10
Nur wenige Tage blieben zum Ausruhen und zum Nachdenken. Nachdem Nadja und Nikolai fast vierundzwanzig Stunden geschlafen hatten, gingen sie durch die Straßen Wladiwostoks, um neue Kleidung zu kaufen. Gurjews von General Ryschikow geschenkte Uniform hatte Klobkow in Verwahrung genommen; er hatte Rock und Hose gebügelt, die Knöpfe nachgenäht, die silbernen Tressen geputzt und die Uniform dann in einen Schrank gehängt. Von den Rubeln, die Nadja für Helenas Verpflegung zurückgelassen hatte, war noch eine Menge vorhanden, und so besuchten Nadja und Nikolai nun Geschäft nach Geschäft, um einen Anzug, Sommerkleider, einen dünnen Mantel, einen Hut und Schuhe zu kaufen.
Aber überall war es das gleiche – die Händler machten große Augen, als Nadja ihre Wünsche vorbrachte, warfen einen Blick an die Decke und falteten die Hände über dem Bauch.
»Das Geschäft ist leer, das Lager ist leer – sehen Sie sich um! Rubel! Wissen Sie, ob dieser Rubel morgen noch etwas wert ist? Versuchen Sie es bei Saltijew um die Ecke.«
Aber auch Saltijew hatte keinen einzigen Fetzen Stoff mehr, und bei Kraschenkow, Buljatin und Wladronow war es ebenso.
»Sie halten die Waren zurück!« knirschte Nikolai Gurjew, nachdem sie den ganzen Tag herumgelaufen waren. Einer war sogar so dreist gewesen, sie bereits mit ›Genosse‹ anzureden und Gurjew eine flache Arbeitermütze anzubieten. »Sie haben die Keller voll, ich möchte wetten! Sie warten, bis die Bolschewisten in der Stadt sind, und dann quellen die Geschäfte über! Anspucken sollte man sie alle, diese Krämer!«
In der Nähe des Hafens fanden sie, müde vom Laufen und durstig vom Straßenstaub, einen kleinen Laden, der dem Juden Aaron Prokopiwitsch Bubka gehörte.
Aaron Bubka musterte seine beiden neuen Käufer einen Augenblick, dann verbeugt er sich. Er rannte um die Theke herum, holte Nadja einen Stuhl und eilte dann in eine Hinterstube, wo kurz darauf Gläser klirrten und eine Flasche entkorkt wurde.
»Es ist Rotwein!« sagte Bubka, als er mit einem Tablett zurückkam und Nadja und Nikolai zwei große Gläser reichte. »Vielleicht sind Euer Gnaden einen anderen Wein gewöhnt … aber die Zeiten sind schlecht geworden, und wer kann noch den Import der guten Burgunder und Bordeaux bezahlen? Dieser hier ist aus dem Kaukasus …«
Durstig tranken Nadja und Nikolai ihre Gläser leer, und es war ihnen, als hätten sie noch nie einen solch herrlichen Wein getrunken. Zufrieden sah ihnen Aaron Bubka zu, die Hände auf dem Bauch gefaltet.
Nikolai Gurjew stellte sein Glas auf das Tablett zurück und wischte sich den Mund.
»Sie sind der erste höfliche Mensch, Aaron Prokopiwitsch, den wir heute treffen«, sagte er. »Aber ich vermute, daß auch Sie keine Ware mehr im Laden haben, kein Kleid für Nadja Grigorijewna und keinen Anzug für mich.«
»Kann man es ihnen verübeln, den Kollegen?« Bubka lehnte sich gegen seine alte, abgestoßene Theke. »Vor den Toren der Stadt marschiert die Rote Armee auf. Sie wird Wladiwostok bis nächsten Sonntag erobert haben. Und dann? Sie wissen alle nicht, ob man sie aufhängt oder weiterarbeiten läßt. Ist es nicht verständlich, daß sie ihre Waren verstecken?«
»Und Sie, Aaron Prokopiwitsch?«
»Ich kann Ihnen alles verkaufen, was Sie brauchen, Euer Gnaden.«
»Warum nennen Sie mich Euer Gnaden?«
»Weil Sie ein Offizier sind!« Bubka lächelte mild über das Erstaunen Gurjews. »Ihre Haltung, Euer Gnaden, Ihre Sprache, Ihre Bewegungen … man kennt das doch! Nicht wahr, Sie sind Offizier?«
»Ja«, antwortete Gurjew knapp.
»Und was wollen Sie tun?« Bubka sah Nadja an, ihre bleiche Schönheit ergriff ihn. Vor allem ihre Augen zogen ihn an, eine magische Kraft hatten sie, und es war, als könnten sie einem ins Herz blicken. »Ich weiß, Sie haben keine Angst. Aber Mut allein ist wie das Blasen gegen den Wind, wenn die Bolschewisten kommen. Sie werden auch über Euer Gnaden informiert sein.« Bubka strich sich über seine schütteren grauen Haare. »Wollen Sie Rußland verlassen?«
»Nicht, wenn es nicht nötig ist.«
»Es wird nötig sein.«
»Gibt es denn eine Möglichkeit, Rußland zu verlassen?«
Es war Nadja, die dies fragte, und zum erstenmal stand diese Frage konkret vor ihnen. Es war ein Augenblick, der Gurjews Herz erzittern ließ. Rußland verlassen!
