Als es soweit war und der alte Kingsley Amis einen ihn entmutigenden, verstörenden Sturz erleben musste, blieb er im Bett und drehte schließlich das Gesicht zur Wand. Er lag nicht ausschließlich da und wartete auf den Zimmerservice im Krankenhaus (»Töte mich, du blöder Scheißkerl du!« schrie er einmal seinen Sohn Philip an), aber im Wesentlichen wartete er passiv auf das Ende. Das trat dann auch ein, ohne viel Geräusch, gratis.
Robert Zimmerman aus Hibbing, Minnesota, hat mindestens eine sehr nahe Begegnung mit dem Tod erlebt, diverse Updates und Korrekturen seiner Beziehung zum Allmächtigen und den vier letzten Dingen, und er scheint entschlossen, weiterhin zu demonstrieren, dass es viele verschiedene Möglichkeiten gibt, den Beweis des eigenen Weiterlebens anzutreten. Schließlich und endlich, wenn man die Alternativen bedenkt …
Ehe mir vor einem halben Jahr die Diagnose gestellt wurde, dass ich Speiseröhrenkrebs habe, teilte ich den Lesern meiner Memoiren recht kess mit, ich wolle angesichts des Lebensendes, der Auslöschung, ganz und gar bei Bewusstsein bleiben, hellwach, um den Tod im aktiven Sinne »zu erleben«, nicht im passiven. Und ich versuche immer noch, diese kleine Flamme der Neugier und des Widerstands zu nähren – willens, dem Lebensfaden bis ans Ende zu folgen, wünschend, es möge mir nichts erspart bleiben, was zur ganzen Spanne eines Menschenlebens gehört. Doch gehört zu den Auswirkungen einer schweren Krankheit der Umstand, dass man vertraute Prinzipien und scheinbar verlässliche Lebensregeln zu überdenken beginnt. Und es gibt insbesondere einen Satz, den ich nicht mehr mit ganz derselben Überzeugung wie einst ausspreche. Ich habe aufgehört, zu verkünden: Was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker.
Tatsächlich frage ich mich, weshalb ich diesen Satz je für bedeutend hielt. Man schreibt ihn gewöhnlich Nietzsche zu, der in der Tat einmal über den »wohlgeratenen Menschen« schrieb: Was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker. Auf Deutsch liest sich das und klingt eher wie eine Gedichtzeile, weshalb es mir auch möglich erscheint, dass Nietzsche es sich von Goethe geborgt hat. Aber ist diese Poesie auch vernünftig? Vielleicht hat sie ihre eigene Vernunft im Hinblick auf die Emotionen. Ich kann mich erinnern, wie ich mir nach fürchterlichen Momenten voll Liebe und Hass gedacht habe, ich sei, sozusagen, als Gewinner aus der Sache herausgekommen und habe eine Kraft aus dieser Erfahrung geschöpft, die ich auf keine andere Weise erlangt hätte. Und ein-, zweimal, als ich aus einem Autounfallwrack stieg oder nach einer sehr prekären Begegnung mit der Gewalt als Auslandsreporter unversehrt weiterging, hatte ich ein recht illusorisches Gefühl, diese Begegnung habe mich härter gemacht. Aber eine solche Empfindung läuft ja in Wirklichkeit nur hinaus auf: Glück gehabt – du warst es diesmal nicht, was in frömmeren Zeiten lediglich hieß: Die Gnade Gottes hat mich verschont und einen anderen getötet.
*
In der gemeinen körperlichen Welt und in jener Welt, welche die Medizin umschließt, gibt es nur allzu viele Dinge, welche einen töten könnten, einen dann doch nicht töten, einen aber dabei bedeutend schwächer machen. Nietzsche war es bestimmt, dies am eigenen Leib zu erfahren, was es besonders verwunderlich macht, dass er diese Maxime in seine Sammlung Götzen-Dämmerung (1889) aufnahm. (Der Titel spielt auf Wagners Götterdämmerung an. Vielleicht gehörte sein großer Streit mit Wagner, in dem er entsetzt dessen Verwerfung der Antike zugunsten germanischer Mythen und Legenden des Blutes bekämpfte, zu den Dingen, die Nietzsche moralische Kraft und Mut gaben. Jedenfalls hat der Untertitel des Buches – »Wie man mit dem Hammer philosophiert« – eine gewisse Grandezza.)
