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Als Madame Tissot die Aula betrat, verstummte das Stimmengewirr augenblicklich. Erwartungsvolle Stille breitete sich aus. Sie schien die zitternde Erregung in dem hohen, hellen Raum aufzunehmen und zu tragen, bis sich allen Festgästen etwas davon mitgeteilt hatte.

Madame nahm ihren Platz auf dem Podium ein. Auf ihr Zeichen hin brauste Orgelklang auf. Alice senkte die Lider. Wie immer, wenn die Orgel einsetzte, kamen ihr die Tränen. Es war ein reiner Reflex, obwohl heute durchaus auch wirklich Grund bestand, gerührt und traurig und froh zu sein.

Der Chor des Internats hatte sich rechts vom Podium aufgestellt, lauter frische, reizvolle Mädchen, kleinere und größere, in schwarzen langen Röcken und weißen Blusen mit Spitzeneinsatz, Haare in Blond, Rot, Braun und Schwarz, weiße und rosa Haarschleifen, gerötete Wangen, aufmerksame Blicke. Heute waren viele Ehrengäste versammelt. Der Chor des Internats durfte sich nicht blamieren. Herta Donn, die Leiterin, breitete die Arme aus, als wolle sie ihre winzige Person in den Strom der Melodie werfen, und die Mädchen jubilierten: »… und Sänger und Maler wissen es, und es wissen's auch andere Leut'. Und wer's nicht malt, der singt es. Und wer's nicht singt, dem klingt es im Herzen vor lauter Freud'!«

Nach dem letzten Pianissimo hatte Herta Donn wieder Tränen in den Augen, und die kleine Gräfin Laffert, die das Solo gesungen hatte, erntete ein überschwengliches Lächeln ihrer Lieblingslehrerin.

Madame Tissot erhob sich. Schwarzes Kleid, Stehkragen, goldene Brosche. Mit herzlichen Worten verabschiedete sie die zehn jungen Damen, die nun also erfolgreich das Internat durchlaufen hatten und heute in die Welt hinausgingen, zurück zu ihren Familien, als Gattinnen zu bereits wartenden Verlobten, in irgendeinen Schutzraum, und wenn es der leere Luxus war, den eine leichtlebige, reiche Mutter und ein unsteter, reicher Vater für das fast erwachsene Mädchen als Übergang in eine reiche Ehe bereitstellten.

Alice Kellenhusen war eine der zehn jungen Damen, die bei Madame Tissot den letzten Schliff bekommen hatten. Sie konnten nun Englisch und Französisch parlieren, Handarbeiten der feineren Sorte beherrschten sie, auch etwas Mathematik, Physik und Geographie für den Hausgebrauch. Sie konnten selbstverständlich tanzen, reiten und Tennis spielen. Sie wußten, wie man Gäste einlud, Tische deckte, Dienstboten anwies und leitete. Sie wußten alles. Sie waren fromm und erstklassig erzogen. Ein Schmuck für jedes Haus.

Einzeln wurden sie aufgerufen und traten vor, um ihr Abgangsdiplom entgegenzunehmen. Mireille Gelin, die ›Bohnenstange‹, Grit Rasmussen mit der winzigen skandinavischen Nase und den blonden Locken, Annedore von Schack und Gundi Mafien. Diese vier und Alice waren innerhalb der Klasse enge Freundinnen geworden. Nun trennten sich ihre Wege. Mit achtzehn Jahren stand ihnen die Welt offen. Sie wollten sie aus den Angeln heben, alles anders machen als die Mädchen vor ihnen. Immerhin schrieb man das Jahr 1928. Der alte Zopf war ab. Mädchen waren selbstbewußt. Sie trugen Bubikopf und rauchten Zigaretten aus langen Spitzen.

Natürlich würden sie heiraten, doch sie wollten sich nicht mehr die Butter vom Brot nehmen lassen. Nun, in ihren Kreisen hatten die Frauen schon immer mehr Freiheiten genossen als in der Mittelschicht. Aber die Ausbildung in einem Schweizer Internat öffnete auch jetzt noch alle Türen.

Alice stolperte leicht, als sie vortrat, glücklicherweise mit dem linken Fuß, das sollte ja Glück bringen.

Mit einer leichten Andeutung eines Knickses nahm sie ihr Diplom entgegen. Ihre dunklen Augen richteten sich für zwei Sekunden ungestüm auf Madame Tissot, ehe sie sie niederschlug, und Madame dachte einmal mehr, daß dieses reizende, zierliche Geschöpf mit den anmutigen Bewegungen und dem hellen Verstand etwas Unwägbares hatte, das leider, leider vom väterlichen Erbe stammen mußte. Man hatte sie von ›dieser Geschichte‹ dezent unterrichtet.

Alices Familie war nicht zu ihrem Ehrentag erschienen. Man wußte, daß sie Waise war und bei ihren Großeltern leben würde. Die Herrschaften waren unabkömmlich auf ihrem Gut. Sie hatten Glückwünsche geschickt und das Geld für die Bahnfahrt in einem speziellen ›Damenabteil‹ erster Klasse.

Alice freute sich gar nicht, daß die Zeit in Bern vorüber war. Es war herrlich gewesen für ein Mädchen, das keine Geschwister hatte und keine Eltern und diese sehr kühlen Großeltern, hier auf Wärme und Freundschaft und Zuwendung zu treffen.

Aber natürlich durfte man nicht zeigen, daß man sich ein wenig graulte vor der Rückkehr nach Gut Thießendorf. So drückte sie ihre Nelken an sich, nahm sich zusammen und hielt den Kopf hoch. Nur keine Bange! Ich werde es schon meistern, dachte sie. Das wäre doch gelacht, wenn ich es nicht schaffen könnte!

