8
Die professionell wirkende Frau mittleren Alters hatte bereits mehrere Male an die Tür geklopft. Endlich öffnete sie sich einen Spalt, und das müde Gesicht von Maggie Holvey kam zum Vorschein. Sie trug einen grauen Morgenmantel und sah aus, als wäre sie aus einem dringend notwendigen Mittagsschlaf gerissen worden.
„Mrs. Holvey?" sagte die Besucherin. „Mein Name ist Karen Kosseff. Ich bin Sozialpsychologin beim FBI. Ich bin angewiesen worden, einen Bericht für die gerichtliche Untersuchung zu erstellen. Darf ich hereinkommen?"
Maggie schüttelte erschöpft den Kopf. „Nein. Bitte. Ich hatte schon genug Schwierigkeiten." „Das verstehe ich, Mrs. Holvey", erwiderte Ms. Kosseff ruhig. Sie sprach mit der beschwichtigenden Stimme einer professionellen Fürsorgerin. „Aber wenn Sie nicht mit mir reden wollen, werde ich das in meinem Bericht erwähnen müssen, und das könnte Ihre Situation durchaus noch komplizierter machen." Nach kurzem Zögern gab Maggie nach und öffnete die Tür, um die Frau hereinzulassen. Ms. Kosseff folgte ihr, sah sich in der Diele um und warf einen Blick die breite Treppe hinauf. Drinnen sah es aus wie in einem typischen Wohnhaus eines mittleren amerikanischen Regierungsbeamten mit Familie.
Dann hörte sie von irgendwo oben den kläglichen
Ruf eines kleinen Jungen.
„Mami!"
„Charlie ...?" rief Maggie, und Sorge überschattete ihr Gesicht. Dann rannte sie die Treppe empor, und Ms. Kosseff folgte ihr.
Charlie lag auf dem Flur vor Goldas Zimmertür. Er schien desorientiert und schweißüberströmt zu sein wie im Fieber.
Maggie eilte zu ihm und wiegte ihn in ihren Armen.
„Schon gut, Charlie. Es ist schon gut", murmelte sie und streichelte ihm den Kopf. Als sie merkte, daß die Sozialarbeiterin hinter ihr stand, wandte sie sich rasch um und sagte. „Er war krank. Meine Mutter hatte versprochen, auf ihn aufzupassen ..."
Sie unterbrach sich mitten im Satz, als sie ein feines Fähnchen Dampf oder Rauch bemerkte, das sich unter der Tür ihrer Mutter hervorkräuselte. Sie zog Charlie auf die Beine, als ob sie beide im nächsten Moment fliehen müßten, und rief: „Mutter? Mutter!"
Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete sie die Tür - und erblickte die drei Männer in ihren schwarzen Anzügen mit den rituellen rot-schwarzen Stolen über den Schultern; Golda neben der Messingschale; die Kerzen; den toten Hahn; alle Merkmale einer Zeremonie, von der sie in ihrer Kindheit in Rumänien gehört hatte. Die sie jedoch nie erlebt hatte ... die sie nie hatte erleben wollen ...
Die Männer bedachten sie mit warnenden Blicken. Golda wurde jedoch deutlicher. „Geh sofort hinaus!" befahl sie auf rumänisch.
Maggie antwortete in derselben Sprache, doch
sie richtete ihre Worte an die Männer.
„Verlassen Sie mein Haus!"
Sie rührten sich nicht, und der Älteste, der Mann mit dem schneeweißen Bart, sagte in bestimmtem Ton: „Der Junge ist böse."
„Hinaus!" schrie Maggie auf Englisch, um Karen Kosseff ebenso wie den Männern ihren Standpunkt klarzumachen.
Der Älteste sah Golda an. Sie nickte. Ohne ein weiteres Wort gingen die Männer nacheinander hinaus und nahmen dabei ihre rot-schwarzen Stolen ab. Die Zeremonie, die sie begonnen hatten, war unvollendet geblieben, doch sie gingen mit der Haltung von Männern, die wußten, daß es später noch Arbeit für sie zu tun gab. Es war noch nicht zu Ende. Das Böse war noch nicht besiegt.
Maggie sah ihnen nach und wandte sich dann ihrer Mutter zu. Golda kam auf sie und den Jungen zu wie eine alte Krähe auf ein Lamm.
„Ich habe endgültig genug davon, Mutter", verkündete Maggie mit verzweifelter Entschiedenheit. „Ich will, daß du mein Haus verläßt."
Goldas Antwort kam schnell und
unerwartet.
„Das Blut des Jungen muß gereinigt werden!" spie sie aus, griff mit
ihren knochigen Fingern nach Charlie, zerrte ihn zu sich herein und
knallte die Tür zu. Erschrocken über die plötzliche Wendung, konnte
Maggie nur noch gegen die Tür hämmern und schreien: „Nein, Mutter!
