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Man sollte das Leben nicht nach Jahren, sondern nach seinen schönen Stunden zählen dürfen. Doch je länger die große Uhr tickt, desto schwerer legt sich Beklemmung auf die Seele und macht den alten Menschen durstiger nach Freude und Schönheit als den jungen, der alles haben kann.

William und Jenny hatten vier Enkel: drei von Alice und Jim, der Dozent an der Kunsthochschule in Montreal war und seine Bilder gut und teuer verkaufte, und eins von Lucille, die einen Stadtbaurat geheiratet und alle Pläne von Beruf und Selbständigkeit freudig an den Nagel gehängt hatte.

Percy war seinem Vater inzwischen über den Kopf gewachsen. Er ging für die Farm durchs Feuer und würde sie eines Tages bestens verwalten. Alles hatte sich wundervoll geregelt für William. Doch da war diese Sehnsucht nach Leben in ihm, die immer stärker wurde. Nein, er brachte es nicht fertig, nur seinen Erinnerungen zu leben. Er hatte, wie alle seine Kameraden, diese Kriegsjahre drangeben müssen, sie hatten diesen Hunger in ihm genährt.

Die Träume von damals, die das Grauen erträglicher gemacht hatten, waren immer lebendig geblieben. Zwanzig Jahre war es her, seit die Menschheit wieder frei hatte atmen können. Zwanzig Jahre seit dem Waffenstillstand. Und schon wieder hielt die Welt den Atem an. Irrsinn lag in der Luft. Fanatismus hatte längst die Herrschaft angetreten. Aggression und Rachsucht, Dummheit und falsche Duldsamkeit begegneten sich und schufen die schrecklichen Voraussetzungen für einen neuen Weltbrand.

Aber in diesem furchtbaren Klima blieben die Leutchen ihren privaten Interessen verhaftet und brachten ihre persönlichen Schäfchen ins Trockene, als sei alles in Butter.

Als William Rockwell die Nachricht bekam, der Bär Kitchener sei erkrankt, beunruhigte ihn dies mehr als die politischen Schlagzeilen auf den ersten Seiten der Zeitungen.

Kitchener krank! Ein Farmer war nicht zimperlich. Tiere starben, wurden geschlachtet und gegessen, dienten dem Menschen in allem. Aber Kitchener war nun einmal kein gewöhnliches Tier, sondern ein Überlebenssymbol, eng mit dem eigenen Dasein verknüpft, Gleichnis für Kraft, Ausdauer und Mut. Und für das Wunder, das Zufall oder Bestimmung heißen mochte.

General Powell rief an und teilte William mit seiner Klarinettenstimme mit, er habe dem Londoner Zoo bereits eine angemessene Summe zugesagt, falls das Regimentsmaskottchen operiert werden mußte oder sonstwie eine kostspielige Behandlung vonnöten sein sollte.

Kitchener war krank!

Eines Morgens fiel Mr. Bear auf, daß sein riesiger Liebling nicht etwa behäbig faul in seiner Schlafnische ruhte, sondern flach atmend dalag, mit struppigem Fell und glanzlosen Augen.

Mr. Bear wußte, daß Bären sehr robust waren. Kleine Verstimmungen steckten sie fast mühelos weg. Sie erkälteten sich nicht und vertrugen auch ungewohnte Nahrung recht gut. Aber dieser Bär war krank. Jetzt zuckte er mit den Tatzen, öffnete die Schnauze, als wolle er Luft einsaugen, und blickte Bear trübe flehend an, als wolle er sagen: Hilfst du mir nicht?

Der Zoodoktor erschien. Die Presse machte sich über den Fall her. Die Berichte über den Bären Kitchener glichen denen über sterbende Staatsmänner. Da stand es: ›Kitcheners Zunge ist trocken, rissig und borkig belegt. Er hat heftige Frostanfälle. Magengeschwür vermutet.‹ ›Kitchener wird mit hydropathischen Breiumschlägen behandelt.‹ ›Bär erhält Codein! Pfleger Bear schwört auf ›Condurangowein‹! Diät aus Schleimsuppen, Fleischsalat, Somatóse und Tropon! Heilpraktiker empfiehlt ›nux vómica 3‹!‹ ›Arzt aus Birmingham zugezogen. Professor Spring ist eine Kapazität in Fragen der Zoologie!‹ ›Kanadisches Regiment schickt Spende für Kitcheners Behandlung! Der Bär soll durchleuchtet werden!‹

Kitchener ließ all die ungewohnten Prozeduren über sich ergehen, ohne aufzumucken. Er war ratlos. Ja, er wußte nicht, was mit ihm geschah. Ab und zu schüttelte er den Kopf und brummte. Es sah fast menschlich aus, doch war es nicht mehr als eine Reaktion der Hilflosigkeit.