Nachmittags bummelten die vier Freundinnen noch einmal die Gerechtigkeitsgasse entlang. Der Bärenplatz, der Käfigturm: Namen, die jedesmal etwas in Alice zum Klingen brachten. Eine wehmütige und berauschende Erinnerung an frühe Kindheit, an Vater und Mutter und an eine Zeit, die sie fest in sich verschlossen halten mußte.

Die kleinen silbernen ›Backfische‹ mit ihren beweglichen Gliedern, die sie an dünnen Kettchen getragen hatten, schmückten seit gestern bereits die Hälse der Dreizehnjährigen, die gerade stolz ins Backfischalter eingestiegen waren.

Sie löffelten Eis mit Sahne und Früchten, kicherten und tratschten noch einmal – wie sonst auch. Und doch war alles anders. Zum letztenmal. Alle ahnten, daß ihre Wege sich trennten, vielleicht endgültig. Sie mußten üben, Abschied zu nehmen, wie sie's später in ihrem Leben noch oft tun würden.

Grit und Annedore wurden schon von ihren Eltern im Hotel erwartet. Sie reisten früher als Alice ab. Gundi besuchte ihre ausgedehnte Familie in der Schweiz. Nur Mireille brachte Alice zur Bahn am anderen Morgen, an dem Bern sich noch einmal von seiner schönsten Seite zeigte: der Rosengarten und das Aareufer, der Botanische Garten und das Münster, die malerischen Gassen der Altstadt und die Sonne darüber. Und François an der Sperre, mit einem Kasten Pralinen und einer Rose in der Hand und einem Küßchen auf die Wange und dem Versprechen zu schreiben, lange, lange Briefe, vielleicht gar ein Wiedersehen?

Umarmung mit Mireille, Ansturm von Tränen, das Abteil, Winken. Rattata, rattata … Der Zug rollte, und ein Kapitel war abgeschlossen.

Alice lehnte sich zurück und schloß die Augen. Aber bereits auf der nächsten Station stieg eine Pastorenfrau zu mit einem lebhaften, etwa zehnjährigen Bengel, der ungezogen und quengelig war und in Alice die Überlegung auslöste, daß besser als so eine Nervensäge auf jeden Fall gar keine Geschwister waren.

»Wohin reisen Sie denn?« fragte die junge Pastorenfrau.

»Nach Hause. In Norddeutschland«, sagte Alice einsilbig.

»Das muß doch sehr aufregend sein, allein eine so weite Reise zu machen?!«

»Ich bin an Reisen gewöhnt.«

Das stimmte und stimmte nicht. Als sie klein war, ja, da war sie unentwegt auf Achse gewesen. Ihre Mama, Tochter aus erstklassigem Hause, war eines Tages, blutjung, mit einem Mann durchgebrannt, den Großmutter nur ›den Vagabunden‹ nannte, wenn sie ihn überhaupt einmal erwähnte.

Der Vagabund war Alices Vater. Sie hatte eine vage, aber wilde Erinnerung an ihn: braun, groß, dunkel, lebhaft, schwarze Locken, blitzende Zähne, starke Arme, die das Kind hochhoben und herumschwenkten, Schultern, auf denen man reiten konnte. Strenge, wenn er verlangte, sie solle dies oder das üben, Flicflac, reiten, auf das galoppierende Pferd springen, seiltanzen. »Du mußt doch etwas von meinem Zirkusblut geerbt haben, Lica«, hatte er oft gestöhnt und dabei gelacht, und ihre zarte Mutter hatte ihn angestrahlt und zu bedenken gegeben: »Lica ist auch meine Tochter, Eric. Wie ich braucht sie ein bißchen Zeit, um alles zu lernen.«

»Sie fahren sicher zu Ihren Eltern?« fragte die Pastorenfrau neugierig. Der Bengel bemühte sich, den Fenstergurt abzureißen.

»Meine Eltern sind tot.«

»Oh!«

Diese Wirkung kannte Alice. Da verstummten die Leute. Eine Waise fragte man besser nicht allzu sehr aus. Traurig, traurig. Ja, der Vater war eingezogen worden und in Rußland gefallen, und dann hatte auch ihr winziges Zirkusunternehmen mit den vier Wohnwagen und dem Zelt, das von allen Artisten auf den Dorfplätzen aufgeschlagen wurde, Pleite gemacht. Es gab zu wenig Publikum. Und es gab nichts zu essen. Und kein Futter für den Bären. Der Bär war die Attraktion des ›Zirkus Moretti‹ gewesen. Tief in ihrem Herzen bewahrte Alice die Erinnerung an die große Nummer vor der Pause: Ihr Vater als Harlekin turtelte mit ihrer Mama als zarter Colombine im Tütü, und dann brach der Bär in die Manege ein und verfolgte Colombine, die sich auf das Drahtseil hoch oben rettete, und während sie oben balancierte und zierlich einen Seidenschirm hochhielt, spielte sich unten im Sand der Manege ein Schaukampf zwischen Harlekin und Bär ab, mit Verfolgungen und einem Ringkampf als Höhepunkt, den Harlekin gewann. Und während der Bär still im Staub lag, tanzten Harlekin und Colombine um ihn herum. Dann durfte er sich erheben, und alle drei nahmen den Beifall des Publikums entgegen.

Ihr Bär hatte Ursula geheißen, eine Bärin, und als die Großeltern ihre verlorene Tochter und das Enkelkind heimholten nach Thießendorf, da war Alices kleine Welt verschwunden wie ein Traum. Sie hatten ihr nicht einmal gesagt, wohin sie Ursula gebracht hatten.

Ihre zarte Mama hatte wohl schon die Schwindsucht in sich getragen die ganze Zeit über. Großmutter hatte Ärzte konsultiert und Kreuztee zubereiten lassen, und Alice hatte ihre Mutter nur noch aus einiger Entfernung sehen dürfen und war untersucht und mit etwas auf dem Rücken eingerieben worden, und es hieß: Gott sei Dank, das Kind ist gesund. Und dann war Mama auf dem Friedhof im Erbbegräbnis beigesetzt worden. Alice versteckte das einzige Bild, das sie von ihren Eltern besaß: Mama mit übergroßen dunklen Augen. Der Vater trug einen Zylinderhut. Beide lächelten auf eine sonderbar hochmütige Art, als wollten sie sagen: Was wißt ihr denn?!

