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Es war just der 11. November 1928, an dem Jim Rockwell den Londoner Zoo betrat, um dem Bären Kitchener endlich den Besuch abzustatten, den er seinem Vater William versprochen hatte.

Er hatte sich damit nicht ganz so beeilt, wie sein Dad es wohl eigentlich erwartet hatte. Aber Europa – das war eine aufregende Erfahrung, ein aufwühlendes Erlebnis. Hier lagen die Wurzeln. Frankreich vermittelte genau jenes Lebensgefühl, das in Montreal gepflegt wurde. Und auch für einen Sohn hielt es Erschütterungen bereit, wenn er an des Vaters Berichte vom großen Krieg dachte und nun plötzlich auf jenem blutgetränkten Boden stand, Flüsse sah, die umkämpft worden waren, Hügel, an deren Fuß Menschen unter Qualen gestorben waren. Trügerisch und vollkommen hatte die Zeit ihren Mantel darüber gebreitet. Die Natur war gnädig darüber hingewuchert. Nur die Soldatenfriedhöfe und Gedenksteine auf den Schlachtfeldern und kärgliche Überreste der Bunkerbauten kündeten noch von jener unseligen Zeit.

Jim seufzte. Er war durch Belgien gefahren und hatte auch dort die Spuren des Krieges gesehen. Diese Reise brachte ihm auch das Wesen seines Vaters näher, dem er doch äußerlich so ähnlich war.

Bei der Überfahrt war da dann dieses Mädchen gewesen. Eine Alice. Alice im Wunderland. Eine zauberhafte kleine Person. Er hatte sie gesehen und war überwältigt gewesen.

Und dann habe ich mich wie ein Idiot benommen, sagte Jim sich zum hundertsten Mal. Wie ein heißer Bock bin ich auf sie losgegangen. Meine Güte, Mädchen wie Mabel haben mich total verdorben. Kann ich denn nicht mehr eine kokette Miss von einer wohlerzogenen jungen Dame unterscheiden? Als sie davongerannt war, hatte Jim sich geschämt. Er konnte wohl kaum hinterher laufen, sie festhalten und sagen: »Entschuldigung, ich wußte nicht, was ich tat!« Am besten, man trank einen Whisky und vergaß die Geschichte.

Bei der Landung hatte er noch so gedacht. Dann war es wie ein Blitz in ihn gefahren: Ich muß sie sehen! Ich werde ihr alles erklären! Aber da war sie schon verschwunden gewesen. Nun, man konnte nie wissen, wozu etwas gut war. Vielleicht hätte die Begegnung genau so eine Enttäuschung ergeben wie die Affäre mit seiner einst so angebeteten Mabel.

Jim hatte in London natürlich zuerst die National Gallery besichtigt. Das war eine einzigartige Ansammlung von Kunstwerken, und Jim schwankte zwischen Entmutigung und der leidenschaftlichen Hoffnung, eines Tages auch zu den Großen zu gehören, deren Werke die Menschen andächtig in den Museen und Galerien betrachteten.

Der Buckingham-Palast, die Westminster Hall, das Parlament … Londons City schien Reichtum und soziale Sicherheit zu garantieren. Und die Leute bewegten sich hier, als seien sie ganz erfüllt von dieser Gewißheit.

Jim hatte sich im Zoo angemeldet. Der Direktor persönlich empfing ihn, und auch Chuck Brady schüttelte ihm die Hand. Es sei ihnen eine Ehre, den Sohn ihres kanadischen Gönners empfangen zu dürfen, erklärte der Direktor. Brady berichtete schmunzelnd, daß schon einige Reisegruppen aus Ontario von ihrem Recht Gebrauch gemacht hätten, kostenlosen Eintritt im Zoo zu haben. Sie seien alle sofort zu Kitchener gegangen. »Er muß doch wirklich eine Berühmtheit bei Ihnen sein«, sagte er, »aber hier ist er es auch, das dürfen Sie mir glauben. Möchten Sie, daß ich Sie zu den Bären begleite?«

»Nein, nein. Vielen Dank. Ich gehe gern allein. Heute begeht das Regiment meines Vaters den ›Kitchener-Tag‹ als großes, zehnjähriges Jubiläum. Ich bin zwar nicht übermäßig sentimental, aber ich weiß, daß es im Sinne meines alten Herrn ist, wenn ich versuche, persönliche Zwiesprache mit Kitchener zu halten. Schließlich war ich ein kleiner Junge, als der Bär in mein Leben trat, wenn auch nur brieflich.«

Sie lachten und verabredeten für einen der nächsten Abende ein Treffen zum Dinner. Dann schlenderte Jim durch den Tierpark. Es war noch einmal ein milder Tag. Die Sonne schien, und der Golfstrom tat seine Pflicht als große Heizung der Natur. Das Laub der Bäume schimmerte schon in den bunten Herbstfarben. Späte Hummeln und Schmetterlinge waren unterwegs. Im Papageienhaus lachte ein bunter Vogel schrill und laut.

