14
Es war heiß. Die flimmernde Luft hatte sich wie ein Helm über die Gärten der Tuilerien gestülpt, die Fontänen der Springbrunnen glitzerten gegen die Sonne in allen Spektralfarben, nicht ein Windhauch bewegte die Zweige der hohen Bäume.
»Ich liebe dich«, sagte Nadja, und sie schämte sich nicht, es zuerst zu sagen. »O Himmel, ich liebe dich, René. Es ist, als ob sich die Welt verändert hätte …«
»Sie hat sich verändert, bei Gott.« René Stanislas streichelte ihr Haar und war gefesselt von ihren großen dunklen Augen. »Haben wir überhaupt gelebt bis zum heutigen Tag?« Er umfaßte Nadjas Körper, drückte ihn an sich und spürte ihr Zittern, das Zucken ihrer Muskeln und die Sehnsucht, die sie durchrann. »Wann heiraten wir?«
»Morgen … heute … sofort …« Sie lachte, bog sich in seiner Umarmung zurück und warf die Arme hoch in die Luft. Er hielt sie fest um die Taille gepackt, und so lag sie in seinen Händen – ein Mensch, der sein Glück hinauslacht und sich nicht schämt, zu zeigen, was er empfindet. »Glaubst du daran, daß die Liebe wie eine Explosion ist? Plötzlich springt etwas auf, man zerbirst, das Blut rinnt und rinnt, und man ist so glücklich dabei. Wie ein Wahnsinn ist sie! Ja, wie ein Wahnsinn! Sag … bin ich wahnsinnig?«
»Ja«, sagte Stanislas. »Ja. Du bist wahnsinnig. Deine Augen glühen …«
Stanislas lehnte an der steinernen Nymphe, über deren nackten Brüsten das Gold der Sonne lag. Seine schwarzen Locken waren zerzaust, Schweißperlen rannen ihm über die Nasenwurzel zum Mund. Er hatte den Hemdkragen aufgerissen und den Schlips heruntergezogen. Mit beiden gespreizten Händen fuhr sich Nadja durch die aufgelösten Haare. Sie atmeten beide schwer und hastig, und ihre Körper glühten.
»Du kommst mit mir in mein Haus«, sagte Stanislas.
»Wo ist dein Haus?«
»Am Bois de Boulogne. Boulevard Anatole France. Eine weiße kleine Villa in einem Park von Platanen und Buchen.« Stanislas lehnte den Kopf weit zurück gegen die Statue. »Ich gestehe, daß ich das Haus selten gesehen habe. Wenn du mich fragst, wie es eingerichtet ist – ich weiß es nicht. Möbel sind drin, ja, Gemälde, Steinplastiken, Teppiche, ein orientalischer Salon … das weiß ich genau … Alles Sachen, die mein Vater nicht in Brest gebrauchen konnte und zu mir hat bringen lassen. Ein Museum ist es! Ein Sammelsurium aus aller Welt. Mein Vater hat die ganze Erde bereist und war nie zimperlich mit Andenken.«
»Was wird er über mich sagen?« fragte Nadja.
»Ich werde Mühe haben, den alten Knaben von einem neuen Frühling fernzuhalten!« Stanislas lachte leise und zog Nadja an sich. »Es gibt keinen Mann, gleich welchen Alters, der dir nicht zu Füßen liegen würde!«
»Ich bin eine Tänzerin vom Moulin Rouge! Ein Tingeltangelmädchen! Deine Familie wird entsetzt sein!«
»Ich heirate nicht die Moral meiner Familie, sondern dich.«
»Ich bin arm!«
»Das ist das Zweitschönste an dir.«
»Ich bringe ein Kind mit.«
»Es wird mein Kind sein … unser Kind.«
»Ich war für eine Nacht die Geliebte Cassinis und Gabriels. Weißt du das?« Sie war ernst geworden und begann ihre Haare aufzustecken und die Haarnadeln aus dem Gras zu sammeln. »Man wird das überall erzählen, auch deinem Vater … die Frau René Stanislas' lag schon in anderen Betten …«
Stanislas zündete sich mit bebenden Fingern eine Zigarette an. »Warum bist du so grausam, Nadja?« fragte er leise.
»Du sollst wissen, wen du heiraten willst! Ich bin alles, was eine Frau nicht sein darf, die einen Mann wie dich heiratet: Emigrantin, Tänzerin, Geliebte anderer Männer, arm, mit Kind, eine Frau, die sich jede Nacht zweimal vor Hunderten von Augen ausstellte, um Geld damit zu verdienen … Was früher war, drüben in Rußland? Wer fragt danach? Bin ich jemals im Zarenschloß erzogen worden? War ich die Freundin der Großfürstinnen? Liebte mich die Zarin wie ihre eigenen Töchter? Hatte ich Hauslehrer, machte ich Hofbälle mit, war ich die Frau eines Gardeoffiziers des Zaren? War mein Vater der mächtige Rasputin?« Sie trat zwei Schritte zurück und senkte den Kopf. »Sieh mich an, René … sieht man das alles noch? War das nicht alles ein Märchen? Von Zarskoje Selo zum Tingeltangel … gibt es überhaupt einen solchen Weg? Ist nicht alles gelogen? Bin ich nicht ein billiges Animiermädchen und weiter nichts? Und so etwas will der Reeder Stanislas heiraten?«
»Du bist für mich die einzige Frau, die ich mit ganzer Seele liebe, und die erste Frau, zu der ich sagte, daß ich sie heiraten will! Alles andere werfe ich von mir!«
»Und das Gerede der Leute?«
»In unserem Haus im Bois, in dem großen Park, haben wir eine eigene Welt! Und jeden, der in diese Welt eindringen will, vernichte ich!« Stanislas warf die Zigarette weg und zertrat sie im weichen Grasboden. »Ab morgen werden die Handwerker im Haus sein. Drei Wochen gebe ich ihnen … dann nehme ich dich auf meine Anne und trage dich in unser Paradies.«
»In drei Wochen?« Nadja wandte sich ab und sah hinüber zum Louvre und zu den Kaskaden des runden Brunnens. »Und Gabriel? Wir haben an Gabriel nicht gedacht.«
»Ich werde mit ihm sprechen.«
»Und du glaubst, er hört dich an?«
»Wenn er ein Ehrenmann ist …«
»Er wird dir vorwerfen, kein Ehrenmann zu sein.«
»Gabriel wird sich überzeugen lassen müssen, daß Liebe stärker ist als Dankbarkeit. Du hättest Gabriel geheiratet?«
»Ja«, sagte Nadja leise mit abgewandtem Blick.