Nietzsche scheint sich früh mit Syphilis infiziert zu haben, sehr wahrscheinlich bereits bei seiner ersten sexuellen Begegnung, und später litt er dann unter fürchterlicher Migräne und partieller Erblindung, bis die Krankheit zu Demenz und Paralyse metastasierte. Dies brachte ihn zwar nicht sofort um, doch trug es zum Heranrücken des Todes bei und machte ihn jedenfalls bestimmt nicht stärker. Im Verlauf seiner zunehmenden geistigen Verwirrung gelangte er zu der Überzeugung, dass er – neben vielen anderen Inkarnationen – auch »der Dichter des Shakespeare Lord Bacon« sei. Der Theorie anzuhängen, dass die Werke Shakespeares von Bacon verfasst sind, ist ein unweigerliches Zeichen fortgeschrittener intellektueller und geistiger Hinfälligkeit.
(Mich interessiert der Zusammenhang ein wenig, weil ich vor nicht allzu langer Zeit von einem Radiosender im tiefsten Süden der USA zu einer Diskussion über Religion eingeladen wurde. Mein Interviewpartner blieb durchgehend bei einer sorgfältigen Südstaaten-Höflichkeit und ließ mir immer Zeit, meine Argumente zu formulieren; dann überraschte er mich mit der Frage, ob ich mich in irgendeinem Sinne als Nietzscheaner betrachte. Ich verneinte das und sagte, ich stimme mit einigen Argumenten überein, die der große Mann vorgebracht habe, schulde ihm aber keine tiefen Einsichten und fände seine Verachtung für die Demokratie abstoßend. H. L.Mencken und andere hätten ihn im Übrigen dazu verwendet, um krude sozialdarwinistische Behauptungen vorzubringen, was die Sinnlosigkeit irgendeiner Hilfe für die »Schwachen« anginge. Und seine fürchterliche Schwester Elisabeth habe seine eigene Geistesschwäche ausgenutzt und sein Werk missbraucht und so getan, als sei es zur Unterstützung der antisemitisch-völkischen Bewegung in Deutschland geschrieben worden. So habe Nietzsche vielleicht nun den unverdienten Ruf eines Fanatikers. Der Frager bedrängte mich weiter: Ob ich wisse, dass ein großer Teil von Nietzsches Werk entstanden sei, während er an tertiärer Syphilis litt? Ich erwiderte, das hätte ich auch gehört, und ich sähe keinen Grund, es anzuzweifeln, obwohl ich keine endgültige Bestätigung hätte. Gerade als die Sendung zu Ende ging und die Musik einsetzte und ich hörte, dass das leider alles wäre, wofür wir hier Zeit hätten, schlug mein Gastgeber rasch noch zu und fragte sich laut, wie viel meiner eigenen Äußerungen über Gott vielleicht von einer ähnlichen Erkrankung beeinflusst gewesen sein mochte. Ich hätte diesen Trick kommen sehen müssen! Doch es war zu spät; ich war zur Sprachlosigkeit verurteilt.)
*
Spät im Leben und unter elenden Umständen in Turin überwältigte Nietzsche der Anblick eines auf der Straße misshandelten Pferdes. Er lief hin und warf die Arme um den Hals des Tieres, und er erlitt einen schrecklichen Anfall. Den Rest seines schmerzgepeinigten und umnachteten Lebens verbrachte er dann wohl in der Pflege seiner Mutter und seiner Schwester.
Das Datum des traumatischen Erlebnisses in Turin ist vielleicht von Interesse; es ereignete sich 1889, und wir wissen, dass er 1887 stark von der Entdeckung Dostojewskis beeinflusst worden war. Es scheint eine fast unheimliche Ähnlichkeit zwischen der Episode auf der Straße in Turin und dem schlimmen, eindringlichen Traum Raskolnikows in der Nacht vor dem Mord in Schuld und Sühne zu geben. In diesem Alptraum, der sich unmöglich vergessen lässt, wenn man ihn einmal gelesen hat, kommt das entsetzlich lange, ausgedehnte Zu-Tode-Prügeln eines Pferdes vor. Der Besitzer peitscht das Tier in die Augen, zerschlägt ihm die Wirbelsäule mit einem Pfahl, ruft herumstehende Zuschauer auf, ihm bei der Prügelei zu helfen … Nichts bleibt uns erspart.