Vom Zirkus Moretti wurde nie wieder gesprochen in der Familie Kellenhusen. Die Großeltern adoptierten Alice. Sie hieß nun Alice Kellenhusen.

Als die Pastorenfrau ausstieg, wobei der Bengel Alice noch schnell absichtlich auf den Fuß trat, stiegen zwei lebhafte Damen zu, die sich angeregt unterhielten und damit einen angenehmen akustischen Hintergrund abgaben, zusammen mit dem Rattern der Bahn, so daß Alice fast einschlief.

Zweimal mußte sie umsteigen. Als sie schließlich in der Bummelbahn saß, nun natürlich nicht mehr in einem speziellen Damenabteil, sondern in der ganz gewöhnlichen ersten Klasse, da erfüllte sie doch plötzlich so etwas wie Heimweh oder Wehmut oder was es auch war. Die Landschaft war so weit, mit Feldern und Waldstücken und einem blassen Horizont. Es roch anders, wenn sie sich aus dem Fenster lehnte. Herber. Nach Kraut und Wind und See.

Als sie ausstieg und der alte Budder die Mütze abnahm, ihre Reisetasche ergriff und sie zu dem Einspänner führte, vor dem ›Miene‹ stumpfsinnig auf das ›Hüh!‹ wartete, da erfüllte sie plötzlich Vorfreude. Ich habe doch ein Zuhause, dachte sie. Ich habe keine Eltern mehr, aber eine Heimat habe ich. Sie ist hier, wo der Blick den ganzen Himmel umfassen kann. Ich bin jung. Das Leben liegt vor mir. Ich werde glücklich sein! »Mein Gepäck!« fiel ihr ein. »Ich hatte Koffer aufgegeben!«

»Da kümmert sich der Stationsvorsteher drum«, sagte Budder in unwahrscheinlich breitem norddeutschen Tonfall. »Wird nachher mit dem großen Wagen abgeholt.«

»Wie geht's denn so, Budder?«

»Tscha, danke der Nachfrage. Die gnädige Frau hat ihren Heuschnupfen. Sonst ist wohl alles in Ordnung.«

»Und bei Ihnen selbst?«

»Tscha, meine Frau ist nun schon ein Jahr tot. Muß so gehn. Meine Tochter ist in die Stadt gezogen. Der Sohn ist Tischler in Lübeck. Hat 'ne große Wohnung und vier Kinder.«

»Mein Gott, Budder, das mit Ihrer Frau wußte ich ja gar nicht.«

Er schwieg.

Die Felder lagen noch kahl unter der Frühlingssonne, aber der Wald hatte schon diesen silbergrünen Schimmer, den Farbton, den es in keinem Tuschkasten gab und den Laien beim Malen nie hinbekamen. Das Grün verriet sie.

Alice atmete tief die würzige Luft ein und beschloß noch einmal, glücklich zu sein und sich nicht verwirren zu lassen durch Kleinigkeiten. Trotzdem war sie sehr aufgeregt, als der Wagen das breite Tor passierte und den Kiesweg zum Schloß hinaufknirschte. Großmutter stand auf der Treppe und breitete zeremoniell die Arme aus. Neben ihr stand groß und rötlich und still der Großvater. Alice stieg eilig aus, sprang die Treppen hinauf und nahm die dargebotene Hand ihrer Großmutter, die sie wohlerzogen küßte.

Die Großmutter sah wider Erwarten gerührt aus, fast, als hätte sie geweint oder müsse Tränen unterdrücken. Doch dann fiel Alice Budders Bemerkung über den Heuschnupfen der ›gnädigen Frau‹ ein, und sie mußte lächeln. Natürlich, ihre Großmutter hatte die geschwollenen Schleimhäute vom Pollenstaub und nicht aus Rührung über die heimkehrende Enkelin. Selbst wenn sie gerührt gewesen wäre, hätte man es ihr garantiert nicht ansehen können. Sie wahrte Haltung. Sie hatte Beherrschung förmlich gepachtet. Es war undenkbar, sie sich im Geiste als ›Oma‹ oder gar als ›Omi‹ vorzustellen. Deborah Maryrose Hawks war Britin, und zwar eine, wie sie im Bilderbuch stand. Sie zog Alice an sich und küßte sie leicht auf die Wange. »Willkommen, Alice! Wir freuen uns.«

Der Großvater umarmte seine einzige Enkelin mit Wärme. »Ja, willkommen, Liebes. Schön, dich wieder hier zu haben«, sagte er.

Alice mochte ihn sehr gern. Ein Bundesgenosse konnte er jedoch nicht sein. Er stand nicht direkt unter Großmutters Pantoffel, doch gab es strenge Arbeits- und Zuständigkeitsteilung auf Gut Thießendorf. Erziehung war Großmutters Sache.

Alice fügte sich wieder ein in den Rhythmus des Hauses Kellenhusen. Sonderbar, dachte sie, daß ich hier wieder Kind bin.

Sie besuchte das Grab ihrer Mutter und legte Blumen nieder. Wieder erschütterte sie die Erinnerung an diese zierliche Frau, die wie ein Irrlicht durch ihr kurzes Leben gegeistert war. Alice hatte manche Erinnerung an sie, und doch konnte sie sich vor allem an die leichtfüßige Gestalt erinnern, die im Tütü vor dem Bären floh und leichtfüßig-vorsichtig auf dem Seil balancierte, das bunte Schirmchen als einzigen Halt in der Luft. Ja, so hatte sie wohl gelebt: intensiv und flüchtig zugleich. Alice wußte wohl, was die forschenden Blicke bedeuteten, mit denen ihre Großmutter sie ansah. Sie fürchtete an der Enkelin das Erbe nicht nur des Vaters, sondern auch der Mutter, die alles fortgeworfen hatte, was gute Erziehung und Fürsorge und ererbte Verpflichtung bedeuteten, und mit diesem Kerl auf und davon gegangen war. Aus Liebe! Welch abscheulicher Zustand, so außer sich zu geraten, daß man alle Rücksichten vergaß.

