20. Kapitel

Bevor ich nächste Woche mit Nils zu seiner Abschlussveranstaltung nach Hannover fahre, steht in Hamburg noch ein immens wichtiger Termin an: unsere Präsentation beim Weidner-Verlag, mit der Susanne sich nach unserer erfolgreichen Vermarktung der Baggerbibel einen Großteil des Presseetats sichern will.

Zwei Tage verbringe ich damit, unterstützt von Tom an ebendieser Präsentation für den Weidner-Verlag zu arbeiten, und gleich werde ich erfahren, ob sie uns gelungen ist. Natürlich hoffe ich es sehr, denn Susanne hat mir gestern in einem Vieraugengespräch noch einmal klargemacht, dass wir den Auftrag wirklich brauchen.

Ich gebe zu: Ich bin aufgeregt. Und zwar mehr als sonst. Es ist nicht einfach das normale Lampenfieber vor einer Präsentation. Ich frage mich, ob das auch daran liegt, dass ich mich seit dem Geständnis von Nils tendenziell selbst wie eine Betrügerin fühle. Natürlich, ich habe ihm versprochen zu schweigen. Aber wenn man im Weidner-Verlag wüsste, wie das Buch wirklich zustande gekommen ist, wäre man wohl kaum begeistert. Und wahrscheinlich würde man erwarten, von der betreuenden Agentur über dieses nicht ganz unwesentliche Detail informiert zu werden. Erst recht, wenn man als Verlag kurz davor steht, besagter Agentur als Nächstes einen Großteil des Presseetats anzutragen.

Trotzdem versuche ich, nach außen die Ruhe selbst auszustrahlen – schon allein deshalb, weil Tom neben mir sitzt und es mir unangenehm wäre, vor ihm wie ein aufgescheuchtes Huhn herumzuzappeln. Heute Morgen habe ich schließlich noch die toughe Geschäftsfrau gegeben und ihn ob seiner großen Aufregung, endlich mal zu einem wichtigen Termin mitkommen zu dürfen, belächelt. Aber das ist schon zwei Stunden her. Jetzt fahren wir im Taxi mit Susanne in Richtung Verlag, nur ein kurzes Stück noch, dann sind wir da. Meine Chefin dreht sich zu uns um.

»Salchow wollte es mir gestern am Telefon nicht verraten, aber die Zahlen von Dwaine müssen sensationell sein. Endlich war der Mann mal richtig gut gelaunt – vielleicht kann er sich jetzt doch mit dem Gedanken an eine dauerhafte Zusammenarbeit mit uns anfreunden. Das ist für uns natürlich eine Steilvorlage. Also, wenn wir den Etat gewinnen, habt ihr beide eine Flasche Schampus bei mir gut!«

Tom beugt sich zu mir vor und flüstert mir ins Ohr: »Ich finde nicht, dass das ein gutes Angebot ist. Da sollten wir dringend noch einmal nachverhandeln!« Ich nicke. Susanne beobachtet das irritiert.

»He! Wer flüstert, der lügt! Was gibt’s zu tuscheln?«

»Nichts, nichts, Chefin«, lacht Tom, »wir besprechen nur noch einmal unsere Taktik.«

»Darüber sollten Sie sich nicht zu viele Gedanken machen, Tom«, bescheidet sie ihm freundlich. »Präsentieren Sie einfach so locker, wie Sie das eben bei mir im Konfi gemacht haben, dann wird das schon. Übrigens ein großes Lob: Die Präsentation sieht wirklich gut aus. Also entweder haben Sie dafür das richtige Händchen oder eine Topausbilderin. Oder beides.«

»Tom hat das ganz prima alleine hinbekommen, ich musste nur ab und zu eine Hilfestellung geben.« Tatsächlich war ich selbst ein bisschen überrascht, wie gut Tom seinen Teil der Präsentation vorbereitet hatte. Er wollte zuerst gar nichts sagen, aber Susanne und ich waren der Meinung, dass er den Teil des Konzepts, der überwiegend auf seinen Ideen beruht, auch ruhig selbst vortragen könne.

Im Verlag angekommen, holt uns Herr Salchow höchstpersönlich am Empfang ab. Das ist ein Novum, und ich versuche, das als gutes Omen zu werten.