Auch Kitchener ignorierte die saisonbedingte Müdigkeit, die ihn seit ein paar Tagen gepackt hielt, und trottete durch sein Gelände. Es waren noch einige Gaffer da, und weil sie ihm manchmal leckere Sachen zuwarfen – was eigentlich verboten war, Kitchener jedoch keinerlei Sorgen bereitete –, machte er seine unfehlbare ›Glanznummer‹: Er richtete sich auf den Hinterbeinen auf und winkte mit den Vorderläufen. Daraufhin gerieten die Gaffer erfahrungsgemäß stets aus dem Häuschen vor Begeisterung und warfen ihre Delikatessen herüber.

So erblickte Jim Rockwell den Bären Kitchener zum erstenmal. Ihm stockte der Atem. Ein Riesentier! Ein vorsintflutliches Ungeheuer! Groß wie ein Grizzly! Überwältigend! Und sehr furchteinflößend! Nun, damals, vor zehn Jahren, war der Bär ja wohl viel kleiner gewesen.

Jim starrte das Tier fasziniert an. Bildete er es sich ein, oder guckte Kitchener ihn wirklich fest an? Es waren ja noch andere Leute da, aber in diesem Fall bestand doch wohl kein Zweifel. Auch als der Bär sich wieder gemütlich auf allen Vieren niederließ, fixierten er und Jim einander.

Grüße von William Rockwell, alter Junge, dachte Jim. Du bist für ihn das Symbol für Leben und Aufstieg geworden, gar kein richtiger Bär eigentlich, sondern die Idee eines Bären. Du bist groß und stark und sehr eindrucksvoll, das sehe ich nun selber und werde es nach Kanada berichten. Du hast deine Kumpels von damals bestimmt längst vergessen. Oder nicht? Starrst du mich so an, weil ich jetzt aussehe wie mein Vater in jenen Tagen?

Jim mußte lächeln. Ich werde eine Bärenseele gewiß nicht ergründen. Aber vielleicht verstehe ich meinen Vater ein wenig besser. Ein Mann, der sein Herz an eine solche Kreatur hängt, der kann nicht so hart und supermännlich sein, wie er sich meistens gibt. Er hat wohl nur gelernt, weiche Regungen zu verstecken. Wenn er Mutter manchmal ansieht oder wenn er mit ihr seine Späße macht, dann kann man etwas davon spüren. Und auch, wenn er mit Percy spielt … Gleich beschlich Jim wieder Niedergeschlagenheit. Nein, er wollte nicht eifersüchtig sein auf seinen kleinen Bruder, auf dieses nette, vertrauensvolle Kerlchen.

Heute werden sie alle an mich denken, überlegte er, und Mabels Vater wird mit seiner hellen Stimme eine schneidige Ansprache halten. Er atmete tief durch. Ich habe doch wohl kein Heimweh? Mein Gott, ich habe Heimweh!

Dann sah er die Dame im dernier cri und das zierliche junge Mädchen daneben. Er schloß ganz kurz die Augen und öffnete sie in der Überzeugung, seine sentimentale Stimmung habe ihm soeben einen Streich gespielt.

Aber nein. Sie war noch da! Die Dame schlenderte weiter, zu einer Bude, an der Besucher Erdnüsse und Knabberzeug für die Tiere kaufen konnten.

Das Mädchen blieb stehen und sah hinüber zu den Bären. Eine Bärin schien es ihr besonders angetan zu haben. Das Mädchen legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Sie kniff sie zusammen, als wolle sie Tränen zurückhalten. Wirklich wischte sie mit der Hand über das Gesicht.

Jim trat, ohne zu überlegen, mit einem Schritt zu ihr. »Ist Ihnen nicht gut, Alice?« fragte er.

Sie erschrak, und als sie ihn erkannte, färbte sich ihr Gesicht blutrot. Sie machte eine heftige Bewegung, als wolle sie davonstürzen.

Also hat sie mich erkannt, dachte Jim, das ist immerhin etwas. »Wir sind hier nicht allein. Sie brauchen keine Angst zu haben. Außerdem werde ich mich tadellos benehmen. Und ich bitte Sie vor allem um Entschuldigung für neulich. Ein unverzeihliches Benehmen. Glauben Sie mir bitte, es war ganz impulsiv, ist sonst nicht meine Art«, sprudelte er hervor.

»Danke, es geht mir gut«, murmelte sie, und er hatte wieder das Bedürfnis, sie in die Arme zu reißen und auf den vollen Mund zu küssen. Ja, alle Fanfaren bliesen zum Angriff. Doch er hielt seinen Hut in der Hand und verbeugte sich leicht. »Jim Rockwell«, sagte er.

»Das sagten Sie schon«, erwiderte sie.

»Und Sie sind Alice im Wunderland.«

»Ich bin Alice Kellenhusen.«

»Eine Deutsche?«

»Ja, mit einem Viertel England gemischt.«

Nun, sehr redselig war sie nicht.

»Sie mögen Bären, nicht wahr?«

»Ja. Es gibt eine Kindheitserinnerung, die mit Bären zu tun hat. Mit einer Bärin.«

»Das ist phantastisch! Ja, in der Tat! Denn auch ich habe eine lebhafte Kindheitserinnerung, die mit einem ganz bestimmten Bären zu tun hat. Mit diesem hier.«

Wie süß sie aussah, wenn sie so ungläubig dreinschaute.