Alice kauerte sich zu dem Grabhügel ihrer Mutter hinunter, doch ernste Trauer wollte sich nicht einstellen. Nur diese sentimentale Regung, die auch ein wenig Selbstmitleid enthielt.

Abends, als sie traditionsgemäß am Kamin saßen, sagte der Großvater: »Die politische Lage spitzt sich immer mehr zu. Wir driften ins Chaos. Die Radikalen links und rechts kochen groß ab. Keine günstige Situation für uns. Deine Großmutter als Britin hat den Weltkrieg unbehelligt hier auf Gut Thießendorf zugebracht. Aber inzwischen installiert sich eine Form von Nationalismus, der bösartig und blind ist.«

Die Großmutter fuhr fort: »Wir leben zurückgezogen. Für uns ist das gut und richtig. Aber du bist ein junges Mädchen, eine junge Dame, die unter Menschen sein sollte. In der richtigen Gesellschaft natürlich. Sogar gegen einen Ball ist nichts einzuwenden, wenn er in einem guten Rahmen stattfindet.«

»Ich habe schon Bälle mitgemacht, Großmutter.«

»O ja, das meine ich doch. Was würdest du sagen, wenn wir dich für einige Zeit zu Tante Elizabeth nach London fahren ließen? Sie lebt in der Stadt und wird sich um dich kümmern.«

»Großmutters Schwester führt dort ein großes Haus«, ergänzte der Großvater.

Alice zögerte. »Ach, ich weiß nicht …« Am liebsten hätte sie gesagt, sie wolle nicht in fremden, großen Häusern leben, sie suche eine Heimat, die Wärme einer Familie, Geborgenheit und Zuneigung. Aber sie unterdrückte diese Bemerkung.

Die Großmutter lächelte auf ihre abgemessene Art. »Mit einem Wort: Wir haben dich bereits bei Tante Elizabeth angemeldet. Sie ist, wie du weißt, viel jünger als ich. War das Nesthäkchen. Ihr Mann, Onkel Ben, den sie schrecklicherweise alle Big Ben nennen, ist ein erfolgreicher Bankier. Sie führen ein großes Haus. Und sie haben keine eigenen Kinder.«

Der Großvater schmunzelte. »Deine Großmutter und ich haben uns übrigens auf einem Ball in London kennengelernt.«

Alice wurde rot. Sie wußte, daß an ihren Aufenthalt in London der Wunsch und die Erwartung geknüpft war, sie möge dort den richtigen Mann treffen. Einen Mann aus erstklassiger Familie, damit der Makel wieder ausgelöscht war, den ihre Mutter mit ihrer sonderbaren Wahl der Familie aufgeladen hatte.

»Wann werde ich reisen?« fragte Alice.

Die Großeltern atmeten sichtlich auf. Wahrscheinlich hatten sie gedacht, ihre Enkelin werde Schwierigkeiten machen oder zumindest an der Wahl des neuen Aufenthaltsortes herummäkeln.

»Wir dachten: in vier Wochen etwa, wenn es dir recht ist«, sagte Deborah Kellenhusen ungewohnt sanft.

»Schließlich möchten deine alten Großeltern auch einmal etwas von dir haben«, fügte Heinrich Kellenhusen hinzu.

Alice war selbst überrascht, daß sie schlucken mußte vor Rührung. Natürlich, diese beiden Menschen liebten sie auf ihre Weise. Sie waren etwas hilflos jungen Leuten gegenüber. Ein Sohn war bereits als Kind an Diphtherie gestorben. Die Tochter hatte sie eines Vagabunden wegen verlassen. Nun war hier die Enkelin, die einzige Brücke für sie in die Zukunft. Sie wollten keine Fehler machen. Außerdem gewann jeder, der einige Zeit mit ihnen zusammen war, den Eindruck, hier seien zwei Menschen sich selbst genug.

So verlebte Alice einige friedliche Wochen auf Gut Thießendorf. Sie ritt den Braunen, ließ sich von der Förstersfrau Milch von der Ziege kredenzen, spielte mit den beiden winzigen Hündchen, die Dinah, die Jagdhündin, zur Welt gebracht hatte, und stiefelte mit ihrem Großvater über die Felder.

Es war schön. Es war wunderschön. Alice liebte das weite Land und das breite, behäbige Leben darauf. Sie setzte sich bei schönem Wetter auf einen Hocker in den Park, um einen blühenden Goldregenbusch in Wasserfarben zu malen. Sie sprach wieder Plattdeutsch mit den Leuten. Ihre Haut hatte ein frisches Braun angenommen. Madame Tissot wäre entsetzt gewesen. Sie fand Farbe einfach ordinär. Aber Alice blickte in den Spiegel und sah, daß es ihr stand.

Sie betrachtete sich aufmerksam. Die hohe, runde Stirn, die dunklen, feuchten Augen, sehr groß und lebhaft, die winzige Nase und den kleinen Mund mit den vollen, etwas aufgeworfenen Lippen, der tatsächlich an eine Frucht denken ließ.

Ihr Busen war nicht groß, aber hübsch rund, die Taille gertenschlank, die Hüften rundeten sich mit Maßen. Die Beine – o ja, die Beine! Hier war Alice sich ganz sicher: Sie waren besonders hübsch. Das hatten sogar ihre Klassenkameradinnen bestätigt.

