15
In der kleinen weißen Villa am Bois de Boulogne legte man René Stanislas nicht ins Bett, sondern auf den breiten Küchentisch. Die Köchin kreischte auf, als man ihren blutenden Herrn durch die Hintertür hereintrug und General de Polignon mit seinem Spazierstock alles, was auf dem Tisch stand, auf den Kachelboden fegte.
»Tücher her!« brüllte er, rannte zur Tür und schrie in das stille Haus hinein. »Personal her! Diener! Bettücher, Handtücher und Laken, schnell! Und sie –«, er wandte sich wieder an die Köchin, die zitternd, die Hände gefaltet, neben dem Herd stand und Stanislas und die starre Nadja anblickte, »Sie bringen Wasser! Kochendes Wasser! Verdammt, steht nicht so herum!«
Der Diener und ein Stubenmädchen stürzten in die Küche, die Arme voll Laken und Handtücher aus Frottierstoff. Vorsichtig hoben der Arzt, Baron de Signy und der alte General den Körper Stanislas' hoch, und der Diener deckte die Laken und die Handtücher über den Tisch.
Von diesem Augenblick an war es still. Wie versteinert stand das Personal an den Wänden; Nadja saß neben dem Tisch auf einem Stuhl, General de Polignon hatte seinen schwarzen Gehrock ausgezogen und half in Hemdsärmeln dem Arzt. Baron de Signy stand an der Hintertür. Draußen, im Wirtschaftshof, wartete Jean Gabriel. Er stand neben seinem Wagen und starrte auf die Küchenfenster, aber er wagte es nicht, das Haus zu betreten. Mit leerem Blick starrte er geradeaus und dachte an Nadja, die jetzt neben dem Sterbenden saß.
Ich habe sie verloren, endgültig verloren, dachte er. Nicht Stanislas habe ich ins Herz geschossen, sondern mir selbst. Ich habe mich getötet.
»Die Kugel ist noch drin!« sagte der ehemalige Oberstabsarzt und legte die Sonde zur Seite, mit der in der Wunde herumgetastet hatte. »Sie ist von einem Rippenbogen abgeprallt und hat die Herzspitze verletzt. Und dort sitzt sie nun. Wenn man sofort operieren könnte …«
»Wer hält Sie davon ab, Oberstabsarzt?« fragte de Polignon steif. »Sie haben doch alles bei sich.«
»Aber doch nicht, um den Thorax zu öffnen!«
»Wieso? Auf was waren Sie denn eingestellt?«
»Auf Fleischwunden. Die Öffnung des Thorax, die Operation am freiliegenden Herzen, meine Herren, das ist eine Operation, die nur die größten Chirurgen beherrschen, und selbst denen mißlingt sie zu neunzig Prozent. Vielleicht könnte es Professor Latour … aber Monsieur Stanislas ist auf keinen Fall mehr transportfähig.«
»Das heißt … er muß sterben!« sagte Nadja klar. Der Klang ihrer Stimme ließ alle zusammenzucken. General de Polignon exerzierte nervös mit seinem Spazierstock. Der Arzt schwieg. Die Köchin begann zu schluchzen.
Durch die Hintertür kam, gegen den stummen Widerstand des Barons de Signy, der einfach zur Seite gedrückt wurde, eine staubbedeckte, schwitzende Gestalt. »Kann ich helfen?« fragte sie.
Nadja sah sich um. »Boris Michailowitsch … er stirbt … er muß sterben, weil ihn niemand operieren kann …« Sie lehnte den Kopf gegen die Tischkante. Die kalte, blasse Hand Stanislas' lag neben ihr. »Was soll ich tun? Mein Gott, was soll ich tun? Wenn jetzt Väterchen hier wäre! Er würde ihn retten können, glaubst du es? Väterchen Grigori würde ihn retten! Er konnte es!«
Saparin schwieg. Hier half auch kein Rasputin mehr, dachte er.
»Was geschieht?« fragte de Polignon knapp.
»Wir müssen warten und beten!« sagte der Arzt. »Es ist fürchterlich, Messieurs, aber Schicksal …«
»Ich werde fliegen«, sagte Saparin und starrte auf das gelblich werdende Gesicht Stanislas'. »Auf zehn Strafmandate kommt es nicht mehr an, und wenn ich meine Lizenz als Taxifahrer verliere, auch gut! Ich hole Professor Podolskij …«
»Wer ist Professor Podolskij?« fragte der ehemalige Oberstabsarzt laut.
»Wladimir Diogenowitsch Podolskij war der Chef der Krankenhäuser von Sewastopol! Wenn der Zar auf der Krim war, betreute er den Zaren und den Zarewitsch. Dreimal hat er Stichverletzungen am Herzen genäht … immer nach einem Duell!«
»Hier ist eine Kugel, die entfernt werden muß! Da hilft auch Ihr Professor Wladimir Dio – Himmel noch mal, wer soll den Namen aussprechen!« Der Oberstabsarzt stand in strammer Haltung vor dem Sterbenden. »Seien wir stark genug, Schicksale zu ertragen. René Stanislas stirbt wie ein Held in vorderster Front.«
»Damit ist ihm nicht gedient.« Nadja sprang auf, der Stuhl polterte auf den Kachelboden. »Boris Michailowitsch … holen Sie Professor Podolskij! Schnell! Schnell! Laß dir Flügel wachsen, Borja …«
Saparin schluckte. Borja, dachte er. Sie nennt mich mit einem Kosenamen. Zum erstenmal nach vier Jahren. Über sein staubiges Gesicht zuckte es.
»Ich werde fliegen, Nadja Grigorijewna. Ich werde …«
Und es gelang. Eine halbe Stunde später hielt vor der kleinen weißen Villa am Bois de Boulogne ein alter schwarzer Wagen, ein Chauffeur in der malerischen Uniform eines Tscherkessen, aber mit langem, herabhängendem tatarischem Schnurrbart, sprang heraus und riß die Tür auf, und ein kleines altes Männlein mit schlohweißem Haar und einem ebenso weißen langen Bart hüpfte auf den gepflasterten Hof. Saparin, der schon vorher eingetroffen war, kam aus der Küchentür. Hinter ihm erschien der neugierige Kopf des Oberstabsarztes.
»Kommen wir zu spät?« fragte Professor Podolskij. Eine hohe Greisenstimme hatte er, und er sprach nur Russisch. Saparin hob die Schultern.
»Wer weiß das, Wladimir Diogenowitsch? Noch lebt er.«
»Na, dann sehen wir einmal nach.« Professor Podolskij blieb stehen und sah kurz auf Gabriel, der noch immer an seinem Wagen lehnte. Seine Augen waren vom Weinen gerötet und verschwollen. »Sie sind der Schütze, nicht wahr?«
»Ja …«, stammelte Gabriel.
»Man sagte mir, es ging um Nadja Grigorijewna Gurjewa, die Tochter Rasputins?«
»Ja.«
»Idioten seid ihr alle! Alle! Ihr habt Rasputin nicht gekannt!« Podolskij sprach jetzt ein hartes, mühsames Französisch. »Wenn seine Tochter so ist wie er, gibt es keinen, dem sie gehört!« Er wandte sich ab und betrat die Küche.
Nadja stand neben dem Tisch und hielt Stanislas' Hände. Er war aus seiner tiefen Ohnmacht erwacht und sah sie an, aber er war zu schwach, um zu sprechen.
Professor Podolskij zog seine Jacke aus und warf sie seinem Chauffeur in der Tscherkessenuniform zu. Der Mann fing sie auf und faltete sie zusammen. Dabei starrte er Nadja wie einen Geist an und schnaufte durch die Nase.
»Ist das möglich!« sagte er dann, und Podolskij drehte den Kopf verwundert zu ihm. »Nadja Gurjewa …!« Er legte die Jacke auf einen Stuhl und kam mit krummen Beinen und wiegendem Schritt näher. Und da erkannte ihn auch Nadja. Ein mattes Lächeln glitt über ihr bleiches Gesicht.
»Ja. So sehen wir uns wieder …«
»Sie kennen sich?« fragte Saparin.