»Und dann?«
»Auch daran gewöhnt man sich, eine Puppe auf einem goldenen Sofa zu sein.«
»Und dein Herz?«
»Das Herz! Mein Herz war Helena. Ich gebe alles für sie.«
»Es wird sich alles ändern.« Stanislas zog Nadja an den Schultern zu sich; hintereinander standen sie dann, seine Hände lagen auf ihren Brüsten, und sie fand das ganz natürlich, denn sie gehörte ihm voll und ganz.
»Komm zu mir …«, sagte sie klar und unbefangen. »Avenue de New York, Ecke Place de l'Alma. Morgen abend …«
Er nickte, legte sein Gesicht auf ihre Schulter und genoß den Schmerz der Seligkeit.
Erst gegen Abend verließen sie die Gärten der Tuilerien. Umarmt, aneinandergedrückt, so eng, daß sie sich beim Gehen behinderten, gingen sie im Strom der anderen Passanten die große Promenade hinunter, um den achteckigen Teich herum und durch das Gittertor hinaus auf die Place de la Concorde.
Am Ende der Champs-Elysées glänzte der Arc de Triomphe in der untergehenden Sonne. Da blieben sie stehen, sahen stumm auf diese Schönheit und küßten sich. Die anderen Menschen waren ihnen gleichgültig, aber auch die anderen Menschen beachteten sie nicht. Ein Kuß in Paris gehört zum Leben wie ein Atemzug.
»Wie schön ist das Leben!« sagte Nadja leise. »O Gott, ich sehe wieder, wie schön es ist …«
Und das war ein Ausruf, mit dem die letzte Bindung zur Vergangenheit von ihr abfiel wie durchschnittene Fesseln.
Nadja kehrte nicht mehr in die Wohnung Gabriels an der Avenue Foch zurück.
Von Saparin, den sie durch Taxikollegen verständigen ließ, er solle sie anrufen, ließ sie Helena abholen.
»Laß alles da, Boris Michailowitsch«, sagte sie, als Saparin an die Kleider und den Schmuck erinnerte und sich die Haare raufte über so viel Ehrlichkeit. »Hol Helenuschka ab, so wie sie ist, und bring sie zu mir. Ich will nichts mitnehmen.«
»Der Schmuck, Nadja Grigorijewna!« schrie Saparin ins Telefon. »Von dem Schmuck können hundert Emigranten zehn Jahre bequem leben und sich sogar ab und zu einen Wodka leisten!«
»Er gehört mir nicht, Boris Michailowitsch«, sagte Nadja streng. »Gabriel hat ihn mir gekauft, in der Annahme, daß ich seine Frau werde! Das ist vorbei.«
»Als ob Gabriel diese Million merkte!«
»Nur Helena! Bringst du etwas anderes mit, ist unsere Freundschaft zu Ende. Verstehst du? Und dann nimmst du einen Brief mit und legst ihn Gabriel auf den Schreibtisch.«
»Wenigstens das Diadem, Nadja …«, jammerte Saparin. »Seien Sie nicht grausam. Wenn wir es auseinandernehmen und die Steinchen verkaufen … Nadja Grigorijewna, wir könnten uns zusammentun, ich kaufe noch vier Autos und beteilige Sie am Umsatz.«
»Sie sind ein schmutziger Mensch, Boris Michailowitsch«, sagte Nadja mit befehlender Stimme. »Reden Sie nicht weiter! Bringen Sie mir Helena. Wie kann ein Graf so weit sinken.«
»Den Grafen hat die Müllabfuhr mitgenommen!« Saparin knirschte mit den Zähnen. Es ging ihm gegen den Strich, eine große Chance einfach zu verschenken. Aber er tat, was Nadja ihm befohlen hatte, wie er überhaupt alles tat, was sie wollte. Er liebte sie unendlich und vergeblich, das wußte er. Aber diese stille Liebe gab seinem Leben den ständigen Rhythmus der Betriebsamkeit, und diese brauchte er, um nicht an die Vergangenheit zu denken, den Kopf auf den Tisch zu legen und loszuheulen wie ein sterbender Wolf.
Als Jean Gabriel aus einer Banksitzung zurückkam, sah er sofort den Brief, der auf einem silbernen Tablett auf seinem Schreibtisch lag. Schwer setzte er sich in einen der Gobelinsessel und strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er brauchte den Brief nicht zu öffnen, er brauchte nicht zu fragen, wo Madame und das Kind seien … zwei Stunden lang hatte er die Sitzung hinausgezögert und immer wieder geredet und geredet. Verdammt, er hatte Angst gehabt, nach Hause zu fahren und das vorzufinden, was er nun sah: eine leere Wohnung, einen Brief, eine Niederlage, die Zerstörung eines Traums, das Ende einer Liebe, an die er sein ganzes Leben hängen wollte.
Und dann las Gabriel Nadjas Brief.
Verzeih mir, Jean …
Ich hatte geglaubt, mit Dir sei das Glück endlich in mein Leben gekommen. So viel verdanke ich Dir. So unendlich viel. Aber dann kam René zu unserem Fest, und seit dieser Stunde weiß ich nicht mehr, was ich tue. Vielleicht ist es dumm, vielleicht ist es ein Unglück – ich will es gar nicht wissen. Ich weiß nur, daß ich glücklich bin. Gönne mir dieses Glück und verzeih mir, Jean …
Gabriel legte den Brief zurück auf den Schreibtisch, zündete eine Kerze an, hielt das Papier an die Flamme und ließ den Brief in einem großen marmornen Aschenbecher verbrennen.
»Ich bin kein Übermensch«, sagte er laut, als er die Asche zwischen den Handflächen zerrieb und nur Staub übrigblieb. »Gott verdammt noch mal! Und wenn wir an dir zerbrechen sollen, Nadja Gurjew, dann alle … alle … ohne Ausnahme! Reinen Tisch, meine Liebe. Das war immer mein Grundsatz: Keine Krümel übriglassen!« Er straffte sich und atmete tief. »Gut denn, gehen wir vor die Hunde!«
Er telefonierte nach seinem Wagen, ging in den Ankleideraum, schellte dem Butler und zog sich um. Er nahm einen schwarzen Anzug und schwankte als Kopfbedeckung zwischen einem englischen steifen Hut, einer Melone, und einem neutralen schwarzen Filzhut mit breiter Krempe. Er entschloß sich für den letzteren und zog sogar schwarze Handschuhe an.
