichts anfangen. Es kann auch Plutonium aus Deutschland oder Frankreich selbst sein. Wo Atomreaktoren arbeiten, kann Plutonium gestohlen werden – also in ganz Europa. So werden die Russen argumentieren, wenn man ihnen den Atomschmuggel in die Schuhe schieben will.«

»Wir schieben keinem etwas in die Schuhe!« sagte Ducoux mit harter Stimme. Er war zutiefst beleidigt. »Wir alle wissen doch, daß in den GUS-Staaten, in Kasachstan, der Ukraine und anderen jetzt selbständigen, russischen Staaten die Bewachung von Plutoniumbeständen …«

Fontana winkte ab. Mit gerötetem Gesicht schwieg Ducoux. »Das wissen wir alles. Aber es fehlt der Beweis, daß russische Organisationen den Nuklearschmuggel aufgezogen haben. Wir haben nichts in der Hand außer chemische Analysen. Aber das ist zu wenig.«

»Und das wollen Sie nun ändern?« Ducoux' Stimme wurde schrill. »Sie wollen Beweise sammeln! Hier in Frankreich. Warum nicht in Deutschland? Dort hat man bis heute über hundert Fälle von Atomschmuggel aufgedeckt. Deutschland ist die Hauptstraße für den Ameisentransport. Und BKA und BND sind davon überzeugt, daß der Stoff aus russischen Atomwerken stammt. Der Weg über Polen und Tschechien weist eindeutig darauf hin.«

»Aber auch die deutschen Behörden werden sich hüten, zu sagen: Das kommt alles aus Sibirien oder aus der Ukraine! Dazu sind die politischen Auswirkungen zu wenig einschätzbar!«

»Der Bundesnachrichtendienst in Pullach weiß mehr, als er sagt.«

»Das bezweifle ich. In allen Papieren spricht man von Erkenntnissen … die CIA hält engen Kontakt mit dem BND. Wir wissen genau, was man dort weiß.«

»Falls man Ihnen die Wahrheit sagt, und das bezweifle ich. Die Kollegen in Pullach sind ausgefuchste Burschen! Die kochen auf geheimen Feuerstellen ihr eigenes Süppchen. Ich bin überhaupt der Ansicht, daß die Kommunikation der Geheimdienste untereinander mit nationalen Interessen belastet ist.«

»Das trifft dann auch für Sie zu.«

»Ab und zu …«

Ducoux schlug die Beine übereinander und umfaßte mit beiden Händen sein linkes Knie. »Sagt die CIA ihren Partnern alles?« fragte er.

»Nein. Inneramerikanische Probleme lösen wir selbst. Bei internationalen Problemen allerdings sind wir offen. Und Nuklearschmuggel geht die ganze Welt an! Ich glaube nicht, daß der deutsche BND uns Erkenntnisse vorenthält.«

Oh, ihr Amerikaner! Ducoux blickte an die Zimmerdecke. Ihr seid die größte Industrienation, ihr schießt Astronauten zum Mond, ihr bringt Spionagesatelliten in die Umlaufbahn der Erde, ihr seid die mächtigste Militärmacht der Welt, bei euch gibt es kaum ein Unmöglich … aber im Grunde seid ihr große Kinder geblieben. Glaubt nur weiterhin an eine Brüderlichkeit, die es unter den Völkern nie geben wird.

»Ich wünsche Ihnen bei Ihren Aufgaben viel Glück, Mr. Fulton«, sagte Ducoux und sah Fontana wieder an. »An uns soll es nicht liegen – wir unterstützen Sie, wo wir können.«

»Das höre ich gern, Mr. Ducoux.«

»Was haben Sie heute abend vor?«

»Nichts.«

»Wo wohnen Sie?«

»Im Hotel Monique.«

»Das ist auf dem Montmartre.«

»Ja. Ein sehr ruhiges und familiäres, kleines Hotel.«

»Aber in gefährlicher Umgebung! Da wimmelt es von hübschen und willigen Mädchen.« Ducoux gluckste. Sein Plan, Fontana von seinen Vorhaben weitgehend abzulenken, begann, Gestalt anzunehmen. »Ich weiß etwas Besseres. Ein Salon, ein Zirkel von Kulturliebhabern, ein Treffpunkt der besten Gesellschaft von Paris. Ein Tempel des Geistes und der Schönheit. Intern nennt man ihn den ›Roten Salon‹. Die Villa am Bois-de-Boulogne gehört einer Madame de Marchandais, eine Säule der Pariser Gesellschaft. In diesen kleinen, exklusiven Kreis kommt man nur durch Empfehlung.« Ducoux räusperte sich. »Hätten Sie Interesse daran, daß ich Sie in diesen Zirkel einführe? Sie werden wichtige Leute kennenlernen.«

»Das klingt verlockend.« Fontana nickte mehrmals. »Wenn ich in diesen Kreis hineinpasse …«

»Aber ich bitte Sie: ein Likörfabrikant aus den USA!« Ducoux lachte kurz auf. »Der fehlt uns noch in unserer Runde. Und Sie bringen frisches Blut in die Gemeinschaft! Möglich, daß Sie mit Ihrem Ladykiller Furore machen. Die Damen sind für alles Neue sehr aufgeschlossen.« Ducoux beugte sich vor und klopfte Fontana auf den Oberschenkel. »Lassen Sie sich überraschen! Ich hole Sie gegen einundzwanzig Uhr ab. Okay?«

»Okay.« Fontana gab ihm die Hand.

Es klappt, triumphierte Ducoux innerlich. Tannhäuser zieht in den Venusberg ein! Und ist er erst einmal in die Fänge von Madame und ihren Mädchen geraten, hat er mit der Gattin des Bankdirektors geschlafen oder eine wilde Nacht mit Jeanette, der Frau des Marmeladefabrikanten Verdante, hinter sich, wird ihn das mehr beschäftigen als die Jagd nach unbekannten Atomdealern. Er wird für uns keine Belastung mehr sein.

Das Leben ist ein Labyrinth, Mr. Dick Fontana.