»Ja. Das ist Sergej Kubulai! Als Ataman führte er eine Kosakenabteilung der Weißen. Damals, südlich Tjumen, hat er Nikolai und mir das Leben gerettet.«
Kubulai, der wilde Reiter aus der Steppe, nun in Paris Chauffeur und Kammerdiener von Professor Podolskij, griff an seine Brust.
»Ich habe sie immer noch bei mir«, sagte er ergriffen. »Erinnern Sie sich, Nadja Grigorijewna … die Ikone von Väterchen Grigori. Glück hat sie mir gebracht. Ich bin den Roten entkommen, ich konnte ein Schiff finden, ich kam nach Paris. Und nun …«
»Nun reden wir herum!« rief Professor Podolskij mit seiner hellen Stimme. Er stand am Küchentisch, über Stanislas gebeugt, hielt dessen Handgelenk und zählte den kaum wahrnehmbaren Pulsschlag. »Die Kugel sitzt unterm Herzen?«
Diese Frage galt dem französischen Kollegen. Der Oberstabsarzt trat an den Tisch.
»In der Herzspitze. Ja.«
»Machen wir auf.«
»Das ist doch Wahnsinn, Herr Professor! Ohne Unterdruckkammer …«
»Es ist seine einzige Chance! Warten wir, stirbt er bestimmt. Warten wir nicht und machen auf, kann er sterben. Dieses kann ist wichtig, nur das allein! Sergej?«
Kubulai, der Kosaken-Ataman, trat vor wie auf dem Kasernenhof. »Wladimir Diogenowitsch?«
»Das große Besteck.« Podolskij sah sich um. »Heißes Wasser da?«
»Genug …«, ließ sich General de Polignon vernehmen.
Podolskij beugte sich über Stanislas. Er war noch wach, wenn auch die Augen trübe wurden und nach hinten sanken. »Können Sie mich hören und verstehen?« fragte Podolskij.
Stanislas' Kopf bewegte sich kaum merklich. Es sollte ein Nicken sein.
»Vielleicht werden Sie sterben«, sagte Podolskij ehrlich. »Vielleicht rette ich Sie. Kommen Sie mit Ihrem Gott ins reine, Monsieur … es bleiben ein paar Minuten.«
Kubulai kam mit einem Koffer und klappte ihn auf. Schimmerndes chirurgisches Besteck lag auf weißen Mullkompressen. Podolskij krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch, ging zu einer Schüssel und begann Hände und Unterarme einzuseifen. Der Oberstabsarzt zögerte, dann trat auch er an eine bereitstehende Schüssel und begann die gleichen Waschungen. Nadja saß wieder neben Stanislas und hielt seine Hände. Sie weinte nicht; der Schmerz war so groß, daß alles in ihr brannte.
»Ich wiederhole, Herr Professor«, sagte der Oberstabsarzt leise und beugte sich zur Seite, »daß diese Operation sinnlos ist. Wenn wir die Brustfellhöhle öffnen, bekommt er sofort einen Pneumothorax.«
»Danke«, sagte Podolskij. »Ich kenne mich in Anatomie aus, Kollege.«
Verbittert schwieg der Oberstabsarzt. Er will sich nur wichtig machen, dachte er ketzerisch. Nur glänzen will er als der mutige Chirurg! Und dabei weiß jeder Student im dritten Semester, daß niemand am offenen Herzen operieren kann!
»Er … er ist wieder ohne Besinnung …«, sagte Nadja. »Und seine Augen, Wladimir Diogenowitsch …«
Podolskij trat an den Tisch und blickte auf Stanislas. Dann sah er Kubulai an und schüttelte den Kopf. Und jeder wußte, was diese stumme Geste bedeutete. Baron de Signy riß sich den Schlips herunter und öffnete den steifen Kragen, General de Polignon straffte sich. Kubulai und Saparin nahmen die Mützen ab, der Stabsarzt stand mit tropfenden Händen neben den Waschschüsseln. Nur Nadja schien noch nicht zu begreifen. Sie beugte sich über Stanislas und küßte seinen farblosen Mund.
»Darf ich bleiben?« fragte Nadja und sah Podolskij flehend an. »Schicken Sie mich nicht hinaus, wenn Sie operieren. Ich habe es gelernt, Blut zu sehen und tapfer zu sein.«
»Eine halbe Stunde zu spät …«, sagte Podolskij leise. »Er ist nach innen verblutet …«
Und da verstand auch Nadja Grigorijewna. Einen Moment stand sie starr, mit hängenden Armen, dann warf sie sich über Stanislas, umfaßte seinen Kopf mit beiden Händen und rief seinen Namen. Seine großen dunklen Augen blickten über sie hinweg, aber es war ein seelenloser Blick, verschleiert und ohne Leben. Die Wangen sanken ein, die Lippen öffneten sich, weiß und spitz beherrschte nun die Nase das ganze schöne Gesicht.
Podolskij rollte seine Hemdsärmel wieder herunter und schloß die Manschetten mit goldenen Knöpfen. Während die anderen noch in Erschütterung schwiegen, dachte er bereits praktisch.
»Ich bin nie hier gewesen, Messieurs«, sagte er laut in die beklemmende Stille hinein. »Sie wissen, daß Duelle verboten sind und der Sieger als Mörder verurteilt wird! Aber Sie müssen einen Totenschein haben.« Er streckte die Arme aus, und Kubulai reichte ihm die Jacke. »Rufen Sie den nächsten Arzt und erzählen Sie ihm etwas von Jagdunfall oder Selbstmord! Man wird keinerlei Zweifel haben.« Podolskij stockte, als habe er etwas vergessen, dann ging er zum Tisch zurück und beugte sich über Nadja. Nun sprach er wieder russisch, und nur Saparin und Kubulai verstanden ihn, und das Grauen strich über ihren Rücken.
»Nadja Grigorijewna«, sagte Podolskij ernst. »Verfluchen Sie nicht den Schützen, verfluchen Sie nicht die Liebe, verfluchen Sie nicht das Schicksal. Verfluchen Sie Ihren Vater …« Der Kopf Nadjas zuckte hoch. Ihre dunklen Augen flammten. Podolskij nickte. »Ja, genauso hat er mich angestarrt, Grigori Jefimowitsch Rasputin. Gott hat ihn verflucht und mit ihm alle, die aus ihm kamen! Sie laufen Ihrem Schicksal nicht davon, Nadja! Wie Kain sind Sie gezeichnet, weil Sie seine Tochter sind … Leben Sie wohl. Wenn es auch viele bezweifeln: es gibt einen gerechten Gott!«
»Was … was habe ich getan?« sagte Nadja leise. Ihr Mund verzerrte sich. Beide Hände legte sie über die starren Augen Stanislas'. »Ich will nur ein Mensch wie alle anderen sein!«
»Das werden Sie nie, Nadja Grigorijewna. Sie sind eine Rasputina!«
Professor Podolskij strich sich über seine langen weißen Haare, winkte dem zögernden Kubulai und verließ die Küche wieder durch den Hintereingang. Kubulai, den Koffer mit den Instrumenten in der Hand, folgte ihm.
Im Hof trat ihnen wieder Gabriel entgegen. Der große, schwere, selbstsichere Mann hatte sich erschreckend verändert. Hemd, Rock und Hose schienen plötzlich zu groß geworden zu sein. Sie schlotterten um seinen Körper.
»Gerettet?« fragte er heiser.
»Tot!« sagte Podolskij ungerührt.
»Ich schwöre Ihnen: Ich habe an ihm vorbeigezielt! Ich wollte ihn nicht treffen! Um kein Feigling zu sein, mußte ich schießen, aber – bei meinem Augenlicht! – ich habe an seiner Brust vorbeigezielt.«
»Dann lassen Sie die Pistole zum Waffenmacher bringen und den Lauf richten.« Podolskij hob die schmalen Greisenschultern. »Der Mann ist jedenfalls tot. Herzschuß.«
»Ich schwöre Ihnen …«, stammelte Gabriel. »Ich schwöre Ihnen bei allem …«
Podolskij schüttelte den Kopf, stieg in seinen alten Wagen, und Kubulai, der ehemalige Kosaken-Ataman, warf den Schlag zu und rannte um das Auto herum zum Steuer.