»Wenn die Rote Armee in die Stadt einzieht, werde ich auf einem amerikanischen Schiff sein«, sagte Bubka sehr ruhig. »Der Kapitän ist mein Kunde.« Er sah wieder auf Nadja und bewunderte ihre dunklen Augen und ihr schmales Gesicht. »Ich könnte für Euer Gnaden einen Platz reservieren. Keine Kabine, die sind besetzt. Seit Tagen schon. Aber eine Ecke im Laderaum findet sich immer. Wenn es um das Leben geht, fühlt sich ein Bretterboden wie ein Daunenkissen an …«
»Und was verlangen Sie dafür?« fragte Gurjew.
»Wieviel Personen sind Sie, Euer Gnaden?« fragte Aaron Bubka.
»Drei. Meine Frau, ich und unser Kind Helena.«
»Tausend Dollar!«
Gurjew sah Bubka entsetzt an. Nadja verzog ein wenig den Mund, aber sie blieb ruhig und sah an Bubka vorbei, der leicht mit den Schultern zuckte.
»Auch Leben ist ein Geschäft, Euer Gnaden«, sagte er. »Denken Sie nicht, daß die tausend Dollar für mich sind! Oh, wäre das ein Geschäft. Ich muß den Kapitän überzeugen, den Ersten Offizier blind machen, den Lademeister bestechen, den Koch drei Portionen mehr zählen lassen … und die Preise steigen, je näher die Bolschewisten kommen! Wenn ich zehn Prozent übrigbehalte … ist das nicht gerecht?«
»Nehmen Sie auch Brillanten?« fragte Nadja. Bubka und Gurjew fuhren herum. Nikolai hob beide Hände.
»Es ist unser Letztes, Nadja!« rief er.
»Sind sie echt?« fragte Bubka.
»Von der Zarin.«
»Lächerlich!« Bubka lachte leise. »Wollen Sie Aaron hereinlegen? Ich verstehe etwas von Steinen. Zeigen Sie sie mir.«
»Meine Frau lügt nicht!« sagte Gurjew hart. »Ich bin Gardehauptmann des Zaren gewesen.«
»Wenn auch! Wer Palasttüren bewacht, braucht noch keine Edelsteine der Zarin zu haben.«
»Kennen Sie Rasputin?« fragte Nadja. Etwas wie Stolz lag in ihrer Stimme.
Aaron Bubka hob die Augenbrauen. »Wer kennt ihn nicht …«, antwortete er vorsichtig.
»Ich bin seine Tochter.« Nadja Gurjewa sah Bubka ernst an. Und jetzt begriff Bubka auch, was ihn die ganze Zeit gefesselt hatte, was ihn dazu bewogen hatte, das Geheimnis des Schiffes preiszugeben, obgleich er die Menschen, die da in seinen Laden gekommen waren, nie zuvor gesehen hatte und sie doch vom ersten Augenblick sein Herz anrührten.
Die Augen Rasputins. Der magische Blick des heiligen sibirischen Bauern! In den Augen Nadja Grigorijewnas kehrte er wieder.
Aaron Bubka senkte den Kopf. »Lassen Sie die Steine sehen«, sagte er mit belegter Stimme. »Natürlich, ich zweifle nicht an ihrer Herkunft. Ich werde sie verkaufen, sehr gut verkaufen. Und ich werde für Sie Plätze auf dem Schiff reservieren lassen. Das ist ganz sicher. Wann wollen Sie an Bord kommen?«
»Ich weiß es nicht.« Nikolai Gurjew wandte sich ab und trat an die große Fensterscheibe. »Vielleicht brauchen wir das Schiff gar nicht.«
»Warum nicht?«
»Wenn Wladiwostok in den Händen der Armee bleibt. Das Volk wird sich gegen die rote Flut stemmen.«
»Das Volk!« Aaron Bubka spuckte aus. »Was verlangen Sie von ihm, Euer Gnaden? Seit tausend Jahren wird es getreten, jetzt verspricht man ihm die volle Freiheit! Ja, sogar eine Volksregierung soll es werden! Kennen Sie einen Löwen, der nach tausend Tagen Gefangenschaft nicht wild wird, wenn er Blut riecht?«
»Warten wir es ab, Aaron Prokopiwitsch.« Gurjew zog seinen zerschlissenen Rock aus. »Probieren wir einen Anzug an … er ist uns jetzt am nächsten auf der Haut.«
Während Gurjew drei Anzüge anprobierte und Nadja unter sieben Kleidern wählen konnte, beugte sich Bubka in einem unbeobachteten Augenblick zu ihr hinab.
»Das Schiff wird auslaufen, sobald die roten Truppen einrücken«, flüsterte er.
»Ich bringe Ihnen morgen die Brillanten«, antwortete Nadja leise.