Irgendwann wird es mir auch ein Mann sagen, dachte sie und errötete. François in Bern hätte es natürlich nie gewagt, über Beine zu reden. Doch Alice wußte, daß es Männer gab, die es taten. Richtige Männer. Erwachsene Männer. Ein Mann, der eine Frau liebte und an sein Herz nahm … o ja! So einen Mann werde ich mir suchen, beschloß sie und plusterte mit beiden Händen ihre dunklen Locken auf. Ich werde ihm folgen, wohin er will. Und ich werde mich nicht beirren lassen. Von niemandem. Wie Mama!

Belinda im Internat, deren Mutter eine bekannte Schauspielerin war, hatte eine ›dunkle Vergangenheit‹ gehabt, was immer das sein mochte. Jedenfalls hatte sie nur verächtlich gelächelt, wenn die anderen Mädchen über ihre Zukunftserwartungen geredet hatten.

Irgend jemand hatte behauptet, Belinda habe sich vom Freund der Mutter verführen lassen und sei mit ihm durchgebrannt. Ein alter Mann von vierzig Jahren! Das war doch ganz und gar unglaubhaft! Außerdem hätte man es Belinda ansehen müssen. Irgendwie lasterhaft wäre sie erschienen. Aber sie sah frisch und rosig aus wie ein Pfirsich am Morgen.

Trotzdem: Etwas hatte Belinda ihnen vorausgehabt. Dieses Lächeln vielleicht. Und ein Wissen, das sich manchmal in kurzen Sätzen niederschlug. »Mit einem Kuß fängt es überhaupt erst an, das ist sozusagen die Einleitung«, hatte sie gesagt.

Der Satz ging Alice nicht aus dem Kopf, und wenn sie daran dachte, fühlte sie angenehm erschauernd Erwartung und Erregung. Leidenschaft! Ich will es groß und leidenschaftlich, als eine lodernde Flamme, und wenn ich darin umkommen sollte – wie Mama, nahm sie sich vor.

Bevor Alice abreiste nach London, nahm ihre Großmutter sie noch einmal in die Mangel. »Du bist keine reiche Erbin, Alice, mein Kind, vergiß das bitte nicht. Wir haben Thießendorf in Pacht. Auch das bedeutet eine große Verpflichtung, vor allem den Leuten gegenüber, deren Existenz davon abhängt, daß sie eine gute Herrschaft haben. Wenn du und der Mann, den du hoffentlich einmal finden wirst – aber das hat ja noch Zeit –, Thießendorf nicht selber bewirtschaften wollt oder könnt, so muß hier ein tüchtiger Verwalter her. Unser junger Mecksiepen könnte vielleicht das Format haben. Er kommt aus guter Familie und ist schon sehr tüchtig. Wie gefällt er dir?«

»Mecksiepen?! O Großmutter, ich habe ihn gar nicht richtig angesehen. Er ist so … so klein und rosig. Ich glaube nicht, daß ich ihn heiraten möchte.«

Jetzt wurde sogar Deborah Kellenhusen verlegen. »Alice, sei bitte nicht geschmacklos. Niemand erwartet, daß du Mecksiepen heiratest. Außerdem ist er verlobt, so viel ich weiß. Ich möchte nur wissen, wo man den jungen Damen heutzutage diese freien Töne beibringt. Eine junge Dame heiratet nicht, sondern sie wird geheiratet. Außerdem redet sie nicht davon. Wenn sie ihre Wahl getroffen hat, richtet sie es vorsichtig so ein, daß der Auserwählte ihr einen Antrag macht.«

»Und wie fängt sie das im einzelnen an, Großmutter?« fragte Alice interessiert.

Deborah Kellenhusen betrachtete kurz ihre bildhübsche Enkelin. Wie sie in solchen Augenblicken doch ihrer Mutter glich! Liebe und Besorgnis überfluteten das Herz der alten Frau. Sie wußte ja selber, wie schwer es war, die Wünsche und Hoffnungen im Zaum zu halten. Das Ungestüm der Jugend – wie schwer wog das. Und doch war es die Pflicht einer Frau, beherrscht und reserviert zu sein.

»Wie man es im einzelnen anfängt, das wirst du im rechten Augenblick schon wissen«, sagte sie. »Aber denke immer daran, mein Kind: Die Initiative übernimmt allein der Mann.«

Alice seufzte. »Hoffentlich finde ich so einen!« Und sie dachte an François, und wie schüchtern er gewesen war. Den hätte ich doch nie dazu gebracht, sich zu erklären, dachte sie. Aber dann schob sie diese Gedanken von sich. Ich habe es natürlich auch gar nicht gewollt. Im Kino hat er viel zu laut gelacht. Und seine Hand war ganz feucht. Nein, nein, François war lieb, aber als Heiratskandidat unmöglich.

Bevor Alice abreiste, kam noch die Hausschneiderin. Stoffe wurden aus der Stadt geliefert. Modezeitungen waren zu prüfen. Selbstverständlich hatte Alice eine hübsche Garderobe aus der Schweiz mitgebracht. Bern lag schließlich nicht hinterm Mond. Aber nun war doch einiges zu ergänzen. Vor allem mußte ein Ballkleid her.

Frau Kellenhusen schwebte ein duftiges rosa Etwas mit weitem Rock und Rüschen vor, doch hier wurde Alice ungewohnt eigensinnig. Schließlich setzte sie ihre Vorstellung durch: reine, champagnerfarbene Seide, ganz glatt und schlicht obenherum verarbeitet, mit angeschnittenen Trägern. Der Clou war, daß der Rock hinten lang war und vorn nur bis zum Knie reichte. Wie ein Wasserfall wirkte das. Alice war begeistert.

»Findest du nicht, daß es ein wenig nach einem Bühnenkostüm aussieht?« fragte die Großmutter.

»Überhaupt nicht. Wir lassen doch die Schleife hinten weg. Eigentlich weiß ich aber gar nicht, wie ein Bühnenkostüm aussieht«, sagte Alice und hatte wieder diesen flammenden Ausdruck, der ihre Großmutter stets erschreckte.

