13

»Bitte, Madame«, sagte Kriminalrat Boité. Ihn erschreckte es nicht, den Leichenwärter in einer langen roten Gummischürze zu sehen. Auch der leicht süßliche Geruch, der mit ihm aus dem schwach beleuchteten Keller kam, war ihm bekannt. Nadja dagegen prallte zurück und zog voll Grauen die Schultern hoch.

»Muß … muß das sein?« stammelte sie.

»Machen Sie mehr Licht, Batiste!« sagte Boité grob zu dem stummen Leichenwärter.

Batiste drehte an einem Schalter, und aus drei nackten Glühbirnen an der Gewölbedecke fiel bleiches Licht in den Keller. Boité betrat zuerst den Vorraum und sah sich um. Nadja folgte ihm mit langsamen, zögernden Schritten. Der junge Arzt war an der Tür stehengeblieben, hatte ein Taschentuch herausgezogen und träufelte Eau de Cologne aus einer Taschenflasche darauf. Er bereitete sich darauf vor, daß Nadja in wenigen Augenblicken ohnmächtig würde.

»Die Kinder!« sagte Boité.

»Jawohl, Monsieur. Die Kinder. Drei. Raum neun.«

»Gehen Sie voran, Batiste.« Der Kriminalrat faßte Nadja unter und nickte ihr zu. »Seien Sie stark, Madame … wir kommen um diesen Gang nicht herum.«

Batiste schlurfte ihnen voraus.

»Bitte …«, sagte er und stieß eine Tür auf, knipste Licht an und trat zur Seite.

Boité spürte, wie Nadja an seinem Arm zusammensank und sich nur mühsam aufrecht hielt. »In zehn Minuten ist alles vorbei, Madame«, sagte er väterlich, nahm das mit Eau de Cologne getränkte Taschentuch, das ihm der Arzt stumm hinhielt, und drückte es Nadja gegen die Nase. Sie nickte und richtete sich auf. Mit zusammengepreßten Lippen ging sie an Boité vorbei in den Leichenkeller Nr. 9.

Auf drei blanken weißen Marmortischen, die ringsherum eine Auffangrille hatten, lagen drei kleine, zugedeckte, starre Körper. Unter den Laken am Fußende sahen drei Schildchen hervor. Sie waren mit einer Kordel am Fußgelenk festgebunden und enthielten Namen und Sterbedatum. Heute waren die Schildchen nur mit dem Datum des Einlieferungstages versehen … dort, wo die Namen stehen sollten, hatte Batiste drei große Fragezeichen gemalt.

»Ich … ich bin bereit«, sagte Nadja.

»Na denn …«, sagte Batiste. Er trat an das Kopfende des ersten Marmortisches, ergriff das Laken und zog es mit einem Ruck von dem kleinen Körper.

Ein Mädchen. Kurze blonde Haare. Nackt. Um den erstarrten Mund war das Entsetzen eingefroren.

Nadja schüttelte den Kopf und drückte das Taschentuch vor ihre Augen. »Nein …«, sagte sie tonlos. »Nein! Helena war dunkel … nicht blond …«

Ich halte es nicht durch, dachte sie im gleichen Moment. Gleich werde ich aufschreien und mit dem Kopf gegen die weiße, gekachelte Wand rennen. Das ist zuviel, das hält keine Mutter aus. Gott, o mein Gott, laß mich nicht wahnsinnig werden … Laß mich umsinken und sterben. Ich flehe dich an, mein Gott! Sei ein gnädiger Gott. Laß mich sterben …

»Nummer zwei!« sagte Batiste ungerührt. »Hat schwarze Haare.«

Ein Griff zum Laken, ein Ruck … ein neuer, kleiner, schmaler mißbrauchter Körper. Gelblich, etwas aufgedunsen. Das Kind, das man aus der Seine gefischt hatte. Um den Hals zogen sich zwei blutunterlaufene Striemen. Der Beweis, daß man das Kind mit einem Strick erwürgt hatte.

»Madame … bitte …«, sagte Boité leise.

»Es ist nicht Helena …«, sagte Nadja und lehnte sich gegen Boité. Sie legte den Kopf auf seine Schulter und weinte. »Es ist furchtbar. Es ist furchtbar …«, stotterte sie.

»Nummer drei!« sagte Batiste. »Auch schwarze Haare! Das Mädchen aus dem Bois de Boulogne …«

Nadja stand starr vor dem dritten Marmortisch und hatte keinen Mut mehr, das Taschentuch von ihren Augen zu nehmen. Sie sah nur das Fußende, das Schildchen mit dem Datum, das Fragezeichen. Sie sah, weil sich das Laken verschoben hatte, einen Kinderschuh und ein Stückchen von einem Bein.

Blaue Strümpfchen … Helena hatte blaue Strümpfe gehabt, und sie wußte genau, daß sie sie in den Koffer gepackt hatte, der ins Krankenhaus gebracht werden sollte.

Zierliche hellbraune Schuhe mit zwei Riemchen über dem Rist. Auch solche Schuhe hatte Helena gehabt. Auf dem Boulevard Haussmann hatte sie die Schuhe gekauft, in einem ganz teuren, vornehmen Geschäft.

Nadja nickte stumm. Boité griff fester zu. »Sie haben das Gesicht noch nicht gesehen, Madame«, sagte er heiser.

»Ich … ich kann es nicht … Aber die Schuhe! Die Schuhe!«

Sie klammerte sich an Boité fest und drückte ihr Gesicht gegen seine Schulter. Boité schluckte mehrmals, ein dicker Kloß saß ihm im Hals. Er rekapitulierte den Polizeibericht. Fundort: Bois de Boulogne, in der Nähe des Großen Sees. Fundzeit: 7 Uhr 29 morgens. Das Kind lag hinter einem Busch. Der Hinterkopf war mit einem stumpfen Gegenstand (Hammer, Eisenstange, Holzknüppel?) eingeschlagen worden. Das Mädchen war voll bekleidet.

Bois de Boulogne, dachte Boité. Es paßt genau zu allen vorangegangenen Ereignissen. Auch Nadja Gurjewa war nach der Nacht mit dem Mann im Dunkeln im Bois ausgesetzt worden.

»Sie müssen das Gesicht ansehen, Madame …«, sagte er leise. »Es ist nun einmal Vorschrift. Ohne dies ist eine Identifizierung nicht gültig. Mut, Madame! Nur ein Blick … Es ist doch nichts mehr zu ändern, und Gewißheit ist besser als zermürbendes Warten …«

Er streckte die Hand nach hinten aus und winkte. Der junge Arzt gab ihm die Eau-de-Cologne-Flasche. Boité schüttete etwas in seine hohle Hand und rieb damit den Nacken Nadjas ein, der, nach vorn gebeugt, an seiner Brust lag.

»Bitte …«, sagte er noch einmal ganz leise.

Mit einem wilden Ruck warf Nadja den Kopf herum. Alle Kraft nahm sie zusammen, allen Trotz gegenüber dem grausamen Schicksal.

Hochaufgerichtet stand sie vor dem dritten Marmortisch. Batiste zog das Laken weg, wortlos, geübt, wie eine Denkmalsenthüllung.

Schwarze Haare, ein runder, süßer Mädchenkopf, ein Mund, der wie vor Erstaunen offenstand und nicht begriff, daß das Leben vorbei war.