Dann kam Gurjew zurück, in einem braunen Anzug, der ihm gut paßte. Nur die Ärmel waren zu lang. »Die wird Klobkow umändern«, sagte er.
Sie kauften den Anzug und zwei Kleider für Nadja, und sogar Kleidung für die kleine Helena hatte Bubka in seinem Laden. Mit einem dicken Paket kamen sie zurück und trafen den Schneider Klobkow bei einer merkwürdigen Arbeit an. Statt der Nähmaschine bediente er eine Handpresse, aus der bedruckte Zettel in einen eisernen Kasten fielen. Klobkow schwitzte dabei und war sehr verlegen, als Gurjew und Nadja eintraten. Es war seine Schuld, er hatte vergessen, die Tür zu verriegeln.
»Was ist denn das?« fragte Gurjew und blieb an der Tür stehen.
»Eine handbetriebene Druckpresse, Euer Gnaden«, sagte Klobkow und wischte sich den Schweiß aus den Augen.
»Und was drucken Sie da?«
»Flugblätter.« Der Schneider Klobkow nahm einen der bedruckten Zettel und hielt ihn hoch. »Genossen! Frauen! Werktätige aller Schichten! Der Tag der Befreiung ist gekommen! Die Roten Armeen werden auch Wladiwostok erobern und Ordnung in einem Land schaffen, das bisher von der Feudalklasse ausgebeutet und geknechtet wurde. Helft den kommunistischen Genossen bei der schweren Arbeit! Baut auf das neue Rußland! Dient der Revolution, die das Menschenrecht auf ihre roten Fahnen schreibt. Genossen …«
»Sind Sie verrückt?« rief Gurjew. »Das ist ja ein bolschewistisches Manifest!«
»Natürlich.« Der Schneider Klobkow lehnte sich gegen seine alte Presse. »Euer Gnaden, es ist nun mal so … wir sind eine kommunistische Familie. Schon seit Jahren.«
»Und Sie nahmen uns auf? Ausgerechnet Sie einen zaristischen Offizier?«
»Der Mensch ist ein merkwürdiges Geschöpf! Er denkt auf zwei Ebenen. Menschlich und politisch. Was geht den Kommunisten Klobkow an, was der Mensch Klobkow fühlt, und umgekehrt? Als Mensch habe ich Hochachtung vor Ihnen, Euer Gnaden … immerhin arbeitete ich zwanzig Jahre lang für Offiziere und Adelige und habe ihnen die Uniformen genäht und die Galafräcke. Aber als Kommunist muß ich Sie anspucken! Sie Schädling des Volkes! Im Augenblick bin ich Kommunist und drucke Flugblätter! Was wollen Sie, Gurjew?«
»Ich bringe einen Anzug. Man muß die Ärmel kürzen.«
»In einer Stunde, Genosse!« Klobkow drückte wieder auf den Hebel seiner Handpresse. Der Tiegel krachte auf ein neues Blatt. »Ab sechs Uhr abends können Sie wieder den Schneider Klobkow sprechen. Und jetzt hinaus, Genosse! Die Revolution duldet keine Unterbrechung …« Kopfschüttelnd verließ Gurjew die Schneiderwerkstatt und stieg hinauf zu seiner Dachkammer.
Das Beispiel Klobkow war zu deutlich … Rußland befand sich wirklich in einer völligen Umstellung.
Herrliches Rußland? War es wirklich so herrlich gewesen?
Wie hatte der Muschik gelebt? Wie eine Wanze.
Wieviel galt der Fabrikarbeiter? Weniger als der fette Hund des Direktors oder die Siamkatze der Frau Direktor.
Was war die Aufgabe der reichen Handelsherren? Betrug, Geldscheffeln und amüsieren mit Geliebten in teuren Luxuswohnungen.
Was tat der Adel? Er tanzte, gab das Geld aus, intrigierte und herrschte.
Und nach Sibirien marschierten die Kolonnen der Sträflinge, die sich dagegen aufgelehnt hatten.
Herrliches Rußland?
Wie ein Betrunkener stolperte er ins Zimmer und fiel auf das Bett. Entsetzt lief Nadja auf ihn zu. Aber seine Augen waren nicht krank, sondern starr vor Erkenntnis.
»Wir werden das Schiff nehmen, Nadjuscha …«, sagte Gurjew tonlos. »Ganz gleich, wohin es uns führt … Wir müssen weg … Hier können wir nicht mehr bleiben. Hier nicht!«
»Ich habe die Nähte der alten Kleider schon aufgetrennt«, sagte Nadja leise und streichelte seine schwarzen, jetzt struppigen Haare. »Neun Brillanten, sieben Smaragde und drei Rubine sind es noch. Wir werden die Überfahrt bezahlen können und irgendwo auf der Welt die Miete für ein Zimmer … Und wir haben vier Hände und zwei tapfere Herzen … O Niki, wie reich wir sind …!«
Drei Tage später rückten die letzten weißen Kompanien in die zur Festung erklärte Stadt Wladiwostok ein. Sie kamen vom Amur, dreckig, müde, die meisten verwundet, ein trauriger Haufen gejagter Hasen. Sie marschierten durch die Straßen, und niemand winkte ihnen zu, brachte ihnen Wasser, munterte sie auf … man sah an ihnen vorbei, und in der Alexandrownastraße flatterten sogar Flugblätter in die Kolonnen. Es waren die Zettel, die Klobkow auf seiner Handpresse gedruckt hatte.
