I have seen the moment of my greatness flicker,

And I have seen the eternal Footman hold my coat, and snicker,

And in short, I was afraid.

Ich sah den Augenblick meiner Größe verblassen, veralten,

Ich hörte den ewigen Portier sardonisch husten beim Mantelhalten,

Und kurz gesagt, ich hatte Angst.

T. S. ELIOT, »The Love Song of J. Alfred Prufrock«

Wie bei so vielen unter den mannigfachen Erfahrungen des Lebens lässt auch bei der Diagnose eines bösartigen Tumors das Neuartige rasch nach. Die Sache ist nachgerade altbekannt, fast wird sie banal. Man kann sich an das Phantom des ewigen Portiers gut gewöhnen – wie an einen tödlichen alten Langweiler, der gegen Ende des Abends im Vestibül lauert und auf die Gelegenheit hofft, uns rasch etwas zu sagen. Und ich habe nicht so sehr etwas dagegen, dass er mir mit theatralischer Geste den Mantel hinhält, wie um mich stumm daran zu erinnern, dass es Zeit für mich ist, mich auf den Weg zu machen. Nein, das Schmunzeln ist es, was mich fertigmacht.

In viel zu regelmäßiger Weise serviert mir die Krankheit ein neckisches Tagessonderangebot oder Menü der Woche. Dabei mag es sich um irgendwelche offenen Stellen und Geschwüre handeln, auf der Zunge oder in der Mundhöhle. Oder warum nicht ein wenig periphere Neuropathie, was taub-kalte Füße bedeutet? Die alltägliche Existenz bekommt etwas Säuglingshaftes, zugemessen nicht in Prufrocks Kaffeelöffeln, sondern in winzigen Dosen Nahrung, begleitet von ermunternden Geräuschen der Zuschauer oder feierlichen Unterhaltungen über das Funktionieren des Verdauungstraktes mit unbekannten mütterlichen Damen. An weniger guten Tagen komme ich mir vor wie das Ferkel mit dem Holzbein, das einer sadistisch-sentimentalen Familie gehörte, die es nicht übers Herz brachte, mehr als ein Stückchen von ihm auf einmal zu essen. Nur, dass der Krebs nicht derart … rücksichtsvoll ist.

Am niederschmetterndsten und erschreckendsten von allem war bis jetzt der Augenblick, da meine Stimme sich plötzlich zu einem kindischen (vielleicht ferkelgleichen) Quieken hob. Dann suchte sie sich ihr momentanes Register überall, von einem rauen, groben Flüstern bis zu einem papiernen, klagenden Blöken. Und manchmal drohte sie – und droht nun täglich – ganz zu verschwinden. Ich war gerade von ein paar Vorträgen in Kalifornien zurückgekehrt, wo ich mit Hilfe von Morphium und Adrenalin immer noch erfolgreich herausbrachte, was ich zu sagen hatte, und ich wollte vor meinem Haus ein Taxi rufen – doch nichts geschah. Ich stand erstarrt da, wie ein Hahn, der mit einem Mal nicht mehr zu krähen vermag. Früher konnte ich ein New Yorker Taxi auf dreißig Schritt stoppen. Ich konnte auch bei einem Podiumsgespräch ohne Mikrophon die hinterste Reihe und die Empore einer überfüllten Vortragshalle erreichen. Und es mag vielleicht nichts sein, worauf man besonders stolz sein sollte, aber die Leute erzählen mir, wenn ihr Radio oder ihr Fernseher lief, und sei es im Nebenzimmer, dann konnten sie immer meine Intonation heraushören und wussten, ich war gerade dran.