»Nein …«, stammelte Nadja und griff nach Halt suchend um sich. »Nein … sie ist es nicht. Das ist nicht Helenuschka … Das ist ein fremdes Kind … Ein – fremdes – Kind …«

»Mist!« sagte Boité. »Wieder eine Pleite!«

Er fing Nadja Gurjewa auf, und mit dem jungen Arzt zusammen trugen sie die Ohnmächtige hinaus.

Fünf Tage lang lag Nadja mit einem Nervenfieber im Bett. Sie schwankte zwischen tiefer Ohnmacht und Minuten des Wachseins, in denen sie schrie und um sich schlug. Jean Gabriel hatte die besten Ärzte von Paris herbeigerufen, und er hatte mit Saparin regelrecht darum gekämpft, daß Nadja nicht in ihrer Wohnung lag oder in eine Klinik eingeliefert wurde, sondern in das breite, baldachinüberspannte Bett Gabriels getragen wurde und von zwei Krankenschwestern betreut werden konnte.

»Sie kompromittieren Nadja Grigorijewna!« hatte Saparin geschrien. »Wer in Ihrem Bett liegt, Monsieur, von dem weiß man, warum er da hineingehört! Aber Nadjuscha ist nicht Ihre Geliebte! Das weiß ich! Aber jetzt wird jeder denken –«

»Sie wird nie meine Geliebte sein, Graf Saparin«, sagte Jean Gabriel stolz. »Sie wird als meine Frau in die Gesellschaft kommen.«

»Sie … Sie wollen sie heiraten?«

»Ja. Es ist mein fester Wille. Die Antwort liegt allein bei Nadja …«

Die Mühe der Ärzte beschränkte sich darauf, Nadja zu beruhigen. Mit Injektionen, mit Tabletten und mit einem großen Aderlaß. Am sechsten Tag zeigte sich der Erfolg … Nadja konnte im Bett sitzen, ohne mit den Dämonen zu kämpfen, die seit Tagen auf sie herunterstürzten und sie würgen wollten.

Überglücklich, wie ein beschenkter Junge, rannte Gabriel umher und brachte ihr mit Erlaubnis ein Glas Sekt. Er saß an ihrem Bett, sah sie unverwandt an und begriff nicht, wie er bisher hatte zufrieden leben können ohne diese Frau.

»Du bist so gut, Jean …«, sagte Nadja, nahm seine Hand und küßte sie. »Du bist soviel Liebe wert … Aber in mir ist es so leer, so schrecklich leer …«

»Wir werden an die Riviera fahren«, sagte Gabriel. »Mein Haus liegt direkt auf den Klippen. Weit kannst du übers Meer sehen, und nachts wiegt dich das Rauschen ein …«

»Nicht das Meer!« Nadja lehnte sich zurück. »Ich möchte das Meer nie wieder sehen. Ich hasse das Meer.«

Im Meer liegt Nikolai, dachte sie. Auf dem Meer verlor ich Rußland. Über das Meer hinweg fuhr ich in die ewige Sehnsucht nach Sibirien. Oh, wie hasse ich das Meer!

»Gut«, sagte Gabriel erstaunt. »Dann fahren wir auf mein Gut in der Bretagne. Oder liebst du die Landschaft an der Loire? Du kannst dir wünschen, wohin du willst …«

»Ich bleibe in Paris, solange ich nicht weiß, wo Helena ist.« Nadja legte sich in die Kissen zurück, und Gabriel deckte sie zu wie ein Kind. »Ohne Helena ist die Welt dunkel. Begreifst du das, Jean Gabriel?«

Und Gabriel nickte beklommen, denn wie alle glaubte er nicht mehr daran, daß man Helena jemals wiedersah.

Am neunten Tag brachte wieder ein Straßenjunge, wie damals, einen verschlossenen Brief.

Nadja ging in das Schlafzimmer. Dort ritzte sie das Kuvert mit einer Nagelschere auf und holte einen Bogen Papier heraus. Das gleiche graue Papier wie bei dem ersten Brief.

Meine Liebe!

Es war ein Fehler, Dich mit meinem Freund Gabriel zusammenzutun. Ein Mann wie Gabriel wird Dich heiraten wollen. Er ist eben eine romantische Natur. Du aber, Geliebte, bist nicht zur Ehe geschaffen. Wer glaubt, Dich fesseln zu können, bindet sich selbst fest an einen Wahn. Du bist die ewige Geliebte, Dir gehört die ganze Welt; Sterne fallen in Deinen Schoß und Vulkane brechen auf, wo Du Deinen Fuß hinsetzt. Sonnen sind kalte Lichtreflexe gegen die Glut, die in Deinen Adern rauscht. Wer kann das besser beurteilen als ich, der nach einer Nacht mit Dir krank und elend vor Sehnsucht geworden ist?

Ich habe Dir Helena nicht zurückgegeben, weil Du mir dann für immer verloren wärst. So aber kommst Du zurück zu mir …

Helena geht es gut. Sie spielt schon wieder, wird braun und kann herzlich lachen. Nur ab und zu fragt sie: Wann kommt Mamuschka von der Reise zurück? – Ich habe ihr nämlich erzählt, daß Du weit wegreisen mußtest.

Nun fragen wir beide: Wann kommst Du zu uns, Geliebte?

Ein Wagen erwartet Dich wieder an der alten Stelle im Bois de Boulogne, an der großen Kaskade. Sonntag. Um acht Uhr abends.

Helena wird Dir entgegenkommen, wenn Du aus dem Wagen steigst.

Ich bete Dich an!

PS. Laß Deinen russischen Grafen zu Hause. Es ist immer unangenehm, einen guten Menschen niederschlagen zu müssen.

Nadja warf sich auf das Bett zurück und starrte an die goldverzierte Decke. Der Brief flatterte zu Boden.

Sie spielt … sie wird schon braun … und sie fragt: Wann kommt Mamuschka … O Helena … du bist in den Klauen eines Satans. Mit einem Aufschrei warf sie sich herum und vergrub das Gesicht in die seidene Decke, die über das Bett gespannt war.

Gegen Mittag kam Gabriel von einer Vorstandssitzung seiner Bank zurück und fand Nadja wieder im Bett. Die Krankenschwester, die nur noch halbtags kommen sollte, winkte ab, als Gabriel die Tür zum Schlafzimmer öffnen wollte.

»Sie schläft, Monsieur. Es hat lange gedauert, bis sie ruhig wurde …«

Gabriel zuckte zusammen. »Mein Gott! Ein Rückfall? Was ist denn geschehen?« Er rannte in den Salon und riß den Telefonhörer hoch. »Hat man Professor Lassinier schon verständigt? Warum reden Sie nicht, Schwester? Ich will Ihren Bericht haben! Nadja ging es doch blendend, als ich heute morgen fortfuhr!«

»Bitte, Monsieur. Das fand ich neben Frau Gurjewa auf dem Teppich.«

Die Krankenschwester hielt einen Brief hin, den ihr Gabriel mit finsterer Miene aus der Hand riß. »Ich mußte ihn lesen, um die Ursache des neuen Zusammenbruchs zu erkennen. Verzeihen Sie, Monsieur.«

Gabriel überflog die mit einer Schreibmaschine geschriebenen Zeilen. Sein gutmütiges Gesicht war wie versteinert.