»Boulevard Anatole France …«, sagte er zu seinem Chauffeur. »Zu Monsieur Stanislas. Fahren Sie langsam, wir haben Zeit. Ich möchte mir Paris in der Abendsonne ansehen …«
René Stanislas war nicht im geringsten erstaunt oder überrascht, als ihm sein Diener den Besuch von Jean Gabriel meldete. In der weißen Villa mit Säulchen und Erkern rumorten, hämmerten, sägten und bohrten die Handwerker. Lastautos und Pferdewagen standen hintereinander in langer Schlange auf den Parkwegen. Packer schleppten Möbel ins Haus, einen weißen Flügel mit goldenen Intarsien, venezianische Spiegel und Leuchter aus buntem Muranoglas.
»Ich sehe, Sie bauen um«, sagte Gabriel mit einem schalen Geschmack im Mund, nachdem man sich die Hand gedrückt hatte.
»Ich schaffe ein Paradies für Nadja«, antwortete Stanislas ruhig.
»Ich weiß. Ich habe es hinter mir. Nun sitze ich allein in meinem Paradies und kann mit goldenen Äpfeln kegeln …«
»Ihr Risiko, Gabriel.« Stanislas ging voraus zu seiner Bibliothek, die als einziger Raum in der Villa nicht verändert wurde. Er bot Gabriel einen Ledersessel an, aber dieser blieb stehen. »Wer eine Frau wie Nadja liebt, muß mit solchen Risiken rechnen.«
»Sie auch, Stanislas!«
»Nein. Ich bin zwanzig Jahre jünger als Sie.«
»Sie sind reichlich grob und ungeschliffen!«
Stanislas lächelte. »Sie sind nicht gekommen, Gabriel, um mir Freundlichkeiten zu sagen. Warum sollen wir die Zeit damit vergeuden? Ich habe Sie erwartet, und nun sollten wir offen sprechen.«
Gabriel nickte. Er winkte ab, als Stanislas zum Bücherschrank ging, um einen Cognac zu holen. »Nadja lebt bei Ihnen?«
»Noch nicht. In drei Wochen etwa. Wir werden heiraten.«
»Sehr löblich.« Gabriel sah aus dem Fenster. Ein Wohnzimmer im Rokokostil wurde gerade ins Haus getragen. »Nadja liebt Rokoko. Hat sie Ihnen das auch schon gesagt?«
»Nein! Unsere privaten Gespräche waren kurz. Wir brauchten uns nur über Termine zu einigen … die übrige Zeit liebten wir uns.«
»Sie Flegel!« Gabriel war rot geworden. »Man sollte Sie verhauen wie einen frechen Jungen! Ich lade Sie als Gast ein, und Sie mißbrauchen die Gastfreundschaft und nehmen mir Nadja weg!«
»Ihnen ist nichts weggenommen worden, Gabriel. Sehen Sie doch einmal klar und nüchtern! Nadja empfand Dankbarkeit …«
»Aus ihr wäre Liebe geworden!«
»Die Liebe eines alternden Mannes zu einer Frau, die gerade im Begriff ist, zu vollster Reife zu erblühen. Warum umhüllen Sie sich mit Illusionen, Gabriel? Nadja ist wie ein heißer Wind über der Steppe … Sie wären in diesem Sturm vertrocknet!«
Gabriel sah an Stanislas vorbei gegen die Wand. Es war grausam, was er hörte, aber es war genau das gleiche, was er sich in den letzten Stunden selbst gesagt hatte. Aber er wehrte sich dagegen, diese Wahrheit anzunehmen, er stemmte sich gegen die Erkenntnis, Nadja kampflos abgegeben zu haben, weil er ein alter Mann war. Der Trotz in ihm war stärker als die Vernunft.
»Sie geben Nadja nicht frei?« fragte Gabriel heiser.
»Meinen Sie das ernst?« fragte Stanislas, als er sah, daß Gabriel wirklich auf eine Antwort wartete.
»Natürlich! Ich appelliere an Ihr Ehrgefühl.«
»Was verlangen Sie von mir? Soll ich Paris verlassen? Soll ich in einer algerischen Oase Datteln pflanzen? Soll ich in Indochina Reis verpacken oder den Dschungel roden? Dort irgendwo müßte ich nämlich hin, um Nadja zu vergessen und nicht in Versuchung zu kommen, sie doch zu entführen!«
»Ich sehe, wir verstehen uns nicht«, erwiderte Gabriel steif. »Mir bleibt nichts übrig, als Sie zu beleidigen und ein Schwein zu nennen!«
»Gut! Wenn es Ihnen gefällt und Sie erleichtert!« Stanislas sah Gabriel ernst an. Erst jetzt fiel ihm auf, daß Gabriel ganz in Schwarz vor ihm stand, und ein schrecklicher Verdacht stieg in ihm auf.
Gabriel atmete tief ein und trat nahe an Stanislas heran. Man sah es seinem Gesicht an, wie es in ihm tobte. Seine Wangen zuckten, und die Augäpfel hatten sich gelb verfärbt, als würde sein ganzer Körper mit Galle überschwemmt.