Wenn diese grauenvolle Koinzidenz genügte, Nietzsches endgültigen Wahnsinn herbeizuführen, dann muss er durch seine anderen, hiermit nicht zusammenhängenden Leiden ungeheuer geschwächt und völlig verletzlich gewesen sein. Sie haben ihn also keineswegs stärker gemacht. Er kann – auf sich selbst bezogen – äußerstenfalls gemeint haben, dass er die wenigen ihm verbliebenen Pausen ohne Schmerzen und ohne Wahn nun gezielt verwende, um seine Sammlung von scharf pointierten Aphorismen und Paradoxa niederzuschreiben. Das mag ihm das euphorische Gefühl eingetragen haben, dass er triumphierte und den Willen zur Macht gebrauchte. Götzen-Dämmerung wurde tatsächlich fast gleichzeitig mit dem entsetzlichen Erlebnis in Turin veröffentlicht, so dass die Koinzidenz sich bis zum höchsten Grad steigerte.
Nehmen wir ein Beispiel aus dem Leben eines ganz anderen und wesentlich maßvolleren Philosophen, der unserer Zeit näher ist. Professor Sidney Hook war ein berühmter Materialist und Pragmatist, der Abhandlungen schrieb, in denen er eine Synthese aus John Dewey und Karl Marx versuchte. Auch er war ein unnachgiebiger Atheist. Gegen Ende seines langen Lebens wurde er ernsthaft krank und begann, über das Paradoxon nachzudenken, dass er – der quasi im medizinischen Mekka wohnte, nämlich in Stanford, Kalifornien – hier historisch einmalige Möglichkeiten der Pflege vorfand, während er gleichzeitig einen Grad des Leidens ertragen musste, den vorherige Generationen sich nicht hatten leisten können. Nach einer besonders qualvollen Episode, von der er sich schließlich doch wieder erholt hatte, entschied er, dass er eigentlich lieber gestorben wäre:
Ich lag da und war dem Tode nahe. Wegen eines durch Kongestion drohenden Herzversagens wurde zu diagnostischen Zwecken ein Angiogramm erstellt, was einen Schlaganfall auslöste. Ein schmerzhafter, ruckender Schluckauf trat mehrere Tage und Nächte ununterbrochen auf und verhinderte die Nahrungsaufnahme. Meine linke Seite und eins meiner Stimmbänder waren paralysiert. Eine Art Rippenfellentzündung trat auf, und ich hatte das Gefühl, in einem Meer von Schleim zu ertrinken. In einem meiner lichten Momente während dieser Tage der Qual sagte ich meinem Arzt, er solle alle lebenserhaltenden Maschinerien abschalten oder mir zeigen, wie man das machte.
Der Arzt lehnte ab und versicherte Hook in erhabenem Tonfall, »eines Tages würde ich die Unweisheit meiner Forderung begreifen«. Doch der stoische Philosoph blieb auch, nachdem er sich erholt hatte und weiterleben konnte, dabei, er wünsche, man hätte ihm gestattet, dahinzugehen. Er gab drei Gründe an: Ein weiterer qualvoller Schlag könnte ihn ereilen und ihn weiter leiden lassen; seine Familie musste Höllisches durchmachen; medizinische Kapazitäten wurden sinnlos verschwendet. In seinem Essay zitierte er eine bekannte Formulierung, um die Lage anderer, die Ähnliches erleiden, zu bezeichnen – sie lägen in »Matratzengrüften«.