In der Nacht begann die Beschießung der vorgeschobenen Stellungen durch die Rote Armee. General Karsanow antwortete mit zwei schweren Hafenbatterien, die er hatte umdrehen lassen. Rauschend flogen die schweren Granaten über die Stadt, der Boden erzitterte bei jedem Abschuß. Die Schiffe im Hafen lagen alle unter Dampf.
Am nächsten Morgen – die ganze Nacht über hatten Nadja und Nikolai auf ihren Koffern gesessen und heißen Tee getrunken, den ihnen die Klobkowa brachte, und hatten gewartet, daß ihnen Bubka Nachricht aus dem Hafen zukommen ließ – begann das Bombardement auf die Stadt. Die Roten mußten Hunderte von Geschützen haben, denn es orgelte und brummte und heulte durch die Luft, überall in der Stadt schlugen die Granaten ein und zerfetzten Häuser, rissen tiefe Löcher in das Pflaster, wirbelten Menschenleiber durch die Morgenluft, brachen Brände aus und schrien Verwundete um Hilfe.
Und immer wieder, bis zum Mittag, krachten die Einschläge, fielen Häuser zusammen wie Kinderbausteine, loderten hohe Brände auf und sahen die Straßen aus wie pockennarbige Gesichter.
Von Bubka war keine Nachricht gekommen, aber Nadja wollte nicht länger warten.
»Wir gehen zum Hafen!« sagte sie. »Ich kenne das amerikanische Schiff! Aaron Prokopiwitsch hat es mir gezeigt. Auch den Kapitän kenne ich! Ich warte nicht mehr länger!«
Gurjew hängte sich vier Koffer an Lederriemen über die Schultern, Nadja trug Helena in einem großen Umschlagtuch, drei Leinentaschen baumelten an dem Gürtel, den sie sich um den Leib geschnallt hatte. So rannten sie los, um die Mittagszeit, als die bolschewistischen Kanoniere neben ihren heißen Geschützen saßen und eine Schüssel mit Kascha auslöffelten.
Die Gasse, in der Aaron Bubka wohnte, sah wüst aus. Ein Trümmerhaufen war sie, eine Salve hatte sie in einen wirren Berg von Balken und Steinen verwandelt. Auch das Haus Bubkas war verschwunden … er selbst, der kleine Aaron Prokopiwitsch, lag auf der Straße. »Der Luftdruck!« sagte jemand zu Nadja, die sich über Bubka beugte. »Er stand vor der Tür, als die Granate hinter ihm einschlug. Er flog durch die Luft wie eine Fledermaus und war schon tot, als er herunterkam.«
Einen Augenblick zögerte Nadja, dann setzte sie sich neben Bubka in die Trümmer und winkte Nikolai zu sich. »Setz dich zu mir …«, flüsterte sie. »Und stell die Koffer vor mir ab …«
Er tat es, und Nadja knöpfte den Rock Bubkas auf, seine Weste und sein schmuddeliges Hemd. Auf der bleichen, eingefallenen Brust fand sie einen flachen ledernen Beutel.
»Um Himmels willen, was tust du da!« sagte Gurjew entsetzt. »Du bestiehlst einen Toten …«
»Die Steine! Sollen die Bolschewisten sie bekommen?«
»Es ist schaurig, schaurig, Nadja …«
Sie öffnete den ledernen Beutel und fand darin nichts als ihre Brillanten. Nur noch drei waren es … die anderen hatte Bubka verkauft und das Geld auf dem Schiff verteilt. Diese drei waren sein Anteil gewesen.
Nadja schüttelte die drei funkelnden Steine in die hohle Hand und ließ sie dann in ihren eigenen Brustbeutel rollen, den sie aus ihrem Kleid hervorzog. »Ich tue es für uns, Niki …«, sagte sie tief atmend. »Für dich und Helena … Dem armen Bubka helfen die Steine nichts mehr, aber für uns können sie das Leben bedeuten …« Sie richtete sich auf, nahm das Kind wieder in ihre Arme und trat zurück von der Tür und dem Toten. »Mit solchen Steinen habe ich dich von Minajew freigekauft …«
Gurjew nickte. Er warf die Koffer wieder über seine Schultern, und dann rannten sie weiter, dem Hafen zu.
Der gute Aaron Bubka hatte alles bestens vorbereitet … nicht im Laderaum, versteckt wie blinde Passagiere, heimlich verpflegt von den Eingeweihten, mußten Nikolai und Nadja ihre Heimat verlassen. Bubka hatte eine Kabine aufgetrieben, was an sich schon ein Wunder war – aber daß es sogar eine Kabine erster Klasse war, schien geradezu unbegreiflich. Hier war der Tod zu Hilfe gekommen: Die Gräfin Schemanowsky, eine achtzigjährige Dame, war einem Herzschlag erlegen, als das Bombardement auf die Stadt begann und zuerst die Gegend brannte, in der ihr Palais lag.
