13. Kapitel

Das Gemeindezentrum von Üxleben im Westharz ist normalerweise wohl kein Ort überschäumender Lebensfreude, noch eine Stätte hysterischer Massenekstase. Der schlichte Zweckbau aus den mutmaßlich siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bietet mit seiner Mischung aus Waschbeton und Glasbausteinen vermutlich eher den beschaulichen Sitzungen von Gemeinderat und Schulausschuss eine Heimstatt.

Heute Abend aber ist das definitiv anders: Als ich eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn zusammen mit Tom eintrudele, um ein wenig Smalltalk mit dem Buchhändler zu pflegen und zu kontrollieren, ob die notwendige Technik auch funktioniert, hat sich an den Türen zur Eingangshalle bereits eine Menschentraube gebildet. In der Luft liegt eine Stimmung, die sich irgendwo zwischen aufgekratzt und aggressiv bewegt. Aber nicht nur Stimmung liegt in der Luft – unverkennbar wabert auch der Geruch von Alkohol über den Köpfen der rund hundert Männer auf dem Vorplatz vor dem Zentrum. Hm, lecker, denke ich ironisch. Das kann ja ein toller Abend werden.

Ich klopfe an die gläserne Eingangstür, die Buchhändlerin sieht uns und schließt auf. Kaum stehen wir neben ihr, schließt sie die Türe hinter uns sehr hektisch wieder zu. Eindeutig: Die Frau ist nervös. Vorfreude auf eine gutbesuchte Veranstaltung?

»Hallo! Wir sind Nina Seefeld und Tom Weidner von Maximal-PR. Wir betreuen Herrn Bosworth«, stelle ich uns kurz vor. »Ich glaube, wir hatten telefoniert.« Die Buchhändlerin nickt uns kurz zu.

»Ich bin Sonja Meier von der Gilde Buchhandlung. Schön, dass Sie schon da sind – und dass Sie einen männlichen Kollegen mitgebracht haben, Frau Seefeld. Ich finde es hier nämlich gerade ein bisschen gruselig. Also, nicht dass Sie mich falsch verstehen – wir sind natürlich glücklich, dass wir so viele Karten verkauft haben. Aber in der Regel haben wir ein etwas anderes Publikum.« Sie deutet mit der Hand nach draußen.

»Na ja, das sind vielleicht nicht alles Günter-Grass-Leser«, räumt Tom ein, »aber es ist doch auch schön, wenn man das Kulturgut Buch auch weiten Bevölkerungsschichten …« In diesem Moment fliegt eine leere Bierflasche in unsere Richtung und zerschellt an der Eingangstür. Offenbar haben die Üxlebener ihrem schönen Gemeindezentrum Sicherheitsglas gegönnt. Durch das Glas dringt ein dumpfes Grölen. »He, ihr Weiber, was wollt ihr hier? Ist nur für Männer heute Abend – ihr geht wohl besser!« Gelächter der Umstehenden.

Tom räuspert sich. »Ja, da sind doch einige vor Vorfreude schon außer Rand und Band. Ihr entschuldigt mich mal kurz?« Er dreht den Schlüssel an der Tür um und springt mit einem Satz auf den Vorplatz, genau dorthin, von wo die Flasche geflogen kam. Die drei Männer, die eben noch feixend dastanden und sich ob der gelungenen Aktion die Hände rieben, schauen überrascht und machen einen Schritt zurück. Gedämpft, aber deutlich hören wir, wie sich Tom die mutmaßlichen Werfer zur Brust nimmt.

»Passt mal auf, ihr Honks – noch so eine Aktion und die Bullen rücken an. Dann könnt ihr euch Dwaines Buch ganz in Ruhe und mit viel Zeit im Polizeigewahrsam durchlesen. Übrigens handelt seine Masche davon, Frauen zu beeindrucken und nicht, sie zu verschrecken. Also lasst die Ladys in Ruhe, ihr kommt schon rechtzeitig rein.« Ohne eine Antwort abzuwarten, dreht er sich um und lässt die drei Krawallieros mit offenen Mündern stehen.

»Wow, Tom, du kannst ja richtig energisch sein!«, wundere ich mich. »Nicht, dass ich vor diesen Kapaiken Angst gehabt hätte, aber es ist trotzdem beruhigend zu wissen, dass wir einen starken Mann an unserer Seite haben.«

»Ist das dein Ernst?«, will Tom misstrauisch wissen.

»Natürlich! Ich bin froh, dass du den Idioten gezeigt hast, wo der Hammer hängt.«

»Und ich erst!«, bestätigt die Buchhändlerin und schenkt ihm ein Lächeln. »Und falls es Sie interessiert – ich habe schon ein bisschen Angst vor solchen Typen. Also danke!«

Tom lächelt verlegen, sie strahlt ihn jetzt richtig an.