Diesmal brachten beide Großeltern ihre Enkelin an die Bahn. Budder kutschierte die Droschke, mit der man auch sonntags zur Kirche fuhr, mit dem Schimmel und dem Braunen davor, die ihre gutgenährten Hinterteile vor den Herrschaften wiegten.

Der Abschied war beherrscht wie das Wiedersehen vor Wochen. Alice ließ sich umarmen, Großvaters Schnauzbart kitzelte ein wenig. Großmutter roch nach Lavendel.

Als der Zug bereits angebimmelt kam, umarmte die Großmutter sie noch einmal und sagte: »Ich bete für dich.«

Alice errötete über und über. Dies war sicher das größte Geschenk, das Deborah Kellenhusen ihr machen konnte. Noch später, als der Zug durch das flache Land fuhr und die Telegrafendrähte zu tanzen und zu schwingen schienen, gingen Alice die Worte nicht aus dem Kopf. »Ich bete für dich.« Sie hatte ein wenig Angst vor der neuen Fremde. Doch sie erwartete auch viel von ihr. Etwas Großes lag in der Luft, das spürte sie deutlich. Etwas wartete auf sie. Ich darf nur den richtigen Augenblick nicht verpassen, lieber Gott, hilf mir dabei, laß mich alles richtig machen, betete sie.

»Sagten Sie etwas?« fragte die Dame gegenüber in den grüngestreiften Polstern, die nach Mottenpulver, Staub und Seife rochen.

Wahrscheinlich habe ich unbewußt die Lippen bewegt, dachte Alice. Laut sagte sie: »Ich übte gerade einen englischen Satz. Glad to see you, Aunt Elizabeth, ob das wohl richtig ist?«

Die Dame zog die Augenbrauen hoch. »Das kommt ja wohl auf die Tante an, ob man froh ist, sie zu sehen, nicht wahr?«

»Ich kenne sie gar nicht.«

»Oh. Werden Sie abgeholt?«

»Selbstverständlich. Mein Onkel schickt eine Kutsche.« Aber so ganz sicher war sie doch nicht. Ja, während der Überfahrt wurde ihr sogar ziemlich bänglich zumute. Was war, wenn sie ganz mutterseelenallein in London saß? Sie hatte die Adresse ihrer Verwandten und die eines seriösen Hotels – für alle Fälle. Aber bisher hatten immer Erwachsene sie gelenkt und geleitet. Nun, wahrscheinlich würde Onkel Ben da sein. Sie schob ihre Bedenken möglichst weit weg. Schwer fiel es ihr nicht, war doch alles neu und aufregend bei ihrer ersten Schiffsreise.

Als sie in Bremerhaven an Bord gegangen war, hatte ihr Herz heftig geklopft. Das Schiff lag ruhig, aber würde es so bleiben? Und wie fand man seine Kabine? Wie den Speisesaal? Was trug man zum Dinner? Wer würde mit am Tisch sitzen?

Als sie an der Reling lehnte, während die Kapelle ›Muß i denn zum Städtele hinaus‹ spielte und die zurückbleibenden Leute winkten und weinten oder Mützen in die Luft warfen und jubelten, sah Alice dezent nach links und rechts. Auch hier ähnliche Mienen: übermütig oder tieftraurig. Mit dem Schiff fortfahren, das konnte Abenteuer und Aufbruch ins Neue bedeuten, aber auch Abschied für lange, vielleicht für immer. Denn ihr Schiff fuhr über England weiter nach New York.

Alice fand das Leben an Bord elegant und spannend. Ihre Kabine wurde ihr von einem aufmerksamen Steward gezeigt. Bei Tisch saß sie mit zwei jüngeren und einem älteren Ehepaar zusammen, die freundlich reserviert waren und blieben.

Abends lustwandelte sie, wie andere auch, auf dem Promenadendeck. Sie bemerkte wohl die anerkennenden Blicke der Männer. In ihrem Kasack aus hellbraunem Seidensamt zum Rock aus Wollvelours, der eine Nuance heller war, dazu ein weißes Seidentuch lose über dem schwungvollen Bubikopf, sah sie wirklich zum Anbeißen aus.

In mehreren Räumen spielten Kapellen. Wie gern wäre Alice dabei gewesen, doch sie traute sich nicht. Eine junge Dame allein mußte sehr zurückhaltend sein. Das war ihr bereits bei Madame Tissot beigebracht worden.

Es war inzwischen dunkel geworden. Das Schiff zog seine Bahn wie eine hell erleuchtete, glitzernde Märcheninsel. Alice trat noch einmal hinaus und atmete tief ein.

Ein frischer Wind wehte und preßte ihr den Rock gegen die Schenkel. Sie zog ihren weißen Seidenschal eng um den Kopf und sah zum Himmel auf, über den eilige Wolken segelten, grau und dick. Wie Bühnenvorhänge gaben sie Sterne, Mondsichel und ein Stück Milchstraße frei.

Es war kalt geworden. Alice erschauerte und wandte sich zum Gehen. Da sah sie direkt in seine Augen. Er stand etwa zwei Meter entfernt von ihr. Blond, groß, mit breiten Schultern. Eine Lampe warf ihren Schein direkt auf sein Gesicht. Er blickte sie an und lächelte. Dabei kniff er die Augen zusammen, so daß sich ringsherum Fältchen zeigten. Obwohl er sehr jung zu sein schien, wirkte er männlich und überlegen. Das mochte an seiner Figur liegen. Große Männer mit breiten Schultern hatten es immer leichter als andere, tonangebend und bestimmend zu sein. François war mittelgroß gewesen.