In der Küche versuchten General de Polignon und der Oberstabsarzt, Nadja von dem toten Körper wegzuziehen. Sie krallte sich an ihm fest, und erst Saparin gelang es, sie zur Vernunft zu bringen.
»Nadja Grigorijewna«, sagte er zärtlich. »Sie haben Helena versprochen, mit ihr an diesem Morgen zum Rennplatz zu gehen. Helena ist fertig und wartet auf Sie. Sie freut sich so auf die Pferde …«
Nadja nickte und erhob sich. Noch einmal sah sie Stanislas in das nun schrecklich leere Gesicht, dann wandte sie sich abrupt ab und verließ die Küche.
Während der folgenden Wochen gab es keine Ruhe.
René Stanislas wurde auf dem Friedhof von St. Cloud beigesetzt, in einer marmornen Familiengruft, die er sich zu Lebzeiten hatte bauen lassen, weil er dieses St. Cloud liebte seit seinen Kindertagen, als er in dem riesigen Park und den lichten Wäldern gespielt hatte. Dann begann für Nadja ein Kampf, dem sie nicht gewachsen war. Wenn es darum gegangen wäre, Mut zu zeigen, mit der Waffe in der Hand zu streiten, Opfer zu bringen und unerhörte Stärke zu zeigen wie damals in Sibirien, Nadja hätte gekämpft wie eine Wölfin, und sie hätte gesiegt wie immer. Aber hier war es ein stiller, verbissener, heimtückischer Kampf. Mit Paragraphen und Gesetzen wurde geschossen, mit Gutachten und Obergutachten, mit bestochenen Zeugen und gefälschten Beweisen.
Es begann damit, daß schon gleich nach dem Begräbnis – an dem Nadja nicht teilnahm, weil sie es nicht übers Herz brachte, Stanislas in die Erde versinken zu sehen – eine Kolonne Autos vor die kleine weiße Villa fuhr und ein Heer schwarzgekleideter Menschen sich in das Haus ergoß.
Zuerst war es der Vater Renés, der Reeder Marcel Stanislas aus Brest, der zu Nadja ins Zimmer kam. Er klopfte nicht an, er trat einfach ein und musterte Nadja, wie man eben eine Hure mustert, die ausgedient hat und nun auf eine Abfindung wartet, um endlich gehen zu können. Die andere Verwandtschaft wartete unterdessen im Salon. Man hörte ihr Stimmengewirr durch alle Decken und Türen.
»Ich glaube, ich erweise meinem Sohn einen Gefallen, wenn ich Ihnen zehntausend Francs übergebe«, sagte Marcel Stanislas steif und holte einen ausgeschriebenen Scheck aus der Tasche. Er legte ihn auf einen Rokokotisch und wartete auf eine Antwort.
Nadjas Lippen waren zusammengepreßt zu einem Strich. Sie nahm den Scheck und zerriß ihn schnell in kleine Schnipsel, die sie Marcel Stanislas vor die Füße warf.
»Wie Sie wollen! Ich schreibe nicht noch einmal einen Scheck aus. Also gehen Sie ohne Abfindung!« Marcel schob die Papierfetzen mit der Schuhspitze weg. »Mein Chauffeur wartet. Ich nehme an, Sie haben nicht viel persönliches Eigentum, und das Packen geht schnell. Kann ich noch etwas für Sie tun?«
Marcel wartete. Er vermied das Wort Madame, er vermied überhaupt jede Anrede, und das ist das Unhöflichste, was ein Franzose zu bieten hat. Nadja nickte kurz.
»Ja!« sagte sie laut. »Gehen Sie! Sie und Ihre Verwandtschaft. Ich bleibe!«
»Ist das nicht ein Irrtum?« Marcel lächelte mokant. »Ihre Aufgabe hat sich erledigt. Mein Sohn lebt nicht mehr.«
»Ich bin Besitzerin dieses Hauses«, sagte Nadja hart. »René hat es mir geschenkt.«
»Ich nehme das nicht zur Kenntnis. Sie lügen.«
»Bitte.« Nadja hielt ihm ein Blatt Papier hin. Es war die schriftliche Schenkungsurkunde. »›Ich habe von meinem Vater gelernt, wichtige Dinge schriftlich zu geben‹, hat René gesagt, als er diesen Brief schrieb.«
Über das Gesicht Marcels zuckte es, aber dann setzte er wieder die hochmütige Maske eines Mannes auf, unter dessen Würde es ist, Schmutz anzufassen. Mit spitzen Fingern nahm er das Schreiben aus Nadjas Hand, las es gar nicht durch, sondern zerriß es wortlos.
»Es gibt keine Schenkung!« sagte er dann fest.
»Was Sie zerrissen haben, war eine Kopie«, sagte Nadja ebenso kalt. Auf diese Stunde hatte sie sich vorbereitet. Saparin hatte sie gewarnt.
»Und das Original?« fragte Marcel heiser.
»Liegt bei meinem Anwalt!«
»Madame …« Zum erstenmal sprach er sie an. Marcel Stanislas war klug genug, um zu wissen, daß jetzt nicht Härte, sondern nur noch Verhandeln einen Sinn hatte. Und war das Verhandeln nicht erfolgreich, gab es einen langen, zähen Kampf, den der gewann, der die besten Anwälte und das meiste Geld für alle Instanzen und rechtlichen Möglichkeiten hatte. »Warum sollen wir uns die Schädel einschlagen? René war ein Feuerkopf. Ich gestehe, er hat einen blendenden Geschmack entwickelt, als er sich mit Ihnen liierte. Ich gönne dem Jungen die Freude an Ihrer Seite und die Erschöpfung in Ihrem Bett! Aber nun ist René tot. Über den Schmerz eines Vaters hinaus fühle ich die Pflicht, seinen Nachlaß zu ordnen. Zum Nachlaß gehören auch Sie. Als lebendes Inventar. Die Villa, die Einrichtung, die Pferde, die Autos kann ich verkaufen, und ich werde es auch tun. Sie leider nicht. Aber ich werde Ihre Vorzüge offerieren in Bekanntenkreisen. Ich kenne genug reiche Junggesellen, aber auch erlebnishungrige Ehemänner, die gern in Renés Nachlaß einsteigen und Sie übernehmen …«
»Hinaus!« sagte Nadja gefährlich leise. »Gehen Sie sofort hinaus …«
»Gut! Beachten wir die Ehre, die jeder Mensch hat. Wie hoch schätzen Sie Ihre vorübergehende Trockenheit ein? Zwanzigtausend Francs? Mein letztes Angebot.«
»Wollen Sie, daß ich Ihnen einen Leuchter an den Kopf werfe?« Nadjas Hände zuckten. Bewundernd betrachtete Marcel sie und bedauerte, sich zu weit vorgewagt zu haben, um nun nicht mehr selbst in das Erbe seines Sohnes einsteigen zu können, wie er es nannte. Er sah ihr nach, wie sie zu einer Klingel rannte und auf den Knopf drückte. Mal sehen, wer jetzt kommt, dachte er. Hat sie im Schlafzimmer einen Advokaten versteckt? Nun ja, eine Urkunde hat sie, aber man wird sie anfechten.
»Wir Stanislas' haben harte Schädel«, sagte er. »Unser Urgroßvater kam aus Nischni Nowgorod. Von ihm geht die Sage, daß er einmal mit einem Ochsen zusammenrannte, Kopf gegen Kopf, und der Ochse brach zusammen. Das hat sich nicht geändert, nur René schlug aus der Art.«
Die Tür klappte hinter Marcel. Neugierig sah er sich um. Saparin war hereingekommen. »Wer ist denn das?«
»Wirf ihn hinaus, Boris Michailowitsch«, sagte Nadja hart. »Nimm ihn und alle, die im Haus sind, und hinaus mit ihnen. Und gehen sie nicht freiwillig … nimm die Nagaika aus dem Kaminzimmer und peitsche sie hinaus! Mir wird übel, wenn ich sie sehe!«
Marcel Stanislas stand starr und mit zuckenden Backenmuskeln. Er war unschlüssig, was er tun sollte … Gegenwehr oder nachgeben!