Wie bei der Gesundheit selbst kann man sich den Verlust einer solchen Fähigkeit nicht vorstellen, ehe er eintritt. Wie alle Welt habe ich schon verschiedene Varianten des vor allem bei Jugendlichen beliebten »Was wäre dir lieber?«-Spiels durchgenommen, bei dem man gewöhnlich debattiert, ob Blindheit oder Taubheit schlimmer wäre. Aber ich kann mich nicht erinnern, je besonders darüber nachgedacht zu haben, wie es wäre, plötzlich stumm zu sein. Hat man plötzlich die Fähigkeit zu sprechen verloren, ist dies eher wie das Auftreten von Impotenz oder wie die Amputation eines Teils der Persönlichkeit. In starkem Maße war ich in der Öffentlichkeit wie privat meine Stimme. Die Etikette der Konversation, ihr ganzes Ritual vom Räuspern vor dem Erzählen eines besonders langen und anstrengenden Witzes bis zu dem (in jüngeren Zeiten eingesetzten) Senken der Stimme um eine Oktave, um ein Liebeswerben durch Vortäuschen beschämter Verlegenheit überzeugender klingen zu lassen, war für mich natürlich und wesentlich. Ich habe nie singen können, aber einst konnte ich Gedichte aufsagen und Prosa zitieren und wurde manchmal sogar dazu aufgefordert. Und das Timing ist alles: Der wunderbare Moment, wenn man jemanden unterbrechen und eine Anekdote überbieten kann, wenn man einen Satz umdreht, dass alles lacht, wenn man einen Gegner der Lächerlichkeit preisgibt. Für solche Augenblicke habe ich gelebt. Wenn ich mich jetzt an einer Konversation beteiligen möchte, muss ich mir auf irgendeine andere Weise Aufmerksamkeit verschaffen und dann den furchtbaren Umstand ertragen, dass die Leute mir »mitfühlend« zuhören. Zumindest müssen sie’s nicht lange tun. Ich kann nicht mehr lange, und so oder so halt ich’s nicht aus.

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Wenn man krank wird, schicken einem die Leute CDs. Diese sind meiner Erfahrung nach sehr häufig von Leonard Cohen. Deshalb habe ich kürzlich einen Song kennengelernt, der den Titel hat »If It Be Your Will«. Er ist ein bisschen süßlich, aber wunderschön gesungen, und so fängt er an:

If it be your will,

That I speak no more,

And my voice be still

As it was before …

Wenn es dein Wille ist,

Dass ich nichts mehr sage,

Dass meine Stimme stumm ist,

Wie sie zuvor es war …

Ich habe festgestellt, dass man sich das lieber nicht spät in der Nacht anhören sollte. Leonard Cohen ist unvorstellbar ohne seine Stimme und untrennbar von ihr. (Ich bezweifle inzwischen, dass ich diesen Song von irgendjemandem sonst hören könnte oder wollte.) Irgendwie – sage ich mir – werde ich weiterstolpern, indem ich mich schriftlich verständige. Aber das ist nur wegen meines Alters möglich. Wenn mir meine Stimme früher geraubt worden wäre, hätte ich wohl nie viel auf dem Papier zustande gebracht. Ich stehe tief in der Schuld von Simon Hoggart vom Guardian (dem Sohn des Verfassers von The Uses of Literacy), der mir vor etwa fünfunddreißig Jahren mitteilte, dass einer meiner Artikel argumentativ gut konstruiert sei, aber langweilig; und er riet mir, »eher so zu schreiben, wie Sie reden«. Damals war ich fast sprachlos angesichts des Vorwurfs, ich schriebe langweilig, aber im Lauf der Zeit begann ich zu begreifen, dass meine Angst vor Selbstverliebtheit und dem Personalpronomen in sich etwas Selbstgefälliges hatte.

Meine Schreibseminare begann ich dann später gerne mit dem Satz, dass jeder, der reden kann, auch schreiben kann. Nachdem ich die Studenten auf diese Weise aufgemuntert hatte, erschreckte ich sie umgehend durch die Frage: »Wie viele in dieser Klasse, was meinen Sie, können reden? Ich meine, wirklich reden?« Das tat seine deprimierende Wirkung. Ich sagte ihnen, sie sollten jeden ihrer Aufsätze privat laut vortragen – am besten einem verlässlichen Freund. Die Regeln sind weitgehend dieselben: Meiden Sie alle Phrasen (»wie die Pest«, pflegte William Safire zu sagen) und Wiederholungen. Sagen Sie nie, dass als Junge Ihre Großmutter Ihnen immer vorgelesen hat, es sei denn, sie war zu jener Zeit ihres Lebens wirklich ein Junge; in diesem Fall hätten Sie dem Bericht wohl einen interessanteren Anfang geben können. Wenn etwas wert ist, dass man ihm lauscht, ist es sehr wahrscheinlich auch lesenswert. Also vor allem: Finden Sie Ihre eigene Stimme.