Sicher ein Engländer auf der Rückreise. Oder ein Amerikaner? Es waren viele englischsprechende Leute an Bord, Amerikaner nicht zu knapp. Es war Mode, sich Europa anzusehen mit den guten Dollars in der Tasche. Dieser Mann trug zu karierten Hosen und weißen Gamaschen ein Jacket in Crème und eine gepunktete Fliege. Es war jedenfalls nicht die Art von Kleidung, die Deutsche oder Briten bevorzugten. Dies alles geisterte durch Alices Kopf, aber nur halb bewußt, indem sich in ihrem Körper plötzlich Hitze ausbreitete.

»Schade, daß Sie sich bewegt haben. So wie Sie da standen, hätte ich Sie gern gemalt. Es sah wunderschön aus«, sagte er. Jawohl, er sprach ein wunderliches Englisch, sehr breit, aber mit ganz leichtem französischen Einschlag.

Alice erinnerte sich krampfhaft an ihre gute Erziehung. Meine Güte, ich werde mich doch jetzt nicht blöde zeigen wie das dämlichste Provinzgänschen, dachte sie. »Sind Sie denn Maler?«

So, das war doch einigermaßen schlagfertig gewesen. Auf Phrasen antwortete man am besten mit einer entlarvenden Gegenfrage. Zu Alices Überraschung antwortete er jedoch: »Noch nicht. Aber ich werde einer. Bin auf dem besten Wege dahin.«

»In England?«

»Nein. Dort habe ich eine andere Mission zu erfüllen. Wollen wir tanzen?«

»Ich … äh …« Ach, Madame Tissot, wie verhielt sich eine junge Dame in solcher Situation?

»Sie frieren ja! Gehen wir schnell hinein. Aber vorher, verzeihen Sie mir bitte, ich kann nicht anders – sehen Sie den Stern dort?« Er zeigte zum Himmel.

Alice guckte gehorsam in die Richtung. »Welchen?«

»Den dort! Der so heftig funkelt.«

Sie hatte den Kopf ein wenig in den Nacken gelehnt und den Mund leicht geöffnet. Flüchtig sah sie den Stern, dann hatte der fremde Mann sie schon im Arm, und sie fühlte seine Lippen auf den ihren. Was machte er denn mit der Zunge?!

Alice war einer Ohnmacht nahe. Am liebsten hätte sie sich hinsinken lassen. Er zog sie noch enger an sich. Sie gab nach, spürte seinen Schenkel zwischen ihren Beinen, und das Meer und die Dunkelheit schlugen über ihr zusammen.

Er ließ sie los und sah ihr in die Augen. »Wie heißen Sie?«

»Alice.«

»Ich heiße Jim Rockwell.«

Als Alice ihren Namen aussprach, ging es wie ein elektrischer Schlag durch ihr Bewußtsein. Alice! Sie glaubte förmlich Großmutters besorgte Stimme zu hören oder Madame Tissots mahnenden Tonfall. Alice! Tief in ihr saß die Angst, die Großmutter ihr mit forschenden Blicken und betont gemessener Erziehung übermittelt hatte: daß da etwas brodelte, das unterdrückt werden mußte. Daß es Strafe, Unglück und Tod brachte, wenn man es auslebte. Strafe, Unglück und Tod, wie für ihre Mutter.

Mit einem Ruck riß sie sich los. Wie gehetzt rannte sie zur Tür, die ins Innere des Schiffes führte, öffnete sie mit aller Kraft, eilte über Gänge und Treppen, als sei der Teufel hinter ihr her. Ein Teufel namens Jim.

Dann wurde ihr klar, daß sie erstaunte Blicke erntete. Niemand tat ihr etwas. Ein junger Mann hatte sie geküßt. Wenn sie ihn dazu herausgefordert hatte, so doch bestimmt ohne Absicht. Also, was war im Grunde passiert? Gar nichts. Gar nichts – außer diesem sonderbaren Ziehen in den Gliedern und im Bauch, diesem irren Herzklopfen, der beunruhigenden Schwäche in den Knien, die sicher nicht nur vom Rennen kam. Bei François hatte sie diese Symptome jedenfalls nicht gehabt.

Alice zog sich in ihre Kabine zurück und blickte durch das runde Fenster hinaus auf die gleichmäßig brodelnde See. Ich bin jung. Das Leben ist aufregend. Es gibt vieles, das man auch im besten Internat nicht lernt. Ich werde ins Bett gehen und noch ein bißchen lesen. Das Leben ist schön!

Aber nachts erwachte sie mit einem unbekannten, ängstlichen Gefühl. Das Schiff neigte sich jetzt leicht von einer Seite auf die andere. Draußen war es dunkel. So fremd und fern von jeder Bindung hatte Alice Kellenhusen ihr Dasein noch nie empfunden. Ob es ihrer Mama wohl manchmal so ergangen war? Im Wohnwagen zwischen zwei fremden Orten unterwegs, von unbekannten Leuten zu anderen Unbekannten? Aber sie hatte ja meinen Vater, dachte Alice. Ihren Mann, der sie beschützte und zärtlich liebte. Dem zuliebe sie alles im Stich gelassen hatte, sogar ihr Elternhaus. Oh, sie muß ihn sehr geliebt haben. Unendliche Sehnsucht erfüllt jetzt deine Tochter, Mama! Ich sehne mich nach einer großen Liebe. Auch ich würde mit dem geliebten Mann bis ans Ende der Welt gehen, wenn er es will. Aber ich bin allein. Schrecklich einsam und voller Angst vor dem Neuen, das auf mich wartet. Ob ich überhaupt jemals einen richtigen Mann kennenlerne, der etwas von mir wissen will? Ich bin kein Aschenputtel, und er braucht kein Prinz zu sein. Aber eins ist sicher: Jeden Durchschnittsmann nehme ich nun doch nicht! Und auch keinen Wüstling!

Je näher das Schiff dem Hafen kam, desto unruhiger wurde Alice. Jetzt verließ sie beinahe die Sorglosigkeit der Jugend, die darauf vertraut, daß sich das meiste von selber regelt.

Aber ihre Unruhe war umsonst gewesen. In Portsmouth erwartete sie Tante Elizabeth. Der Blonde, der sie geküßt hatte, blieb unsichtbar.