»Das ist ein teuflischer Brief«, sagte er leise. »Es muß ein Verrückter sein, der so etwas schreibt! Jawohl, ein Verrückter!« Er faltete das Papier zusammen und schob es in seine Brusttasche. »Ich kann Nadja jetzt nicht sehen?«

»Nein, Monsieur. Ich habe ihr eine Injektion gegeben. Sie schläft ganz fest.«

»Am Sonntag um acht Uhr abends.« Gabriel starrte vor sich hin. Er schlang die Finger ineinander, daß sie knackten. »Er wird seine Geliebte bekommen! Und Augen wird er machen, wenn sie den Schleier fallen läßt.« Er stand auf, zögerte und nickte dann. Er zog den Brief aus der Tasche und gab ihn der Krankenschwester zurück.

»Legen Sie ihn wieder ins Schlafzimmer, Mademoiselle«, sagte er. »Und verraten Sie Nadja nicht, daß ich ihn gelesen habe …«

»Nein, Monsieur.«

Den ganzen Tag über blieb Gabriel zu Hause und grübelte. Er hatte über seinen Sekretär alle Besprechungen absagen lassen, lief in der großen Wohnung an der Avenue Foch ruhelos hin und her, machte Pläne und verwarf sie wieder. Den Brief hatte er fast auswendig gelernt, und ein Satz war es, der ihn stutzig gemacht hatte und über den er immer wieder stolperte: »Es war ein Fehler, Dich mit meinem Freund Gabriel zusammengetan zu haben …«

Mein Freund Gabriel! Wer in Paris hatte das Recht, so von ihm zu reden? Er ging in Gedanken alle Namen durch, die in seinem Leben eine Rolle gespielt hatten oder noch spielten. Dabei kam er zu dem verblüffenden Ergebnis, daß nur vier Männer in Paris sich wirklich seine Freunde nennen konnten: der Großimporteur Jacques Lemaire, der Bankier Gérard Cassini, der Minister und Advokat a.D. Jules Montesson und der pensionierte General Eberhard de Carnot.

Lemaire hatte die Gicht und eine strenge Frau, die ihn keinen Tag ohne Beobachtung ließ. Montesson, das wußte Gabriel genau, weilte, seit zwei Monaten zu Besuch bei seiner verheirateten Tochter in New Orleans. General Carnot stand jenseits von Gut und Böse, hatte sich nie für Frauen interessiert, sondern immer nur für die Aufstellung von Aufmarschplänen gegen die Deutschen. Gérard Cassini … hier stutzte Gabriel. Cassini war der einzige, der jünger war als Gabriel, der Geld genug hatte, sich ein Leben nach seinen ausgefallensten Wünschen zu gestalten, und der auch Gebrauch davon machte. Seine Liebesabenteuer waren bekannt in Paris …

Cassini! Gabriel starrte aus dem Fenster auf die Avenue Foch. Seine Finger trommelten unruhig gegen die Scheiben. Kleinigkeiten, Bemerkungen, hingeworfene Worte bekamen plötzlich einen Sinn.

Vor elf Tagen, im Golfklub. Cassini sagte leichthin: »Mein bester Jean, man munkelt, daß du und La Russe … ein Goldvögelchen, mein Bester. Aber es hat einen starken Schnabel und wird auch deinen Goldkäfig durchnagen …« Und Freitag, vergangene Woche, bei einem Essen der Bankdirektoren im Coque d'Or: »Du heiratest La Russe, mein Guter? Wie lange willst du noch leben?« Und dann die kurze Begegnung im Moulin Rouge, am ersten Abend mit Nadja. Cassini kam an ihrem Tisch vorbei, sein Lächeln war gemein, wie nur Freunde lächeln können, die die Geheimnisse des anderen kennen. Und Nadja hatte abwehrend, ja feindlich reagiert.

Cassini! Ein dummer, ein irrer Verdacht – aber er saß jetzt in Gabriels Herzen wie ein glühender Dorn. Man müßte mit ihm darüber sprechen, dachte er. Von Freund zu Freund! Und man sollte plötzlich kommen, ohne Anmeldung, einfach dasein und an dem hohen Tor von Cassinis Schloß im Wald in der Nähe von Versailles klingeln. Verdammt, das sollte man wirklich machen, und zwar sofort.

»Meinen Wagen!« rief Gabriel ins Haustelefon, das ihn mit der im Erdgeschoß liegenden Wohnung seines Chauffeurs verband. »In zehn Minuten fahren wir!«

Bevor er die Wohnung verließ, ging er noch einmal in seine Bibliothek, schloß eine Schublade des großen Schreibtischs auf und entnahm ihr eine Pistole. Er ließ sie in seine Rocktasche gleiten und kam sich dabei sehr unbehaglich vor. Es wäre das erstemal, daß er eine Pistole gebrauchte, daß er überhaupt schoß; er haßte alles, was mit Waffen zusammenhing. Aber für Nadja würde er auch dies tun!

Vor dem Haus wartete der große Reisewagen Gabriels. Der Chauffeur riß die Tür auf und nahm die Mütze ab.

»Nach Versailles«, sagte Gabriel und ließ sich in die Polster fallen. Dann versank er wieder ins Grübeln, während der Wagen aus Paris hinausfuhr.

Sie erreichten den kleinen Ort Chaville in der Abenddämmerung und hielten vor der Auberge des Gardes, die auch eine Tankstelle hatte. Der Chauffeur drehte sich zu Gabriel um, als dieser unwillig an die Scheibe klopfte, die ihn von den Vordersitzen trennte.

»Verzeihung, Monsieur«, sagte der Chauffeur und öffnete das Klappfensterchen in der Trennscheibe. »Das Benzin ist verbraucht. Haben Sie nicht gemerkt, wie der Motor stotterte? Nach der Benzinuhr müßten noch zwanzig Liter im Tank sein, aber er ist leer! Man sollte die Uhr auch gleich reparieren lassen. In Versailles ist eine Werkstatt. Bleiben wir länger hier, Monsieur?«

»Ich weiß es nicht.« Gabriel tastete nach seiner Pistole in der Tasche und stieg aus. Die Auberge des Gardes kannte er. Ein gutes Gasthaus.

»Gut. Tanken Sie, Emile«, sagte Gabriel. »Ich gehe einen Rotwein trinken.« Er knöpfte seinen Mantel zu und betrat das Lokal.

Um diese Zeit war die Auberge des Gardes nur schwach besucht. Ein paar Reisende saßen an einem Tisch und aßen Pfeffersteaks mit grünen Bohnen, der Apotheker von Chaville trank seinen Dämmerschoppen, es roch nach Pommes frites und gebackenem Fisch. Gabriel sah deshalb verwundert zu einem Tisch in einer Nische, von dem in diese Stille hinein eine trunkene Stimme laut rief.

»Gaston? Wo bist du? Hölle und Teufel … noch einen Pernod!«

Gaston, der Oberkellner, nahm Gabriel den Mantel ab und hob bedauernd die Schultern, als Gabriel zu der Nische hinnickte und ihn fragend ansah.

»Das ist Dr. Nicola. Sie kennen doch Dr. Nicola, Monsieur Gabriel? Es ist erschreckend … seit einigen Wochen säuft er wie ein Schwamm. Immer Pernod. Keiner weiß, warum und wie es anfing. Seine Praxis verkommt, sein Haus sieht er kaum noch … neunmal haben wir ihn hier vom Tisch weg nach oben getragen in ein Zimmer, weil er einfach nicht mehr gehen konnte.«

»Gaston! Einen Pernod! Zum Teufel!« schrie Dr. Nicola aus seiner Ecke. Dabei hieb er mit der Faust auf den Tisch und ließ sein Glas klirren.