»Das Schiff fährt nach Genua und weiter nach Marseille«, sagte Gurjew, als er zurück in die Kabine kam, wo Helena gerade gegessen hatte und auf dem breiten Bett herumkrabbelte. »Ich hatte mit dem Kapitän eine lange Unterhaltung. Weißt du, wer auch an Bord ist? Der Gouverneur Okoschkin. Er gibt heute abend einen Ball im großen Saal.«
»Einen Ball … und draußen brennt die Stadt?«
»Maria Petrowna, seine Frau, hat Geburtstag.« Gurjew setzte sich schwer auf die Bettkante. Die kleine Helena rutschte zu ihm und richtete sich an ihm auf, indem sie sich an seinem Rock festkrallte und sich auf unsicheren Beinchen emporzog. »Wenn man das sieht, Nadjuscha … wenn man durch das Schiff geht … es ist alles so gespenstig.« Nikolai wischte sich über die Augen. »Wie in einem Panoptikum ist es. Exzellenz … Euer Durchlaucht … Gräfin … Wo ist der Fürst? … Seine Hoheit haben gestern noch gesagt … Und dann stehen sie alle an der Reling, sehen hinüber auf die Stadt und philosophieren über die Intelligenz des Volkes und sein Unvermögen, Staaten zu regieren. Es ist schrecklich, Nadja … das Schiff ist voll von hölzernen Köpfen …«
»Und du, Niki?« Nadja wusch sich die Hände. Eine Schürze trug sie, und sie sah aus wie eine Bäuerin und nicht wie die Bewohnerin einer Erster-Klasse-Kabine.
»Ich habe lange gebraucht, um zu erwachen«, sagte Gurjew leise. »Mein Gott, wie faul war das alles! Warum hat man diese Fäulnis nicht schon längst gerochen?«
»Sie haben alle gutes französisches Parfüm gehabt.«
»Sollen wir nicht doch in Rußland bleiben, Nadjuscha?«
»Damit die Roten dich töten?«
»Was sollen wir im Ausland, zusammen mit diesen Mumien und Verfaulenden?« Gurjew sprang auf. »Der Kapitän fragte mich, wo wir aussteigen wollen. In Genua oder in Marseille. Und ich wußte keine Antwort.«
»In Marseille.« Nadja kämmte sich die langen Haare und steckte sie auf.
»Und was sollen wir dort?«
»Wir fahren weiter nach Paris.«
»Und in Paris?«
»Leben!«
»Als Reitlehrer und Eintänzer?«
»Wenn es sein muß, als Straßenkehrer. Aber leben, Niki!« Sie sah ihn im Spiegel mit ihren großen faszinierenden Augen an. »Wir wissen doch jetzt, wie göttlich dieses eine Wort ist: Leben!«
»Nach Paris wollen die anderen auch.« Gurjew riß sich den Kragen auf, als ersticke er. »Alle wollen nach Paris! Und sie haben Pläne … wahnsinnig wie ihr bisheriges Leben!«
»Wir werden nichts von ihnen merken, Niki. Paris wird sie aufsaugen. Paris ist wie ein Schwamm. Ich hatte eine Erzieherin in Zarskoje Selo, die kam aus Paris. Viel hat sie uns erzählt von dieser Stadt, in der man aufgeht, weil man sie lieben muß. Ich glaube, wir werden in Paris unser kleines Paradies finden …«
Pünktlich um zwölf Uhr mittags heulten die Schiffssirenen, und die George Landon setzte sich in Bewegung in Richtung auf das Japanische Meer. Die bolschewistischen Kanonenboote waren am Hafenausgang verschwunden, man sah sie später wieder auf freier See im Funkverkehr mit zwei japanischen Kreuzern, die außerhalb der russischen Hoheitsgewässer wie in Wartestellung lagen.
Die Passagiere standen alle an der Reling, die dem Land zugekehrt war, und starrten stumm hinüber auf das zurückbleibende Rußland. Auch Nikolai und Nadja standen oben an Deck, das Kind auf den Armen zwischen sich, und blickten zurück auf die Erde, die sie nie wieder betreten durften.
Ein Block bunter Uniformen auf dem Promenadendeck … das war die Ansammlung der Generäle. Einige der Damen weinten leise, die Spitzentaschentücher knisterten. Unten, auf dem C-Deck und an den Ladeluken, standen die einfachen Leute, in zerrissenen, schmutzigen Kleidern, einige Männer mit Verbänden, die Frauen mit großen Kopftüchern. Auch sie verloren in dieser Stunde ihre Heimat, und sie fuhren in die Fremde ohne Pläne und ohne Verbindungen, nur vertrauend auf ihre Hände und die Zähigkeit ihrer arbeitsgewohnten Körper.