Saparin ließ ihm nicht viel Zeit zur Überlegung.
»Entfernen wir uns, Monsieur«, sagte er dunkel und spreizte die Hände. »Wenn in unserem Dorf ein Männlein frech wurde, trat man ihn so lange in den Hintern, bis sein Gehirn wieder klargeschüttelt war! Beachten Sie, Monsieur, daß ich einen guten Tritt habe!«
Marcel Stanislas atmete tief auf. »Ich schlage mich nicht mit dem Pöbel!«
»Wenn es Sie beruhigt – ich bin Graf Saparin. Ich glaube nicht, daß Sie so schnell wieder zu einer gräflichen Ohrfeige kommen!«
»Grafen! Fürsten! Großfürsten! Generäle! Admiräle! Alles ein einziges russisches Pack! Diese Läuse haben in Frankreich noch gefehlt!« Marcel Stanislas ging hocherhobenen Hauptes zur Tür. Saparin hatte die Hände gefaltet … es war die einzige Möglichkeit, sich zu zwingen, ruhig zu bleiben. »Ich weiche dem Plebs … aber Sie werden von mir hören!«
Und so war es auch. Nadja hörte sehr deutlich von der Geldmacht Marcel Stanislas'. Schon drei Tage später ging es los. Zwei Rechtsanwälte fochten das inzwischen eröffnete Testament Renés an. Ein Testament, das er ohne Wissen Nadjas hinterlegt hatte, bevor er hinausfuhr zum Bois de Boulogne, zu dem unsinnigen Duell um die einzige Liebe Nadja Gurjewas. Ein Testament, in dem er Nadja zur Alleinerbin bestimmte. Es war ein Geschenk im Wert von sechs Millionen Francs.
»Wir werden auch die besten Anwälte nehmen!« sagte Saparin. »Ich habe am Sonntag beim Gottesdienst in unserer Kirche in der Rue Daru alle gesprochen, die Geld haben! Wir helfen Ihnen, Nadja Grigorijewna. Sogar die Fürstin Marina Arkadijewna Lepika. Sie stiftet tausend Francs. Sie sagt, Väterchen Grigori habe sie 1911 von der Fallsucht geheilt.«
»Was sind tausend Francs …«, sagte Nadja resigniert. »Es geht um sechs Millionen!«
Es zeigte sich, daß Nadja das richtige Gefühl hatte. Was die russischen Emigranten jeden Sonntag nach dem Gottesdienst in der orthodoxen Kirche zusammenlegten – Saparin ging wie ein Bettler mit dem Hut kassieren –, reichte nicht aus, dem Heer der Stanislasschen Anwälte eine Armee eigener Advokaten gegenüberzustellen. Die Mittel waren bald zu Ende, und da Gerechtigkeit zu allen Zeiten eine Frage des Kapitals und des längeren Atems war, wurde Nadja nach einigen Wochen von den Argumenten überspült und ertrank in Verleumdung und Schmutz.
Die Gründe der Anfechtung von Schenkungsurkunde und Testament waren vielfach: Zuerst sprach man von sexueller Hörigkeit, die einem Wahnsinn gleichzusetzen sei. Dann – als der Richter dies bezweifelte – führte man ins Feld, diese Schenkungen könnten im Alkoholrausch erschlichen sein. Dem widersprach das Datum des Testaments: der Tag vor Renés Tod. Aber das war ein verfängliches Argument, denn nun blitzte es in dem Hirn eines guten Anwalts, und er bewies in einem langen Schriftsatz, daß hier nun der Beweis liege: eine schleichende Schwermut, also ein Wahnsinn, denn wenn René Stanislas einen Tag vor seinem Selbstmord – das wurde nun als Todesursache bezeichnet – eine solche widersinnige letzte Verfügung traf, dann mußte er zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Besitz seiner geistigen Kräfte gewesen sein. Das Testament war also ungültig!
Noch einmal gelang es Nadja, diese These umzustoßen. Drei Direktoren sagten aus, daß René vierzehn Stunden vor seinem Tod noch mit ihnen konferiert hatte. Klug und sicher und völlig normal wie immer.
Was jetzt kam, war ein Lumpenspiel.
Marcel Stanislas hatte lange gerungen, ehe er dazu seine Erlaubnis gab. Aber sechs Millionen sind mehr als ein reines Bild von einem Toten.
Die Anwälte legten zwei ärztliche Gutachten vor und die beeideten Aussagen von zwei Dienern, die René vor einem Jahr wegen Diebstahls (aber das stand nicht in den Akten) hinausgeworfen hatte: René Stanislas handelte in einem paralytischen Anfall, als er Testament und Schenkung aufsetzte. Es lag der Beweis vor, daß er schon seit drei Jahren an Syphilis litt. Die Diener hatten ein Gespräch mit einem Arzt belauscht.
Ist ein Paralytiker geschäftsfähig?
Und nun verneinten die Gerichte und gaben dem Antrag statt, René Stanislas rückwirkend zu entmündigen.
»Diese Schweine!« schrie Saparin, als der neue Beschluß in Nadjas Händen war. »Diese Schurken! Einen Toten zu beschmutzen! Ist das noch ein Vater?«
»Sechs Millionen, Boris Michailowitsch!« Nadja warf das Gerichtsschreiben in das Feuer des offenen Kamins. Herbst war es mittlerweile geworden, die Abende wurden kühl und feucht. »Ein Toter verfault, aber sechs Millionen tragen Zinsen.«
»Und was werden Sie jetzt tun?« schrie Saparin.
»Nichts. Ich gebe auf.« Nadja hob die Arme und ließ sie an den Körper zurückfallen. »Hat es einen Zweck?«
»Die Zukunft Helenas!«
»Mit diesem dreckigen Geld? Nein! Helena kann ich allein ernähren und erziehen! Ich brauche das Geld der Stanislas nicht. Und wenn ich wieder tanzen gehe … oder Schürzen nähe … oder in den Markthallen Körbe schleppe … Ich bin noch jung, und ich habe mehr Kraft, als man mir ansieht.«
»Das weiß der Himmel! Wirklich! Sie sind wunderbar, Nadja!« Saparin schnaufte wie ein Walroß. »Werden wir Kompagnons … kaufen wir noch ein Autotaxi. Fahren Sie durch Paris, Nadja. Die erste Taxifahrerin von Paris! Und dann seien Sie klug, mein Täubchen … nehmen Sie alles mit, was sich Ihnen bietet. Seien Sie skrupellos wie die anderen! Lassen Sie die Männer zahlen für jeden Blick, jeden Kuß, jeden Griff, jede Bewegung. Sammeln Sie Geld, Nadja … für Sie liegt es auf der Straße. Nur aufzuheben brauchen Sie es!«
Nadja schwieg. Sie starrte in die Flammen des Kamins und dachte an Nikolai Gurjew und Stanislas. Zweimal hatte sie geliebt, und zweimal öffnete sich danach ein Grab. Nun war es genug. Hatte Professor Podolskij die schreckliche Wahrheit erkannt? War ihre Liebe verflucht? Brachte sie Tod, wo man sich Glück ersehnte?
»Laß mich allein, Boris Michailowitsch«, sagte Nadja und beugte sich zu den Flammen vor. »Komm morgen wieder.«
Saparin blieb unschlüssig an der Tür stehen. Er sah, wie Nadjas Rücken zuckte.
»Sie sollten nicht zu nah an die Flammen gehen«, sagte er heiser. »Ihre langen Haare fangen schnell Feuer …«
Nadja schüttelte den Kopf. »Ich brenne nicht«, sagte sie dunkel. »Wie könnte die Tochter des Teufels brennen?«
Saparin ging aus dem Zimmer. Aber er blieb im Haus, wachte in einer verlassenen Dienerkammer und sah von der Treppe herab, daß das Licht die ganze Nacht brannte und Nadja bis zum Morgen am Kamin sitzen blieb.
