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Die Holveys wohnten in einem großen Haus im Kolonialstil in Arlington, Virginia; ein weißes Haus inmitten eines gepflegten Gartens mit Rasen, Bäumen und Hecken.
Aus einem der oberen Fenster spähte eine alte Frau, deren strenges Gesicht von einem schwarzen Wollschal wie von einer Kapuze umrahmt wurde. Ihr Blick war durch ein rechteckiges Glasmosaik am Fenster halb verdeckt. Es war kunstvoll aus rot und golden gefärbtem Glas zusammengefugt und zeigte im Zentrum ein umgekehrtes Hakenkreuz mit einem Punkt in jeder Speiche.
Die alte Frau sah aus wie eine Bäuerin aus der Alten Welt, aus irgendeinem entlegenen Dorf in Mitteleuropa. Sie schien die Härte des Lebens kennengelernt zu haben, und vielleicht auch allerhand Böses. Sie war die perfekte Statistin für einen Horrorfilm.
Sie beobachtete vom Fenster aus, wie ein Wagen durch die Einfahrt rollte und vor dem Haus parkte. Die beiden Insassen stiegen aus. Ein Mann und eine Frau, er im Anzug, sie im Kostüm, darüber lange Wintermäntel. Sie hatten diese undefinierbare Ausstrahlung, die verriet, daß sie entweder von der Polizei oder von der Regierung kamen.
Die alte Frau wußte, daß sie nicht verstehen würden. Sie wandte sich ab und verschwand in der Dunkelheit ihres Zimmers.
Mulder und Scully gingen auf das Haus zu, ohne zu ahnen, daß sie beobachtet, beurteilt - und für unzulänglich befunden wurden. Sie traten an die Tür und klopften.
Es war dämmrig im Wohnzimmer der Holveys, trotz des warmen, roten Feuerscheins und der Lampen zu beiden Seiten des Kamins. Steve und Maggie Holvey saßen Mulder unbehaglich auf ihrem Sofa gegenüber, während Scully in der Nähe der Tür stand und ihre Aufmerksamkeit halb auf die Vorgänge außerhalb des Raumes richtete. Die beiden FBI-Agenten hatten ihre Mäntel anbehalten, vielleicht, weil sie eine unerklärliche Kälte verspürten. Die Holveys schienen davon nichts zu bemerken.
Maggie Holvey war sichtlich verunsichert und
verwirrt über den Besuch der Agenten.
„Ich verstehe nicht ganz. Es hat doch schon eine amtliche
Untersuchung gegeben", sagte sie.
„Wir sind unabhängig von dieser Untersuchung hier", erklärte Mulder, wachsam wie immer, und beobachtete die beiden ebenso aufmerksam, wie er ihren Antworten lauschte. „Wir haben Grund zu der Annahme, daß vielleicht etwas übersehen wurde."
„Was denn?" fragte Maggie verwirrt und immer
noch widerstrebend.
Mulder gab sich keine Mühe, zu beschönigen, was er zu sagen
hatte.
„Die Möglichkeit, daß jemand Teddy auf die Schienen geholfen
hat."
„Oh, mein Gott", schluckte Maggie, die aussah, als sähe sie in diesem Augenblick wieder Teddys leblosen Körper auf den Schienen liegen. Steve beugte sich zu ihr hinüber und streckte tröstend seine Hand nach ihr aus.
„Es gab über hundert Zeugen", sagte er mit Nachdruck. „Wir haben Teddy selbst gesehen ..."
Während er sprach, loderte plötzlich das Kaminfeuer auf, so daß die Flammen auf das Doppelte ihrer Höhe anwuchsen - genau in dem Augenblick, als Charlie lautlos in der Tür erschien. Mulder bemerkte seine Anwesenheit und machte Scully mit einem leichten Nicken auf ihn aufmerksam. Sie sah ebenfalls hin, doch der Junge verzog sich sofort in die Diele.
Kaum war er fort, sanken die Flammen wieder herab.
Steve hatte nichts bemerkt und redete einfach weiter. „Er jagte hinter einem Ballon her. Es war niemand sonst in der Nähe. Es war ein schrecklicher Unfall. Aber es war wirklich nichts weiter ..."
„Könnten Sie sich vorstellen, daß irgend jemand Teddy etwas zuleide tun wollte?" fragte Mulder. „Er war doch nur ein kleiner Junge", sagte Maggie. „Wer sollte ihm etwas antun wollen?"