»Leb wohl, Rußland …«, sagte Nadja leise und lehnte den Kopf an Nikolais Schulter. Sie weinte jetzt, und die kleine Helena wischte mit spitzen Fingerchen die Tränen von Nadjas Wange, wenn sie wie kleine Perlen herunterliefen. »Leb wohl, Väterchen Grigori …«
Das Schiff zitterte. Der Hafen lag hinter ihm, das freie Meer rollte heran. Wladiwostok war nur noch ein dünner Streifen am Horizont … die Arme der Kräne sahen aus wie aufrecht stehende Haare auf einem lockigen Kopf. Ganz in der Ferne, blau im Himmel schwebend, leuchteten unwirklich, die Berge von Sutchan. Noch einmal heulte die Schiffssirene … Abschied, Abschied, Abschied …
Vier Wochen stampfte die George Landon durch das Meer. Die Weite von Wasser und Himmel war bedrückend; oft standen Nikolai und Nadja an ihrem Kabinenfenster oder oben auf den Decks und sahen zum Horizont, faßten sich an den Händen und empfanden das gleiche: Wir schwimmen ins Ungewisse. Die Unendlichkeit saugt uns auf. So unbekannt wie das, was sich dort hinter dem Horizont verbirgt, so ungreifbar ist auch unsere Zukunft. Ein völlig neues Leben muß beginnen. Und es wird zögernd und tastend beginnen wie die ersten Schritte eines Kindes, und keiner wird dasein, der uns helfend an die Hand nimmt.
Unbeachtet von allen anderen Passagieren lebte ein langer, dürrer Mensch in einer dunklen, kleinen Kabine auf dem B-Deck. Er verließ selten seine Kammer und ließ sich sein Essen, meistens nur eine Suppe, an die Tür bringen, wo er sie in Empfang nahm, ohne daß der Steward die Kabine betreten konnte.
Man hätte sich auch sehr verwundert, wenn man diese Kabine B 86 betreten hätte. In eine kleine Kirche war sie umgewandelt … ein Altar aus sechs Ikonen war errichtet, an den Wänden hingen mit religiösen Motiven bestickte Vorhänge, zwei Leuchter warfen flackerndes Kerzenlicht in den sonst abgedunkelten Raum … und hier kniete Genjka, der irre Mönch aus Petersburg, Stunde um Stunde, Tag um Tag und Woche um Woche und betete, schwang sein Weihrauchkesselchen gegen die Ikone und fragte Gott, wann der Tag der Rache kommen sollte.
Vier Wochen kniete er vor den Ikonen, unter sich das Schwanken des Schiffes und das dumpfe Stampfen der Motoren, vier Wochen quoll der Weihrauch gegen die vergoldeten Bilder von Christus und den Erzengeln, als Genjka plötzlich aufschrie und die Arme weit ausbreitete.
»Herr! Ich danke dir!« schrie er hell. »Du gibst mir den Befehl! Die Stunde ist da! Die Stunde ist da! Dein Zeichen habe ich erkannt.« Er starrte mit flimmernden Augen auf die Ikone, die Christus zeigte. Die Nähe der Kerzen und die Hitze hatten die Ölfarbe angegriffen. Die Augen Christi hatten sich geschlossen. Farbe aus der Dornenkrone und der Stirn war über die Lider geflossen, und nun sah es aus, als habe Christus keinen Blick mehr, wie ein Blinder, dessen Pupille farblos ist.
Genjka, der irre Mönch, faltete die Hände und legte seine Stirn darauf. Durch seinen Körper flog ein heftiges Zittern. Für ihn war es das Zeichen Gottes, auf das er seit fast fünfzehn Jahren gewartet hatte, seit er in der Kathedrale St. Isaak in Petersburg den Auftrag bekommen hatte, alles, was Rasputin heißt, von dieser Erde zu tilgen.
Bis zum Abend lag Genjka vor seinem Altar, betete, aß nichts mehr und bereitete sich auf die große Stunde seines Lebens vor. Dann kleidete er sich in sein Festtagsgewand, kämmte sich, ordnete den Bart und steckte in den Gürtel unter seine Soutane einen langen, gebogenen mongolischen Dolch. Noch einmal schwenkte er das Weihrauchkesselchen über seine Ikone, bekreuzigte sich, sah sich lange, wie abschiednehmend, im Raum um, verließ die Kabine, schloß sie sorgfältig ab und ging hinauf an Deck.
Eine warme Nacht war's. Man näherte sich der arabischen Küste. In Aden wollte die George Landon zwei Tage ankern, um Frischwasser und Kohlen aufzunehmen, dann sollte die Fahrt weitergehen durch das Rote Meer, den Suezkanal und das Mittelmeer bis Genua und Marseille, dem Ende der langen Fahrt.
Zwei Menschen kamen die Treppe von den Kabinen herauf und betraten das Promenadendeck. Der Mann hatte seinen Arm um die Schulter der Frau gelegt, und so standen sie an der Reling, sahen in die Nacht und hinab in das schäumende Meer.
