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Die Ereignisse des Vortages hatten bei den FBI-Agenten ihre je eigenen Gedankengänge und Fragen ausgelöst, und jeder war anderen Hinweisen nachgegangen, die der Besuch im Haus der Holveys ergeben hatte.
Mulder war noch mitten in seinen Recherchen, als Scully ihn in seinem Büro aufsuchte. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, ohne sich der Tatsache bewußt zu sein, daß sein Kopf von dem „I want to believe"-Poster an der Wand hinter ihm eingerahmt wurde, und hielt Scully das Buch, das er gerade studierte, offen hin, um ihr ein allzu bekanntes Symbol zu zeigen.
„Kennen Sie das?" fragte er.
„Sicher. Das ist ein Hakenkreuz."
„Auch als Gammadion oder Vierfoß bekannt. Es ist ein altes Glücks- oder Schutzsymbol, das seit dem Mittelalter in verschiedenen Kulturen verwendet wurde ..."
„Und?" hakte Scully nach.
„Der Sohn der Holveys hatte gestern abend eines auf dem Handrücken. Ich vermute, die alte Dame hatte es ihm aufgemalt. Um den Jungen zu beschützen."
„Sie haben recht. Ich habe sogar gesehen, wie sie es gezeichnet hat."
„Fanden Sie das nicht merkwürdig?" fragte Mulder, der überrascht war, daß Scully diese Beobachtung anscheinend nicht für wert befunden hatte, sie ihm mitzuteilen.
„Nein. Ich glaube, dieser Junge braucht allen Schutz, den er kriegen kann. Aber nicht vor Gespenstern oder Monstern. Schauen Sie sich das hier an!"
Scully begegnete Mulders Buch des Aberglaubens, indem sie ihm die erste ihrer beiden Akten reichte. Teddy Holveys Krankenakte. Harte, wissenschaftliche Fakten. Mulder griff danach und sah seine Partnerin fragend an.
„Haben Sie schon mal vom Münchhausen-Syndrom
gehört?"
„Ja", grinste Mulder. „Das hat mein Großvater immer für seinen
Magen genommen."
Scully ignorierte die Bemerkung. Sie lachten selten zusammen, und Mulder versuchte oft gar nicht erst, einen Scherz zu machen. Vielleicht war er unbewußt sogar erleichtert darüber, daß dies offenbar keine X-Akte war, dachte Scully. Sie war überzeugt, daß es eine weitaus alltäglichere, wenn auch ausreichend unerfreuliche Erklärung gab.
„Das ist, wenn Eltern oder Familienangehörige einem Kind medizinische Symptome einreden", fuhr sie fort, „um mehr Aufmerksamkeit oder Zuwendung zu erlangen. Wenn Sie sich Teddy Holveys Krankengeschichte ansehen, werden Sie feststellen, daß er während der zwei Jahre seines Lebens zehnmal in verschiedene Krankenhäuser eingeliefert wurde. Das bedeutet etwa alle zweieinhalb Monate."
Mulder schlug die Akte auf und las laut daraus vor, während er sie durchblätterte: „Stoßartiges Erbrechen mit drei Monaten, Durchfall mit vier Monaten, Erbrechen, Durchfall, wieder Durchfall. . ." „Und nie ist es gelungen, die Ursache der Erkrankung zu bestimmen", betonte Scully, zuversichtlich, die richtige Spur gefunden zu haben.
„Und das hat niemanden gewundert?" fragte Mulder, der beeindruckt war, wenn dies auch nicht die Erklärung war, die er im Sinn hatte.
„Nun, die Familie ist wegen Steves Tätigkeit sehr häufig umgezogen. Es dauert eine Weile, bis die Akten von einem Krankenhaus ans andere weitergegeben werden - aber diese Art von Mißhandlung ist meist nicht nur auf ein Kind beschränkt, und deshalb habe ich auch Charlies Krankengeschichte überprüft."
Während sie sprach, reichte Scully Mulder die
zweite Akte. Als er sie aufschlug, war er bereit zu glauben, daß
Scully diesmal wirklich eine überzeugende wissenschaftliche
Erklärung gefunden hatte. Vielleicht war dies wirklich keine X-Akte
...
„Charlie hatte auch gesundheitliche Probleme?" fragte er.
„Seit der Geburt seines Bruders", bestätigte Scully. „Genau von dem Zeitpunkt an, als Holveys Schwiegermutter zu ihnen gezogen ist."
Mulder sah die Akte durch, registrierte die Daten, und auf seinem sonst so leidenschaftslosen Gesicht machte sich Sorge breit.
„Beim Münchhausen-Syndrom sieht der Täter das Kind oft als böse an. Die alte Frau wäre eine wahrscheinliche Kandidatin. Aber es könnte auch jedes andere Mitglied der Familie sein."
Mulder nickte. Das mußte auf jeden Fall
überprüft werden.
„Haben Sie Lust auf einen Spaziergang zum Außenministerium,
Scully?"