»Monsieur Stanislas …«, sagte Gabriel heiser. »Ich nenne Sie einen Lumpen, einen Hundsfott, ein Schwein … Geben Sie mir Gelegenheit, für diese Beleidigungen einzustehen?«
»Nein!« Stanislas preßte die Lippen aufeinander. »Nein. Wir leben nicht im vorigen Jahrhundert, Gabriel.«
»Sie Feigling!« brüllte Gabriel. »Sie lächerlicher, infamer Feigling!«
»Nein!« sagte Stanislas bleich. »Sie zwingen mich nicht zu einer Dummheit! Nein!«
»Sie Zuhälter!« schrie Gabriel. »Ihr ganzes Leben lang haben Sie nur Huren besessen! Wann hatten Sie Ihren letzten Tripper?«
»Sie provozieren mich nicht!« knirschte Stanislas. Er war grün vor Wut, aber mit geballten Fäusten hielt er sich zurück. »Sie nicht, Gabriel!«
»Ich werde in ganz Paris verbreiten, daß Sie ein Feigling sind und ein Zuhälter!« Gabriels Stimme war eiskalt. »Ich mache Sie gesellschaftlich kaputt, wenn Sie nicht reagieren wie ein Ehrenmann.«
»Himmel noch mal! Ich bin ein moderner Mensch!« schrie Stanislas. »Unsere Vorväter schlugen sich herum.«
»Säbel oder Pistole?« fragte Gabriel ungerührt. »Ihnen als Beleidigtem steht die Wahl frei.«
»Von mir aus Kochlöffel!«
»Gut! Also Pistolen! Fünfzehn Schritt nach jeder Richtung von der Mitte aus! Drei Schuß … oder bis zur Kampfunfähigkeit?«
»Von mir aus bis zum Tod!« schrie Stanislas. »Das ist ja ein Affentheater!«
»Sehr gut!« Gabriel nickte zufrieden. »Sie haben mich eben einen Affen genannt! Ich fordere Sie ebenfalls! Morgen kommt mein Sekundant, um alles zu besprechen. Baron de Signy. Und Ihr Sekundant?«
»Der Milchmann Rameau.«
»Sie mögen spotten, Stanislas … es wird an einem Morgen im Bois de Boulogne bitterer Ernst werden.«
»Im Bois! Wie schön, dann habe ich nicht weit.« Stanislas lächelte schwach. »Zufrieden, Gabriel? Es ist bekannt, daß Sie immer alles erreichen, was Sie erreichen wollen. Darüber wundert man sich und rätselt um die Methoden. Eine kenne ich jetzt. Ich gratuliere Ihnen, Gabriel.« Er stieß sich vom Schreibtisch ab und trat auf Gabriel zu. »Noch etwas?«
»Nein! Doch ja … sagen Sie Nadja nichts von diesem Duell im Bois.«
»Für so klug dürften Sie mich halten.«
»Danke. Haben Sie Pistolen?«
»Nur uralte. Sie hängen als Schmuck an der Wand.«
»Dann bringe ich welche mit. Eingeschossen und geölt.«
»Das beruhigt ungemein, daß sie nicht um die Ecke schießen.«
»Können Sie überhaupt schießen?« fragte Gabriel an der Tür.
Stanislas schüttelte den Kopf. »Das letztemal habe ich mit einer Kinderkanone geschossen. Da war ich zwölf Jahre alt.«
»Dann sind Ihnen Degen vielleicht lieber?«
»Meine letzte Handwaffe war ein Holzschwert. Ich spielte die Jungfrau von Orléans.«
»Bleiben wir bei Pistolen!« Gabriel stieß die Tür auf. »Ich lasse Ihnen sogar eine Woche Zeit zum Üben! Ich will absolut als Ehrenmann an meinem Gegner handeln! Heute in acht Tagen wird Baron de Signy zu Ihnen kommen und das Treffen festlegen.«
Gabriel verbeugte sich korrekt, und Stanislas antwortete mit einer ebenso stummen Verbeugung. Dann stand er am Fenster, sah Gabriel in seinen großen Wagen steigen, gefolgt von den neugierigen Blicken der Arbeiter, und trat zurück zum Bücherschrank, öffnete das Barfach und trank drei Cognacs schnell hintereinander. Ein Duell, dachte er dabei. Mit Pistolen. Fünfzehn Schritt von der Mitte … das sind knappe dreißig Meter. Ist das viel für Pistolen? Kann man da vorbeischießen, oder muß man treffen, wohin man auch zielt? Wie schwer ist so eine Duellpistole? Können einem die Hände zittern? Wie schießt man überhaupt?
Stanislas winkte seinen Diener heran, der im neuen Damensalon das Drapieren der Portieren überwachte.
»Stimmt es, daß General de Polignon sich in seiner Jugend einer Dame wegen duelliert hat?« fragte er. Es gab nichts, was der Diener Robin nicht erfahren hätte, denn er war einem Kegelklub beigetreten, dem die Diener der besten Familien von Paris angehörten.
»Man sagt es, Monsieur. Der General spricht selbst darüber. Aber ob es wahr ist …« Robin hob die Schultern.
»Wo wohnt der General de Polignon?«
»In Clichy, soviel ich weiß. Morgen früh kann ich Ihnen die genaue Adresse geben, Monsieur. Wir kegeln heute abend.«
»Vorzüglich!« René Stanislas ging zurück in die Bibliothek. Er hatte beschlossen, General de Polignon nicht nur um Rat zu fragen, wie man eine Duellpistole hält, sondern bei ihm auch das Schießen zu lernen.
Wie zu einem Fest hatte Nadja Gurjewa ihre Wohnung an der Avenue de New York geschmückt. Saparin hatte Blumen angeschleppt, Champagner und Austern, Weißbrot und Gänseleberpastete, Kaviar und frische Landbutter, Radieschen und Salate, Olivenöl und Sardellen.
»Wer viel ißt, ist müde«, sagte Saparin, während er half, den Tisch zu decken, die Salate zu putzen und die Soßen anzurühren. »Bedenken Sie, Nadja Grigorijewna, Sie sollen sich heute nicht den Bauch vollschlagen, sondern Stanislas erobern! Wie wäre es, wenn ich drei Hände voll Rosenblätter ins Bett streute? Es macht einen guten Eindruck, wenn man die Decke zurückschlägt und das Laken ist bedeckt mit Blüten.«
»Das läßt du bleiben!« Nadja lachte ausgelassen und glücklich. »Welche Ideen!«
»Damit habe ich in Petersburg bei den Frauen großen Erfolg gehabt!« Saparin rührte eine Gewürzsoße. Die Schüssel hatte er zwischen die Knie geklemmt. »Selbst die Sprödesten wurden weich wie Butter in der Sonne, wenn sie die Rosenblätter im Bett sahen.«
»Du bist ein Wüstling gewesen, Boris Michailowitsch!«
»Aber es war schön, Nadja Grigorijewna. Sehr schön!«
Um neun Uhr abends klingelte es.
Ein Bote brachte einen Strauß roter Rosen. Ohne Schreiben. Ohne Auftrag.
»Aha!« rief Saparin und klatschte in die Hände. »Er kennt das auch, der gute Stanislas! Rote Rosen. Laß sie mich rupfen und auf die Kissen streuen, Nadja!«
»Hol eine Vase«, lachte sie. »Das ist seine Ankündigung, daß er kommt.« Und wieder klingelte es. Ein neuer Bote. Mit einem Strauß weißer Rosen. Ein dritter Bote nach fünf Minuten. Mit gelben Rosen.