»Kommen Sie, Sie lernen jetzt den schönsten Raum des gesamten Gebäudes kennen. Herr Weidner hat extra den Raum Elbe reservieren lassen. Er liegt im obersten Stockwerk und hat wirklich eine fantastische Aussicht.« Offensichtlich sind wir in der internen Agenturhierarchie deutlich aufgestiegen; die letzten Besprechungen fanden alle noch im dritten Stock statt.

Salchow hat nicht zu viel versprochen, der große Konferenzraum macht seinem Namen alle Ehre: Als wir ihn betreten, bin ich schon ein bisschen beeindruckt. Die Längsseite ist eine einzige, riesige Fensterfront, durch die man direkt auf die Elbe schaut. Von hier oben im sechzehnten Stock hat man einen freien Blick von den alten Landungsbrücken bis zur neu entstehenden Hafencity – es ist wirklich sehr eindrucksvoll.

In der Mitte des Raumes steht ein langer Tisch, auf ihm hat eine gute Seele Konferenzgetränke, Kekse und Obst plaziert. Beim Anblick der kunstvoll drapierten Erdbeeren und Weintrauben fängt mein Magen an zu knurren – leider haben wir es vor dem Termin nicht mehr geschafft, essen zu gehen. Meine gute Erziehung hält mich allerdings davon ab, hier sofort zuzulangen. Dieses Meeting ist zu wichtig, um gleich zu Beginn durch Verfressenheit aufzufallen.

Weidner senior steht bereits am Kopfende des Tisches. Als er uns sieht, kommt er auf uns zu und streckt Susanne die Hand entgegen.

»Frau Becelius, schön, dass Sie da sind! Ich bin schon sehr gespannt auf Ihre Vorschläge. Unserem Herrn Bosworth haben Sie ja ganz schön auf die Sprünge geholfen.« Dann schaut er an ihr vorbei und entdeckt mich und Tom.

»Sie sind die verantwortliche Projektleiterin, nicht wahr? Wie war noch gleich Ihr Name?«

»Seefeld«, helfe ich ihm auf die Sprünge.

»Aber natürlich. Also, Frau Seefeld, auch Ihnen ein herzliches Willkommen. Sehr gute Arbeit bisher! Und dann haben Sie noch meinen Filius mitgebracht. Hallo Thomas, als Praktikant bei so einer wichtigen Besprechung, das ist doch schön, oder?« Der Ton, in dem er Tom begrüßt, lässt mich kurz zusammenzucken. Er ist irgendwie – eiskalt.

»Guten Tag, Vater«, erwidert Tom sehr förmlich. »Ich bin übrigens Volontär, nicht Praktikant.«

»Volontär, Praktikant – tut mir leid, ich kann mir langsam wirklich nicht mehr merken, was du gerade so tust und treibst. Immerhin scheinst du diesmal ein bisschen länger bei der Sache zu bleiben. Dann war meine Idee, dich bei Frau Becelius unterzubringen, wohl doch nicht so schlecht.« Er dreht sich um, lässt Tom einfach stehen und setzt sich auf seinen Platz. Zwei Sachen stehen jetzt schon fest: Erstens – vielleicht ist das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir doch nicht so schlecht. Zweitens – vielleicht war die Idee, Tom mitzunehmen, nicht meine beste. Ich schaue zu ihm hinüber: Er hat die Lippen aufeinandergepresst und sieht auf einmal sehr blass aus.

»Komm«, ich zupfe ihn am Ärmel, »lass dich davon nicht irritieren. Hilf mir lieber, Laptop und Beamer aufzubauen und hier unsere große Show abzuziehen.« Tom nickt, sieht aber nicht besonders überzeugt aus. Susanne, die dem kurzen Scharmützel mit der ihr eigenen Art keinerlei Beachtung geschenkt hat, unterhält sich derweil angeregt mit Salchow und schildert ihm noch mal in den glühendsten Farben, wie sensationell Dwaines Tournee läuft. Man könnte wirklich meinen, sie sei selbst dabei gewesen. Salchow guckt sie beeindruckt an.