Wenn man das dem Leben Zurückgegebenwerden nicht als etwas rechnet, das einen nicht umbringt – was dann? Und doch scheint es keine erdenkliche Art und Weise zu geben, in der Hook »stärker« geworden sein könnte durch das, was er durchgemacht hatte. Tatsächlich scheint er seine Aufmerksamkeit nur darauf konzentriert zu haben, wie jede Schwächung auf der vorhergegangenen aufbaut, so dass ein kumulatives Elend mit nur einem einzigen möglichen Ausgang entsteht. Wenn es nämlich anders wäre, dann würde jeder Anfall, jeder Schlag, jeder widerliche Schluckauf, jede Schleimattacke den Menschen aufbauen und den Widerstand stärken. Und das ist offensichtlich absurd. Also haben wir hier etwas ganz Ungewöhnliches in den Annalen der unsentimentalen Annäherung an den Untergang: nicht den Wunsch, in Würde zu sterben, sondern die Sehnsucht, gestorben zu sein.
*
Professor Hook ging 1989 von uns, und ich bin eine Generation jünger. Ich bin nicht so nahe am bitteren Ende vorbeigeschrammt wie er. Auch habe ich mir bis jetzt keine so schwierige Unterhaltung mit meinem Arzt ausgemalt. Aber ich erinnere mich, wie ich dalag und auf meinen nackten Oberkörper hinunterschaute, der fast vom Hals bis zum Nabel von einem grellroten Bestrahlungsausschlag bedeckt war. Dies war das Ergebnis eines monatelangen Bombardements mit Protonen, das den Krebs in meinen paratrachealen und supraklavikulären Lymphknoten weggebrannt hatte, und ebenso den ursprünglichen Tumor in meiner Speiseröhre. Dies reihte mich in die seltene Klasse von Patienten ein, die von sich sagen können, der hochspezialisierten therapeutischen Möglichkeiten des MD Anderson Center in Houston teilhaftig geworden zu sein. Zu schreiben, dass der Ausschlag wehtat, würde nichts aussagen. Die Schwierigkeit liegt darin, dem Leser zu vermitteln, wie sehr er innerlich wehtat. Ich lag Tag um Tag da und versuchte vergeblich, den Augenblick aufzuschieben, in dem ich schlucken musste. Jedesmal, wenn ich es tat, floss eine diabolische Flut des Schmerzes meine Kehle empor und fand ihren Höhepunkt in etwas, das sich anfühlte wie der Tritt eines Mulis in die Lendenwirbelsäule. Ich fragte mich, ob es drinnen genauso rot und entzündet aussehen mochte wie außen. Und dann blitzte unvermittelt der Gedanke auf: Hätte man mir dies alles im Voraus gesagt – wäre dann meine Entscheidung zugunsten der Behandlung ausgefallen? Es gab mehrere Momente, als ich zuckte und mich wand und keuchte und fluchte, da ich es ernstlich bezweifelte.
Es ist wahrscheinlich eine gnädige Einrichtung, dass sich Schmerz aus der Erinnerung unmöglich beschreiben lässt. Es ist auch unmöglich, vor ihm zu warnen. Wenn meine Proton-Doktoren mir vorher etwas zu erzählen versucht hätten, dann wäre vielleicht die Rede von »starkem Unbehagen« gewesen oder möglicherweise von einem brennenden Gefühl. Ich weiß nur, dass nichts mich auf diesen Schmerz hätte vorbereiten können, der mich in meinem Innersten angriff und dem Schmerzmittel gleichgültig zu sein schienen. Ich habe nun anscheinend keine Bestrahlungskapazitäten an jenen Körperstellen mehr frei – fünfunddreißig Tage in Folge gelten als das Maximum, dem sich jemand aussetzen kann, und während dies an sich keine gute Nachricht ist, erspart es mir die Frage, ob ich willentlich noch einmal eine derartige Behandlung über mich ergehen lassen würde.
Aber ich kann eben gnädigerweise nun auch nicht mehr die Erinnerung heraufbeschwören, wie sich das in diesen sehrenden Tagen und Nächten anfühlte. Und seitdem habe ich einige Perioden relativ robuster Kondition erlebt. Also muss ich als vernünftiges Wesen Bestrahlung, Reaktion und Erholung insgesamt betrachten und mir sagen: Wenn ich das erste Stadium der Therapie abgelehnt hätte (und so das zweite und dritte vermieden), dann wäre ich bereits tot. Und das hat keinen Reiz.