Und fünf Minuten später der vierte.
Rosa Rosen.
Und noch einmal, der fünfte Bote, mit einem Riesenstrauß aus gelbrot geflammten Rosen.
Saparin lief durch die Wohnung, suchte Vasen und stellte die Rosensträuße auf. Dann nahm er seine Chauffeurmütze, stülpte sie über sein kurzgeschorenes Haar und grüßte stramm. »Und jetzt verlasse ich das Feld, auf dem in Kürze die Schlacht geschlagen wird! Ich bitte mir aus, Nadja Grigorijewna, daß morgen früh der Gegner besiegt und demoralisiert auf dem Rücken liegt!«
»In meinen Armen!« rief Nadja. »Aber das wirst du nicht sehen!«
»So ist es immer. Um die schönsten Stunden betrügt einen das Leben, wenn man eine arme Wanze ist.« Saparin lächelte, ging zur Tür, blieb stehen und kam zu Nadja zurück. Wie ein Vater, der seine Tochter zum erstenmal in das Eheschlafzimmer schickt, nahm er ihren Kopf zwischen beide Hände und sah ihr in die flimmernden Augen.
»Töchterchen«, sagte er, und wirkliche Ergriffenheit war in seiner Stimme. »Ich weiß, daß heute dein Leben neu beginnt. Gott segne dich! Ich gönne dir alles Glück, das Gott geben kann.«
»Mein guter Boris Michailowitsch …«, sagte Nadja leise und senkte den Kopf.
Dann ging Saparin.
Es klingelte wieder. Und diesmal war es Stanislas selbst. Er hatte leere Hände, und das war gut so, denn so konnte er Nadja hochheben auf seine Arme und in die Wohnung tragen, und er verirrte sich nicht, er fand die Tür des Schlafzimmers, als kenne er die Wohnung genau, trat sie auf und trug sie zum Bett.
Und das Bett war schon aufgedeckt, und Laken und Kissen waren bestreut mit roten Rosenblättern wie damals in Petersburg. Da weinte sie vor Glück, umklammerte Stanislas' Nacken und drückte ihr heißes Gesicht schamhaft gegen seine Wange.
»Das war Saparin«, flüsterte sie. »Nicht ich …«
»Man sieht, ein Graf weiß, was sich gehört!« Stanislas lachte wie ein großer Junge. Er beugte sich vor und legte Nadja auf die Rosenblätter, setzte sich neben sie und begann sie auszukleiden, und sie hielt ganz still, bis sie nackt vor ihm lag und er begann, mit beiden Händen die roten Rosenblätter zusammenzuscharren und auf sie niederregnen zu lassen. Auf den weißen Hals, auf die festen, gewölbten Brüste, auf den flachen Leib, auf den schwarzgelockten Schoß und die runden, kräftigen Schenkel.
Dann kniete er vor ihr und küßte jedes Rosenblatt, hob es mit seinen Lippen ab und entkleidete sie so zum zweitenmal. Und sie lag da mit geschlossenen Augen und wußte, was es heißt, im Paradies zu sein …
In der Nacht wachte sie auf, stützte sich auf die Unterarme und sah Stanislas in das ruhige, zufrieden schlafende Gesicht.
»Mein Mann!« sagte sie leise. »Mein Mann! Mein Mann!«
Ein so schönes Wort war das, daß sie es immer wiederholte, wie eine Grammophonplatte, die einen Sprung hat.
Mein Mann … mein Mann … mein Mann … mein Mann …
Dann legte sie sich wieder nieder, kuschelte sich in seine Achselhöhle, roch seinen herben Schweiß. So schlief sie wieder ein, und es gab unter dem Himmel von Paris kein glücklicheres Paar …
Auch Stanislas wachte einmal auf, aber er wagte sich nicht zu rühren, denn Nadja lag halb über ihm, und eine ihrer Brüste lag wie eine Frucht in seiner Hand. Ihr Haar duftete nach Rosen, ihr zarter weißer, warmer Körper war glatt wie aus Porzellan, und wenn sie atmete, tief und ruhig im Schlaf, bewegte sich ihre Brust in seiner Hand, als streichle sie ihn.
Mein Vögelchen, dachte Stanislas. Mein verzaubertes Schwänchen.
Und dann dachte er: Ja, es lohnt sich, sich für sie zu duellieren. Gabriel hat recht: Eine solche Frau will erkämpft sein. Schießen wir uns also, Monsieur. Ich werde bei General de Polignon lernen, wo Kimme und Korn ist und wo man abdrücken muß …
Und er rührte sich nicht, streichelte mit dem Daumen die Brust in seiner Handfläche und atmete den Rosenduft ihres Körpers ein, bis er einschlief, müde von all dem Glück, das ihm gehörte …
Schon am nächsten Morgen nahm Stanislas den Schießunterricht bei General de Polignon auf.
Der General zeigte keinerlei Befremden, als Stanislas ihm sein Anliegen vortrug. Im Gegenteil, er klatschte in die Hände, und sein weißer Schnurrbart zitterte vor Begeisterung.
»Gabriel ist es?« rief de Polignon. »Mein Bester, dem werden wir eins vor die Weste ballern, daß die Ärzte zu Flickschneidern werden! Daß ich es noch erlebe, wie die Jugend sich zu den alten Idealen von Mannesehre bekennt! Mein lieber Stanislas – ich werde Ihnen die beste Pistolenausbildung geben, die je ein Franzose hatte!«
Und so war es.
Jeden Tag übten Stanislas und der alte General im Garten der Villa in Clichy das Schießen. Sie zielten auf große Pappscheiben und Bretter, und als Stanislas so weit war, aus dreißig Metern ein Brett von zehn Zentimeter Breite zu treffen, was – wie de Polignon sagte – in der Größe ungefähr der Stelle über dem Herzen entsprach, auf die es ankam, ging man dazu über, genauere Ziele mit einem Schuß zu treffen.
Der General stellte Strohpuppen auf und bemalte auf ihnen mit roter Mennigefarbe gewisse Stellen. So machte er einen kleinen Kreis in der Herzgegend, auf der Stirn, in der Gegend der Milz, zwischen den Augen – alle Achtung, der General gab sich große Mühe und wurde dabei wieder jung.
In den Stunden zwischen den Schießübungen und den wenigen Minuten, die Stanislas aufwandte, um in seinem Büro nach dem Rechten zu sehen und die Zahlen zu lesen, die ihm der Buchhalter der Exportabteilung vorlegte, vollzog sich der Umzug Nadjas in die kleine weiße, säulengeschmückte Villa am Bois de Boulogne.