Steve Holveys Büro hätte sich nirgendwo anders befinden können als im Außenministerium. Die holzvertäfelten Wände, die Plaketten, die an Dienstzeiten in anderen Ländern erinnerten, die roten Plüschsessel und die aufgeräumten Aktenschränke bildeten einen starken Kontrast zu Mulders chaotischem Büro beim FBI. Steve Holvey saß hinter seinem Schreibtisch und gab sich alle Mühe, die Antworten zu finden, nach denen Mulder und Scully suchten. Sonnenlicht stach durch die geschlossenen Jalousien hinter ihm und spiegelte sich in den Besucherausweisen, die die beiden FBI-Agenten trugen.
„Es gab schon ... Merkwürdigkeiten, seit Golda - meine Schwiegermutter - zu uns gezogen ist", sagte Steve zögernd. „Ich habe Maggie 1984 in Rumänien kennengelernt. Golda verbot uns die Hochzeit. Sie meinte, ich wäre der Teufel ... Nachdem ich wieder in den Vereinigten Staaten war, wurde es etwas besser. Bis Teddy geboren wurde und sie bei uns einzog - da wurde es wirklich seltsam."
„Inwiefern seltsam?" fragte Mulder. Er hatte immer noch das Gefühl, daß mehr hinter der Sache steckte und daß er nicht alle Tatsachen zu fassen bekam. Es paßte einfach nicht zusammen - wie Scully die Sache auch sehen mochte.
Steve war unsicher, wie er fortfahren sollte. Aber jetzt würde sowieso alles ans Licht kommen ...
„Der Glaube an Geister und Hexen regiert Goldas Leben. Sie spuckt aus, wann immer jemand etwas Nettes über die Kinder sagt ... Als sie bei uns einzog, hat sie erstmal heißes Wasser über die Türschwelle gegossen, um Dämonen abzuwehren; den Kindern band sie rote Schnüre um die Handgelenke. Einmal habe ich sie dabei erwischt, wie sie Hühnerinnereien aufs Dach warf. Und Teddy und Charlie wurden dauernd krank ..."
„Und Sie verdächtigen Golda?" fragte Scully, um ihn dazu zu bewegen, laut auszusprechen, was er ganz offensichtlich dachte.
„Sie sagt Charlie immer wieder ins Gesicht, er wäre böse. Aber gleichzeitig liebt sie ihn abgöttisch. So, als hätte sie Angst um ihn."
„Um ihn oder vor ihm?" warf Mulder
ein.
„Ich weiß es nicht ..."
Scully wählte diesen Moment, um die Frage zu stellen, die sie sich für den psychologisch richtigen Augenblick aufgehoben hatte.
„Sagt Ihnen der Begriff 'Münchhausen-Syndrom' etwas, Mr. Holvey?"
Der schockierte Ausdruck auf Steves Gesicht verriet, daß er wußte, was das Münchhausen-Syndrom war und seine nächsten Worte bestätigten es.
„Wollen Sie uns der Kindesmißhandlung
beschuldigen?"
„Teddys Krankenakten haben einige Fragen aufgeworfen", erklärte
Scully. Es war nicht zu übersehen, daß sie in der Tat den Verdacht
hatte, daß irgend jemand sich der Kindesmißhandlung schuldig
gemacht hatte.
Steve senkte den Blick auf seinen Schreibtisch und rang mit etwas, das er sich nicht einmal selbst eingestehen, geschweige denn offen aussprechen wollte.
„Ich könnte das niemals zu Maggie sagen", sagte er stockend. „Aber ich habe mich gefragt, ob es nicht Golda war, die sich hineingeschlichen und Teddy aus dem Waschraum gelassen hat."
„Ich würde gern Ihren Sohn Charlie befragen", sagte Scully, während sie sich vorbeugte und Steve eine Visitenkarte reichte. „In Begleitung einer Kinderpsychologin."
Steve nahm die Karte und überflog die Aufschrift: „Karen F. Kosseff, staatlich geprüfte Sozialpsychologin, Federal Bureau of Investigation".
„Oh Mann", sagte er mit einem furchtsamen Zittern in der Stimme. „Das wird aber nicht leicht."
Charlie saß an dem blau gekachelten Tisch in der Küche und sah seiner Großmutter zu, die in einem Topf mit Dosenspaghetti, der auf dem Herd stand, herumrührte. Seine Eltern stritten im Wohnzimmer, doch er ließ sich nicht anmerken, ob er sie hörte. Man konnte unmöglich sagen, was in seinem Kopf vor sich ging.
Mulder jedoch hörte seinen Eltern zu; er stand im Durchgang, um gleichzeitig den Jungen im Auge behalten zu können. Scully hörte ebenfalls zu, doch sie behielt die alte Frau im Auge. Ihrer Meinung zufolge war die Großmutter immer noch die Hauptverdächtige. Steves Äußerungen im Außenministerium hatten ihren Argwohn nur verstärkt.