Es ist allerdings nicht zu leugnen, dass ich ansonsten viel, viel schwächer bin, als ich es damals war. Wie lange scheint es her, dass ich das Protonen-Team zu Champagner einlud und dann fast behände in ein Taxi stieg. Während meines nächsten Krankenhausaufenthalts – in Washington, D. C. – vermachte das Hospital mir eine Staphylokokkenpneumonie, die mich fast umbrachte (und schickte mich damit zweimal nach Hause). Die vernichtende Ermüdung, die mich infolgedessen überkam, enthielt auch die tödliche Drohung, vor dem Unausweichlichen aufzugeben. Oft fühlte ich, wie Fatalismus und Resignation mich überfluteten, wenn ich nicht gegen meine allgemeine Kraftlosigkeit ankämpfen konnte. Zweierlei rettete mich vor dem Verrat an mir selbst, dem Loslassen: eine Ehefrau, die mich nicht auf so langweilige und nutzlose Weise daherreden hören wollte, und verschiedene Freunde, die auch offen sprachen. Ach ja, und das regelmäßige Schmerzmittel. Wie glücklich teilte ich mir den Tag auf den Augenblick hin ein, da ich zusehen konnte, wie die Injektion vorbereitet wurde. Das zählte als großes Ereignis. Bei manchen Analgetika kann man mit etwas Glück den Augenblick spüren, da sie wirken: eine Art wärmendes Prickeln mit einem idiotischen Glücksgefühl dabei. Soweit gekommen zu sein! Wie die traurigen Figuren, die in Apotheken einbrechen, um Oxycodon zu klauen. Aber es war eine Milderung der Langeweile, ein kleines (schuldbeladenes) Vergnügen (von denen gibt es nicht viele in Tumorhausen) und nicht zuletzt eine Linderung des Schmerzes.
In meiner englischen Familie hatte die Rolle des Nationaldichters nicht Philip Larkin, sondern John Betjeman inne, der Barde der Vorstädte und der Mittelschicht – ein sehr viel bissigerer Lyriker, als seine etwas teddybärhafte öffentliche Erscheinung hätte erwarten lassen. Sein Gedicht »Five O’Clock Shadow« zeigt ihn von dieser unerwarteten Seite:
This is the time of day when we in the Men’s Ward
Think »One more surge of the pain and I give up the fight«,
When he who struggles
for breath can struggle less strongly:
This is the time of day which is worse than night.
Das ist die Tageszeit, da denken wir in der Männerabteilung:
»Noch so ein Schmerz und ich geb’s auf. Es ist vollbracht.«
Der nach Atem ringt, hat jetzt den Ringkampf fast schon verloren.
Das ist die Tageszeit, die schlimmer ist als die Nacht.
Dieses Gefühl kenne ich nun in der Tat sehr gut: die Überzeugung, dass der Schmerz nie mehr fortgehen wird und dass das Warten auf den nächsten Schuss ungerecht lange dauert. Dann ein plötzlicher Anfall von Atemnot, gefolgt von sinnlosem Gehuste und – wenn es ein lausiger Tag ist – mehr Expektoration, als ich bewältigen kann: Literweise Speichel, gelegentlich Schleim, und was soll denn jetzt bitte dieses Sodbrennen? Ich habe ja gar nichts gegessen – meine Nahrung erhalte ich ausschließlich durch einen Schlauch. All dies und die kindische Erbitterung, die all dies begleitet, ergeben eine Willensschwächung. Ebenso der verblüffende Gewichtsverlust, gegen den der Schlauch machtlos scheint. Ich habe nun seit der Krebsdiagnose fast ein Drittel meiner Körpermasse verloren. Der Tumor tötet mich vielleicht nicht, aber die Muskelatrophie macht es immer schwieriger, auch nur jene simplen Übungen durchzuführen, ohne die ich noch schwächer werde.