Wie nähert sich der Tod einem Bären? Kitchener war ihm schon oft nahegekommen, als er in vorderster Frontlinie auf dem Posten gewesen war. Aber diesmal war es anders. Es gab nur noch Schmerzen, Hindämmern, Ergebenheit.

Die Diagnose Professor Springs ließ an Deutlichkeit nichts vermissen: »An der kleinen Magenkrümmung und in der Nähe des Pförtners eine ausgefranste Krebsgeschwulst in fortgeschrittenem Stadium. Durch Verengung des Zugangs zum Darm eine Magenblähung. Die Untersuchung des Mageninhalts ergab das Vorhandensein von Milchsäure und einer kaffeesatzähnlichen, schokoladenfarbenen Masse, verbunden mit einem gravierenden Mangel an freier Salzsäure. Metastasen …«

Der Zoodirektor und Professor Spring sahen einander fest an. Hier mußten sie eine Entscheidung treffen.

»Eine tüchtige Dosis Morphium würde ihm das Leben erleichtern. Eine Überdosis wäre in diesem Fall barmherzig«, sagte Spring ernst.

Der Direktor zuckte die Schultern und wandte sich ab. »Wenn es wirklich brenzlig wird, sind wir gewöhnlichen Sterblichen immer euch Medizinmännern ausgeliefert. Unser einziger Trost ist eigentlich, daß ihr auch sterblich seid«, versuchte er zu scherzen.

»Ihr gewöhnlichen Sterblichen schiebt die letzten Entscheidungen aber auch nur zu gern den geschmähten Medizinmännern zu«, konterte Spring.

Der Direktor ging leise aus seinem Büro und fuhr in sein Landhaus vor den Toren Londons. Zu seiner Frau sagte er: »Ich bin völlig erledigt. Dieser Bär war immer das aufwendigste unserer Tiere. Ein Regimentsbär eben.«

»Wieso war?« fragte sie.

Der Direktor holte tief Luft. »Reden wir nicht mehr davon.«

Sie nickte. »Vergiß bitte nicht, daß wir heute abend bei Churchills eingeladen sind, Eddie!«

Im Zoo trauerte Mr. Bear. Kitchener lebte noch, aber Mr. Bear trauerte bereits. Dies war nicht mehr der Kraftprotz und Pascha der vergangenen Jahre. Man hatte es nicht gezeigt, doch man wuchs eben zusammen mit so einem Tier, innerlich, mit den Jahren. Da tat dessen Schmerz einem selber weh, und nun fühlte man sich plötzlich einsam, weil es einen schon verlassen hatte. Wie eine chinesische Meditationsfigur saß Mr. Bear in seinem Dienstzimmer und wachte.

Kitchener lag still und teilnahmslos in seiner Lieblingsnische. Die Bärinnen waren in ihren Käfigen. Die beiden Ärzte hatten sich verständigt. Kitchener röchelte. Speichel tropfte aus seinem Maul. Die Augen waren glasig auf einen fernen Punkt gerichtet. Sein braunes Fell sah räudig aus.

Die beiden Ärzte sahen sich an und nickten einander zu.

Das Telegramm nach Toronto an das 159. Infanterieregiment von Ontario lautete: »Kitchener ist tot stop.« Es war am 16. Juli 1938.