Als Tom Beamer und Laptop verkabelt hat und ich überprüft habe, dass die Technik läuft, gebe ich Susanne ein Zeichen. Sie wendet sich daraufhin strahlend an Weidner senior.

»Also, wir wären dann so weit. Es kann losgehen.«

Salchow setzt sich neben den Verleger, und Susanne beginnt mit ein paar einführenden Worten.

»Maximal-PR hatte in den vergangenen Wochen die Gelegenheit, den Weidner-Verlag bei der Pressearbeit zu unterstützen und neue Wege in der Kommunikation aufzuzeigen. Die bisherigen PR-Maßnahmen für das Buch Ich kann sie alle haben sind als überaus erfolgreich zu bezeichnen. Dabei haben wir von Anfang an auf drei verschiedene Instrumente gesetzt: klassische Pressearbeit, Vor-Ort-Veranstaltungen und Internetmarketing. Diese drei Bausteine schlagen wir auch für zukünftige Projekte vor. Im Detail werden Ihnen dies Frau Seefeld und Herr Weidner erörtern.«

Ich stehe auf und stelle mich neben die Leinwand, auf die der Beamer die Folien unserer Präsentation projiziert. »Vielen Dank, Susanne. Ich möchte Ihnen zunächst noch einmal die Ergebnisse unserer klassischen Pressearbeit in Erinnerung rufen.« Diesen Teil der Präsentation kann man getrost als Leistungsschau bezeichnen. Artikel über Dwaine und das Buch werden eingeblendet, die Auftritte im Fernsehen werden eingespielt. Danach gehe ich noch mal auf unser Veranstaltungskonzept ein, eingerahmt von Fotos, die Tom an den jeweiligen Abenden gemacht hat. Schließlich zeige ich ein Diagramm, das die stetig ansteigenden Zuschauerzahlen auf den Lesungen verdeutlicht – an dem breiten Lächeln von Salchow und Weidner kann ich sehen, dass mein Vortrag sehr gut ankommt. Ich erläutere, dass dieses Konzept auch bei anderen Büchern sehr erfolgversprechend ist, und erkläre, wie wir Veranstaltungen unter dem Motto Show statt Lesung anbieten würden. Weidner und Salchow nicken begeistert. Okay, dieser Teil der Präsentation kommt offensichtlich sehr gut an. Trotzdem übergebe ich mit einem etwas mulmigen Gefühl an Tom. Ich hoffe, dass er seinen Part jetzt professionell durchzieht und durch den Vorfall mit seinem Vater nicht völlig aus dem Konzept gekommen ist. Als ich mit ihm den Platz tausche, lächle ich ihm aufmunternd zu. Zumindest äußerlich wirkt er ganz gelassen.

»Da es sich beim Internetmarketing für den Weidner-Verlag noch um ein relativ neues Instrument handelt, möchte ich zu Beginn ein paar allgemeine Worte zu seiner Anwendung und Bedeutung sagen und diese auch am Bespiel unserer Kampagne für Ich kann sie alle haben erläutern«, beginnt er mit souveräner Stimme. Ich bin richtig stolz auf ihn und lehne mich entspannt in meinem Stuhl zurück. Wenn er so cool und professionell bleibt, kann nichts mehr schiefgehen. »Es wurden ja im Verlauf der Umsetzung dieses Instruments – beispielsweise auf der Internetplattform Facebook – Zweifel Ihrerseits geäußert, ob der direkte Kontakt und Austausch mit Lesern dem Absatz wirklich förderlich sei. Ich habe hier mal ein paar Zahlen aufbereitet, die belegen …«

Noch bevor Tom seinen Satz beenden kann, fällt ihm sein Vater schon ins Wort. »Wusste ich doch, dass du für diesen Internet-Schwachsinn verantwortlich bist. Herr Salchow hat mir schon davon erzählt. Hatte mir auch gar nicht recht vorstellen können, dass eine angesehene Agentur wie Maximal-PR mit solchen abstrusen Ideen ankommt.«