*
Ich tippe dies, nachdem ich soeben eine Spritze bekommen habe, welche die Schmerzen in meinen Armen, Händen und Fingern lindern soll. Die hauptsächliche Nebenwirkung der Schmerzen ist ein taubes Gefühl in den Extremitäten, das mich mit der nicht ganz irrationalen Angst erfüllt, ich könne die Fähigkeit zu schreiben verlieren. Ohne diese würde, das weiß ich jetzt schon, mein Überlebenswille sich stark reduzieren. Ich sage oft mit großer Geste, dass das Schreiben nicht nur mein Beruf und mein Lebensunterhalt ist, sondern mein Leben schlechthin, und das ist wahr. Fast wie beim drohenden Verlust meiner Stimme – deren Zustand gegenwärtig durch Injektionen in meine Stimmfalten zeitweilig verbessert wird – habe ich das Gefühl, dass meine Persönlichkeit und meine Identität sich auflösen, während ich die Möglichkeit erwäge, dass meine Hände absterben und die Transmissionsriemen, die mich mit dem Schreiben und Denken verbinden, stillgelegt werden.
Es gibt auch voranschreitende Schwächungen, die in einem »normaleren« Leben Jahrzehnte gebraucht hätten, um wirksam zu werden. Aber es ist wie mit dem normalen Leben: Man stellt fest, dass jeder Tag unerbittlich mehr und mehr von dem abzieht, was ohnehin schon weniger und weniger geworden ist. Mit anderen Worten – der Prozess zehrt dich aus und schiebt dich gleichzeitig näher an den Tod heran. Wie könnte es anders sein? Gerade hatte ich begonnen, hierüber nachzudenken, als ich auf einen Artikel zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörung stieß. Wir wissen jetzt aus teuer erkaufter Erfahrung sehr viel mehr über diese Krankheit als früher. Offenbar ist eines der Symptome, in denen sie sich zeigt, die Neigung des zähen Veteranen, über seine Erlebnisse zu sagen: Was mich nicht umgebracht hat, hat mich stärker gemacht. Dies ist eine der Formen, welche die Verdrängung annimmt.
Mich interessiert die Etymologie des deutschen Wortes stark und seines von Nietzsche verwendeten Komparativs stärker. Wenn man im Jiddischen jemanden ä starker nennt, bedeutet das, dass man in ihm einen Militanten sieht, einen zähen Burschen, einen hart Arbeitenden. Bis jetzt habe ich mich entschieden, alles abzuwehren, was mir die Krankheit an den Kopf werfen kann, und weiterhin kämpferisch zu reagieren, auch während ich meinen unausweichlichen Niedergang beobachte. Es ist dies, ich wiederhole es, nicht mehr als das, was ein gesunder Mensch – in Zeitlupe – ebenfalls tun muss. Es ist unser allgemeines Schicksal. In beiden Fällen jedoch kann man auf leichthin formulierte Parolen verzichten, die ihre scheinbare Profundität nicht einlösen.
*
Einmal habe ich wohl eine Ausnahme gemacht von meiner sich herausbildenden Regel, Nietzsche zu misstrauen, und von meinem Prinzip, mir selbst vorzuspielen, ich verfüge über Ressourcen, die ich vielleicht gar nicht hatte. Ein großer Teil der Krebsexistenz hat mit dem Blut zu tun, dessen ganz besondere Krankheit der Krebs in der Tat ja ist. Ein Patient wird feststellen, dass er ein recht beträchtliches Quantum dieser Flüssigkeit »abgeben« muss, entweder um das Legen eines Katheters zu erleichtern oder um die Höhe des Blutzuckerspiegels oder anderer Werte ermitteln zu helfen.
Über Jahre hinweg fand ich es absurd einfach, die routinemäßigen Blutuntersuchungen über mich ergehen zu lassen. Ich marschierte rein, setzte mich hin, ertrug die kurze Schnürung durch eine Staumanschette, bis eine brauchbare Vene zur Verfügung stand oder zugänglich wurde, und dann gestattete ein einziger kleiner Stich das Füllen der einschlägigen kleinen Reagenzgläser und Spritzenkolben.