Gaston hob den Blick zur Decke. »Entschuldigen Sie, Monsieur«, sagte er, als habe er und nicht Dr. Nicola geschrien. Gabriel nickte und klopfte Gaston auf die Schulter. Eine dunkle Ahnung trieb ihn, etwas zu tun, was er sonst nie in Erwägung gezogen hätte.

»Bringen Sie ihm noch einen. Ich setze mich zu ihm.«

»Sie kennen nicht seinen Zustand, Monsieur. Er wird wieder einen verlangen und immer wieder, bis er unter den Tisch fällt.«

Gabriel schüttelte den Kopf und begab sich in die Ecke, wo Dr. Nicola saß. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Gaston kam mit einem neuen Glas Pernod, und Nicola schnalzte mit der Zunge.

»Allen hat man ein Denkmal gesetzt«, rief er und umklammerte das Glas. »Von Cäsar bis zum Erfinder des Klistiers. Nur nicht dem Genie, das Pernod erfunden hat! Sagen Sie, Monsieur, ist das nicht eine Kulturschande?«

»Gewiß.« Gabriel wartete ab, bis Dr. Nicola das Glas halb leergetrunken hatte. »Wir kennen uns doch, Doktor.«

»Patient von mir gewesen?« Dr. Nicola lachte bitter. »Wenn ich Ihnen jetzt den Puls fühle, würde ich sagen: Mensch, Sie sind ja tot. Mausetot! Tita-tot! So einer bin ich jetzt!«

»Ich bin Jean Gabriel, ein Freund von Monsieur Cassini.«

Der Name hatte eine schreckliche Wirkung auf Dr. Nicola. Sein Gesicht verfärbte sich, es wurde tiefrot, die Augen quollen hervor wie bei einem erstickenden Frosch.

»Nennen Sie in meiner Gegenwart nicht diesen Namen!« brüllte Dr. Nicola und warf sein Glas um. »Gaston! Weg mit diesem Herrn! Wirf ihn hinaus! Hinaus!« Er kramte in den Taschen seines Anzugs und zog ein Bündel zerknitterter Geldscheine heraus. »Ich gebe dir alles, alles … nur wirf ihn hinaus! Sein Freund ist er! Sein Freund! Erlauben Sie, daß ich Sie anspucke …«

Gaston blieb im Hintergrund und rührte sich nicht. Ihm war das alles peinlich für Gabriel, und er schwor sich, ab morgen Dr. Nicola nicht mehr in die Auberge des Gardes einzulassen.

Jean Gabriel war über die Wirkung des Namens Cassini genauso entsetzt wie Gaston. Aber sein Entsetzen war anders … es legte sich wie ein eiserner Reif um sein Herz.

Die Spur … durchrann es ihn heiß. Ich habe die Spur! Cassini ist es!

Gabriel schob das Geld über den Tisch zurück zu Dr. Nicola und rief über die Schulter: »Noch einen Pernod für den Doktor!« Das machte Nicola sanftmütiger, er lächelte breit, aber böse und starrte Gabriel an.

»Ein besoffenes Schwein grunzt auch, Monsieur«, sagte er. »Bedenken Sie das.«

»Nehmen Sie das Geld, Doktor. Es ist ja sowieso das letzte, was Sie von Cassini bekommen haben.«

Mit Schrecken sah Gabriel, wie Dr. Nicola plötzlich nüchtern wurde. Er setzte sich kerzengerade hin und berührte den Pernod nicht, den ihm Gaston widerwillig hinstellte. Forschend starrte er Gabriel an. »Was soll das heißen, Monsieur?« fragte er in normaler Lautstärke, die nur im Umkreis des Tisches zu verstehen war.

»Sie haben Helena operiert für einen namhaften Betrag. Es hat doch keinen Sinn, ihn jetzt zu versaufen.«

Dr. Nicola atmete tief auf. »Hat er Ihnen das gesagt?«

»Ja«, log Gabriel.

»Er hat versprochen, es niemandem zu sagen.«

»Sie sehen es ja …«

»Mein Gott, Sie lügen!« Dr. Nicola stützte den Kopf in beide Hände. »Nichts ist wahr! Gar nichts. Von welcher Operation reden Sie überhaupt? Operiert wird nur im Spital!«

»Doktor.« Gabriel beugte sich vor und legte seine Hand auf Nicolas Unterarm. »Warum spielen wir Blindekuh? Sie saufen aus Verzweiflung. Leugnen Sie es nicht!«

»Ich bin eine medizinische Hure!« stammelte Nicola. Er fiel sichtlich zusammen und schwankte im Sitzen. »Das ist schlimmer als alles andere! Ich habe meine ärztliche Ehre verloren … ich habe mich prostituiert für fünfunddreißigtausend Francs!«

»Und nun ist Helena tot, nicht wahr?« sagte Gabriel heiser vor Erregung. »Die Operation mißlang …«

»Was?« Dr. Nicola zuckte hoch und spreizte seine Hände. »Sehen Sie sich diese Hände an, Monsieur! Wenn sie operieren, werden sie ein Wunderwerk! Mißlungen? Nach vier Tagen lief das Mädchen wieder im Zimmer herum! Nach zehn Tagen spielte es im Garten! Und das bei einem Appendix, der so dick wie ein Finger voll Eiter war!«

»Gratuliere, Dr. Nicola.« Gabriel atmete auf. Helena lebte. »Sie besuchen Helena jeden Tag?«

»Ich bin der einzige, der zu ihr darf.« Nicola trank den Pernod aus und schnaufte. »Aber ich verstehe Cassini nicht. Wenn er schon ein Kind hat, von dem niemand wissen soll … dieses Spiel mit dem Tod, es in der Küche des Schlosses operieren zu lassen … Ein Rabenvater, Monsieur Gabriel!«

»Es ist nicht sein Kind!«

Dr. Nicola riß die Augen auf.

»Nicht …«, stotterte er.

»Nein.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich kenne die Mutter. Sprechen wir unter Freunden, Doktor: Das Kind ist entführt worden, um jemanden zu erpressen. Sie haben es operiert …«

»Auch unter Erpressung. Ich … mein Sohn hat Schulden gemacht. Spielschulden.« Nicolas Lippen zuckten. »Ich hätte nie … nie operiert … Fünfunddreißigtausend Francs … Die bestbezahlte Hure der Welt …«

»Seien Sie still!« Gabriel holte aus dem Rock ein Scheckbuch und legte es offen auf den Tisch.

Dr. Nicola schüttelte den Kopf. »Ich verrate nichts!«

»Sie sind ein Rindvieh, Doktor.« Gabriel nahm einen Füllfederhalter, schraubte ihn auf und schrieb eine Zahl auf den Scheck. »Bitte«, sagte er dann.

»Fünfzigtausend!« Dr. Nicola verdrehte die Augen. »Sind Sie etwa der Vater des Kindes?«

»In Kürze, ja.«

»Und was soll ich tun?«

»Fahren Sie mit Ihrem Wagen ins Schloß Cassini?«

»Ja.«

»Dann setzen Sie Helena morgen in den Kofferraum und fahren wieder ab. Ich werde mit der Mutter morgen nachmittag um drei Uhr bei mir auf Sie warten und das Kind in Empfang nehmen.«

Dr. Nicola starrte Gabriel an, als verstehe er überhaupt nichts.