Natürlich dachte sie, er suche nur ein Thema zum Anbändeln. »Mit dem Riesen dort?«

»Ja. Er heißt Kitchener. Mein Vater kennt ihn gut.«

Na, das klang wirklich nicht sehr überzeugend. Sie zog bereits die Augenbrauen hoch. Dachte wohl, er wolle sie verulken. Die Dame kam zurück und musterte Jim anerkennend.

»Kennst du den Herrn, Alice?« fragte Bettie Neary mit ihrer durchdringenden Stimme.

Alice machte einen furchtbaren Fehler. Sie hob die kleine Nase hoch und sagte: »Ganz flüchtig. Auf Wiedersehen.« Dann nahm sie den Arm ihrer Großtante und rauschte weiter.

Jim machte eine Bewegung, ihnen nachzugehen. Da ergriff eine der beiden Preisboxergestalten, die sich offenbar bei einem Zoobummel von hartem Training entspannten, seinen Arm. »Haben Sie vielleicht Feuer?« fragte er. Es klang, als drohe er: Belästigen Sie bloß die Damen nicht. Sonst könnte es für Sie unangenehm werden.

Jim zuckte die Schultern. »Gehen Sie doch zur Hölle«, sagte er laut. Die beiden Muskelpakete lachten herzlich. Wenn sie denkt, daß ich dauernd wie ein Schwachsinniger hinter ihr hergaloppiere, hat sie sich geschnitten. Ich kann Mädchen in Hülle und Fülle haben, dachte Jim. Außerdem ist sie ziemlich einsilbig. Oder ob sie nicht besonders fließend Englisch spricht? Doch, daran hat's bestimmt nicht gelegen. Weißt du was, Jim, alter Junge? Sie mag dich einfach nicht. Ja, die Schlappe mußt du jetzt mal männlich wegstecken. Die Porzellandame mit den feurigen Kohleaugen bleibt bei dir eiskalt. Ende.

Am nächsten Vormittag jedoch war Jim sich darüber klar, daß er sich wie ein kompletter Trottel benommen hatte. Wie konnte er dieses bezaubernde Mädchen nur kampflos ziehen lassen?!

Es war noch immer schön und mild. Am Himmel brauten sich Kumuluswolken zusammen, die weiß und dick über den tiefblauen Himmel schwammen. Einige hatten graue Säume angesetzt. Ein Herbstgewitter lag in der Luft, und winzige Fliegen stürzten sich auf Mensch und Tier und erfüllten ihr kurzes Leben.

Jim nahm einen Regenmantel über den Arm, setzte seinen Panamahut auf und startete. Wenn es ihr leid tat – und es konnte doch immerhin möglich sein –, dann würde sie in den Zoo kommen. Zu den Bären, denn auch sie war ja auf irgendeine Weise besonders mit ihnen verbunden.

Jim trat erwartungsvoll vor das Freigehege. Sein Herz klopfte. Er war fast sicher, daß sie dort stehen würde. Doch außer einer Schulklasse, die laut und lustig vorbeizog, war niemand da. Kein wunderschönes Mädchen mit zierlicher Taille und einem hinreißenden Madonnengesicht. Kitchener war überhaupt nicht zu erblicken. Er hatte sich in seiner Höhle zusammengerollt und schlief.

Jim war enttäuscht. Er schalt sich unmännlich und töricht, doch er konnte nichts dagegen tun. Der Tag war ihm rundum verdorben.

Etwa eine Stunde später erschien dann ein zierliches Mädchen an derselben Stelle. Alice hatte ihr hübschestes Kostüm angezogen und trug einen Schirm über dem Arm. Sie duftete nach ›Lenthéric‹, dem Parfüm der verführerischen Frau, und hoffte und bangte gleichzeitig. Sie hoffte, daß er da sein werde, der gut aussehende Blonde, der sie in diesen wundervollen, alles verschlingenden Aufruhr versetzt hatte. Sie bangte, weil sie sich auch fürchtete vor diesem Versinken.

Hatte sie wirklich geglaubt, er sei da? Nur, weil er ihr erzählt hatte, der Bär Kitchener habe eine Rolle in seinem Kinderleben gespielt?

Natürlich war er nicht da. Dachte gar nicht daran. Oh, ich dumme Pute, dachte Alice. Nur gut, daß niemand weiß, wie dämlich ich mich hier aufführe. Gut, daß ich Tante Bettie gesagt habe, ich ginge ein Stückchen in ›Queen Mary's Rosegarden‹ spazieren.

Jetzt fielen sogar einige dicke Tropfen vom Himmel. Sie spannte ihren Schirm auf. Die Bären ließen sich gar nicht sehen. Was für ein trister Tag!

Alice atmete tief durch und wandte sich zum Gehen. Wenn das Schicksal mich noch einmal in eine ähnliche Lage bringt, werde ich klüger sein, nahm sie sich vor. Aber sie war sehr traurig.

Eine sehr alte Dame kam langsam näher. Sie trug einen abenteuerlichen Hut, mit Blumen und Obst garniert. Ihr Gesicht war dick rosa gepudert. In ihre Stirn ringelten sich ein paar weiße Löckchen. Sie trug eine Krimmerjacke, die zerrupft aussah, und einen grauen Rock, der fast bis auf ihre spitzen Schuhe hinunterreichte.