In Europa hatte sich bereits das Verhängnis zusammengebraut. Hitler verfolgte strikt seine Politik der ›Eroberung neuen Lebensraumes‹. Im Antikominternpakt habe er sich mit Japan verständigt, mit Italien die ›Achse Berlin-Rom‹ begründet. Das deutsche Heer wurde im Oberkommando der Wehrmacht gleichgeschaltet, Österreich ›heim ins Reich‹ geholt. Es gab schon Hitlers Geheimbefehl an die Wehrmacht zur ›Zerschlagung der Tschechoslowakei‹, und die Konferenz von München stand vor der Tür. Chamberlain und Daladier glaubten noch an eine Wendung zum Guten, wenn man dem braunen Herrscher nur etwas Auslauf gönnte.

Trotzdem blickten die Menschen in England gerührt auf die Nachricht vom Tod des Regimentsbären Kitchener. Sie schüttelten die Köpfe. Die Älteren dachten flüchtig zurück an die Kriegszeit. Gott sei Dank, das war ausgestanden! Es sah zwar nicht gut aus in der Welt, aber wann sah es denn schon wirklich einmal gut aus? Nein, jeder mußte versuchen, dem Leben kleine Freuden und Erlebnisse abzuluchsen, jeden Tag aufs neue, denn das Dasein bestand nun einmal aus vielen einzelnen Tagen und unzähligen neuen Anfängen.

In den Zeitungen war Kitchener abgebildet mit Fotos aus seinen Glanzzeiten, mit Rose, auf den Hinterbeinen stehend und winkend – und natürlich fehlte das vergilbte Foto nicht, auf dem der ulkige Bursche mit seinem Regiment posierte und einen Stahlhelm trug.

Die Leute schmunzelten und meinten, der habe sein Leben mal wirklich gelebt! Dann gingen sie zur Tagesordnung über, wie es sich gehörte.

Auch die Betroffenheit in Kanada hielt sich in Grenzen. Klar, jeder mußte mal abtreten. General Powell ließ natürlich die Fahnen auf halbmast setzen. Die Männer, die mit in London gewesen waren, durften sie herablassen. Powell ließ antreten und krähte einige markige Worte. Ihm ging Kitcheners Tod schon nahe, denn mit dem Tier schien auch ein Stück seines eigenen Lebens dahingegangen zu sein. Er biß aber die Zähne zusammen, mahlte mit den Kieferknochen, reckte sich zwei Zentimeter höher als üblich und bewahrte Haltung.

Zu diesem Zeitpunkt lag William Rockwell in seinem breiten, niedrigen Bett und wartete. Percy stand wie angewurzelt am Fußende des Bettes, eine kräftige, ländlich wirkende Erscheinung. Er blickte den Vater aus denselben hellen Augen an, die dieser gehabt hatte, als er noch gesund und kräftig war. Nun war Williams Blick trübe. Aber er lächelte gefaßt, ja gelassen seiner kleinen Jenny zu, deren Gesicht vor Kummer geschrumpft zu sein schien. Ganz klein und grau war es, und die Lider hatten rote Flecken, die William verrieten, daß sie heimlich geweint hatte.

William hatte sich ein zusätzliches Kopfkissen unterschieben lassen, so daß er fast saß im Bett. Auf Umwegen erwischte ihn der längst vergangene Krieg jetzt doch noch. Ein Splitter hatte sich vereitert. Ein Blutgerinnsel war auf Wanderung durch den Körper gegangen und hatte das Herz erreicht.

Das Reden fiel William schwer. Die Puste war knapp. Trotzdem fand er, daß sie alle ein bißchen zu viel Aufhebens um ihn machten. »Percy?«

»Ja, Dad?«

»Wirst du es schaffen, mit Mom zusammen?«

»Mach dir bloß keine Sorgen, Dad!«

»Tu' ich nicht. Söhne, Tochter, eine liebe Frau, ein Haus, ein Lebenswerk, ein bißchen Wohlstand und viele glückliche Stunden – das war schon etwas. Da kann ich dankbar sein. Ein bißchen Gesundheit hätte ich mir gern noch gewünscht. Aber alles bekommt man eben nicht.« Er seufzte.

Jenny trat zu ihm und wischte ihm den Schweiß von der Stirn.

»Jenny, du warst immer eine gute Frau.«

»Sprich nicht so … in der Vergangenheit, William Rockwell. Nimm dich gefälligst zusammen«, sagte sie möglichst forsch.