»Das stellen Sie sich so vor! Sobald das Kind vermißt wird, werden drei Autos losrasen und Ihre Wohnung, die Wohnung der Mutter und mich überwachen! Sie wissen, welch schnelle Wagen Cassini hat! Ich könnte ihm vielleicht entwischen, aber ich käme nie in Ihre Wohnung.«

»Dann ändern wir den Plan.« Gabriel sah nachdenklich an die dunkle Täfelung der Holzdecke. »Wir sind um drei Uhr auf dem Quai de Montebello. Sie kommen vom Pont Michel, biegen nach links ab und setzen das Kind gegenüber der Rue Hôtel Colbert auf die Straße. Ich werde dort warten und das Mädchen in Empfang nehmen.« Gabriel riß das Scheckblatt aus dem Block und schob es Dr. Nicola zu. »Machen wir es so?«

»Warum rufen Sie nicht die Polizei?« fragte Nicola und ließ den Scheck unberührt liegen. »Sagen Sie bloß nicht, um mir nicht den Hals zu brechen.«

Gabriel trank sein Glas Rotwein aus, winkte Emile, dem Chauffeur, und erhob sich. »Ich möchte Skandale vermeiden, Doktor. Mit Cassini werde ich in der Stille fertig. Es gibt bessere Methoden als lautes Trommelschlagen.«

Wortlos verließ Jean Gabriel die Auberge des Gardes.

»Sie wollten mir den Weg ansagen, Monsieur«, sagte Emile, als Gabriel ins Auto stieg. »Sie haben mich nicht informiert, wohin ich in Versailles fahren soll.«

»Zurück nach Paris!« Gabriel lehnte sich zurück und steckte sich eine Zigarre an. »Es hat sich erledigt …«

Der Tag war herrlich. Ein Frühlingstag, wie ihn nur Paris kennt und wie man ihn nur in Paris sehen, riechen, fühlen kann.

Kurz vor drei Uhr standen Nadja und Gabriel auf dem Quai de Montebello. An den antiquarischen Buchständen war Hochbetrieb; Frühling und Sonne, Blütenduft und Mädchenlächeln regen in Paris an, stundenlang bei den Bouquinisten in den Auslagen zu wühlen und über die Reproduktion eines Bildes oder eine originale Radierung – schon zu zehn Francs das Stück – eingehend zu diskutieren. Auf der Straße ratterten Autos und Pferdewagen, vor den Cafés und Bistros saßen die Künstler und Intellektuellen und alles, was sich dafür hielt, rauchten und tranken Rotwein, beobachteten die anderen Menschen und fühlten sich behaglich in dem königlichen Gefühl, viel Zeit für die Schönheiten von Paris zu haben. Unter den jung belaubten Bäumen zwischen Kaimauer, Fußgängerweg und Straße hatte man gelbgestrichene Klappstühle aufgestellt, und hier saß man zwanglos, blätterte in einem entdeckten Schatz des gegenüberliegenden Antiquariats oder sah den Mädchen auf die Beine, die in diesem Jahr besonders lang erschienen durch die Kürze der Röcke.

Nadja sah dies alles nicht. Sie lehnte an der Kaimauer, die Hände gefaltet, und starrte auf die Straße. Gabriel rauchte nervös und hastig eine Zigarette nach der anderen und blickte ab und zu auf seine goldene Uhr.

»Noch sieben Minuten«, sagte er, um nicht völlig schweigsam neben Nadja zu stehen. Sie nickte und schwieg.

Es ist unmenschlich, was sie jetzt ertragen muß, dachte Gabriel. Weiß man, ob Dr. Nicola die Möglichkeit hatte, Helena in seinen Wagen zu laden und abzufahren? Weiß man, ob er überhaupt etwas unternehmen wird? Was wird, wenn um drei Uhr kein Kind auf die Straße gesetzt wird, wenn man hier wartet und wartet und sich endlich sagen muß: Es ist sinnlos – fahren wir ab. Nadja wird es nicht mehr ertragen können. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sie wahnsinnig würde.

Gabriel ging zu einem der Klappstühle, holte ihn zur Kaimauer und stellte ihn vor Nadja. »Das Stehen strengt dich an, Liebste«, sagte er gepreßt. »Und wir dürfen uns nicht selbst verrückt machen. Genau um drei Uhr ist natürlich unmöglich. Wissen wir, was Nicola für Schwierigkeiten hat?«

»Und wenn er gar nicht kommt?« fragte Nadja und sprach nun das aus, was Gabriel am meisten auf der Seele lag. »Ich habe dir das Ehrenwort geben müssen, nicht zu fragen, wer Helena entführt hat und woher du seinen Namen kennst. Bei Gott, du wirst mir dann den Namen sagen, oder ich bringe dich um! Nur ›ja‹ brauchst du zu sagen. Ich weiß, wer es ist!«

Über Gabriels Gesicht zuckte es. »Wer ist es denn?« fragte er beklommen.

»Cassini!« Nadja sah ihn lauernd an. »Stimmt es?«

»Noch ist der Tag nicht zu Ende … Er wird das Kind bringen.«

»Es ist Cassini! In deinen Augen lese ich die Bestätigung!«

Gabriel wandte sich um und sah hinunter zur Seine und hinüber zu dem langgestreckten Kirchenschiff von Notre-Dame.

»Drei Uhr«, sagte er. »Ich gehe zur Straße.«

»Ich gehe mit.« Nadja stieß den Klappstuhl zur Seite. Und dann standen sie am Straßenrand, sahen jeden Wagen an, der vom Pont St. Michel herankam, warteten, ob er langsamer fuhr, ob er hielt, sich eine Tür öffnete, ein Kinderkopf erschien …

Drei Uhr zehn Minuten. Gabriel schob seine Uhr in die Weste zurück. Auch sein Gesicht war bleich und etwas verzerrt vor Erregung. Nadja hatte sich gegen einen der Bäume gelehnt und starrte in den blauen, von der Sonne wie mit Goldstaub überzogenen Himmel.

»Er muß kommen«, sagte Gabriel rauh. »Der Scheck über fünfzigtausend Francs ist gesperrt und wird erst freigegeben, wenn das Kind bei uns ist. Nicola konnte das Geld nicht vorher kassieren und irgendwohin verschwinden. Er muß kommen!« Er trat neben Nadja und legte den Arm um ihre Schultern.

So standen sie wieder am Straßenrand und warteten. Ein Zug Kürassiere ritt an ihnen vorbei, und Nadja schloß die Augen. Das Getrappel der Hufe hallte in ihr wie Kanonenschläge. Die bunten Uniformen erweckten Erinnerungen an die Palastgarde von Zarskoje Selo und an Nikolai Gurjew, der seiner Schwadron wie ein junger Held vorausritt.

Gabriel zog wieder seine Uhr hervor. Seine Hand zitterte dabei. Gleich halb vier.

»Komm«, sagte er und legte den Arm um Nadja. »Wir warten bis vier Uhr …«

»Und dann?« Es war die klägliche Frage eines Kindes. So hilfesuchend klang sie, daß Gabriel mit den Zähnen knirschte vor Qual.

»Dann platzt mitten in Paris eine Bombe!«

Um vier Uhr neununddreißig Minuten fuhr ein Wagen an ihnen vorbei, den sie wie alle anstarrten, mit den Blicken verfolgten und dann aus den Augen verloren. Ein Mann mit Sonnenbrille und Sportmütze saß hinter dem Steuer. Allein. Und dann zuckte Nadja hoch, warf die Arme empor, wirbelte herum und stieß Gabriel vor die Brust, der sie auffangen wollte, weil er dachte, sie falle in Ohnmacht.