Am nächsten Tag brachte er einen Brief zum Gericht.
Nadja Gurjewa verzichtete damit auf alle Ansprüche am Erbe René Stanislas'.
Und noch am gleichen Tag zog sie aus, um nicht zu erleben, wie die Verwandtschaft sich über die Dinge stürzte, die Renés und ihr Paradies hätten werden sollen. Nur ihr persönliches Eigentum nahm sie mit, auch die Geschenke Renés. Eine Perlenkette, eine Brillantbrosche und ein Armband aus Rubinen.
»Für die Brosche kaufen wir ein Auto!« sagte Saparin. »Und dann los! Paris kann man nicht beim ersten Anlauf erobern!«
Und so kam sie wieder in ihre alte Wohnung in der Avenue de New York, Ecke Place de l'Alma, und die Concierge begrüßte sie, als sei sie nur auf einer langen Reise gewesen. Nichts hatte sich verändert.
»So ist das Leben, mein Engel«, sagte Nadja am ersten Abend in der alten Wohnung. Helena lag im Bett, ihr Püppchen im Arm, und Nadja saß auf der Bettkante und hatte zum Tagesabschluß ein altes russisches Märchen erzählt. »Es kann Gold und Diamanten vom Himmel regnen – wichtig ist, daß man ein guter Mensch bleibt.«
»Und wir sind gute Menschen, Mamuschka?«
»Wir zwingen uns, es zu sein.«
»Und ist das schwer, Mamuschka?«
»Schwer, mein Engel. Sehr schwer.«
Sie beugte sich über Helena und gab ihr einen Kuß. Und plötzlich wurde es feucht in ihren Augen.
Es war so herrlich, wieder weinen zu können.
Ende Oktober kam der Zirkus Orlando nach Paris und bezog in einer Halle auf dem riesigen Gelände der Gare aux Marchandises, wo auch die Reparaturwerkstätten der Staatsbahnen lagen, sein Winterquartier.
Bunte Plakate warben in ganz Paris für den Besuch der Vorstellungen, die Litfaßsäulen und Holzwände, Bauzäune und Bäume waren vollgeklebt mit Löwenköpfen, Elefanten, Trapezkünstlern, Kamelreitern und mit Seehunden spielenden Clowns. Drei Werbeautos fuhren die Avenues und Boulevards hinauf und hinunter und lockten mit schreiender Lautsprechermusik, die Bilder todesmutiger Artisten anzusehen und Eintrittskarten im Vorverkauf zu erwerben.
Auch Helena blieb bei einem Spaziergang vor einer der riesigen Plakatwände stehen und sah mit großen Augen auf die brüllenden Löwenköpfe und den Mann in weißer Uniform, der die Peitsche hob und die Bestien Männchen machen ließ wie gutmütige Pudelchen.
»Gehen wir da auch hin, Mamuschka?« fragte sie und zerrte an Nadjas Hand. »O bitte, bitte, Mamuschka.«
»Wenn du keine Angst hast, Helenuschka …«
»Angst? Wovor?«
»Vor den vielen wilden Tieren.«
»Ich habe keine Angst!«
Nadja drückte Helena an sich, und als auf der Rue de Rivoli ein lärmendes Auto des Zirkus Orlando an ihnen vorbeifuhr, winkte sie und kaufte zwei Eintrittskarten. Ganz vorn am Manegenrand.
Es ging Nadja in diesen Wochen nicht schlecht, und auch die Zukunft sah nicht trostlos aus. Vier Tage nach ihrem völligen Verzicht auf das Erbe René Stanislas' erhielt sie die Mitteilung, daß auf der Nationalbank für sie ein Konto mit zwanzigtausend Francs eingerichtet worden sei. Der Einzahler wolle ungenannt bleiben.
Nadja lächelte bitter und schloß den Brief weg. Es wird für Helena sein, dachte sie. Von Marcel Stanislas nehme ich kein Geld an. Aber Helena wird mit diesem Geld studieren können. Sie soll nie wissen, wie bitter das Leben sein kann.
Aber das war nicht die einzige Unterstützung, die Nadja von unbekannter Seite erhielt. Jede Woche brachte der Geldbriefträger eine Anweisung über hundertfünfzig Francs, und diesmal stand Nadja vor einem Rätsel, denn als Absender war nur ein Schließfach am Hauptpostamt genannt. Zwei Wochen lang rührte sie das Geld nicht an, dann überwand sie ihre Scheu vor dem unbekannten Geschenk.
Saparin hatte es fertigbekommen, trotz der kritischen Wirtschaftslage die Brillantbrosche Nadjas gut zu verkaufen.
»Hurra!« schrie er und warf Nadja die Geldscheine auf den Tisch. »Hurra! Das bedeutet ein Luxusauto und ein halbes Jahr Leben dazu! Soll ich das zweite Taxi kaufen?«
»Ich überlasse es dir, Boris Michailowitsch«, sagte Nadja. »Ich glaube, ich habe gar keinen eigenen Willen mehr …«
Und Saparin bestellte einen schönen schwarzglänzenden Citroën. Nadja aber begann bei Saparin Fahrunterricht zu nehmen. Sie fuhren dazu hinaus zu einem großen Schuttplatz, wo Nadja gefahrlos ihre Runden drehen konnte, bremste und rückwärts fuhr, Schalten und Zwischengasgeben lernte und sich von Saparin den Motor, das Getriebe und das Differential erklären ließ.
Saparin war ein strenger Lehrer. Nadja mußte Zündkerzen auswechseln und sie reinigen; er täuschte eine Reifenpanne vor, und Nadja wechselte einen Reifen. Einmal baute er einen Fehler ein, und Nadja mußte ihn suchen. Der Wagen blieb plötzlich stehen und gab keinen Laut mehr von sich.
»Du bist ein Lump, Boris Michailowitsch!« rief Nadja lachend aus dem Fenster, bückte sich und drehte den Benzinhahn wieder auf. »Man muß klüger sein, um eine Nadja Gurjewa zu übertölpeln!«
Kurzum … es fehlte nicht an Ablenkung nach den Tagen und Wochen der Verzweiflung. Auch Moulin Rouge meldete sich wieder mit einem verlockenden Angebot. Aber Nadja lehnte ab. Sie wollte nicht mehr tanzen. »Mein Körper gehört mir!« sagte sie entschieden, als Saparin sie ein ›dummes Vögelchen‹ nannte. »Ich kann uns anders ernähren als durch Schmierigkeiten.«
So war das Leben Nadjas im herbstlichen Paris, als sie mit der kleinen Helena den Zirkus Orlando besuchte. Es war die Nachmittagsvorstellung, Hunderte von Kindern saßen um die Manege, die Kapelle spielte, von den Stallungen wehte der herbe Geruch exotischer Tiere in die große Halle. Ein dummer August schoß Purzelbäume durch den mit Sägemehl vermischten Manegensand, und die Kinder jubelten und klatschten.
Dann rollte die Vorstellung ab. Rassige Pferde tanzten, Seelöwen balancierten mit bunten Bällen, unter dem Hallendach flogen Trapezkünstler über- und untereinander von einem schwingenden Trapez zum anderen, ein Zauberer holte Tauben aus einem Zylinder und ließ eine Frau in einer Kiste verschwinden. Jongleure zauberten Schwerelosigkeit mit flammenden Fackeln, Chinesen drehten Teller auf dünnen, biegsamen Bambusstöckchen, dann marschierten die Elefanten ein, graue Kolosse aus der Urzeit, und Helena staunte mit offenem Mund über diese Tiere mit den langen Nasen, wie sie Nadja zuflüsterte.
In der Pause bauten die Zirkusarbeiter einen Gitterkäfig in der Manege auf. »Was kommt jetzt?« fragte Helena. »Mamuschka, kommen jetzt die wilden Tiere?«
»Ja, mein Engel, gleich kommen die Löwen.«
Die Lichter in der Halle erloschen. Nur der große runde Käfig lag im gleißenden Scheinwerferlicht. Eine Stimme aus der Dunkelheit, die über viele Lautsprecher dröhnte, sprach zu den Besuchern.