»Sie schlafen alle«, sagte die Märchenfrau zu Alice. »Im Winter ist mit Bären nichts anzufangen. Kommen Sie im Frühling wieder, mein Kind, dann können Sie alle wieder frisch und munter sehen. Wissen Sie, Bären sind wundervolle Tiere. Sie passen sich viel besser in die Jahreszeiten ein als wir angeblich so klugen Menschen.«

Alice nickte. Die Dame war sehr freundlich. Aber wenn man gerade mit den Tränen kämpfte, dann war man am liebsten allein.

»Sie sind ganz allein hier?« fragte die Dame und sah Alice forschend an. »Kennen Sie das Märchen von ›Schneeweißchen und Rosenrot‹? Da hatten zwei Mädchen einen großen braunen Bären als Freund und Spielgenossen. Und nachher war er ein wunderschöner Prinz.«

»Nein, das kenne ich nicht.«

»Warten Sie vielleicht auch auf einen Prinzen?« fragte die sonderbare Person hellsichtig.

Alice errötete prompt. »Vielleicht kennen Sie einen?« versuchte sie zu scherzen.

»Ach was. Ich bin die Pudding-Lady. Haben Sie noch nicht von mir gehört? Ich bringe Kitchener zweimal die Woche seinen Abendpudding. Jedenfalls in der schönen Jahreszeit. Wir sind dicke Freunde.«

Alice lächelte so freundlich wie möglich und ließ die verrückte Dame stehen. Pudding für einen Bären! So ein Unsinn! Von Bären hatte sie jetzt überhaupt die Nase voll.

Am nächsten Tag jedoch trafen sich Alice und die Pudding-Lady wieder im Zoo. Sie lächelten sich an, und Alice sagte gleich: »Ich bin doch noch einmal hergekommen, weil Sie das von Schneeweißchen und Rosenrot erzählt haben. Wer weiß, vielleicht treffe ich heute wirklich einen Prinzen.« Heimlich fügte sie hinzu: Ich hoffe es so sehr. Ich bin so dumm gewesen. Wahrscheinlich ist er längst abgereist. Oder, schlimmer noch, er geht mit einer anderen spazieren.

Die alte Dame machte ein verschmitztes Gesicht. »Ist der Prinz vielleicht blond, groß und hat er breite Schultern und hellgraue Augen und einen kanadischen Akzent?«

Alice war sprachlos. Sie riß einfach die dunklen Augen auf und starrte die unheimliche Pudding-Lady an.

»So einer war vorhin nämlich hier, und ich habe ihm erzählt, daß ich gestern sehr nett mit einer jungen Dame geplaudert habe. Er fand das höchst interessant.«

»Und?«

»Und was? Was meinen Sie, liebes Kind?«

Alice verschluckte sich beinahe vor Aufregung. »Kommt er wieder?«

»Wie soll ich das wissen? Ich habe ihm jedenfalls geraten, etwas später noch einmal vorbeizukommen, weil Sie gestern doch auch um diese Zeit da waren. Ob er kommt … was weiß ich? Das Wetter ist wohl nicht danach.«

Tatsächlich war das Wetter ganz und gar nicht für einen Zoobesuch geeignet, denn ein heftiger Wind trieb dicke, dunkle Wolken über den Himmel, und nun fielen schwere Tropfen. Papier und Heu wehten über die Wege. Spatzen und Drosseln suchten eilig schützendes Gebüsch auf. Das Paradies war verschwunden. Seine Tiere zogen sich zurück.

Alice hatte ihren Schirm aufgespannt. Nun wurde er vom Sturm umgeklappt.

»Kommen Sie, wir stellen uns dort unter!« rief die Dame und eilte voraus zu dem Häuschen, das sonst Futter feilhielt, an diesem Tag jedoch nicht geöffnet hatte.

Während der Regenschauer heftig niederrauschte und die Wege in lehmige Rutschbahnen verwandelte, schwankte Alice zwischen dem beglückenden Gefühl, daß er da gewesen war, und tiefer Niedergeschlagenheit, weil sie einander verpaßt hatten. Immer noch blickte sie hoffnungsvoll die Wege entlang, doch niemand war zu sehen.

Dann hörte der Regen mit einem Schlag auf. Die Sonne tauchte den Tierpark in gleißendes Licht. Büsche und Rasen dampften. Die Blumen auf dem Hut der Pudding-Lady, die vom Wind zerzaust und vom Regen durchnäßt worden waren, richteten sich wie von Zauberhand wieder auf.

»In den Märchen kommen die Prinzen immer beim dritten Mal«, versuchte die Pudding-Lady zu trösten, als Alice sich bedrückt verabschiedete.

Aber manchmal ist die Wirklichkeit eben schöner als ein Märchen.

Als Alice am Kassenhäuschen vorbei das Eingangstor zum Zoo passierte, das von zwei riesigen Elefantenplastiken flankiert wurde, trat Jim Rockwell lächelnd hinter der Torbogensäule hervor. Alices Herz machte einige wilde Sätze, aber gleichzeitig wurde ihr auch klar, daß sie nicht gerade in der verführerischsten Form für ein Rendezvous war.

Ihren Hut trug sie in der Hand, und selbst da wirkte er regelrecht zerfleddert. Das Kostüm klebte naß an ihren Schenkeln. Ihr Haar zeigte keinerlei Spuren von Frisur. Der Schirm war kaputt und ließ Stoff und Streben hängen wie eine kranke Krähe das Gefieder. Und der junge Mann grinste auch noch darüber!