Tatsächlich mußte er lächeln. »Nun guck' sich einer diese kleine Person an! Immer groß den Schnabel auf. Hör immer gut zu, was sie sagt, Percy, das lohnt sich allemal. Ich weiß es.«

»Bestimmt, Daddy.«

»Jenny«, fuhr William fort, »ich war manchmal ein ungehobelter Klotz. Oft hast du sicher gedacht, dem könnte ich mal eine langen, aber dann hast du geschwiegen und nach einer Stunde wieder gelächelt. Ich habe das alles wohl gemerkt. Mit einer solchen Frau kann ein Mann Bäume ausreißen. Mit einer Frau wie Mom zur Seite, Percy, wird aus einem normalen Mann ein Sieger. Merk dir das, wenn du mal ans Heiraten denkst.«

»Bestimmt, Dad!«

»Jetzt mach aber mal einen Punkt, William Rockwell«, sagte Jenny möglichst streng und klopfte ihm die Kopfkissen zurecht. »Ich werde ja richtig verlegen. Soll ich nicht doch lieber Lucille und unseren Jim anrufen? Nur so, damit sie dir gut zureden?«

»Also meinetwegen. Mach nur. Sie sollen auch die Gören mitbringen. Ich will sie alle noch einmal sehen.« Erschöpft hielt William inne. Er röchelte leise.

Jenny ging auf die Diele hinaus und ans Telefon. Sie verständigte auch ihren Hausarzt, daß es schlimmer geworden sei. Sie weinte nicht mehr. Zu lange hatte sie bereits um William gebangt. Alle Tränen sind geflossen, dachte sie. Fürs erste. Vielleicht werde ich später wieder dieser Wohltat teilhaftig. Irgendwann werden die Tränen wieder fließen. Jetzt brauche ich alle Kraft, meinem geliebten Mann seine letzten Stunden und Tage zu erleichtern. Daß William sterben mußte, stand für sie fest.

Und er wußte es auch.

Bevor Sohn und Tochter eintrafen, kam überraschender Besuch. General Powell stand in der Tür. »Na, wie geht's unserem Patienten?« schmetterte er. Wenn er erschrak bei Williams Anblick, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

William verzog sein Gesicht zu einer Art Lächeln. »Ich will auf meine alten Tage nicht extra lügen«, grinste er schief. »Mir ist's schon besser ergangen.«

Jenny schob Powell einen Stuhl ans Bett und gab ihrem jüngsten Sohn einen Wink mit den Augen. Sie verließen beide das Zimmer. Jenny wußte, wieviel diese Kameradschaft ihrem Mann bedeutete. Eine Frau konnte das nie nachfühlen. Es mußte etwas sein, das fast in den Tod hineinragte. Die gemeinsame Gefahr vielleicht, die sie damals ausgestanden hatten.

»Wußten Sie schon, daß der alte Rockwell abfährt? Oder hat Ihr Besuch eine andere Bedeutung als Abschied?« fragte William.

»Ich … also … nun ja, ich wollte Sie einfach mal so überfallen …«

»Überfallen … Tscha, ein Überfall auf mich würde sich nicht mehr lohnen. Ich bin groggy.«

»Soweit ist es noch nicht, William!«

»Schon gut. Ich bin im großen und ganzen nicht unzufrieden.«

»Ich auch nicht. Nicht privat. Aber es sieht nicht gut aus in der Welt. Europa ist mehr als ein großes Pulverfaß. Und wir beide wissen ja nur zu gut aus eigener Erfahrung, daß wir hier in Kanada nicht weit vom Schuß sind. Ich denke mit Besorgnis an all die Söhne, auch an meinen Schwiegersohn.«

»Ich habe zwei Söhne und einen Schwiegersohn«, murmelte Rockwell, »möge Gott ihnen dieses Schicksal ersparen.«

»Amen.«

»Was wollten Sie nun wirklich, Herr General?«

Powell holte tief Luft. »Also gut. Ich wollte es Ihnen persönlich bringen …« Er fummelte in der Tasche herum, und dann legte er das Telegramm aus London auf die Bettdecke.