»Morgen früh sollen wir Aden erreichen, sagt der Erste Offizier«, berichtete Nikolai Gurjew gerade. »Wer hätte das gedacht, Nadjuscha, daß wir einmal Arabien sehen? Märchen werden wahr, aber was kosten sie!«
Nadja legte ihre kühlen Finger auf Nikolais Lippen und drückte sich enger an ihn. Sein starker Arm umfaßte sie, und es war gut, ihn so nah und kraftvoll zu spüren.
»Ich habe mir gedacht«, sagte sie und ließ den Seewind durch ihr langes Haar wehen, »daß du in Paris zuerst zu den großen Rennställen im Bois de Boulogne gehst. Dort brauchen sie immer gute Reiter zum Trainieren der Turnierpferde. Und wer kann besser reiten als ein russischer Gardeoffizier? Du wirst sehen, Niki … wir werden schnell wieder aus der Einsamkeit herauskommen. Wir werden keine Sorgen haben. Und sechs Brillanten habe ich auch noch …«
Nikolai Gurjew nickte. Das Problem seines weiteren Lebens hatte ihn wortkarg gemacht. Er fühlte sich völlig unnütz auf der Welt, und das war ein so schreckliches Gefühl, daß man darüber nicht sprechen konnte, auch nicht mit Nadja, die alles als so einfach und rosig ansah. Ihr Mut war ungeheuerlich, ihr Lebenswille glich einem sprudelnden Quell …
Der irre Mönch Genjka war auf zwei Meter an Nikolai und Nadja herangekommen. In seinem Blick lag ein Haß, der aus einer anderen Welt kommen mußte, denn alles Menschliche hatten diese glühenden Augen verloren. Stumm, mit bebenden Lippen, hob er den langen krummen Mongolendolch und starrte auf den Rücken Nadjas, den er mit einem gewaltigen Stoß durchbohren wollte.
War es sein heftiges Atmen, war es ein Geräusch, erzeugt vom Wind in dem Segeltuchdach, das eine kleine Bar auf dem Promenadendeck überspannte … Nikolai Gurjew drehte sich um und starrte in die flackernden Augen Genjkas. Sprachlos und erschrocken erkannte er die lange Klinge, die in der hoch erhobenen Faust zuckte … er sah die Gespanntheit des dürren schwarzen Körpers, dieses raubtierhafte Muskelspannen vor dem Sprung, diese Sekunde vor dem tödlichen Aufbrüllen.
Seine Stimme war gelähmt. Ahnungslos sah Nadja hinauf in den Sternenhimmel und hob sogar den Arm, um auf einen großen glitzernden Punkt zu zeigen. »Sieh, Niki!« rief sie mit ihrer hellen Stimme, und Gurjew wußte, daß er sie zum letztenmal hörte, denn vor diesem gebogenen Mongolendolch gab es kein Entweichen mehr. »Ist es der gleiche Stern, den wir in der Steppe gesehen haben? Er ist heller als alle anderen …«
Mit weit offenen Augen warf sich Gurjew gegen den Rücken Nadjas, als der Dolch herunterzuckte. Mit seiner Brust fing er den Stoß auf, umklammerte mit seinen Händen den ziselierten Goldgriff und krallte die Nägel in die Handrücken Genjkas.
Der Irre ließ den Dolch los und warf die Arme empor.
»Zu Ende!« brüllte er grell. »Zu Ende! Der Antichrist ist stärker! Fliehe, Gott! Flieht, ihr Heiligen! Der Antichrist hat gesiegt!«
An der entsetzensstarren Nadja vorbei schwang sich Genjka über die Reling, breitete die Arme aus, als könne er fliegen, und ließ sich hinab ins Meer fallen …
»Niki, wer war das?« stammelte Nadja. Sie drehte sich um, und dann verkrampfte sich ihr Herz, sie fiel in die Knie, der Schrei, der aus ihr hinauswollte, würgte ihr die Luft ab … auf den Planken des Promenadendecks hockte Nikolai Gurjew, die Hände vor die Brust geschlagen, und über seine Finger lief das Blut, tropfte an ihm herunter und sammelte sich in einer Lache vor seinen Schuhen. Der Dolch steckte noch tief in seiner Brust.
»Nadjuscha …«, stöhnte er. »O Nadjuscha … einmal konnte ich dir helfen. Einmal war ich für dich da … du wirst weiterleben, Liebes …«
»Niki! Niki!« Sie kniete neben ihm, umklammerte seinen Kopf und drückte ihn an sich. »Was ist denn?« schrie sie. »Was hat man dir getan? Warum? Warum? Wer war es denn?« Dann sprang sie auf, und jetzt konnte sie schreien, so laut und grell, daß sich Türen und Fenster öffneten, ein Steward und zwei Offiziere die Treppen heraufgerannt kamen.
Nikolai Gurjew schwankte … er war zu schwer, als daß ihn Nadja halten konnte, mit ihr fiel er auf den Rücken. Sie umarmte ihn, sein Blut floß über sie, sie küßte ihn und sah, wie seine Lippen weiß wurden und der Blick seiner Augen von einem Schleier überzogen wurde.