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Das schönste Kompliment, das ein Leser mir machen kann, ist, dass er mir sagt, er fühle sich persönlich angesprochen. Denken Sie an Ihre Lieblingsautoren und fragen Sie sich, ob das nicht genau einer der Züge ist, die Sie an ihnen schätzen, oft ohne es gleich zu bemerken. Ein gutes Gespräch ist das Einzige, was dem entspräche: Zu spüren, dass anständige Argumente vorgebracht und begriffen werden, dass Ironie im Spiel ist und Elaboration und dass eine platte oder langweilige Bemerkung fast körperlich schmerzhaft wäre. So hat sich die Philosophie beim Symposion entwickelt, ehe sie niedergeschrieben wurde. Und die Dichtung begann mit der Stimme als einzigem Akteur und dem Ohr als einzigem aufzeichnendem Instrument. Tatsächlich fällt mir auch kein wirklich guter Schriftsteller ein, der taub gewesen wäre. Wie hätte man je – selbst mit der klugen Zeichensprache des großen Abbé de l’Épée – die winzigen Zuckungen und Ekstasen der Nuancierung schätzen können, welche die wohlmodulierte Stimme übermittelt? Henry James und Joseph Conrad haben ihre späteren Romane diktiert (was als eine der größten stimmlichen Leistungen aller Zeiten gelten muss, obgleich es dem Text vielleicht gutgetan hätte, wenn der Autor sich einiges noch einmal hätte vorlesen lassen), und Saul Bellow diktierte den größten Teil von Humboldt’s Gift. Ohne unser entsprechendes Gefühl für den Idiolekt, für die Art und Weise, wie ein Individuum tatsächlich spricht und insofern auch schreibt, müssten wir einen ganzen Kontinent menschlicher Sympathien entbehren wie auch kleinere Vergnügungen: Nachahmung, Parodie.

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Ernsthafter: »Was ich habe, ist nur eine Stimme«, schrieb W.H. Auden in »1. September 1939«, seinem zerquälten Versuch, den Triumph des radikal Bösen zu begreifen und sich ihm zu widersetzen. »Wer kann sich an die Tauben wenden?« fragte er verzweifelt. »Wer kann für die Stummen sprechen?« Etwa zur selben Zeit erkannte die deutsch-jüdische Dichterin Nelly Sachs, die später den Nobelpreis bekommen sollte, dass das Hervortreten Hitlers sie buchstäblich sprachlos hatte werden lassen: Sie war durch die krasse Negation aller Werte ihrer Stimme beraubt. Selbst unsere Alltagssprache bewahrt, wenn auch in schwacher Form, eine derartige Vorstellung: Wenn ein engagierter Mann des öffentlichen Dienstes stirbt, steht oft in den Nachrufen, er sei »eine Stimme« der Menschen gewesen, die sonst ungehört bleiben.

Aus der menschlichen Kehle können auch schreckliche Laute hervorgehen: Gebrüll, Litanei, Gewinsel, hetzerisches Geschrei (»windigster militanter Quatsch«, wie Auden es in demselben Gedicht nannte) und das sardonische Husten. Es ist die Gelegenheit, ruhige, leise Stimmen gegen diesen Katarakt von Geplapper und Lärm zu setzen, die Stimmen des Witzes und des Understatements, nach der man sich sehnt. All die besten Erinnerungen an Weisheit und Freundschaft, von Platons Dialogen mit den Auftritten des Sokrates bis zu Boswells Leben Johnsons, hallen wider von den gesprochenen, spontanen Momenten des Zusammenspiels, der Vernunft und der Spekulation. In solchem Aufeinandertreffen, im Wettbewerb und Vergleich mit anderen, darf man hoffen, das scheue, magische mot juste zu erwischen. Für mich besteht die Erinnerung an Freundschaft in der Beschwörung jener Unterhaltungen, die abzubrechen eine Sünde schien – derjenigen, die das Aufopfern des nächsten Tages gering erscheinen ließen. So hat sich Kallimachos seines geliebten Herakleitos erinnert (in der schönen Übertragung ins Englische von William Cory):