Mutter!"
Karen Kosseff sah alles mit an, und sie sah auch den grausam geschwungenen Dolch, der auf dem Tisch lag. Die Klinge schimmerte im Kerzenlicht. Ihre professionelle Ausbildung übernahm die Regie, und sie rannte nach unten zum Telefon.
Mulder und Scully fuhren eben vor dem Haus vor. Sie waren zurückgekommen, um noch einmal mit Maggie über eine Befragung des Jungen zu reden. Als sie aus dem Wagen stiegen, eilte ihnen zu ihrer Überraschung Karen Kosseff aus dem Haus entgegen.
„Agent Scully!" rief sie keuchend.
„Was ist los?" fragte Scully rasch.
„Charlie Holvey. Die Großmutter hat sich mit dem Jungen in ihrem Zimmer eingeschlossen. Sie hat möglicherweise ein Messer. Ich habe die Polizei angerufen."
„Was ist passiert?" fragte Mulder, als sie zwischen den sauber getrimmten Hecken auf die Haustür der Holveys zutrabten.
„Es waren drei merkwürdige Männer hier", berichtete Karen eilig; sie schien nahe daran, die Fassung zu verlieren. „Sie haben irgendein Ritual vollzogen ..."
„Ist der Junge verletzt?" fragte Scully.
Ihre Antwort erhielt sie von oben. Charlie schrie, er hatte offenbar große Angst, es klang wie „Nein, Großmutter!"
Mulder und Scully stürmten die Treppe hinauf und ließen Karen Kosseff hinter sich zurück.
Im Innern des Zimmers gingen auf einem Schlag alle Kerzen aus, wie ausgeblasen vom Atem eines unsichtbaren Geistes. Golda stieß einen Schrei aus und klammerte den Jungen mit einer Hand an sich, während sie mit der anderen den rituellen Dolch schwang. Mit kreisenden Bewegungen durchschnitt sie die Luft, als ob sie damit die bösartige Macht, die sich zu manifestieren begann, abwehren oder gar verletzen könnte.
Sie wußte, daß ihr nur wenige Sekunden blieben, um zu tun, was getan werden mußte. Sie packte Charlies Handgelenk, drehte seine Handfläche nach oben und hob den Dolch, die scharfe Spitze auf seine weiße Haut gerichtet. Charlie zuckte zusammen und versuchte sich, verängstigt durch die Dunkelheit und den Dolch, aus ihrem Griff zu befreien ...
„Es ist der einzige Weg, Mihai", beschwor sie ihn in ihrem gebrochenen Englisch ... doch Charlie wand sich aus ihrem Arm und zog sich in eine Ecke des Zimmers zurück. Sie griff nach ihm, doch sie verfehlte ihn. Ehe sie noch zu einem weiteren Versuch kam, bewegte sich etwas hinter ihr. Mit hoch erhobenem Dolch wirbelte sie herum ...
Zu spät. Ein schwerer Kerzenständer wirbelte plötzlich durch die Luft und schickte sie zu Boden.
Benommen tastete sie nach dem Dolch, doch sie fand ihn nicht. Voller Furcht kämpfte sie gegen den Schmerz an und blickte auf. Charlie stand über ihr. Seine Angst war von ihm abgefallen. Sein Gesicht hatte sich verändert, verdunkelt, und er hielt einen toten Hahn in jeder Hand - einer schwarz, einer weiß.
„Du kommst zu spät, um uns noch aufzuhalten", sagte er auf rumänisch und mit einer Stimme, die nicht seine eigene war.
Golda schrie auf, als er die Hähne nach ihr schleuderte, die plötzlich zum Leben erwachten und wild auf ihr Gesicht und ihren Hals einhackten und mit ihren scharfen Schnäbeln nach ihren Augen pickten ...
Ihr Schrei brach erst ab, als Mulder die Tür einrammte. Mit schußbereiten Waffen sprangen er und Scully ins Zimmer, doch sie standen nur einem kleinen Jungen mit ausdruckslosen, desorientierten Augen gegenüber. Goldas Leiche lag ein wenig abseits, die toten Hähne neben ihr; Gesicht und Hals waren von Hunderten winziger Wunden übersät.
Maggie entdeckte sie. „Oh nein!" schrie sie und eilte an ihre Seite. Scully folgte ihr langsamer.
Mulder beobachtete den Jungen. Für einen Augenblick hätte er schwören können, daß sein Gesicht sich irgendwie verändert hatte, als ob sich die Muskeln unter der Haut verschoben hätten. Aber sicher war er nicht. Vielleicht war es nur ein Spiel der Schatten in diesem seltsamen, düsteren Raum ...