»Paris …«, sagte Nikolai. »Paris wird schön sein, Nadjuscha … du wirst es erobern … ich weiß es … Paris wird dir zu Füßen liegen … in dir ist das ewige Leben … du bist das Leben … das schöne Leben … Leben …«
Bis zum Morgen kämpften drei amerikanische Ärzte und zwei russische Emigrantenärzte um das Leben Nikolai Gurjews. Vier Blutübertragungen bekam er, man operierte ihn mit einem fast verbrecherischen Mut, indem man seinen Brustkorb öffnete … umsonst war's. Der lange Dolch hatte den Herzbeutel durchtrennt; Nikolai Gurjew verblutete nach innen, und niemand konnte das Schicksal aufhalten.
Als endlich zum erstenmal wieder Land am Horizont auftauchte, die Küste Arabiens, das Zauberland aus seinen Jugendträumen, starb Nikolai Gurjew, seine Hände in den Händen Nadjas. Er lächelte im Tod.
Zum erstenmal konnte ich dir helfen, Nadjuscha …
Mit bunten Fahnen an den Masten lief die George Landon im Hafen von Aden ein. Es war ein heißer, sonniger Tag. Die Boote der Hafenhändler umschwirrten das große Schiff. An der Reling standen die Passagiere und winkten.
Nur ein kleiner Kreis wußte vom Tod Nikolai Gurjews. Nur die Ärzte, die Offiziere und drei Stewards. Und sie schwiegen auf Befehl von Kapitän McLydd.
Drei Tage lang kämpfte Nadja verbissen um den Körper Nikolais. Wie eine Tigerin hockte sie in der Kabine.
»Er kommt mit nach Paris!« schrie sie, wenn die Ärzte und Kapitän McLydd sie überzeugen wollten, daß es unmöglich sei, eine Leiche durchs Rote Meer, den Suezkanal und das Mittelmeer bis nach Marseille mitzuschleppen. »Er hat sich auf Paris gefreut – und er soll in der Erde von Paris begraben werden!«
»Es ist unmöglich, Madame, einen Toten so lange aufzuheben!« schrie McLydd, den die Geduld verließ.
»Balsamieren Sie ihn ein!« rief Nadja. »Es sind doch genug Ärzte an Bord!«
»Wir sind ein Passagierschiff, aber keine Präparieranstalt!« brüllte McLydd. »Nach dem Gesetz muß der Tote im Meer bestattet werden.«
Aber dann, am vierten Tag, draußen schien die Sonne mit vierzig Grad Glut, und der süßliche Geruch von Nikolais Körper betäubte sie fast, gab sie nach. Sie nickte nur, als Dr. Wladimorow, ein Arzt aus Irkutsk, wieder ins Zimmer kam.
»Nehmen Sie ihn, Stepan Iwanowitsch«, sagte sie müde. »Ich trage Niki in meinem Herzen … nehmt seinen Körper …«
In der Nacht, als alles auf dem Schiff schlief, wurde Nikolai Gurjew im Roten Meer versenkt. Man hatte ihn in ein großes Segeltuch eingenäht und ihn mit Bleiplatten beschwert. Dort, wo sein Herz sein mußte, hatte man ein kleines Kreuz unter die Stricke geschoben. Ein Pope aus dem C-Deck sprach ein Gebet, segnete den toten Leib und segnete Nadja, die wie erstarrt an der Reling stand und ins Meer sah.
Dann hoben vier Stewards das lange Paket über die Reling, die amerikanischen Schiffsoffiziere grüßten, der Pope hob das Doppelkreuz hoch empor in den Nachthimmel … langsam glitt Gurjew durch die Hände der Stewards, neigte sich und fiel ins Meer. Klatschend schlug er auf, die Wellen öffneten sich vor ihm, so sah es aus, und dann rollten wieder die Wogen dahin, und Nadja dachte an die unendlichen Felder der Ukraine und die maßlosen Urwälder der Taiga.
»Bitte, Madame …«, sagte Kapitän McLydd mit heiserer Stimme. Er reichte ihr einen Kranz hin, den Matrosen geflochten hatten.
Nadja nickte. Mit einem weiten Schwung warf sie ihn ins Meer, und er schaukelte über dem Grab Gurjews, bunt und erschreckend fröhlich wie eine Demonstration, daß das Leben weiterging.
Später stand Nadja allein an der Reling, die George Landon zog entlang der arabischen Küste durch das Rote Meer, und sie sah in die Wellen und hatte das Gefühl, daß Nikolai sie begleite und immer begleiten würde.
»Du bist in mir, Niki!« rief sie den Wellen zu. »Du bist unauslöschlich in mir! Und ich habe Helena. Du wirst unsterblich sein, Niki …«
An einem sonnigen Maitag betrat Nadja Gurjewa den Boden Frankreichs. Das Ziel ihrer langen Reise, um den halben Erdball herum, war erreicht.
Und sie brachte nichts mit als sich, ihr Kind und das Bild Nikolais … und ihr heißes Herz und den wilden Mut, zu leben.
Zu leben in der Stadt des Lichtes. In Paris.
Du wirst Paris erobern, Nadjuscha … das waren die letzten Worte Nikolais. Paris wird dir zu Füßen liegen …