Beinahe hätte Alice wieder töricht gehandelt und wäre fortgelaufen. Doch diesmal packte Jim sie am Ellenbogen und ging neben ihr her, während er das Schirmwrack ergriff und wie einen Spazierstock benutzte, worüber Alice nun wieder lachen mußte.

»Endlich!« sagte er und atmete tief auf. »Ist das nicht ein wundervoller Tag heute?«

Als wolle der Himmel sie necken, verdunkelte er sich kurz und spuckte einen leichten Schauer von Hagelkörnern und Schneeflocken dem Unwetter von vorhin hinterher.

Jim und Alice lachten unbändig darüber. Zugleich lachten sie ihre Besorgnisse und Enttäuschungen über die mißglückten ersten Begegnungen weg.

Jim faßte es schlicht zusammen: »Diesmal trennen wir uns nicht wieder!«

Und Alice seufzte zustimmend. »Ich laufe nicht mehr weg.«

Sie schlenderten in den Garten der Royal Botanic Society. Der See mit den halb voll Wasser gelaufenen Ruderbooten wirkte abgelegen wie am Ende der Welt. Einige späte Rosen hatten sich noch behauptet und funkelten mit ihren Wassertropfen wie schöne Frauen mit ihrem Geschmeide. Niemand war weit und breit zu sehen, als Jim Alice endlich in die Arme nahm und den Mund küßte, von dem er so lange geträumt hatte. Er drängte sie nicht, sondern wartete, bis sie selber sich entzündete, sich an ihn drängte und auf seine zärtlichen Berührungen ansprach. Er war ein erfahrener Mann, und hier war die Frau, für die es sich lohnte alles zu geben, was ein Mann geben konnte an Gefühl und Raffinement.

Am nächsten Tag machte Jim Rockwell offiziell Besuch bei Großtante Bettie. Sie musterte ihn und wußte sofort Bescheid. »Sie waren doch neulich im Zoo bei den Bären, nicht wahr?«

»Ja, gnädige Frau, das stimmt.«

»Wissen Sie, daß unsere Alice als Kind mit einem Bären herumgezogen ist?«

»Als Kind? Mit einem Bären?«

»Tante Bettie, ich glaube, das sollte ich Jim lieber selbst in Ruhe erzählen«, lächelte Alice.

Jim balancierte zierlich sein Martini-Glas und lehnte sich im Sessel zurück, wobei er die langen Beine übereinanderschlug. »Ich will alles über dich wissen, Alice«, sagte er. »Und du sollst auch alles erfahren, was mich angeht. Viele Geheimnisse hat ein Farmerssohn aus Ontario nicht. Und er hofft, daß er als Maler nicht nur begabt ist, sondern auch erfolgreich sein wird.«

Tante Bettie lächelte beifällig. Der junge Mann gefiel ihr, doch sie blieb maßvoll. Schließlich mußte man erst Erkundigungen über seine Familie einziehen. Big Ben würde das schon machen. Sie hatte eine große Verantwortung übernommen, als sie ein junges Mädchen unter ihre Fittiche nahm. Für ein langes Leben genügte es nicht, attraktiv zu sein. Leider. Kunstmaler war nun auch nicht unbedingt das Non-plus-ultra. Aber vielleicht hatte die Familie Geld. Sie wünschte ihrer reizenden Nichte das Beste. »Kommen Sie doch morgen zum Dinner«, schlug sie vor, während sie sich bemühte, die tiefen Blicke des jungen Mannes zu ihrer Großnichte und umgekehrt zu ignorieren, »mein Mann wird dann auch da sein. Das wäre doch nett.«

Jim senkte den Kopf. »Ich muß nach Paris zurück«, gestand er. »Ich habe mich für das Wintersemester an der Kunsthochschule eingeschrieben. Diese Abrundung meiner Kenntnisse ist für mich lebensnotwendig.« Er blickte Alice beschwörend an. »Ich komme wieder. Im Frühling. Wenn du auf mich warten würdest …«

Bettie Neary lachte erleichtert. »Wir werden uns schon die Zeit vertreiben, nicht wahr, Alice? Ein sehr vernünftiger Entschluß ist das, Herr Rockwell.«

Alice senkte den Kopf und dachte, daß der Hagelschauer gestern wohl doch eine symbolische Bedeutung gehabt hatte.

Aber da sagte Jim auch schon: »Ich werde jedoch noch eine Woche hier in London bleiben und nehme Ihre Einladung deshalb sehr gern an, gnädige Frau!«

Die Sonne schien also wieder. Eine Woche, lieber Himmel, das war für Verliebte eine Ewigkeit. Da konnte man alle Sterne vom Himmel holen und alle Geschichten der Welt erzählen und alle Zärtlichkeiten tauschen, die zu einer großen, romantischen Liebe gehören.

»Wirst du mir auch nach Kanada folgen? Als meine Frau?« fragte Jim beim Abschied und küßte seiner geliebten Alice die nassen Wangen, die Hände, die Stirn, die Augen, die Halsgrube und den zitternden Mund.