William Rockwell sah nur flüchtig darauf hin, ohne es zu lesen. »Kitchener ist tot?«

»Ja. Ich habe schon mit London telefoniert. Es war Krebs. Er hat nicht gelitten.«

William Rockwell schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, glänzten sie unnatürlich. »Ist der alte Bursche mir also vorangegangen. Ob Bären wohl in den Himmel kommen? Ob es da eine besondere Bärenabteilung gibt? Vielleicht eine Art himmlischen Zoo mit Freigehege und täglichen Gaben von Mirabellen Marke ›Goudben und Co.‹ aus Los Angeles? Wissen Sie noch, wie wir ihn fanden? Der Micklewhite wäre fast umgekommen vor Lachen. Und wir haben sicher nicht oft im Leben so dämlich aus der Wäsche geguckt wie damals …«

»Ich war noch Leutnant. Es hatte wochenlang gegossen. In Strömen. Die Deutschen pumpten ihre Stellungen leer«, sagte Powell versonnen.

»Ich habe oft daran gedacht.«

»Ich auch. Wir werden dieses Jahr zum ›Kitchener-Tag‹ eine große und besonders festliche Parade machen. Erholen Sie sich also bitte möglichst fix, damit Sie dann wieder auf den Beinen sind.«

William lächelte ein wenig. »Wir beiden brauchen uns doch nichts vorzumachen. Meine Uhr tickt nicht mehr lange. Ob es etwas mit Schicksal zu tun hat, daß Kitchener gerade jetzt gestorben ist?«

»Wer will das wissen?«

»Ich möchte es schon gern wissen. Überhaupt gibt es eine Menge Fragen, auf die ich noch keine Antwort bekommen habe.« William schloß die Augen. Seine Hand krampfte sich auf der Decke zusammen. Aschfahl wurde die Haut. Offenbar litt er furchtbare Schmerzen.

Powell erhob sich leise und wollte auf Zehenspitzen hinausschleichen.

Da flüsterte William Rockwell: »Die Parade … Ich werde im Geiste dabei sein.«

Powell wandte sich noch einmal um und sagte sehr laut und fest: »Das weiß ich. Ohne Sie könnte diese Parade gar nicht stattfinden, mein Freund.«

Auf der Diele erwartete ihn Jenny. Ihre Augen spiegelten alles Leid der Welt, und Powell legte ihr den Arm um die Schulter. Trost konnte er nicht spenden, doch sollte sie wissen, daß ein Teil der Freundschaft, die sich zwischen ihm und William Rockwell im Laufe der vielen Jahre entwickelt hatte, auch ihr gehörte.

Zu William Rockwells Beerdigung erschien eine Abordnung des 159. Infanterieregiments von Ontario. Auf dem kleinen Friedhof von Port Hope, während die Glocke der kleinen Kirche eintönig läutete, senkten sich die Fahnen.

Lucille schluchzte. Jenny und Jim standen steif und ernst, mit trockenen Augen, nebeneinander. Der Pfarrer erhob die Stimme: »Zwar bist du groß, Mensch, aber klein vor Gott. Du wanderst mit im ewigen Zuge der Natur, von diesem Leben in ein anderes Leben, das wir Sterblichen nur erfassen können durch unseren Glauben.«

General Powell trat vor und sprach: »William Rockwell, deine Seele war immer für Wunder offen. Du hast auch im niedrigsten Geschöpf die Größe der Schöpfung erkennen können. So aufrichtig und treu, wie du dein Leben lang warst, werden wir über den Tod hinaus zu dir stehen. Leb wohl, alter Kamerad!«

An dem riesigen Kranz des 159. Infanterieregiments, den zwei Mann tragen mußten, war auch ein kleines, vergilbtes Foto befestigt: Soldaten in strammer Haltung; sie waren mager, zeigten lachende Gesichter und hatten in ihrer Mitte einen Bären, der einen flachen Stahlhelm trug.

Powell machte sein Versprechen wahr. Die Parade am zwanzigsten Jahrestag von Compiègne wurde ganz groß aufgezogen. General Powell stand auf der Tribüne, die bis zum letzten Platz besetzt war mit Veteranen und ihren Angehörigen. Die geputzten und gewienerten Uniformen der Soldaten glänzten in der Sonne. Die Kapelle spielte zackig den Kitchener-Marsch. Die Fahnen knatterten. Alles wirkte bunt und heiter. Nichts wies darauf hin, daß es da die dunkle Seite gab aus Krieg und Abschied und Sterben.