Mit der Zeit hörte das jedoch auf, einer der angenehmen Höhepunkte des medizinischen Tagesablaufs zu sein. Die blutentnehmende Spezialkraft setzte sich nunmehr hin, nahm meine Hand oder mein Handgelenk in ihre Hand und seufzte. Die rötlichen oder violetten Markierungen waren bereits zahlreich sichtbar und gaben dem Arm einen deutlichen Junkie-Look. Die Venen selbst lagen eingesunken da, entweder in Höhlungen oder zerquetscht. Ganz gelegentlich reagierten sie auf eine (der Junkie-Praxis abgeschaute) Strategie, die darin bestand, dass man sie langsam und hart mit den Fingerspitzen klopfte, doch führte dies selten zu einem brauchbaren Ergebnis. Es traten dicke Schwellungen auf, gewöhnlich gleich am Ellbogen oder Handgelenk oder jedenfalls irgendwo, wo sie uns am wenigsten nützten.
Außerdem konnte man nicht länger so tun, als sei die Sache praktisch schmerzlos. Die flotte Redeweise von »einem kleinen Pikser« galt nicht mehr. Es tut nun tatsächlich nicht so furchtbar weh, wenn eine suchende Nadel zum zweiten Mal eingeführt wird. Nein, was weh tut, ist das Hin- und Herbewegen der Nadel in der Hoffnung, dass sie richtig in die Vene eindringen und die benötigte Flüssigkeit abzapfen kann. Und je öfter dies geschieht, desto schmerzhafter wird es. Dies ist eine mikrokosmische Abbildung der ganzen Angelegenheit: der »Kampf« gegen den Krebs reduziert sich darauf, ein paar Tropfen Körperflüssigkeit aus einem großen Warmblütler herauszumanipulieren, der sie nicht liefern kann. Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass man bald mit den Assistentinnen zu sympathisieren anfängt. Sie sind stolz auf ihre Arbeit und wollen einem eigentlich kein Unbehagen bereiten. Tatsächlich räumen sie gerne das Feld für eine freiwillige Kollegin oder beugen sich größerer Erfahrung.
Aber die Sache muss durchgeführt werden, und es ist unangenehm, wenn sie nicht an ihr Ende kommt. Ich sollte kürzlich einen Führungsdraht eingeführt bekommen, mit dessen Hilfe ein permanenter Katheter in den Oberarm gesetzt werden kann, damit die Notwendigkeit wiederholter Einstiche entfällt. Die Experten sagten mir, dies brauche selten länger als zehn Minuten (was auch meine Erfahrung bei früheren Besuchen gewesen war). Es dürfte aber kaum weniger als zwei Stunden gedauert haben, bis ich mich – nach gescheiterten Versuchen an beiden Armen – zwischen Betteinlagen fand, die großzügig mit getrocknetem oder gerinnendem Blut getränkt waren. Die Schwestern waren sichtlich außer Fassung. Und wir waren noch weiter entfernt von einer Lösung als vorher.
In dem Maße, in dem derartige Vorfälle üblich wurden, übernahm ich die Rolle dessen, der aufmuntert und gut zuredet. Wenn die Assistentin mir anbot, aufzuhören, drängte ich sie, weiterzumachen, und versicherte sie meiner Anteilnahme. Ich nannte ihr die Anzahl von Versuchen bei früheren Anlässen, um sie zu größeren Anstrengungen anzuspornen. Mein Selbstbild war das des couragierten englischen Immigranten, der sich über die Agonie lächerlicher Nadelstiche erhebt. Was mich nicht umbrachte, behauptete ich, würde mich nur stärker machen … Ich glaube, dies begann an jenem Tag ein wenig hohl zu klingen, als ich bei elf Anläufen immer wieder gefordert hatte, der MTA solle weitermachen, und insgeheim nun auf die Gelegenheit hoffte, die Prozedur zu beenden und zu schlafen. Dann entspannte sich das Gesicht des Experten mit einem Mal und er rief: »Na! Auf zwölf, da klappt’s«, und der lebenspendende Faden in der Spritze fing an, sich abzuspulen. Von da an schien es mir absurd, so zu tun, als mache mich dieses Bluffen stärker oder als ließe es andere Leute energischer oder fröhlicher handeln. Wie sehr man auch glauben mag, dass das Ergebnis von der eigenen Haltung abhängt – dem Reich der Illusionen muss man vor allem anderen entfliehen.