»Und jetzt sehen Sie die beste Löwendressur der Welt. Orlandos in der Freiheit geborene und von Frank Castor dressierte Berberlöwen. Achten Sie auf den Löwen mit der dunklen Mähne. Vor einem Jahr lebte er noch im Atlasgebirge. Frank Castor hat ihn selbst gefangen und dressiert.«
Ein Scheinwerfer schwenkte zu einer Tür im Gitterkäfig. Lächelnd betrat ein schlanker mittelgroßer Mann die Manege und verneigte sich. Er trug hohe braune Stiefel, weiße Reithosen und ein blütenweißes Hemd. Auf den blonden Haaren saß keck, etwas nach hinten in den Nacken geschoben, ein weißer Tropenhelm. In der Hand hielt er eine Lederpeitsche und eine hölzerne Stange.
Nach dem Applaus peitschte er durch die Luft, es knallte wie ein Pistolenschuß, ein Zirkusdiener klappte die Tür zum Laufgang auf … und da hörte man schon von draußen das dumpfe Brüllen der Raubtiere und das Klappern des Laufgangs, wenn ihre schweren Körper gegen die Gitter prallten.
»Sie kommen, Mamuschka …«, flüsterte Helena aufgeregt. »Die Löwen kommen …«
Es waren neun mächtige Berberlöwen mit breiten, zottigen Mähnen, keine Veteranen, sondern junge Löwen, die noch von der Freiheit ihrer afrikanischen Bergschluchten träumten. Brüllend trabten sie in die Manege und sprangen auf ihre breiten Holzpodeste, dehnten die Muskeln, schüttelten die Köpfe, rissen die Mäuler auf und zeigten ihre Reißzähne.
Frank Castor, der Dompteur, stand in der Mitte der Manege und wartete ruhig, bis jeder Löwe seinen Platz eingenommen hatte. Dann rollte er die Podeste zu einer Pyramide zusammen und schlug mit der Peitsche in den Sand. Der Löwe mit der dunklen, fast schwarzen Mähne, den der Sprecher vorhin genannt hatte, sprang in den Sand und kam langsam, schleichend fast, mit glitzernden grünen Augen auf Castor zu.
»Macht er ihn jetzt tot?« flüsterte Helena heiser.
»Pst!« mahnte Nadja. Gebannt starrte sie auf den Löwen, der unaufhaltsam näher kam, unbeeindruckt von den Kommandos, die ihm Frank Castor zurief. Zwei Meter vor seinem Dompteur duckte er sich. Totenstill war es in der weiten Halle … Zwei Feuerwehrleute standen dicht am Gitter. In den Händen hielten sie zwei Spritzen, bereit, sofort die Hähne zu öffnen und mit Wasserdruck die Löwen in Schach zu halten, wenn sie gefährlich wurden.
»Ali … hierher!« rief Frank Castor. »Ali! Allez! Ali!«
Der herrliche dunkelmähnige Löwe peitschte mit seinem Schweif den Manegensand. Und dann – ein vielstimmiger Schrei gellte durch die Halle – schnellte er hoch, sekundenlang flog sein hellbrauner Körper langgestreckt durch die Luft, die Vorder- und die Hintertatzen weit weggespreizt. Nadja umfaßte Helena und drückte sie entsetzt an sich … und dann war er über den ruhig dastehenden Castor hinweggesprungen, zentimeterbreit nur über den Tropenhelm. Hinter Castor landete er auf einem Podest, wo er sich hinhockte und triumphierend brüllte.
Die Lähmung wich. Beifall und Jubel ließen die Halle erzittern. Und der Sprecher sagte: »Das war eine einmalige Dressurleistung. Ein von der Erde aufspringender Löwe greift sonst immer, seiner Natur entsprechend, das Wild an! Mit dieser Dressur spielt Frank Castor jeden Tag mit seinem Leben …«
»Das ist ein mutiger Onkel, nicht wahr, Mamuschka?« sagte die kleine Helena, ganz heiser vor Aufregung.
»Ja. Er ist ein mutiger Mann«, bestätigte Nadja und nickte.
Nach der Vorstellung besichtigten sie den Tierpark des Zirkus Orlando. Helena fütterte Kamele und Pferde, bewunderte Eisbären und gab Elefanten Büschel aus Gras, sah zum erstenmal ein Nilpferd.
Vor den Käfigwagen der Löwen blieben sie am längsten stehen. Helena konnte sich nicht von ihnen trennen … sie klammerte sich an das halbhohe Gitter, das zwei Meter vor den Wagen angebracht war, um die Besucher außer Gefahr zu halten, und sprach mit ihnen.
»Braver Ali …«, sagte sie. »Du darfst nicht so laut brüllen, Simba … Warum stößt du Mahmud zur Seite, he, Ali?«
Sie hatte die Namen behalten, die Castor in der Manege gerufen hatte, und sie war glücklich, mit den Löwen sprechen zu können.
»Ein nettes Mädchen«, sagte eine Männerstimme hinter Nadja. »Sie unterhält sich mit den Löwen wie mit ihren Teddybären …«
Nadja drehte den Kopf herum und erkannte den Sprecher sofort. Er trug nun keine weiße Uniform und keinen Tropenhelm mehr, sondern einen braunen, gestreiften Anzug.
»Sie haben die Löwen fabelhaft dressiert«, sagte Nadja. Er hat ja blaue Augen, dachte sie. Und helle blonde Haare. Und wenn er lacht, ist er wie ein großer Junge, und sein Gesicht kann leuchten. Nie würde man glauben, daß so viel Mut in ihm ist. »Aber als er Sie ansprang, habe ich gezittert …«
»Sie saßen in der ersten Reihe, nicht wahr, Madame?« fragte Castor.
»Ja.«
Castor trat neben Nadja. »Ich habe Sie genau gesehen, Madame. Und ich habe – fast mit Erschrecken – gedacht: Ihre Augen können ja leuchten wie die meiner Löwen. Bei Gott, Sie haben Raubtieraugen. Lassen Sie sehen … haben Sie wirklich solche Augen, oder lag es nur am Scheinwerferlicht?«
Er beugte sich vor, und Nadja sah ihn voll an. Sie lächelte dabei, und die goldenen Punkte in ihren Augen tanzten wieder. Frank Castor nickte.
»Hypnotische Augen, wirklich!« sagte er.
»Von meinem Vater.«
»Und wer war Ihr Vater?«
»Rasputin.«
Da lachte Castor laut und bog sich zurück. Er betrachtete das als einen guten Witz. Nadja war ernst geworden und wartete, bis er still war. Dann sagte sie hart:
»Es stimmt! Warum lachen Sie?«
»Wenn einem eine bezaubernde junge Dame sagt, sie sei … also wirklich, wer soll da nicht lachen? Gut, Sie sind Russin, ich höre es an Ihrem Akzent, aber Rasputin …«
»Und wo kommen Sie her? Sie sprechen auch kein reines Französisch.«
»Ich bin Deutscher.«
»Deutscher …«
»Sie sagen es, als hätten Sie Schmierseife gegessen.«
»Ich mag die Deutschen nicht.«
»Warum?«
»Sie sind arrogant, großsprecherisch, neidisch, hinterlistig und immer bereit, Kriege zu führen und zu töten.«
»Man hat Ihnen diese Meinung von Kindesbeinen an eingeimpft, stimmt's? Kennen Sie Deutschland überhaupt? Hatten Sie denn jemals deutsche Freunde?«
»Nein! Was sie aus Rußland gemacht haben, genügt mir.«
Frank Castor war ernst geworden. »Ich möchte Ihnen ein anderes Bild von uns geben, Madame«, sagte er. »Denkt Ihr Mann auch so?«
»Ich habe keinen Mann mehr.«
»O Verzeihung.« Castor nagte an seiner Unterlippe. Nadja hatte sich wieder umgedreht, und er sah ihr jetzt in den Nacken und auf die aufgesteckten schwarzen Haare mit dem merkwürdigen bronzenen Schimmer. »Haben Sie Zeit, mich morgen bei der Probe zu besuchen?« fragte er leise.