»Also, Moment mal«, mische ich mich ein. Obwohl das hier ganz offensichtlich ein ungelöster Vater-Sohn-Konflikt ist, den wir heute mit Sicherheit nicht aus der Welt schaffen werden, kann das wohl kaum unwidersprochen bleiben. »Natürlich war die Grundidee von Ihrem Sohn, aber Frau Becelius und ich waren von Anfang an begeistert von diesem Ansatz und sind es noch. Sehen Sie doch mal, wie viele Menschen sich schon auf der Seite von Dwaine Bosworth eingetragen haben – über viertausend! Das ist ein gigantisches Ergebnis.« Ich stehe auf und trete neben Tom. »Es sollte auch nicht unerwähnt bleiben, dass unserem Autor dadurch keine Zusatzarbeit entstanden ist, das hat Tom Weidner für ihn vorbereitet und sich tiefer in die Materie eingearbeitet, als es manchem erfahrenen PR-Profi möglich gewesen wäre. Und was den Nutzen angeht, nun, der ist doch offensichtlich.« Ich strahle Weidner senior an, um ihm klarzumachen, dass er und ich im selben Boot sitzen. »Immer, wenn Dwaine beziehungsweise Tom jetzt etwas Neues schreibt, sehen das all diese Fans, sobald sie sich auf Facebook anmelden. Das ist doch toll!«

»Wirklich, Frau Seefeld, das ist ja ganz rührend, wie Sie meinem Sohn hier zu Hilfe eilen. Aber das ist wirklich nicht nötig. Glauben Sie mir, Sie müssen ihn nicht verteidigen, nur weil er mein Sohn ist.« Weidner senior schnaubt verächtlich. »Ich bin durchaus selbstkritisch genug, um einzusehen, wenn Thomas mal wieder Mist gemacht hat.«

Susanne und ich schnappen synchron nach Luft, Tom sagt gar nichts mehr. Es ist wirklich nicht zu fassen! »Herr Weidner, wenn ich den Eindruck gehabt hätte, dass sich die Idee von Thomas nicht umsetzen lässt, hätte ich es auch nicht getan«, meldet sich Susanne zu Wort. »Sie können mir als Beraterin durchaus so viel Selbstbewusstsein zugestehen, dass ich Kunden von unsinnigen Manövern abhalte. Es geht bei jeder Kampagne schließlich auch um den Ruf der Agentur.«

»Ach, und das Geschreibsel dieses Fred Frauenverstehers war dann in Ihren Augen gut für die Verkäufe?«, will Salchow wissen.

»Natürlich. Und das habe ich Ihnen auch schon auseinandergesetzt. Eine zu glatte Präsentation in den Social Networks ist langweilig. Nur durch die lebhafte, kontroverse Diskussion laden wir Leute dazu ein, länger auf der Seite zu bleiben.« Susanne bleibt ganz ruhig, aber ich kenne sie ja schon ein paar Jährchen und weiß, dass sie innerlich kocht. »Ich schlage also vor, dass wir uns die Ausführungen meines Mitarbeiters einfach in Ruhe anhören und wir alle Fragen dazu im Anschluss klären.«

Klasse, Susanne, gib’s ihm, möchte ich am liebsten rufen. Doch bevor ich zu dieser oder einer ähnlichen Äußerung ansetzen kann, ergreift Tom das Wort.

»Danke, Frau Becelius. Das ist nett, dass Sie für mich eine Lanze brechen. Aber ich gehe jetzt lieber. Offenbar ist es den Herren nicht recht, hier mit meinen Vorschlägen behelligt zu werden. Für mich ist das Volontariat und alles, was ich bei Ihnen und Frau Seefeld lernen darf, eine große Chance – aber für meinen Vater nur wieder eins von seinen Machtspielchen. Darunter sollte Ihre hervorragende Präsentation nun aber nicht leiden.« Dann nimmt er die Kuriertasche, die neben seinem Sitz liegt, und geht ohne ein weiteres Wort und ohne sich noch einmal umzusehen aus dem Raum. Weidner senior springt von seinem Platz auf.

»Thomas, komm sofort zurück! Was fällt dir ein? Thomas!« Er ist völlig außer sich und kann offenbar nicht fassen, dass sein dreißigjähriger Sohn beschlossen hat, sich nicht mehr wie ein Schuljunge behandeln zu lassen. Natürlich kommt Tom nicht zurück, und das freut mich wirklich. Ich fühle mich Tom gerade in innigster Solidarität verbunden. Kinder nerviger Eltern müssen doch zusammenhalten. Wobei dieser Gedanke meiner Mutter schwer unrecht tut. Sie ist anstrengend, aber bösartig ist sie nicht.