They told me, Heraclitus; they told me you were dead.

They brought me bitter news to hear, and bitter tears to shed.

I wept when I remembered how often you and I

Had tired the sun with talking, and sent him down the sky.

Sie sagten, Herakleitos, sie sagten, du bist tot,

Sie brachten bittere Nachricht und bitterer Tränen Not:

Ich weinte: Wie oft haben die Sonne du und ich

Mit unseren Reden müd gemacht, dass sie vom Himmel wich.

Tatsächlich beruht sein Anspruch auf Unsterblichkeit für den Freund auf dem Wohlklang von dessen Stimme.

Still are thy pleasant voices, thy nightingales, awake,

For Death, he taketh all away, but them he cannot take.

Noch leben deine Stimmen fort, die schönen Nachtigallen,

Nie werden sie dem Tod, der alles holt, verfallen.

Vielleicht steckt in der letzten Zeile ein wenig zu viel Erhebendes …

*

In der medizinischen Literatur ist das Stimm«band« – cord – eine bloße »Falte«, ein Stück Knorpel, das sich vorreckt und seinen Zwilling zu erreichen sucht, was die Möglichkeit von Klangwirkung ergibt. Aber ich habe das Gefühl, dass hier eine tiefe Beziehung zu dem Wort für den musikalischen Akkord, chord, besteht, dem tönenden Klang, der Erinnerung ruft, Musik erzeugt, Liebe beschwört, Tränen fließen lässt, Menschenmengen zum Mitgefühl und Massen zur Leidenschaft erregt. Wir sind vielleicht nicht, wie wir uns einst rühmten, die einzigen Tiere, die der Sprache mächtig sind. Aber wir sind die einzigen, die stimmliche Kommunikation zum Zweck reinen Vergnügens und reinen Spiels verwenden und mit unseren beiden anderen stolzen Ansprüchen, Vernunft und Humor, zu höherer Synthese gebrauchen können. Wenn man diese Fähigkeit verliert, ist man einer ganzen langen Reihe von Möglichkeiten beraubt. Es bedeutet gewiss einen gar nicht so kleinen Tod.

Mein hauptsächlicher Trost in diesem Jahr des sterbenden Lebens war die Gegenwart meiner Freunde. Ich kann nicht mehr zum Vergnügen essen oder trinken; wenn sie sich also erbötig machen, mich besuchen zu kommen, dann nur wegen der wundervollen Möglichkeit, zu reden. Manche dieser Genossen können leicht einen großen Saal mit zahlenden Zuhörern füllen. Es sind Redner, mit denen einigermaßen Schritt zu halten bereits ein Privileg ist. Jetzt kann ich ihnen wenigstens umsonst zuhören. Können sie denn kommen und mich besuchen? Nun ja, nur in gewisser Weise. So gehe ich nun jeden Tag in ein Wartezimmer, schaue mir die furchtbaren Nachrichten aus Japan im Kabelfernsehen an (der gesprochene Text wird oft parallel als Schrift eingeblendet, wie um mich zu plagen) und warte ungeduldig darauf, dass eine hohe Dosis Protonen mit Zweidrittellichtgeschwindigkeit in meinen Körper geschossen wird. Worauf hoffe ich? Wenn nicht auf eine Heilung, dann auf eine Verlangsamung. Und was möchte ich zurückhaben? Mit der schönsten Zusammenfügung zweier der einfachsten Wörter der Sprache: Redefreiheit.