»Zeit ja, aber kein Interesse.«
»Um elf Uhr bin ich im Zentralkäfig. Ich werde an der Kasse sagen, man soll Sie durchlassen.« Castor beugte sich etwas vor. »Bitte, kommen Sie … Wissen Sie, daß ich in der Manege drei Fehler gemacht habe, nur weil ich Sie immer ansah? Gott sei Dank hat es keiner gemerkt, auch die Löwen nicht. Löwen sind nämlich schrecklich eifersüchtig!«
Nadja antwortete nicht. Sie trat zu Helena und nahm sie an die Hand. »Komm, Helenuschka«, sagte sie so laut, daß es Castor deutlich hörte. »Wir müssen weiter! Die Welt besteht nicht nur aus Löwen!« Und als Helena noch nicht gehen wollte, zog sie die Kleine vom Gitter weg und entfernte sich schnell zu den Pferdeställen hin.
»Elf Uhr!« rief ihr Frank Castor nach. »Im Zentralkäfig …«
Und dieser Zuruf hallte in Nadja wider, als sie schon längst wieder zu Hause waren und Helena ihren Püppchen und Bärchen von den großen lebendigen wilden Brüdern erzählte.
Pünktlich um elf Uhr vormittags stand Nadja Gurjewa vor dem Rundkäfig und sah Frank Castor beim Aufbau der Löwenpyramide zu. Außer einem Stalldiener war niemand in der Manege; Castor arbeitete allein, er war seinen Löwen wie ein Bruder, ja, er war der stärkste Löwe von ihnen, und darin liegt das Geheimnis des Gehorsams. In der Natur wird immer nur der Stärkere anerkannt.
Ein paarmal winkte Castor ihr zu und lächelte. Er trug wieder seine weiße Uniform und den Tropenhelm. Nadja setzte sich auf den Manegenrand außerhalb des Käfigs und beobachtete die Löwen.
»Pause!« sagte Castor und warf seine Holzstange weg.
Mit ausgestreckten Armen kam er auf Nadja zu, nachdem er die Käfigtür hinter sich verriegelt hatte. Und ohne zu zögern zog er Nadja, als sie ihm die Hand gab, mit einem Ruck an sich und küßte sie. Mit beiden Fäusten stemmte sie sich von Castor ab. Ihre dunklen Augen flammten.
»Sind Sie verrückt?« zischte sie. »Lassen Sie mich los, oder ich schreie!«
»Schreien macht meine Löwen nervös! Bloß nicht schreien! Wollen Sie, daß ich nachher zerrissen werde?« Er hielt Nadja mit beiden Armen umfaßt, und sie machte sich steif und sprach durch zusammengepreßte Lippen.
»Lassen Sie mich los!«
»Wie heißen Sie?«
»Das geht Sie gar nichts an!«
»Sie heißen Nadja Grigorijewna Gurjewa …«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe mich gestern bei russischen Emigranten erkundigt. Haben Sie geglaubt, ich denke nicht mehr an Sie? Bis heute morgen um fünf Uhr habe ich mit einem russischen General, einer Fürstin und zwei Grafen getrunken, um Ihren Namen zu erfahren! Sie sind wirklich eine Tochter Rasputins. Und Ihre Raubtieraugen sind echt. Wissen Sie, daß die Löwen vor Ihnen Angst haben werden, wenn Sie sie ansehen?«
»Lassen Sie mich los!« Nadja befreite sich mit einem Ruck aus Castors Armen und trat zwei Schritte zurück. »Zum Teufel, sollen die Löwen Sie doch zerreißen!«
»Jetzt … jetzt …«, sagte Castor atemlos. »Dieser Blick! Er würde die Löwen lähmen … Er verbrennt jeden Willen!«
»Adieu!« sagte Nadja laut.
Aber sie kam nicht dazu wegzugehen. Castor griff wieder nach ihrem Arm, und ehe sie sich wehren konnte, hatte er sie zur Käfigtür gedrängt, der Riegel sprang herum, die Tür klappte auf, noch ein Stoß … und Nadja stand in der Manege, innerhalb des Zentralkäfigs, umgeben von den stummen, sie anstarrenden Löwen. Hinter ihr fiel die Tür wieder zu. Castor holte Peitsche und Holzstange von einem Podest.
»Sie sind wirklich wahnsinnig …«, stammelte sie. »Sie sind ein Verrückter!«
»Hier können Sie mir nicht mehr weglaufen.« Frank Castor ließ seine Peitsche knallen. In die Löwen kam Bewegung. Sie sprangen einzeln von ihren Podesten und schlichen zur Manegenmitte. Nur der Löwe mit der dunklen Mähne blieb sitzen und starrte Nadja aus kleinen grünen Augen an. Das Maul war halb geöffnet und gab blutrote Lefzen frei.
»Was soll das?« fragte Nadja. Ihre Starrheit löste sich. Sie sah sich um. Die Halle war leer. Sie waren allein mit den Löwen.
»Ich weiß viel über Sie, Nadja«, sagte Castor. »Sie waren die geheimnisvolle La Russe im Moulin Rouge, Ihr Verlobter fiel in einem Duell, und nun leben Sie zurückgezogen mit Ihrem reizenden Töchterchen und wollen ein Autotaxi fahren lernen.«
»Machen Sie den Käfig auf, Sie Verrückter!« sagte Nadja laut.
»Pst! Nicht schreien! Die Löwen …« Castor blieb bei seinen Tieren stehen. Hinter Nadja hockte der schwarzmähnige Ali. Sein leises, dumpfes Knurren machte sie unbeweglich. »Nadja«, sagte Castor beschwörend, »Sie sind zu schade für solch ein Leben! Sie sind kein Bürger … Sie sind ein Revolutionär! In Ihnen fließt nicht das Blut der Bourgeoisie – in Ihnen tobt die Wildheit Sibiriens. Das wissen Sie ganz genau, und Sie unterdrücken sich selbst!«
»Lassen Sie mich hinaus!«
»Drehen Sie sich um, Nadja. Ihre Augen haben die Flamme, die alle versengt. Los … drehen Sie sich um … Sehen Sie Ali an …«
Langsam wandte sich Nadja um. Drei Meter von ihr hockte der große Löwe auf seinem Holzpodest. Er starrte sie kalt und feindlich an. Und als sie jetzt einen Schritt näher kam, riß er sein Maul auf und brüllte ihr entgegen. Der Kampfruf des Starken.
»Antworten Sie ihm, Nadja!« sagte Castor. Er war dicht hinter ihr, lautlos wie eine Katze war er herangekommen. »Keine Angst«, flüsterte er. »Der Löwe merkt das sofort! Sie sind der Stärkere. Sie! Sprechen Sie ihn an.«
»Ali!« sagte Nadja laut. Sie erkannte ihre Stimme nicht mehr. Rauh war sie, wie abgeschmirgelt.
»Lauter …«
»Ali!«
Der herrliche Löwe brüllte zurück.
»Geh näher …«, sagte Castor hinter Nadja. »Ganz nahe. Und sieh ihn an. Blick ihm in die Augen, so, als solltest du ihn mit deinem Blick töten! Und zeig ihm, daß du stärker bist …«
Noch einen Schritt … dann ein halber … Nadja stand vor dem Löwen, so nahe, daß sein heißer Atem über ihr Gesicht strich. Er roch nach fauligem Fleisch. Castor war an ihre Seite getreten, mit dem Peitschenknauf streichelte er Ali zärtlich über die breite Nase.
»Zeig ihm die Kraft deiner Augen«, sagte er dabei. »Ali, mein Junge … dir hilft alle Auflehnung nicht mehr …«
Und plötzlich war von Nadja alle Angst, aller Widerstand gewichen. Sie sah den Löwen an und dachte dabei an ihren Vater, dessen Blick Krankheiten aus dem Körper gezogen und Irre geheilt hatte.