Scully hörte ihre Antwort, während sie aus dem Zimmer ging, um Charlie zu folgen. Sie bog um den Türrahmen und sah ihn auf halber Treppe neben einer alten Dame stehen, die murmelnd auf ihn einredete und ihm mit einem roten Stift etwas auf den Handrücken zeichnete.
Scully registrierte nüchtern, was vor sich ging, und bemerkte auch die rote Schnur, die der Junge um das Handgelenk trug. Dann drehte sie sich um und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Eltern zu, um das Gespräch weiter zu verfolgen. Fragen kamen ihr in den Sinn, und die Richtung, in der ihre Gedanken sich bewegten, gefiel ihr nicht.
„Hören Sie, ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen", sagte Steve gerade. „Wir haben Teddy geliebt. Wenn Sie andeuten wollen, das hier wäre so ein Fall wie bei dieser Frau, die ihre Kinder in einem See ertränkt hat - dann liegen Sie völlig falsch."
„Mrs. Holvey, haben Sie irgend etwas gehört, bevor Teddy aus dem Waschraum verschwand?" fragte Mulder.
„Das habe ich doch schon bei der Untersuchung gesagt. Ich habe nichts gehört."
Scully trat weiter ins Zimmer hinein und stellte ihre erste Frage. Sie zeigte den Holvey s nicht, was sie fühlte, aber Mulder erkannte mit einem Blick, daß ihr der Fall naheging.
„Mrs. Holvey, hatten Sie zum Zeitpunkt des Unfalls irgendwelche Hausangestellten?" fragte sie. „Nein. Meine Mutter ist zu uns gezogen, als Teddy geboren wurde."
Mulder meldete sich zu Wort und folgte seinem eigenen Gedankengang - einem Gedankengang, der zu den X-Akten paßte.
„Ist Ihnen zur Zeit von Teddys Tod irgend etwas Merkwürdiges im Haus aufgefallen? Daß sich Dinge von selbst bewegten? Oder daß merkwürdige Gegenstände aus dem Nichts auftauchten? Irgend etwas wie -" Er wurde unterbrochen, als plötzlich ein schrilles Pfeifen durch das ganze Haus schrillte. Steve Holvey sprang wie angestochen auf und eilte aus dem Zimmer.
„Das ist dieser verdammte Rauchmelder. Ich bin gleich wieder da."
Wenige Sekunden später brach das Pfeifen des Rauchmelders ab - und plötzlich gingen alle Lichter aus, so daß nur noch die rote Glut des Feuers die Dunkelheit spärlich erhellte.
„Passiert das öfter?" fragte Mulder und beugte sich vor, um Maggie anzusehen, deren Gesicht zur Hälfte vom flackernden Licht der Flammen beleuchtet wurde und zur anderen Hälfte im Schatten lag. „Es ist ein altes Haus", sagte sie achselzuckend. „Die Leitungen taugen nicht mehr viel." Dann ging das Licht wieder an - und offenbarte, daß die alte Frau mitten im Zimmer stand und Charlie an der Hand hielt.
„Es ist der Teufel! Der Teufel!" zeterte die Frau auf rumänisch.
„Mutter, es war nur ein falscher Alarm", versuchte Maggie sie auf Englisch zu beruhigen. Sie hoffte, daß die FBI-Agenten die Sprache der Alten, ihre wilden Anschuldigungen nicht verstanden ...
„Der Junge ist böse! Böse!" fuhr die alte Frau auf rumänisch fort. Eine hart klingende Sprache, fremdartig für Mulder und Scully, die sie verblüfft anstarrten. Mulder prägte sich wie immer alle Einzelheiten an ihr und dem Jungen ein; einschließlich des umgekehrten Hakenkreuzes mit den vier Punkten, das in roter Farbe auf den Handrücken des Jungen gezeichnet war.
„Mutter!" rief Maggie energisch.
„Was hat sie gesagt?" fragte Scully, als Steve ins Zimmer kam und ein Gesicht machte, als sei der Ausbruch seiner Schwiegermutter das Letzte, das ihm zu allem anderen noch gefehlt hatte.
„Maggie!" beschwor Steve seine Frau, ihrer Mutter Einhalt zu gebieten. Aber die alte Frau ließ sich nicht aufhalten. Sie fiel in gebrochenes Englisch und verkündete: „Du hast Teufel geheiratet, nun hast du des Teufels Kind!"
Nach diesen Worten drehte sie sich um und führte Charlie hinaus. Die beiden FBI-Agenten und die entnervten Eheleute sahen ihr, eingehüllt in peinliches Schweigen, nach.
„Es tut mir leid", sagte Steve schließlich.