Irgendwoher, zwischen dem Rattern der Motoren, dem Klappern der Pferdewagen war eine kleine dünne Stimme aufgeklungen.

»Mama!« hatte sie gerufen. »Mamuschka … Mama …«

Und da sah Nadja sie … die kleine Gestalt mit den struppigen schwarzen Haaren, in einem rosa Kleidchen mit Spitzenüberwurf, blauen Schnallenschuhen und weißen Strümpfen. Sie lief den Kai entlang, an den Bücherständen vorbei und suchte zwischen den Bäumen und den promenierenden Menschen.

»Mamuschka …«

»Helena!«

Es war ein Aufschrei, so hell und jubelnd, so wild und vor Glück berstend, daß die Menschen sich umdrehten und Gabriel das Herz stockte. Mit ausgestreckten Armen stürzten das Kind und Nadja aufeinander zu, und als sie sich in die Arme fielen, sank Nadja mitten auf dem Kai in die Knie, riß Helena an sich, küßte und streichelte sie, und sie weinte und stammelte russische Zärtlichkeiten und rief immer wieder: »Helenuschka! Mein Engel! Mein Engel!«, als habe sie Helena nicht wiederbekommen, sondern als wolle man sie ihr wegnehmen.

»Der Onkel hat meinen Koffer auf die Straße gestellt dort hinten«, sagte Helena und zeigte zurück zum Pont St. Michel. »Dann hat er gesagt: Lauf am Kai geradeaus … deine Mutti wartet dort …« Sie zupfte Nadja am Arm und lachte sie mit ihren großen dunklen Augen an. »Komm, Mamuschka … wir müssen den Koffer holen. Eine Puppe habe ich drin, die hat mir der Onkel Doktor auch geschenkt …«

»Sofort mein Engel, sofort.« Nadja sah zurück zu Jean Gabriel, der abseits an einem Baum stand. Er nickte und setzte sich in Bewegung.

»Ich hole den Koffer …«

»Wer ist denn das?« Helena sah Gabriel kritisch an. »Wieder ein fremder Onkel?«

»Sieh ihn dir genau an, Helenuschka.« Nadja umarmte Helena, ihr Gesicht hatte jede Strenge, jedes Leid verloren … es war aufgeblüht und von ergreifender Schönheit. »Er wird dein neuer Vater sein …«

Zwei Wochen später gab Jean Gabriel in seiner herrlichen großen Wohnung an der Avenue Foch ein Fest für seine Freunde und die Spitzen der Pariser Gesellschaft. Eine Woche lang wurde geputzt und geschmückt, neue Damaste kamen an die Fenster, über den Boden der großen, mit exotischem Parkett belegten Diele wurde ein riesiger dunkelroter Afghanteppich gebreitet, von dem sich die zierlichen goldweißen Rokokomöbel abhoben, als seien sie schwerelos. Zwei neue Kristalleuchter wurden in den Salon gehängt, und mit zwei Wagen brachten Blumengeschäfte den Blütenschmuck in die Wohnung. Rote Rosen und weiße Nelken.

»Es sind zweitausend Stück!« sagte Saparin, der mithalf. »Allein von dem Geld, das die Blumen kosten, könnten wir fast ein Jahr leben! Mein Vögelchen, da bist du in das richtige Bauer geflogen. Pick dir die besten Körnchen heraus … unter einem Karat betrachte es als Beleidigung.«

Nadja lachte glücklich. Es sollte ihr Tag, ihr Abend, ihre Nacht werden. Es war der Beginn eines neuen Lebens.

»Alle werden sie kommen«, hatte Gabriel gesagt, als er die Antworten auf die Einladungen durchsah. »Sie platzen vor Neugier, La Russe ohne Maske zu sehen. Und Punkt Mitternacht werde ich sie überraschen, daß man noch lange davon sprechen wird: Ich werde dich als zukünftige Madame Gabriel vorstellen! Damit bist du in die Pariser Gesellschaft eingeführt, und du wirst der strahlendste Stern unter allen Schönheiten sein. Paris wird dir zu Füßen liegen …«

Nadja nickte stumm. Nikolai, dachte sie erschrocken. Das waren seine letzten Worte auf dem Schiff, das sie in die neue Heimat bringen sollte. Nun wurde es Wahrheit. Aber der Glanz, der sie umgab, kam von einem Mann, den sie nicht liebte, sondern aus Dankbarkeit heiraten wollte. Eine Sonne ohne Wärme … konnte man in ihr leben?

Gabriel machte sich darüber keine Gedanken. Er hatte sich eine ganz private Freude ausgedacht. Außer den großen Namen von Paris hatte er auch bewußt Cassini eingeladen. Und Gérard Cassini sagte zu, als sei es selbstverständlich.

Seit der Rückkehr Helenas war Nadja nicht mehr im Moulin Rouge aufgetreten. Ohne Zögern zahlte Gabriel zwanzigtausend Francs wegen Vertragsbruchs und bestellte gleichzeitig seine seit Jahren reservierte Loge ab. Das sprach sich herum und trug dazu bei, daß das Fest glanzvoller zu werden versprach als eine Filmpremiere im Trocadéro.

Der Tag begann mit einem Ausritt im Bois de Boulogne. Nadja ritt einen feurigen Schimmel, und seit über vier Jahren saß sie wieder im Sattel, fest und stark wie ein Kosak, der mit seinem Gaul verwachsen ist.

Gabriel schenkte nach dem Ausritt Nadja diesen Schimmel. »Wie soll er heißen?« fragte er. Und Nadja rief: »Fedja!«

Nach dem Mittagessen im Maxim gingen sie durch die Straßen, die großen Boulevards hinunter, sahen sich die Schaufensterauslagen an und kamen zu Cartier, dem großen Juwelier.

»Sehen wir mal hinein«, sagte Gabriel scheinheilig. »Cartier hat immer schöne Sachen.«

Es war alles vorbereitet. Auf einem Samtkissen lag ein Diadem aus Rubinen und Brillanten, und Gabriel nahm es in beide Hände und setzte es Nadja in das aufgesteckte schwarze Haar mit dem Bronzeton, als sei es eine Krone.

»Königlich!« lobte Cartier ergriffen. Es gehörte zu seinem Beruf, schöne Frauen zu schmücken, aber hier schwankte selbst seine Stimme.

»Sie ist auch meine Königin!« sagte Gabriel stolz. »Schicken Sie das Diadem zu mir … Madame braucht es heute abend.«

Und dann der Abend!

Zwei Diener meldeten die Gäste an. Bankiers, Regierungsmitglieder, Exportkaufleute, Architekten, Filmkünstler und Angehörige des Adels, Botschafter, Rechtsanwälte und Verleger. Es war ein Defilee der großen Namen und berühmten Familien.

Als Cassini durch die Salontür kam, in einem nachtblauen Frack, eine weiße Orchidee im Knopfloch, zuckte Nadja zusammen. Mit eisigen Augen reichte sie Cassini ihre Hand, aber in dem Augenblick, in dem er sich darüberbeugte und sie küssen wollte, zog sie ihm die Hand brüsk weg. Mit einem maliziösen Lächeln richtete sich Cassini wieder auf, griff an seine Orchidee und riß sie aus dem Knopfloch.