Im kleineren Kreis aber ging später das Hauptereignis dieses 11. November 1938 in Szene.

Auf dem Kasernenhof fand es statt. Da waren die Veteranen noch einmal angetreten, manche schon ein wenig dick um die Taille, ein bißchen runzlig, nicht mehr ganz gerade, weil die Knochen nicht mehr so wollten und Rheumatismus in den Muskeln saß.

An der offenen Seite des Karrees standen Stühle für die Damen. Hier hatte auch Jenny Rockwell Platz genommen, sehr blaß in ihrem schwarzen Mantel. Sie hielt sich tapfer, wußte sie doch, was sich gehörte. Es war Aufgabe der Frauen, Haltung zu bewahren und zu schweigen, wenn die Männer die Welt irgendwo wieder einmal anzündeten.

Junge Soldaten schossen Salut. Trommeln wirbelten. Die Fahnen, die auf halbmast wehten, wurden hochgezogen. Sie flatterten im Wind.

General Powell stand klein und drahtig da und grüßte in die Ferne. Er grüßte in Gedanken sein geliebtes Land mit den Städten und Dörfern, den Seen und endlosen Feldern, den eisigen Wintern und den von Fruchtbarkeit berstenden Sommern. Er grüßte seine gefallenen Kameraden und dachte an William Rockwell und auch an den eigenen Tod, der hoffentlich noch lange nicht kommen würde.

»Männer!« rief er mit heller Stimme, und diesmal wuchs er um mindestens zwei Zentimeter. »Männer! Wir alle haben unser eigenes Leben, aber es gab eine Zeit, da lebten und überlebten wir gemeinsam, Schulter an Schulter. Diese Jahre waren so intensiv, daß sie uns für immer miteinander verbinden. Damals hatten wir noch einen Kameraden, und an den wollen wir heute denken. Es war ein Bär. Und wir tauften ihn Kitchener. Natürlich ist ein Tier ein Tier und kann und darf nicht als Mensch angesehen werden. Aber manchmal frage ich mich: War Kitchener wirklich nur ein einfacher Bär?«

Alle lachten.

Powell fuhr fort: »Und wenn er ein Tier war, dann doch zumindest ein ganz besonderes. Schließlich kann nicht jeder Bär ein Regimentsbär und Wappentier werden. Kitchener war treu, tapfer und schlau, das sind gute Eigenschaften für einen Soldaten. Und auch sonst, denke ich. Nun ist unser Maskottchen gestorben. Aber wir vergessen es nicht.«

Wieder wirbelten die Trommeln. Dabei wurde das weiße Tuch von einer großen Figur herabgezogen, und da stand also das nagelneue Denkmal auf dem Hof der Kaserne.

Ja, es war Kitchener, wie er leibte und lebte, auf den Hinterbeinen stehend, mit den Vorderpfoten winkend, mindestens zwei Zentner schwer und nunmehr ganz das, was er eigentlich schon zu Lebzeiten gewesen war: ein Symbol.

Powell sagte: »Wir haben alle noch einmal tief in die Tasche gegriffen, um diese Plastik in Auftrag geben zu können. Der Künstler heißt Jan Steen und ist ein Freund und Kollege von Jim Rockwell, dessen Vater, wie wir alle wissen, besonders eng mit Kitchener verbunden war. Er hat ihn entdeckt, geführt und später noch einmal in London besucht. So schließt sich nun der Kreis. Ein dreifaches Hurra für Bär Kitchener!«

Sein Adjutant übergab ihm einen großen Strauß gelber Rosen, die er feierlich Jenny Rockwell überreichte.

Das Fest war zu Ende. Das Leben nahm seinen gewohnten Gang.

Im Londoner Zoo zog bald darauf ein neuer Bärenmann ein. Er war nicht ganz so mächtig wie Kitchener und natürlich auch nicht so populär. Manchmal fragte wohl noch ein Besucher: »Ist das der Regimentsbär aus dem ersten Weltkrieg?« Dann schüttelte Mr. Bear traurig den Kopf.