Noch hämmerten und sägten die Handwerker in der Villa Stanislas', aber zwei Zimmer für Nadja und Helena waren schon fertig eingerichtet. Der Park war ein wundervolles Spielgelände für Helena, der Stanislas ein Pony schenkte, auf dem sie nun, bewacht von einem Kindermädchen, herumritt. Auch Nadja bekam ein Reitpferd, einen Rappen, aber sie ritt selten aus. Meistens fuhr sie in Paris herum, natürlich mit Saparin, und kaufte ein. Bezahlen brauchte sie nicht … sie zeigte nur eine Karte von Stanislas vor, und das war so gut wie Bargeld.
In diesen Tagen ließ sich Jean Gabriel wieder hinausfahren nach Chaville.
Gérard Cassini, dem Gabriels Besuch galt, empfing ihn in seinem alten grauen, aber modern ausgebauten Schloß wie einen guten Freund. »Mein Bester!« rief er mit ausgestreckten Armen. »Ein Treffen der von Nadja Verlassenen! Welch eine Ironie des Schicksals! Übrigens … Ihre Sache mit Dr. Nicola und dem Diebstahl des Kindes hier aus dem Schloß, das war ein Meisterwerk …«
Gabriel sah Cassini düster an. Er war nicht zu Späßen aufgelegt. »Cassini«, sagte er deshalb streng. »Wie denken Sie sich Ihre Zukunft?«
»Freudig wie bisher!« Cassini sah Gabriel verblüfft an. »Nun, da unser Streit beigelegt ist …«
»Wieso? Wir sind mittendrin!«
»Gabriel, machen Sie keine makabren Witze. Wir sind beide von Nadja hintergangen worden! Wir sind ihre Opfer geworden! Es wäre einfacher und billiger gewesen, eine aufblasbare Gummipuppe ins Bett zu nehmen und sie bei Bedarf auf Nadjas Format aufzupusten …«
»Das einzige Opfer bin ich!« Gabriel drückte das Kinn an den hohen Kragen, den er immer trug. »Ich habe Nadja mit ganzer Seele geliebt, und ich liebe sie noch! Sie ist ein Stück Natur, und so liebt sie auch, zwischen Sturm und Windstille, zwischen Sonnenglut und Eiswind. Was sie tut, man kann es ihr verzeihen. Die Lumpen sind die anderen, die ihre Natur ausnutzen!«
»So romantisch kann man es allerdings auch sehen. Aber nicht ich.« Cassini lächelte mokant. »Wir sind auf den Arm genommen worden, Gabriel.«
»Mit Stanislas habe ich gesprochen … das ist erledigt!« Gabriel ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Mit Ihnen, Cassini, rede ich jetzt. Sie werden es gemerkt haben … Ihr Bankhaus balanciert am Rand des Konkurses, nachdem ich Ihnen die Beteiligung am Algerienprojekt gestrichen habe. Nachdem das bekannt wurde, fielen Ihre Algerienaktien um siebenundsechzig Punkte! Durch Mittelsmänner habe ich von Ihren dreißig Millionen Aktien dreiundzwanzig Millionen aufkaufen lassen! Mit anderen Worten: Ihre Bank gehört mir!«
Einen Augenblick war es totenstill in dem großen Kaminzimmer. Cassini war blaß geworden, holte sich eine Flasche Cognac und goß sich ein Glas ein. Gabriel winkte ab, als Cassini mit der Flasche zu ihm kam. Cassini stellte sie mit einem Knall auf den Rauchtisch.
»Was soll das heißen?« fragte er heiser.
»Eine solche Frage hätte ich bei Ihrer Intelligenz nicht erwartet«, sagte Gabriel kalt. »Sie sind am Ende, Cassini! Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder Sie arrangieren sich mit mir und werden Direktor meiner Bank in Algier, Tunis und Marokko – ein sehr schönes Arbeitsgebiet übrigens –, oder Sie wandern aus mit den wenigen Millionen, die Ihnen geblieben sind, und suchen sich vielleicht in der Schweiz oder auf dem Balkan ein neues Wirkungsfeld!«
»Das ist nicht Ihr Ernst, Gabriel«, sagte Cassini leise.
»Mein vollster!«
»Und warum das alles?«
»Sie haben Nadja Unmenschliches angetan, als Sie Helena entführten! Dagegen ist Ihr Zusammenbruch gar nichts!«
»Sie … Sie sind ja irrsinnig …«, stammelte Cassini. Plötzlich schrie er: »Und das alles wegen solch einer Hure! Wegen einer verlausten russischen Hure! Sind Sie wahnsinnig?«
Gabriels Gesicht wurde zur steinernen Maske. Er setzte seinen Hut auf und nahm seinen Stock unter den Arm. »Gut!« sagte er eisig. »Sie wandern aus, Cassini! Ich lasse Ihnen ein halbes Jahr zur Abwicklung Ihrer Geschäfte. Wenn Sie Weihnachten noch in Paris sind, werden Sie in einem Strudel von Skandalen ertrinken. Verstehen wir uns?«
Cassini schwieg verbissen. Gabriel drehte sich um und ging steif, als sei er eine mechanische Puppe, aus dem Zimmer.
»So ein Idiot!« flüsterte Cassini, als die Tür zugefallen war. »So ein gefährlicher Idiot!«
Dann packte er die Cognacflasche, schleuderte sie an die Wand, aber auch das Zerschellen der Flasche löste nicht seinen inneren Krampf von Angst und Wut … er griff nach allem, was um ihn herum lag, und warf es gegen die Wand, bis das Zimmer aussah, als hätten die Hunnen darin gehaust.
Einen Tag vor dem Duell erschien Baron de Signy im Haus Stanislas' und übermittelte förmlich Uhrzeit und Ort des Treffens. Stanislas war darauf vorbereitet … General de Polignon war bei ihm, nahm in strammer Haltung die Forderung entgegen und handelte einen dreimaligen Kugelwechsel aus.
Das Duell fand an einem schönen, sonnigen Frühsommertag statt. Morgens stieg der Tau als leichter Nebel durch den Wald zur Sonne, streifig fielen die Strahlen durch das grüne Blattwerk, und die Farne und Gräser trugen durchsichtige, glitzernde Perlen. Die Erde roch kräftig nach Humus.