Jetzt lächelte sie unter Tränen. »Meine Eltern sind fahrendes Volk gewesen, das habe ich dir ja erzählt, Jim. Davon muß die Tochter doch etwas geerbt haben. Ja, ich komme gern mit dir. Ich folge dir bis ans Ende der Welt, wenn du willst.«

Die Hochzeit zwischen Jim Rockwell und Alice Kellenhusen fand im Mai statt. Ben und Bettie Neary hatten darauf bestanden, sie in London auszurichten. London sei immerhin der Mittelpunkt der Welt, hatte Bettie ihrer Schwester Deborah zu verstehen gegeben, als diese zuerst uneinsichtig verlangt hatte, die Hochzeit müsse in Thießendorf stattfinden.

»Liebste Deborah, das ist doch lächerlich. Die vielen Gäste würden eure Klitsche gar nicht finden. Du ahnst wahrscheinlich nicht, was da auf dich zukäme! Die gesamte Presse wird sich für diese ›Bärenhochzeit‹ interessieren. Eine alte Dame hat nämlich alles ausgequatscht. Sie steht hier mit einem Bären auf vertraulichem Fuß und wird ›Pudding-Lady‹ genannt«, hatte Bettie ihrer Schwester telefonisch verraten.

»Das klingt ziemlich verrückt, Elizabeth!«

Nun waren sie alle gekommen. Von dem Säulenvorbau der klassizistischen Villa nordöstlich vom Regent's Park, wo die prächtigsten Wohnungen der Reichen lagen, wehten die Fahnen. Die große Halle war ein Blumenmeer. Vor der Kirche hatten sich Reporter und Zuschauer von der Straße versammelt, und ein langgezogener Seufzer ging durch die Menge, als die weiße Hochzeitskutsche endlich vorfuhr, gezogen von vier Schimmeln.

Die Braut war in ein weißes Stickereikleid gekleidet, der lange Schleier über und über mit Maiglöckchen besteckt. Als der Bräutigam im Cutaway ihr heraushalf und sie sich aufrichtete, sah sie so zierlich und blaß aus, daß die Menge abermals seufzte. Jim setzte seinen Zylinder auf und reichte Alice den Arm. Die Glocken setzten ein und läuteten ihnen auf ihrem ersten gemeinsamen Weg als Paar, das von nun an allen Stürmen des Lebens gemeinsam trotzen und alle Freuden zusammen genießen wollte.

Die St. Margaret's Church war gerammelt voll. Links und rechts vom Altar hatten Alices Großeltern Kellenhusen und natürlich Großonkel und -tante Neary Platz genommen. Ernst und gesammelt saß dort William Rockwell, und neben ihm wischte sich Jenny, die Bräutigamsmutter, verstohlen die Nase und die Augen. Lucille hatte geschmollt, weil sie nicht mitfahren durfte, aber sie mußte auf den kleinen Percy aufpassen. Mit einem kleinen Kind trat man eine so aufwendige Reise nun einmal nicht an.

Auf den Bänken waren die vielen Freunde und Verwandten der beiden Familien aufgereiht, aber auch eine uralte Dame mit einem geradezu atemraubenden Blumenhut thronte dort, dezent fotografiert von den Pressereportern. Die Pudding-Lady!

Und wer waren die etwas verlegenen Gestalten, die sich, teils städtisch, teils bäuerlich wirkend, im Hintergrund zusammendrängten? Nun, wer sich auskannte, konnte leicht feststellen, daß das 159. Infanterieregiment von Ontario eine Abordnung geschickt hatte. Oberst Powell hatte tief in die Regimentskasse gegriffen und gemeinsam mit William Rockwell sorgfältig eine Liste der Glücklichen erstellt, die reisen durften, denn schließlich fand die Festlichkeit an dem Ort statt, wo auch das Regimentsmaskottchen seine große Rolle spielte. Also standen wie Statuen neben dem Altar auch zwei stramme junge Soldaten mit den Fahnen des 159. Regiments. Und acht weitere Männer freuten sich schon auf das große Buffet und den Tanz und das Londoner Nachtleben in den nächsten Tagen.

Jim gelobte seiner Alice, sie zu lieben und zu ehren ein Leben lang, und Alice versprach ihrem Jim ewige Treue und Gehorsam. Dann wechselten sie die Ringe, der Pfarrer segnete ihren Bund, die Gäste sangen ›Lobet den Herren‹, und feierlich unter Orgelklängen schritten alle hinaus in die Maisonne. Was dann kam, war allerdings ungewöhnlich genug. Die ganze Gesellschaft setzte sich nämlich in Bewegung, nein, nicht gleich nach Nearys Villa, sondern zum Zoo.

Dort war Kitchener aus seiner dösigen Winterruhe voll erwacht, und siehe, sein träges Bären-Männerauge war wieder einmal auf Rose gefallen, Rose, die jetzt im vollerblühten Bärinnenalter und gerade neu empfänglich war für Leidenschaft und Liebe.

Beide schnauften und rangelten, schoben und stießen einander. Unbefangene Gemüter hätten glauben können, hier passiere ein Mord. Und doch bewegten die beiden die ewigen Gefühle, die den Fortbestand der Welt und der ganzen Schöpfung garantieren. Liebe!