»Für Sie, Madame«, sagte er. »Sie heißt Königin der Nacht.«

»Danke.« Nadja nahm die Orchidee zwischen zwei Fingerspitzen, wandte sich um und ließ sie in einen Kübel fallen, in den die Diener das Einwickelpapier der mitgebrachten Blumen warfen. Gabriel grinste fröhlich.

»Mein lieber Cassini«, sagte er laut. »Es freut mich, Sie bei bester Gesundheit zu sehen. Sie werden sie brauchen …«

Der Kampfhandschuh war geworfen. Cassini verbeugte sich kurz und mischte sich wortlos zwischen die anderen Gäste.

Und dann betrat ein Mann den Salon, bei dessen Anblick Nadjas Herz sich verkrampfte. Das ist nicht möglich, dachte sie. So etwas gibt es nicht.

Aber das Unbegreifliche war keine Sinnestäuschung. Der neue Gast stand vor dem Diener, gab seinen Frackmantel ab, wickelte einen großen Strauß roter Rosen aus dem Seidenpapier und warf einen kurzen Blick in den goldenen venezianischen Spiegel in der Diele.

Ein Mann wie Nikolai Gurjew! Groß, schlank, breitschultrig, mit gewellten schwarzen Haaren, nur das Bärtchen über der Lippe fehlte. Aber sonst war es wie eine Wiedergeburt Nikolais … es war sein Lächeln, sein Gang, seine Haltung, seine hoheitsvolle Höflichkeit, als er den Diener dankbar anlächelte, weil dieser ihm ein Stäubchen vom Frack bürstete. Es waren seine Augen, sein Blick, sein jungenhaftes offenes Gesicht, und als er jetzt in den Salon kam, die Rosen etwas linkisch in der Hand, und Nadja bemerkte, ein wenig rot wurde und verlegen, war es ihr, als sei sie wieder siebzehn Jahre, die Musik spielte zum Neujahrsball in Zarskoje Selo und der Gardehauptmann Gurjew nähme ihren Fächer und schrieb für alle Tänze dieser Nacht seinen Namen quer darüber.

Nikolai …

Starr stand Nadja da, als der Fremde sich verbeugte, ihre plötzlich kalte Hand an die Lippen führte und ihr die Rosen überreichte. Ein Diener neben ihr hatte den Namen genannt – Nadja hörte ihn wie ein fernes Rauschen. Sie fühlte, wie man ihr den Strauß wieder abnahm und zu den anderen Blumen und Vasen brachte, wie der Fremde, der aussah wie Nikolai, dessen Stimme den Klang von Nikolais Stimme hatte, einige Worte zu ihr sagte und dann wartete, daß sie antworte.

»Ich freue mich, Monsieur«, sagte sie mühsam und wunderte sich, daß ihre Stimme einen Klang hatte. »Ihre Rosen sind wunderbar.«

»Sie verblassen vor Ihnen, Madame. Und sie werden morgen verwelkt sein, weil nichts neben Ihnen bestehen kann.«

Aus der Bibliothek, die man ausgeräumt und in einen Tanzsaal verwandelt hatte, tönten die Klänge eines kleinen Streichorchesters. Ein Walzer war es, der erste Tanz an diesem Abend.

»Madame«, sagte der fremde Gast und verbeugte sich. »Ich nehme das Glück wahr, als erster vor Ihnen zu stehen und Sie um diesen Walzer zu bitten.«

Nadja nickte stumm, legte die Hand auf den Arm des Fremden und tanzte mit ihm aus dem Salon hinüber in die leere Bibliothek. Sie sah nicht, wie Gabriel, der diesen ersten Walzer mit ihr tanzen wollte, auf sie zugekommen war und nun stehenblieb, ein wenig ratlos und verlegen. Er zuckte zusammen, als Cassinis Lachen hinter seinem Rücken erklang. Fröhlich, getragen von einem hämischen Triumph.

»Unser guter René Stanislas«, sagte er. »Ein guter Tänzer, ein reicher Mann, ein Junggeselle, ein Herzensbrecher und fünfzehn Jahre jünger als wir, Gabriel! Mit so etwas muß man rechnen! Soll ich den Diener mit einem Cognac schicken?«

Gabriel drehte sich langsam um. Sein Blick war hart und kalt. »Mit der Morgenpost werden Sie ein Schreiben von mir bekommen, Cassini«, sagte er scharf. »Meine Bank kündigt Ihnen die Beteiligung an der Erschließung Nordalgeriens. Ich weiß, daß Sie aufgrund meiner damaligen Zusage schon dreißig Millionen investiert haben.«

Cassini lächelte böse. »Angenommen, Gabriel! Sie wollen mich kaputtmachen! Aber ich habe die Kanonen auch geladen.«

»Bitte! Feuern Sie sie ab!«

»Nicht heute! Der Abend verspricht zu amüsant zu werden, um ihn mit Geschäften zu belasten.« Er blickte zur Bibliothek, wo Nadja und René Stanislas gerade an der breiten Tür vorübertanzten, ein schwebendes, wie miteinander verwachsenes Paar, sich wiegend im Takt der Musik. Auch Gabriel sah sie. Seine Lippen zuckten unmerklich. »Warum soll ich mit Granaten schießen«, sprach Cassini weiter, »wenn in ein paar Tagen oder Wochen Erbsen genügen, um Sie umzufegen, Gabriel. Ich bedaure Sie … an dieser Frau werden Sie zerbrechen!«

Gabriel kniff die Lippen zusammen, wandte sich ab und ging zur Bar, wo der alte General Carnot mit Gläsern und Flaschen die Marneschlacht erklärte, sein Lieblingsthema.

Die Kapelle machte eine kurze Pause, aber Stanislas ließ seinen Arm auf Nadjas Rücken liegen und wartete auf den zweiten Tanz. Das war unhöflich gegenüber den anderen Herren, die auch auf einen Tanz mit Nadja hofften, aber er kümmerte sich nicht darum und lachte jungenhaft, als ein Foxtrott begann und keiner ihm Nadja weggenommen hatte.

»Ich kann Sie mir vorstellen, Madame«, sagte er, als Nadja auch diesen Tanz stumm absolvierte, stumm aus Angst, ihre Stimme könne zittern und die Seligkeit verraten, die seit Minuten durch sie rann wie ein süßes Gift, »wie Sie im Schloß des Zaren, unter den Augen von Alexandra Feodorowna, mit den Offizieren in ihren glänzenden Uniformen tanzten. Sie müssen, wo Sie auftraten, wie eine Sonne gewirkt haben.«

Nadja durchzog ein heißes Flimmern. »Was wissen Sie von Petersburg?« fragte sie leise. »Wieso habe ich am Hof …«

»Mein Großvater kam aus Rußland nach Frankreich. Mein Vater war schon Franzose, ich bin ein glühender französischer Patriot. Aber die Bindung zu Rußland riß nie ab. Tanten und Onkel leben noch auf ihren Gütern, das heißt, jetzt sind sie Emigranten wie Sie. Ich habe immer ein Ohr für den Osten gehabt, und eine Tante schrieb mir aus Petersburg, daß im Zarenschloß ein bezauberndes Mädchen lebe, eine Tochter Rasputins, was man gar nicht begreifen könne, denn ein Wunder sei's, daß von einem solchen Untier ein solcher Engel abstamme …«

Mit einem Ruck machte sich Nadja frei und trat an die Wand zurück. Ihr Blick flammte und war golden und gefährlich. »Wer meinen Vater beleidigt, den hasse ich! Und meine Mutter war eine wunderbare Frau!«

René Stanislas wischte sich mit einem seidenen Tuch über die erhitzte Stirn. Er war weit davon entfernt, erschrocken zu sein.