Nadja war ausgeritten. Sie liebte es, frühmorgens mit ihrem Rappen über die stillen Reitwege des Bois de Boulogne zu traben. Sie erinnerten sie an die herrlichen Waldschneisen von Udelnaja, wohin sie mit den Zarentöchtern und einem Zug Gardehusaren häufig geritten war.
Stanislas hatte sich vergewissert, daß der Duellort weitab von Nadjas Morgenwegen lag … in einem dichten Waldgebiet an der Allée de la Reine Marguerite und der Rue des Lacs à Madrid.
Pünktlich um sieben Uhr morgens trafen sie auf der Waldlichtung ein … Stanislas und General de Polignon mit einer Kutsche, denn der General konnte nicht Auto fahren, wohl aber Pferde lenken, und das mußte er tun, wenn Stanislas verwundet wurde. Gabriel ließ sich von seinem treuen Chauffeur bringen. Auf der Fahrt zum Bois hatten sie auch den Baron de Signy abgeholt. Nur ein Fehler war allen unterlaufen … der Duellarzt, vom General empfohlen, ein pensionierter Oberstabsarzt, besaß keinen eigenen Wagen, sondern kam mit einem Taxi an. Und dieses Taxi fuhr – man darf das Schicksal ruhig pervers nennen – Boris Michailowitsch Saparin.
Es gab für Saparin gar keinen Zweifel, als er, dem Arzt heimlich durch den Wald nachschleichend, auf der Waldlichtung Stanislas und Gabriel stehen sah, an ihrer Seite je ein Herr im schwarzen Anzug und Zylinder. Auf einem Klapptisch lag ein länglicher schwarzer Kasten. Dahinter stand ein Stuhl, der für den Arzt bestimmt war.
»O heilige Mutter von Kasan!« sagte Saparin und rannte durch den Wald zurück zu seinem Wagen. »Die Kerle sind verrückt! Aber so ist es! Einmal eine Frauenbrust gepackt, und der Verstand ist hin! Jetzt heißt es fliegen!«
Und Saparin, der treue, flog!
Er raste quer durch den Bois de Boulogne, unter Mißachtung aller Sperrschilder und Fußgängerwege, benutzte Pfade, bei denen er still betete, es möge ihm kein Mensch entgegenkommen …
Mit einem irrsinnigen Tempo bog Saparin in den großen Reitweg ein, auf dem er Nadja irgendwo im Wald vermutete. Was nun geschah, war wie eine Windhose, die über dem Bois de Boulogne stand. Der feine, tiefe Sand des Reitwegs wurde hochgeschleudert und fiel als Staubwolke zurück, heulend schraubte sich der Wagen durch den Weg, und dabei benutzte Saparin sogar eine Hupe, denn er selbst sah nicht mehr, wohin er fuhr, weil ihn der Sand völlig einhüllte. Blind raste er weiter und wußte, daß er in der richtigen Richtung fuhr, solange unter ihm der feine Sand aufwirbelte.
Und endlich, endlich, an der Kreuzung des großen Reitweges mit einem engen Pfad, wo Saparin notgedrungen halten mußte, um sich zu orientieren, sah er Nadja Gurjewa auf dem kleinen Pfad langsam durch die Sonnenstreifen reiten.
Saparin hupte wie irr, sprang dann aus dem Wagen und rannte mit fuchtelnden Armen Nadja entgegen. Sie hatte ihren Rappen herumgeworfen und starrte dem von oben bis unten mit Staub bedeckten Saparin entgegen.
»Nadja Grigorijewna!« schrie er außer Atem. »Sofort zurück! Reiten Sie! Reiten Sie! Zum Waldstück an der Allée de la Reine Marguerite! Mein Gott, fliegen Sie, Nadja! Sie duellieren sich! Mit Pistolen! Die Verrückten schießen sich tot!«
Nadja stieß einen hellen Schrei aus. Dann gab sie dem Rappen die Sporen, er stieg auf die Hinterläufe, Saparin warf sich platt in den Sand, und über ihn hinweg galoppierte Nadja mit dem Pferd in den Wald hinein.
Das Zeremoniell, das General de Polignon zelebrierte, war umständlich und lang.
Zunächst schritt er den Duellplatz ab und untersuchte, ob der Waldboden auch eben war. Dann ließ er die Pistolen begutachten, die in dem schwarzen Kasten auf blauem Samt lagen. Er ließ jeden in die Läufe blicken und sich davon überzeugen, daß die Züge sauber geputzt waren.
»Muß das sein?« fragte Gabriel gequält.
»Es muß! Rost gibt Infektionen!« Der alte General lud die Pistolen und legte sie wieder zurecht. Dann begutachtete er das chirurgische Besteck des Arztes, vermißte eine Knochensäge und begann eine laute Diskussion über Amputationen am Kampfplatz.
»Wann geht es denn los?« rief Gabriel und zog seinen Rock aus.
»Sofort!« General de Polignon stellte sich an die Plätze, wo die Duellanten stehen sollten, und winkte ab: »Unmöglich!« schrie er. »Mein Mandant hat die Sonne im Gesicht. Das blendet und beeinträchtigt die Zielsicherheit! Gehen wir zwanzig Schritte weiter!«
Dort hatte Gabriel die Sonne im Genick, wie Baron de Signy feststellte. Hitze im Nacken verwirrt!
»Weiter nach rückwärts!« kommandierte der alte General. »Ein Duell soll alle Zufälle ausschließen und fair sein!«
Man wanderte dreimal auf dem Duellplatz herum, bis endlich die richtigen dreißig Meter Abstand gefunden waren, die keinerlei Behinderungen aufwiesen. Stanislas sah in den herrlichen blauen Sommerhimmel.
»Wenn wir weiter warten, kommt auch hierher die Sonne. Meine Herren, die Erde dreht sich bekanntlich und steht unsertwegen heute nicht still. Also los!«
Er warf seinen schwarzen Rock ab, nahm die Pistole und stellte sich auf. Gabriel tat es ihm gleich, und nun standen sie Rücken an Rücken und warteten auf das Kommando: »Los!«
Fünfzehn Schritte jeder, dann eine Kehrtwendung auf dem Absatz, Pistole hoch und schießen. Den ersten Schuß hatte Stanislas als der Beleidigte, und das war es, was dem alten General Sorgen machte. Schoß Stanislas vorbei, konnte man nur noch zu Gott beten!