Liebe im Wonnemonat Mai … Jim drückte seine hold errötende Frau an sich. William Rockwell, der bisher sehr blaß und abgespannt gewirkt hatte, bekam Farbe und preßte die Hand seiner Jenny. Seine Kameraden oder die Söhne dieser Kameraden stellten sich stramm in einer Linie auf und brachten für Kitchener und das Brautpaar ein dreifaches »Hurra!« aus.

Deborah Maryrose Kellenhusen, geborene Hawks, schüttelte nur den Kopf, und auch ihr Gatte war etwas peinlich berührt, während die Nearys sich köstlich amüsierten und die Fotografen vor Begeisterung schier aus dem Häuschen gerieten.

William hatte für Jim gute Kunde aus Kanada mitgebracht.

In Montreal plante die führende Galerie eine große Ausstellung mit Jim-Rockwell-Gemälden. Als Jim abreiste, war der Besitzer der Galerie bereits auf den jungen Künstler aufmerksam geworden. Man war miteinander in Verbindung geblieben, und nun war Jim sozusagen über Nacht berühmt geworden. Oder jedenfalls ein bißchen berühmt.

»Du wirst bei mir also nicht verhungern müssen, Darling«, hatte Jim zärtlich seiner Alice versichert. »Schade, daß wir jetzt nicht dort sind. Überall auf den weiten Wiesen blüht jetzt der Klee, weiß wie flockiger Schnee. Wer das einmal erlebt hat, vergißt es nie wieder, und es ist einmalig auf der Welt. Glaube mir, du wirst das Land lieben lernen.«

»Ich liebe es jetzt schon, weil du es liebst«, sagte Alice.

William Rockwell preßte verstohlen die Hand aufs Herz. Es tat weh. Das passierte immer häufiger. Aber die Reise ist auch recht anstrengend gewesen, tröstete er sich, und so ein altgedienter Knochen wie ich hat natürlich seine Lädierungen weg, da gibt es nichts. Außerdem ist das hier ja wohl auch eine erschütternde Situation. Kitchener. Mein kleiner großer Bär. Plötzlich sah er sie alle wieder vor sich, die blassen, schlammverkrusteten Gesichter, die verhärmten Kameraden mit den brennenden Augen. Ja, sie schienen ihn anzublicken mit den Augen dieser gesunden, wohlgenährten Söhne. Seine Erinnerung ging zurück nach Arras, nach Cambrai. Da war das Land, über das die giftgrünen Schwaden des Gases zogen. Dort, dieser Leslie Rumbler, hatte sich die Gasmaske vom Gesicht gerissen, weil ihm die Luft fehlte vor Erregung und er zu ersticken meinte. Und William hatte sie ihm mit Gewalt wieder ans Kinn gepreßt. Später war er doch noch umgekommen. Der da, Winnie Carter, war der Essenholer von Armentieres, der mit einem Splitter im Bein und einer Kugel in der linken Schulter den Verpflegungssack bis nach vorn schleppte und dann erst zusammenbrach. Ja, und da war auch Robert O'Conney, der beste Spähtruppler der ganzen Kompanie, der damals, 1917, die Drahtlücke an den deutschen Linien entdeckte. Sie waren alle wieder da. Webbs lachte, Oberst ›Luckie‹ Perkins machte trockene Witze. Draußen im Grauen waren sie zusammengewachsen, fester verbunden, als Brüder es sein konnten. Clark! Shenessy! Smith! Guitry! Es war, als ob die Lebenden und die Toten sich noch einmal zur Stelle meldeten. Einer stand für den anderen ein, und über allem galt das eine Wort: Treue!

William preßte die Hand aufs Herz und stieß einen ächzenden Laut aus.

»William, was ist?« Jenny reckte sich besorgt zu ihm hoch.

Williams Gesicht färbte sich grau. Hastig öffnete er den Kragenknopf.

Die anderen Leute waren fasziniert vom Liebesspiel der Bären und hatten nichts bemerkt. William atmete mehrmals tief durch und schlug sich energisch auf die Brust. Das half meistens. Es wirkte auch diesmal. Gott sei Dank!

Die Jungs aus Toronto stimmten noch an: »For he is a jolly good fellow!«, und alle Gäste sangen mit. Dann verließ die Hochzeitsgesellschaft den Platz vor dem Bärengehege.

Chuck Brady und Pfleger Bear waren heilfroh. So ein Auflauf machte die Tiere nur nervös. Sie waren alle sensibel und spürten es genau, wenn sich etwas Außerordentliches ereignete.

Die Braut hatte bezaubernd ausgesehen. Und Kitchener war nun einmal ein Bär mit Publicity, da konnte man nichts machen.

Immer noch stand da jedoch der alte kanadische Haudegen. Na, so alt war er gar nicht, aber knorrig wirkte er. Mager und knorrig. Und die daneben, die seinen Arm an sich preßte, war bestimmt die Ehefrau und Mutter des Bräutigams. So eine zierliche Person. Genau wie die Braut. Hatte man ja häufig, daß die Söhne sich eine Frau aussuchten, die aussah wie die Mutter.

William war erschüttert. Es kam so viel zusammen. Sein Jim, der ihm immer ein bißchen fremd geblieben war – denn er hatte die wichtigsten Jahre nicht mit ihm Zusammensein können –, dieser Sohn war nun selber verheiratet, würde sicher bald eigene Kinder haben. Lieber Gott, betete William still, laß es ihn besser treffen: Erspare ihm einen Krieg!