Alices Name wurde durch ein Megaphon ausgerufen. Sie meldete sich, und dann fühlte sie sich umarmt von einer erschlagend eleganten, in eine Wolke von Blumenparfüm und Zigarettenaroma eingehüllten Dame und überschüttet mit einem Strom englischer Sätze in dem etwas schrillen, nasalen Ton, den britische Ladies pflegen.

Alice war erstaunt. Tante Elizabeth – »Please, call me Bettie, my dear!« – also Tante Bettie hatte mit Alices Großmutter überhaupt keine Ähnlichkeit. Erstens war sie wirklich viel jünger. Zweitens kleidete sie sich nach der letzten Mode. Ihr Rock war gestuft und an den kürzesten Stellen knapp knielang! Außerdem sah Alice bei ihr den ersten Blaufuchs ihres Lebens. Das Fell mit Schwanz und Glasaugen im sorgfältig präparierten Kopf hing üppig um Betties Schultern.

Noch überraschender war es, daß Tante Bettie die Großnichte im eigenen Auto abholte. Das Maybach-Cabriolet war hinten geschlossen, und vorn war eine Art Plane aufgerollt worden.

Auf dem Rücksitz tobten und kläfften drei winzige weiße Malteserhündchen, deren Pony-Haare mit roten Schleifchen aus dem Gesicht gebunden waren. Bettie Neary pfefferte ihren Blaufuchs neben sich, als sie hinter dem Steuer Platz nahm. Alice sprang hinein und ließ sich auf das Polster fallen, während Bettie schon den zierlichen Fuß aufs Gaspedal drückte. Ihr Rock war über den halben Schenkel hochgerutscht. Alice staunte. Durfte eine Dame denn so dasitzen? Daß man die fleischfarbenen Seidenstrümpfe so sah? Madame Tissot wäre wohl in Ohnmacht gefallen bei dem Anblick. Und Großmutter – hier mußte Alice lächeln – hätte ihre Enkelin ganz sicher nicht zu einer Dame reisen lassen, die sich derartig freizügig benahm. Nun, es waren ja keine Männer anwesend.

Bettie hatte die Kleine kurz mit einem Seitenblick gestreift. »Du lächelst. Sehr gut«, stellte sie fest. »Man sollte das Leben nicht tragisch nehmen.« Sie war angenehm überrascht. Hatte sie doch befürchtet, hier ein häßliches Internatsentlein mit gehemmtem Wesen unter ihre Fittiche nehmen zu müssen.

Diese Alice war jedoch wirklich hübsch. Mit etwas mondäner Nachhilfe würde sie durchaus Aufsehen erregen in der Londoner Debütantinnenszene. Natürlich, da war ja auch dieser Skandal mit ihrer Mutter gewesen. Ein Zirkuskind. Ein Kind der Liebe. So etwas ging doch nicht spurlos vorüber. Hoffentlich war sie nicht zu leichtsinnig, denn dann konnte man lieber einen Sack Flöhe hüten als ein lebhaftes junges Mädchen, das etwas erleben wollte.

Nun, man würde sehen. Noch war Zeit. Vor dem Herbst begann die Ballsaison nicht. Der Vater der kleinen Alice war ja wohl ein halber Italiener gewesen. Immerhin hat sie aber auch ein wenig britisches Blut von unserer Seite her, dachte Bettie.

Sie und ihr ›Big Ben‹ hatten sich anfangs Kinder gewünscht, doch nachdem sie drei Fehlgeburten gehabt hatte, waren sie eben zu zweit geblieben. Es war nett, nun plötzlich ein junges Mädchen ›zum Betutteln‹ zu haben.

Die Nearys bewohnten eine geräumige Stadtvilla. Sie lag zurückgebaut am Regent's Park. Das Personal war in der Halle aufgereiht, um unter Führung des Butlers den Hausgast Miss Alice Kellenhusen willkommen zu heißen.

Abends kam Onkel Ben nach Hause. Er war in der Tat hochgewachsen und schlank, mit einem zerfurchten Pferdegesicht, langen Zähnen und spärlichen, grau-blonden Haaren. Wenn er lachte, sah er aus, als ob er beißen wolle. Aber er war sehr nett. Beim Dinner fragte er Alice: »Nun, was möchtest du denn als erstes unternehmen bei uns in London?«

Bettie lachte. »Ich habe schon viele Pläne gemacht, Besuche, Einkäufe, Themsefahrt, Reise nach Margate zum Baden, ach, so vieles!«

»Du mußt Alice aber fragen, ob sie zu allem auch Lust hat«, ermahnte Ben seine lebhafte Frau.

»Hast du Lust, Alice?«

»Ja, natürlich, sehr! Ich bin überaus dankbar für eure Fürsorge.«

»Aber das bedeutet gar nichts. Wenn du noch eigene Vorschläge hast – bitte, heraus damit!«

Alice druckste ein wenig, dann sagte sie entschlossen: »Wenn es geht, möchte ich auch, irgendwann, es eilt natürlich überhaupt nicht, gern einmal in den Zoo gehen!«

Bettie lachte perlend. »Ist sie nicht süß?« fragte sie ihren Mann, der ebenfalls schmunzelte. »Ich lege ihr die Londoner Gesellschaft zu Füßen. Und was wünscht sich das Kind? Einen Besuch im Zoo! Ach, das ist wirklich erfrischend. Nein, Alice, du brauchst nicht rot zu werden. Ich finde es reizend, ganz reizend. Selbstverständlich gehen wir auch in den Zoo … eines Tages.«

Sie wissen ja nicht, was mir ein Zoobesuch bedeutet, können es nicht wissen, dachte Alice. Zoo und Zirkus, irgendwie haben sie etwas gemeinsam. Es ist, als ob ich dort meinen Eltern näher wäre. Aber das verrate ich natürlich nicht!