Susanne und ich sagen erst einmal nichts, und selbst Herr Salchow blickt betreten zu Boden. Nach einer gefühlten Ewigkeit räuspert er sich. »Tja, meine Damen. Ich würde vorschlagen, dass wir vielleicht da weitermachen, wo wir eben stehengeblieben sind? Ich würde sehr gerne noch Ihre Vorschläge für unser nächstes Programm hören.«

Susanne nickt, ganz die kühle Businessfrau. »Sicher. Herr Weidner junior hatte allerdings zum Thema Internetmarketing noch eine ganze Reihe erfolgversprechender und innovativer Vorschläge vorbereitet. Die finden Sie im Handout zur Präsentation, und ich möchte Sie wirklich bitten, sie sich nachher noch einmal in Ruhe anzuschauen.« Sie bückt sich und zieht zwei schmale Hefte mit Spiralbindung aus der Tasche. Weidner greift nach einem, dann steht er auf.

»Ich würde mich gerne für heute entschuldigen. Besprechen Sie doch den Rest mit Herrn Salchow, er wird mich auf dem Laufenden halten.« Er reicht über den Tisch erst Susanne die Hand, dann mir. »Und verzeihen Sie bitte den ungewöhnlichen Verlauf dieses Treffens. Es ist mir wirklich sehr unangenehm.«

»Keine Ursache.« Susanne lächelt ihn so freundlich an, als wäre nichts passiert, obwohl sie vermutlich genau wie ich gerade denkt: Recht geschieht es dir!

Nachdem dann auch der zweite Weidner den Raum verlassen hat, verbringen meine Chefin und ich die nächste halbe Stunde damit, Salchow unsere weiteren Ideen vorzustellen. Allerdings sind wir alle nicht mehr so recht bei der Sache, die Atmosphäre ist mittlerweile zäh wie Kaugummi, und als Susanne die letzte Folie aufruft, bin ich wirklich froh, dass die Veranstaltung endlich vorbei ist. Fünf weitere Minuten brauchen wir dafür, uns wortreich, aber inhaltslos zu verabschieden. Dann sind wir draußen. Puh! Geschafft.

»Was war denn das gerade für eine Vorstellung?«, fragt Susanne, als wir im Taxi sitzen. Und auch als wir wieder in der Agentur ankommen, ist sie immer noch fassungslos. Mir geht es nicht anders. »So etwas habe ich ja noch nie erlebt. Stellt seinen eigenen Sohn aber so was von in den Senkel, unglaublich!« Sie sieht mich prüfend an. »Wusstest du, dass die beiden so ein schlechtes Verhältnis haben?«

Ich schüttle den Kopf. »Natürlich nicht. Sonst hätte ich wohl kaum vorgeschlagen, dass Tom uns begleitet. Ich dachte vielmehr, es wäre eine gute Gelegenheit, Weidner senior mal zu zeigen, was er schon alles bei uns macht. Und dann das!«

»Gott, Tom tut mir wahnsinnig leid.« Susanne ist eine berechnende Geschäftsfrau, für die Befindlichkeiten ihrer Mitmenschen hat sie meistens keine besonders sensiblen Antennen – aber wenn es wirklich darauf ankommt, kann man sich immer auf sie verlassen. »Ich hoffe, wir bekommen ihn wieder aufgerichtet. Und dann müssen wir ihn dringend von dem Projekt abziehen. Das geht ja gar nicht! Es ist, denke ich, für alle Beteiligten besser, wenn er ab sofort Henning zuarbeitet. Klar, natürlich habe ich ihn ursprünglich nur wegen seines Alten eingestellt, aber ich finde, er hat sich sehr gut gemacht, oder?«

»Ja, das hat er wirklich. Mann, das ist mir alles so unangenehm.«

Susanne seufzt. »Ich hoffe natürlich, dass damit nicht gerade das ganze Projekt baden gegangen ist. Wäre echt zu ärgerlich.« Damit hat sie natürlich recht, aber wenn ich ehrlich bin, hat meine Motivation, mich für den alten Weidner so richtig ins Zeug zu legen, gerade einen empfindlichen Dämpfer erhalten.