»Das Reglement schreibt vor«, sagte de Polignon als letzten verzweifelten Versuch, etwas zu retten, »daß vor dem Kugelwechsel noch einmal an jeden der Herren appelliert wird, Vernunft anzunehmen und sich die Hände in Freundschaft zu reichen. Ich frage Sie, meine Herren, ob Sie –«
»Nein!« sagte Gabriel barsch als erster und unterbrach damit den General.
»Nein!« sagte auch Stanislas.
Der General wischte sich über sein rotes Gesicht. »Also dann. Haltung! Meine Herren … los!«
Stanislas und Gabriel schritten vorwärts. Jeder zählte seine Schritte.
Vier – sieben – neun – zehn –
Durch den Wald preschte in diesen Sekunden Nadja wie der sagenhafte sibirische wilde Jäger. Sie hing über dem Hals ihres Rappens und hieb ihm die Sporen in die Weichen, daß der Gaul vor Schmerz aufschrie.
Elf – zwölf –
Stanislas sah wieder in den blauen Himmel. Und in diesen letzten Sekunden, bei diesen letzten Schritten wußte er plötzlich, daß er den Himmel, die Sonne, die grünen Bäume zum letztenmal sah. Aber das machte ihn nicht traurig oder ängstlich … er ging stramm weiter und wunderte sich über seine Ruhe. Ich bin schon jenseits dieser schönen Welt, dachte er. Leb wohl, Nadja …
Dreizehn – vierzehn –
Nadja hatte den Waldrand erreicht. Sie sah die voneinander wegschreitenden Männer mit den Pistolen in den Händen, ihre weißen Hemden leuchteten in der hellen Morgensonne. Drei schwarzgekleidete Personen in Zylindern standen an einem Klapptisch und hielten ihre goldenen Taschenuhren in der Hand. Der General legte Wert auf ein genaues Duell-Protokoll.
»Nein!« schrie sie grell. »Nein! Halt! Halt!« Noch vom rasenden Pferd warf sie sich herunter, rollte über den weichen Waldboden, sprang auf, und während der Rappe an den drei erschrockenen schwarzgekleideten Herren vorbeihetzte und der Klapptisch umfiel, rannte sie auf Stanislas zu, die Arme ausgebreitet, als wolle sie die Kugel auffangen.
Fünfzehn –
Stanislas wirbelte herum. Er hatte Nadjas Aufschrei gehört, er sah das Pferd quer durch das Schußfeld galoppieren, er ahnte, daß Nadja auf ihn zulief, aber er sah nicht zur Seite, er zögerte nicht eine Sekunde. Mit einem Ruck hob er die Pistole, so wie es ihn der alte General gelehrt hatte, er sah die Brust, das weiße Hemd Gabriels in gerader Fortsetzung zum Lauf seiner Pistole und drückte ab.
Gabriel stand.
»Daneben!« stöhnte de Polignon. »Nun, lieber Gott, mach die Augen zu …«
Unendlich langsam, so schien es, hob Gabriel seine Pistole. Auch er sah Nadja heranstürzen, und sein Herz krampfte sich zusammen. Dann starrte er Stanislas an und drückte seine Pistole ab. Er schoß, bevor Nadja Stanislas erreicht hatte und sich vor ihn werfen konnte.
Einen Augenblick stand Stanislas noch aufrecht, nur sein Kopf zuckte, als die Kugel in seine Brust einschlug. Die Pistole fiel auf den Waldboden, auf dem weißen Hemd breitete sich ein roter Fleck aus. Den Kopf weit in den Nacken gelegt, schwankte Stanislas, sein Blick umfaßte noch einmal das ganze Firmament, und er sah jetzt sogar die Sonne, die sich über das Blätterdach des Waldes schob und die Lichtung erreicht hatte. Da lächelte er, sank in die Knie, und Nadja fing ihn auf und preßte seinen Kopf an ihre Brust.
»René …«, stammelte sie. »René … mein Liebling … mein Herz … mein alles …« Sie hielt Stanislas' Körper fest, so schwer er auch in ihren Armen hing, und das Blut lief aus seiner Brust über ihre Hände und Unterarme.
»Getroffen!« sagte Baron de Signy in aller Form. »Mein Kombattant hat Genugtuung! Doktor … bitte …«
Der Arzt, der alte General und der Baron liefen zu Stanislas und nahmen ihn aus Nadjas Händen. Vorsichtig legten sie ihn auf den Waldboden, der Arzt schnitt das Hemd auf und reinigte die Einschußwunde. Ganz still war es um sie herum, selbst Nadja schwieg und sah in das schmäler und bleicher werdende Gesicht Renés.
Gabriel hatte seinen Rock wieder angezogen und kam nun langsam näher. Mit zuckendem Gesicht blieb er bei der Gruppe stehen und starrte hinunter auf den entblößten Brustkorb und die blutende Wunde, auf die der Arzt blutstillende Watte drückte.
»Nadja …«, sagte Gabriel leise. »Ich bitte dich, Nadja …«
Wie von Peitschen geschlagen, wirbelte Nadja herum und sprang auf. Ihr Gesicht war verzerrt. Noch nie hatte Gabriel eine Frau gesehen, aus der so viel Haß und Schmerz schrie. Das hier war nicht mehr die Nadja, die er kannte …
»Mörder!« schrie sie. »Mörder! Mörder!«
Sie hob die Fäuste, und Gabriel rührte sich nicht, als ihn ihr Hieb traf.
»Er lebt noch«, sagte der Arzt. »Sofort nach Hause! Beherrschen Sie sich, Madame … er lebt ja noch …«
Aber für Nadja war die Erde aufgebrochen und verschlang sie. Mit trommelnden Fäusten stand sie vor Gabriel und hieb auf ihn ein. Blut lief ihm aus der Nase, seine Lippen waren aufgeschlagen … und er rührte sich noch immer nicht, sondern ließ sich stumm und starr mißhandeln.
Erst als Baron de Signy sie von hinten umfaßte und wegriß, ließ ihre Wildheit nach; sie wandte sich von Gabriel ab und folgte dem alten General und dem Arzt, die Stanislas wegtrugen. Nicht zum Pferdewagen, sondern zum Auto Gabriels. Man hatte keine Zeit mehr, gemütlich durch den Bois zu fahren.
Sie faßte mit an, stützte den schlaffen, ohnmächtigen Körper unter der Hüfte und half, Stanislas in den Schatten zu tragen.
Und die Wunde blutete immer noch.