Und da war der riesige, braunzottige Bär, der als Baby hinter ihm hergezockelt war, der ihnen allen das Leben rettete, als er das Verpflegungslager erschnüffelte, der sich so tapfer geschlagen hatte. Jawohl, tapfer! Warum sollte nicht auch ein Tier tapfer sein können?

»Na, alter Bursche, du hast dich besser gehalten als ich«, sagte William zu dem Bären hinüber. »Wie alt wird ein Bär? Dreißig Jahre. Nicht älter als fünfunddreißig, in der Gefangenschaft, meinte Webbs damals. Du wirst mich überleben, Freund. Aber wir haben uns wenigstens noch einmal wiedergesehen. Mach's gut! Viel Glück!«

»Wie fühlst du dich, William?« fragte Jenny besorgt.

»Wunderbar, meine Kleine. Jetzt aber los! Sonst sind wir nachher nicht dabei, wenn die Reden beginnen. Dein alter William wird hundert Jahre. Mindestens. Mach dir also um des Himmels willen keine Sorgen!«

Jenny lächelte tapfer. Sie wußte: Ihr Mann wurde ärgerlich, wenn er auf seine Wehwehchen und Zipperlein angesprochen wurde. Kranksein paßte einfach nicht zu seinem Weltbild.

So war William Rockwell auch nachher bei der Hochzeitsfeier seines älteren Sohnes einer der Lustigsten. Er und seine Kameraden lärmten sogar, denn je lauter man lachte und schwadronierte, desto besser konnte man Unsicherheit und Lampenfieber, und was es sonst noch so gab in der Fremde, verstecken. Da wurden Erinnerungen aufgefrischt und Episoden aufgetischt. Die Söhne tuschelten über Abenteuer, von denen die Väter ihnen berichtet hatten, wenn Mutter nicht zuhörte. Da hatte es feurige Französinnen gegeben und kühle Engländerinnen mit verborgenem Temperament, Lous und Los, Georgettes und Rosettes, Vivians und Annes, und die Väter hatten den Mund sehr vollgenommen. Männer, die dabei waren und es besser wußten, schwiegen eisern. Legenden durfte man nicht zerstören. Geschichten, die immer noch ein Leuchten auf lebensharte Gesichter zaubern konnten, hatten einen guten, wahren Kern, auch wenn sie ein bißchen ins Märchenhafte schweiften.

Jenny blickte ein paarmal zu den Männern hinüber, die sich da zusammenscharten. Sie war besorgt, aber sie freute sich auch für ihren Mann. Das waren nun einmal seine Leute, Farmer meist aus dem weiten Weizenland, die ihren Pflug in die Erde preßten und das Korn mit Flügelmähern schnitten, die gewohnt waren, in der Einfachheit des Lebens auch seine Vollendung zu sehen, die in ihrem Land wurzelten wie Bäume, breit, mächtig, stark.

Der Bräutigam tanzte mit seiner Braut den ersten Walzer. Tief sahen sich Jim und Alice in die Augen, und was sie sahen, war nur Glück und Verheißung. Nach ein paar Runden tanzten auch die Gäste. William forderte seine Frau auf. Oho, er war immer noch ein blendender Tänzer, wenn auch nach einigen Minuten die Luft ein bißchen knapper wurde als früher bei solchen Gelegenheiten.

William schmunzelte. Er hatte noch eine Überraschung für das junge Paar in petto. Seine Farm hatte genug eingebracht, um ihnen in Montreal ein nettes Haus zu kaufen. Für Percy blieb immer noch reichlich genug. Jim und seine Familie sollten einen guten Start haben.

Wenn William ganz ehrlich zu sich war, begrüßte er nun die Tatsache, die er früher so bedauert hatte: daß sein Ältester kein Farmer sein wollte. Denn er fühlte sich noch viel zu jung zum Abtreten. Noch habe ich die Reiseschuhe nicht an für die ganz große, letzte Fahrt, dachte William. Die ›Pumpe‹ macht manchmal Schwierigkeiten. Das Bein mit den Splittern drin tut gelegentlich teuflisch weh. Aber jeder hat schließlich seine Blessur abgekriegt, der an der Front gestanden hat. Wir sind zähe Kerle. Wir sterben nicht einfach so.

Das Brautpaar zog sich jetzt zurück, um sich für die Hochzeitsreise umzukleiden. Sie führte natürlich nach Paris, das Jim seiner jungen Frau zu Füßen legen wollte.

»Wir sollten uns auch verdrücken«, sagte William zu Jenny. »Weißt du, Kleine, London ist nicht übel, aber es ist eben nicht Ontario. Und Percy fehlt mir doch sehr. Lucille selbstverständlich auch, aber Percy, der kleine Kerl, wird sich ganz verlassen fühlen.«

Jenny lächelte, und wenn sie so strahlte und kleine Grübchen in den Wangen hatte und den Kopf mit den dunklen Haaren in den Nacken warf, um ihrem Mann von unten her in die Augen zu blicken, sah sie wie ein junges Mädchen aus.

»Percy wird sich schon einen guten Tag machen … Nun rede nicht rum, William Rockwell«, sagte sie, »gib zu, daß du Heimweh hast!«

William lachte. »Wie du mich aber auch immer durchschaust, Liebes!«