»Ali …«, sagte Nadja fast zärtlich. »Mein Ali … wir lieben uns doch, nicht wahr?« Und sie streckte die Hand aus, ehe Castor sie ergreifen und zurückreißen konnte, und streichelte dem plötzlich sanften Löwen den Kopf, strich ihm über die Augen, die Nase, die Schnauze und kraulte ihm das Fell unter dem dicken Hals. Und Ali hielt still, ja, er schloß die Augen, hob den Kopf und ließ sich weiter kraulen. Wie ein Stofftier saß er da, unbeweglich und still, nur die breite Nase zuckte leicht vor Wonne. »Ich bin entthront …«, sagte Frank Castor leise. Ergriffenheit schwang in seiner Stimme. »Nadja … Sie sind ein Wunder! Und so etwas will durch Paris Taxis fahren …«
Von dieser Stunde an war Nadja Gurjewa jeden Tag im Zirkus Orlando. Saparin, der auf einer Fortführung der Fahrstunden bestand, log sie vor, sie wolle ihn mit dem, was sie jetzt tue, überraschen. Es sei ein Geheimnis.
Man soll Boris Michailowitsch nicht für gutmütiger halten, als er war. Als Nadja die kleine Helena auch noch in einem Kindergarten anmeldete, wurde er vollends kopflos und lauerte Nadja auf. Er fuhr ihr eines Morgens nach und sah, daß sie in dem Hallenkomplex verschwand, in dem der Zirkus Orlando überwinterte und die Pariser mit seinen Vorstellungen begeisterte. Und Saparin sah auch, wie ein Mann in weißer Tropenuniform Nadja auf dem Platz zwischen Kasse und Manegenhalle begrüßte und ihr einen Kuß gab.
»Der Satan hole die Weiber!« schrie Saparin in seinem Taxi. »Einen Löwenbändiger hat sie! Womit soll ich wohl überrascht werden, he? Mit einem jungen Löwen? Mit einer abgebissenen Hand? Zum Jammern ist das! Oh, zum Weinen!«
Aber was half da alles Klagen? Am Abend, als Saparin zu Nadja kam, war alles klar. Er brachte ihr einen kleinen Stofflöwen mit und stellte ihn stumm auf den gedeckten Tisch zwischen die Suppenteller.
Ohne sichtliche Verlegenheit bemerkte Nadja den kleinen Stofflöwen und füllte den Teller Saparins mit Suppe. »Ja«, sagte sie dann, als sie auch saß und das Weißbrot brach, »so ist das, Boris Michailowitsch.«
»Was ist so?« knurrte er. »Allez hopp! Ist das schon was?«
»Er ist ein todesmutiger Mann.«
»Ein Gaukler! Bei uns zogen sie mit dressierten Bären durch die Lande und bekamen wie Bettler ihre Kopeken.«
»Frank ist ein Künstler. Er ist stark und mutig, und seine Löwen sind herrliche Tiere. Sie gehören ihm. Jedes Tier kostet zehntausend Francs! Er verdient pro Vorstellung zweihundert Francs … das sind im Monat über achttausend Francs, mit den Nachmittagsvorstellungen. Ehrlich verdientes Geld!«
»Und eines Tages reißt ihm so eine Bestie den Kopf ab!«
»Seine Löwen lieben ihn!«
»O Himmel! Vielleicht schlafen sie auch noch in seinem Bett?« Saparin umklammerte den Löffel. »Taxifahren, das ist ehrliche Arbeit! Wenn es da kracht, ist's nur ein Blechschaden und kostet nicht den Kopf. Und zweihundert Francs am Tag kannst du auch verdienen. Du bestimmt!«
»Hör damit auf, Boris Michailowitsch. Ich liebe Frank …«
»Das habe ich befürchtet!« Saparin warf den Löffel weg, nahm den unschuldigen kleinen Stofflöwen und schleuderte ihn gegen die Wand. »Ist das ein Leben!« brüllte er. »So friedlich könnte man leben! So gut könnte es einem gehen! Und da kommt so ein Löwenbändiger und verdreht ihr den Kopf!«
»Was nützt das Brüllen, Boris? Ich habe mich verliebt.« Ihre Augen bekamen einen milden Glanz. »Zum erstenmal ist es anders …«
»Schwänchen … das sagst du immer.«
»Zum erstenmal sehe ich in einem anderen Mann nicht ein Abbild von Nikolai. Zum erstenmal bin ich frei von der Erinnerung an ihn. Frank ist ganz anders als Nikolai … er ist blond, hat blaue Augen und ist ein Deutscher.«
»Ein Deutscher! Welche Schande!« schrie Saparin.
»Ein ganz neues Bild kommt in meine Seele … sein Bild. Soll ich nur leben mit der Erinnerung an einen Toten? Nikolai … das war bisher ein Himmel, der nie verlosch, und in diesem Himmel lebte auch Stanislas. Aber jetzt …«, Nadja breitete die Arme aus, »jetzt betrete ich einen neuen Himmel …«
»Du hast schon mit ihm geschlafen?« fragte Saparin düster.
»Nein! Aber ich werde es heute nacht tun.«
»Nadja!« Saparin schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Wie können Löwen einen Menschen so verändern!«
»Was verstehst du davon, Boris Michailowitsch. Du bist verheiratet mit deinen Autos.«
»Bleibt mir etwas anderes übrig?« schrie Saparin, warf die Arme wieder empor, drehte sich um und rannte aus der Wohnung.
Der Morgen dämmerte durch das kleine verhangene Fenster des Wohnwagens. Es war heiß in dem engen Raum.
Nebeneinander lagen sie, rauchten und starrten an die weißlackierte gewölbte Holzdecke des Wagens. Sie lagen nackt auf dem Klappbett, eng aneinandergedrückt, die Beine ineinander verschlungen. In der fahlen Dunkelheit glimmten nur die Punkte ihrer Zigaretten.
»Woran denkst du?« fragte sie. Ihren Kopf rieb sie an seiner Schulter.
»An uns.«
»Gibt es da noch Gedanken?«
»Viele …«
»Gedanken machen traurig.«
»Nicht denken ist Selbstbetrug.«
»Laß uns uns betrügen … es lebt sich schöner.«
»Und im März?«
»Was ist im März?«
»Im März verlassen wir das Winterquartier. Wir werden verschifft.«
»Verschifft? Wohin?«
»Nach Amerika. Zwei Jahre werden wir kreuz und quer durch Amerika ziehen.«
»Bis März ist noch lang …«
»Es ist schrecklich, zu denken, was im März sein wird.«
»Du sollst nicht denken. Küß mich.«
Er setzte sich auf und blickte auf ihren schönen Körper hinab. Seine Hände glitten über ihren Leib, über die Brüste, über die Schultern. Sie zitterte unter seinen Liebkosungen und seufzte leise.
»Ich fahre nicht ohne dich«, sagte er heiser. »Bei Gott, ich bleibe in Paris. Ich suche mir einen anderen Beruf …«
»Ohne Löwen kannst du nicht leben.«
»Ohne dich auch nicht, Nadja!«
»Und wenn ich mitkomme?«
»Nadja!« Er schrie es fast. »Nadja! Weißt du, was du da sagst?«
»Ich weiß es genau.« Ihr Gesicht lag unter den aufgelösten Haaren wie unter einem Schleier. »Bring mir bei, wie man Löwen dressiert. Fünf Monate Zeit haben wir noch. Ob ich es bis dahin begreife?«
»O sicher, sicher, Nadja, mit deinem Blick … Und Helena?«
»Ich nehme sie mit. Die ganze Welt wird sie sehen … gibt es eine schönere Freiheit?«
»Das … das willst du tun, Nadja?«
»Ja. Ich liebe dich doch, Frank.« Sie schob ihre Haare vom Gesicht, und wahrhaftig, ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit. »Es ist mein Schicksal, Grenzen und Weiten überwinden zu müssen, um zu lieben. Und ich liebe dich … ich liebe dich … du verfluchter deutscher Barbar …«
Der Morgen dämmerte über Paris. Auf dem Zirkusgelände erwachte der Alltag. In dem engen Wohnwagen Nr. 28 schliefen sie noch, Körper an Körper, sich die Hände haltend. Sie lächelten im Schlaf und atmeten tief und ruhig. Sie träumten von Amerika.