»Ich gehe mal zu Tom rüber. Vielleicht hat er Lust, mit mir essen zu gehen.« Tatsächlich hängt mir der Magen schon in den Kniekehlen. Zu den Leuten, denen schlechte Stimmung den Appetit verdirbt, habe ich noch nie gehört.

Im Volontärszimmer gibt es allerdings keine Spur von Tom, in meinem Büro auch nicht. Ich gehe rüber zum Empfang; vielleicht hat er eine Nachricht bei Frau Smit hinterlassen.

»Haben Sie Tom gesehen, Frau Smit?«

Unsere Empfangsdame schaut mich betreten an, greift in ihre Schreibtischschublade und holt etwas hervor, was verdächtig nach einer Magnetkarte für unsere Eingangstür aussieht. Dann fördert sie noch einen verschlossenen Briefumschlag zutage.

»Hier, das hat Herr Weidner vor einer halben Stunde bei mir abgegeben. Dann ist er gegangen.«

Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. »Hat er noch etwas gesagt?«, frage ich erschrocken.

»Nein, leider nicht.« Sie schüttelt den Kopf. »Er schien mir allerdings auch relativ … aufgewühlt. Ja, aufgewühlt beschreibt es am besten.«

Ich nehme den Brief und öffne ihn. Der Text ist denkbar kurz.

Sehr geehrte Frau Becelius,

hiermit mache ich von meinem Sonderkündigungsrecht in der Probezeit Gebrauch und kündige zum Ende dieser Woche.

Mit freundlichen Grüßen

Thomas Weidner

Ich starre auf den Brief und mag es nicht glauben. Keine Erklärung, keine bedauernden Worte, gar nichts? Das trifft mich. Ich verstehe zwar, dass er geknickt und sauer ist, aber deswegen hier gleich alles hinzuschmeißen? Ob er in Wirklichkeit nur einen Grund gesucht hat, um zu gehen? Aber warum? Bis heute Morgen schien er sehr zufrieden.

Ich stecke sein Schreiben ein und gehe zu Susanne zurück. »Hier, lies mal.« Ich reiche ihr den Brief. »Tom hat gekündigt. Und zwar zu sofort.«

»Bitte? Das ist nun doch überraschend.« Susanne nimmt das Blatt und liest es sich durch. »Hmmm … Und auch ein bisschen kindisch. Kannst du das bitte mit ihm klären?«

»Ja, ich werde auf alle Fälle noch mal mit ihm sprechen. Ich meine, das war heute echt nicht schön für ihn, aber gleich zu kündigen finde ich schwer übertrieben. Ich rufe ihn mal an.«


Tom hat sein Handy ausgeschaltet – ich erwische nur die Mailbox. Und zwar sowohl bevor ich mir eine Pizza hole als auch nachdem ich sie gegessen habe. Offensichtlich will er mit niemandem sprechen. Ich überlege kurz, ob ich nach Feierabend zu ihm fahren soll, verwerfe den Gedanken aber wieder. Zum einen weiß ich gar nicht, wo er wohnt, und obwohl ich mir seine Adresse natürlich aus der Personalakte fischen könnte, will ich eigentlich nicht uneingeladen bei ihm aufkreuzen. Also vertraue ich darauf, dass er sich noch einmal von selbst melden wird, wenn er sich wieder beruhigt hat. Dann kann ich immer noch in Ruhe mit ihm sprechen.

Sahnehäubchen: Roman
titlepage.xhtml
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_000.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_001.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_002.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_003.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_004.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_005.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_006.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_007.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_008.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_009.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_010.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_011.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_012.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_013.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_014.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_015.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_016.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_017.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_018.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_019.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_020.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_021.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_022.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_023.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_024.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_025.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_026.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_027.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_028.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_029.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_030.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_031.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_032.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_033.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_034.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_035.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_036.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_037.html
CR!JGY6RM54013SQBREJ2RXVB8MYK0Y_split_038.html