»Madame«, sagte er. »Es liegt an Ihnen, mir über Ihren Vater die Wahrheit zu erzählen. Was wissen wir über ihn? Nur Schlechtes. Ich war damals, als ich den Namen Nadja zum erstenmal hörte, fünfundzwanzig Jahre alt und glaubte alles, was in den Zeitungen über Rasputin stand. Ich verkehre seit Jahren in den Kreisen der russischen Emigranten und wußte, daß Nadja, die Tochter, in Paris ist. Als ich die Einladung bekam, fragte ich meine russischen Freunde, ob diese Nadja Gurjewa … und sie nickten.« Stanislas atmete tief auf. »Ich bin zu dem heutigen Abend gekommen, um Sie zu bewundern, Madame. Und nun hassen Sie mich.«

»Wie heißen Sie?« fragte Nadja schwach. Der Klang seiner Stimme, das Leuchten seiner Augen … Nikolai war wiedergekommen.

»René Stanislas. Eigentlich Stanislasky, aber wir haben seit dem Großpapa den Namen etwas französisiert …« Er sah Nadja mit jungenhaft bettelnden Augen an und bemerkte Gabriel, der sich von der Bar löste und zur Bibliothek strebte. Nur wenige Sekunden Zeit blieben ihm, das wußte Stanislas. »Ich möchte von Ihnen alles über Ihren Vater wissen«, sagte er schnell. »Übermorgen, im Park der Tuilerien. Wenn Sie von der Place de la Concorde kommen, rechts, am dritten Weg. Dort steht eine Buschgruppe, gekrönt von einem Standbild der Nymphe. Ich warte auf Sie.«

»Nein!« sagte Nadja leise. »Nein!«

»Aber ich warte …«

René Stanislas wandte sich ab, nickte Gabriel freundlich zu und ging an ihm vorbei in den Salon. Nadja sah ihm nach, und ihre Augen waren wie verschleiert.

»Amüsierst du dich gut, Liebste?« fragte Gabriel. Trauer lag in seiner Stimme. Das war das einzige, was er empfand, als er sie ansah.

Nadja nickte krampfhaft. »Ja«, sagte sie. »O ja, Jean! Ein schöner Abend und liebenswerte Gäste … Ich danke dir, daß du das alles für mich getan hast …«

Die Musik spielte wieder. Gabriel legte seine Hand auf Nadjas Schulter.

»Noch einmal ein Walzer. Willst du?«

»Ja, aber ja, Jean.« Sie nickte, nahm seine Hand und ließ sich auf die Tanzfläche führen.

Aber es war kein seliges Wiegen mehr wie bei dem ersten Walzer. Sie tanzte hölzern, eckig, als habe sie Bleisohlen unter den zierlichen Schuhen, und Gabriel spürte es, aber er schwieg …

Um vier Uhr nachmittags bog Nadja in den dritten Weg rechts im Park der Tuilerien ein und sah schon von weitem aus den Büschen den nackten Oberkörper der steinernen Nymphe.

Zwei schreckliche Nächte lagen hinter ihr. Mit Selbstvorwürfen, mit Reue, mit Vernunft und mit Drohungen hatte sie versucht, sich selbst zu besiegen. Sie war stundenlang im Zimmer herumgegangen und hatte sich vor dem Spiegel entgegengeschrien: »Nein! Nein! Nein! Du bist undankbar! Jean hat dir Helena wiedergegeben! Du wirst ihn heiraten! Du mußt ihn heiraten!«

Dieses Muß aber war es, was sie immer wieder wegführte von einem Sieg über sich und über ihr Herz, das nur zu klopfen schien, wenn sie an Stanislas dachte. »Ich bin verrückt!« sagte sie laut. »Mein Gott, ich bin verrückt! Ich kann Millionen haben, ich kann die reichste Frau von Paris sein … und was tue ich? Himmel, was will ich tun?«

Doch dann saß sie wieder in der Dunkelheit am Fenster, starrte auf die leere Straße und dachte an Nikolai Gurjew. Ihre Liebe blühte erneut auf, und es war keine Schande dabei, kein Verrat an Nikolai, denn René Stanislas war ihm so ähnlich, daß sie glauben konnte, vier Jahre Trauer seien nichts anderes gewesen als vier Jahre Warten auf Nikolais Rückkehr.

Sie hatte Saparin gefragt. »Helfen Sie mir, Boris Michailowitsch!« hatte sie verzweifelt gerufen. Und Saparin hatte geholfen. Er telefonierte sie drei Stunden später an.

»Geh zu ihm, Täubchen«, sagte er. »Stanislas hat drei Millionen. Nicht viel gegenüber Gabriel, aber immerhin genug für dich. Er ist Erbe einer Reederei in Brest. Zögere nicht, Vögelchen.«

»Geld! Geld!« hatte sie da geschrien. »Ihr denkt nur an Geld! Soll ich Gabriel verraten?«

»Liebst du ihn?«

»Nein.«

»Liebst du Stanislas?«

»Ja! Ich kann nichts anderes mehr denken als an ihn.«

»Und da fragst du mich, Täubchen?« Saparin lachte ins Telefon. »Breite die Arme aus und lauf ihm entgegen! Himmel und Hölle, was ist denn auf Erden wertvoller als Liebe? Danke Gott auf den Knien, daß du dein Herz wiedergefunden hast …«

Und so war es.

Unter der steinernen Nymphe, halb verdeckt durch die hohen wuchernden Büsche, sah sie das Leuchten eines hellen Anzugs. Noch einmal zögerte Nadja. Gabriel ist verreist, durchfuhr es sie. Gestern ist er nach Marseille gefahren, zu einer seiner Bankfilialen. Erst am Freitag will er wiederkommen.

Drei Tage ohne Gabriel. Drei Tage mit Stanislas. O Jean … bester, guter Jean … wie kannst du es je verstehen … ich verrate dich … ich betrüge dich … und ich bereue es nicht … Ich bin nur ein Mensch, der wieder lieben kann. Endlich, endlich wieder lieben kann …

Und sie rannte Stanislas entgegen, der aus den Büschen trat, mit ausgebreiteten Armen und selig geöffnetem Mund. Und Stanislas stürzte ihr entgegen, riß sie an sich … »Nadja!« rief er, und es war ein Schrei, als öffne er alle Pforten des Paradieses … und dann umklammerten sie sich, preßten sich aneinander, als wollten sie aus zwei Körpern einen einzigen schmelzen. Ein Leuchten war in ihren Augen, der den Tag in Silberglanz tauchte, und ihre Münder kamen sich entgegen wie zwei Flammen.

Mit geschlossenen Augen, nicht Mensch mehr, nur noch Liebe und Sehnsucht, empfing Nadja diesen Kuß, und es war der erste Kuß seit vier Jahren, den sie spürte mit ihrem ganzen Wesen.

Hinter den Büschen, jenseits der steinernen Nymphe, löste sich eine Gestalt und ging langsam zurück zur großen Promenade.

Gabriel hatte den Kopf tief gesenkt, seine Augen waren gerötet und seine Schultern nach vorn gedrückt.

Er ging langsam, müde und schwerfällig, und er schleifte das rechte Bein etwas nach, als sei er gelähmt von einer schrecklichen Trostlosigkeit.

Er wußte jetzt, daß er an Nadja Gurjewa zugrunde gehen würde.