»Vielleicht könnten wir nach der Veranstaltung ja noch alle zusammen etwas trinken gehen? Was meinen Sie, das wäre doch nett, oder?«, schlägt sie dann vor. Offensichtlich ist an Dwaines These mehr dran, als ich immer wahrhaben will – Frauen stehen auf Alphamännchen.

In diesem Moment fährt sehr langsam eine sehr lange, weiße Limousine vor. Das wirklich sehr, sehr, sehr lange Teil rollt auf die anstehenden Männer zu. Die Menge teilt sich daraufhin und bildet eine Gasse; die Limousine hält direkt vor der Eingangstür, durch die Frau Meier, Tom und ich fassungslos starren.

»Wo hat er denn das Teil her?«, murmelt Tom. »Eine Stretchlimo, ist es zu glauben?«

Die Fahrertür wird geöffnet, ein uniformierter Chauffeur steigt aus und öffnet eine der hinteren Türen. Ein mit Krokoleder beschuhter Fuß schiebt sich durch den Spalt, gefolgt von einem Bein in der bekannten weißen Smokinghose. Zehn Sekunden später steht Dwaine in voller Schönheit neben dem Wagen. Die Menge beginnt zu johlen, einige skandieren sogar: »Dwaine, Dwaine!« Ob er diese Claqueure gemietet hat? Die können unmöglich freiwillig so einen Aufstand machen, nur weil Dwaine seine Männerfibel zum Vortrage bringt!

Der lauthals Gepriesene winkt seinen Fans gönnerhaft zu und sieht in diesem Moment ein bisschen so aus wie Hape Kerkeling als Königin Beatrix. Also, natürlich nicht wie ein Mann, der sich als holländische Monarchin verkleidet hat, aber genauso albern und affektiert in seiner gesamten Gestik.

Frau Meier, die eben noch in einer Art Schockstarre gefangen war, schüttelt sich kurz, dann beeilt sie sich, die Tür wieder aufzuschließen. Dwaines Chauffeur reißt dem großen Meister sofort selbige auf. Er marschiert hindurch und begrüßt mich, indem er mir huldvoll links und rechts ein Küsschen auf die Wange haucht. Tom ignoriert er, vor Frau Meier bleibt er stehen und reicht ihr mit großer Geste die Hand.

»Sie müssen die Buchhändlerin sein. Ich bin Dwaine F. Bosworth, aber nennen Sie mich bitte einfach Dwaine. Ich hoffe, meine Fans haben Sie nicht zu sehr bedrängt. Sie sind manchmal einfach etwas aufgeregt. Ich kenne das schon, es ist gewissermaßen die Kehrseite des Ruhms.«

Pfff! Die Kehrseite des Ruhms! Neulich haben wir uns noch über dreißig Zuhörer in Haselünne gefreut, jetzt tut Monsieur auf einmal so, als ob er auf den großen Bühnen dieser Welt zu Hause sei und es sich bei ihm um die Lichtgestalt der deutschen Selbsthilfeliteratur handele. Frau Meier scheint es aber nicht zu stören, sie schüttelt Dwaine freundlich die Hand.

»Schön, dass Sie gekommen sind. Ich bin schon sehr gespannt auf Ihre Lesung. Ihr Buch war für mich etwas … wie soll ich sagen … gewöhnungsbedürftig. Umso gespannter bin ich jetzt auf Ihre Ausführungen.«

»Das können Sie auch sein. Ich verspreche Ihnen, Sie werden Männer danach mit anderen Augen sehen«, erklärt Dwaine. Was soll ich sagen: Da hat er recht! »So, und jetzt brauche ich noch etwas Ruhe, um mich auf meinen Auftritt vorbereiten zu können.«

»Kein Problem, neben dem Saal gibt es einen kleinen Raum. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.« Dwaine zieht mit der Meier los, ich bleibe zurück mit Tom. Der schüttelt den Kopf.

»Unfassbar! Was war das denn für ein Auftritt? Kehrseite des Ruhms? Der hat sie doch nicht mehr alle. Ich meine – seien wir mal ehrlich: Tausend Fans auf Facebook machen noch keinen Michael Jackson.«

»Na, immerhin lebt Dwaine noch. Das ist doch schon mal was.«

Tom verdreht die Augen. »Und dann mit dieser Ludenschleuder vorzufahren und auf dicke Hose zu machen. Wo hat er die eigentlich her? Mann, der Typ nervt.«

»Schätze mal, er hat sie gemietet. Getreu seinem Motto Sei ein Löwe! War aber schon ein 1-a-Auftritt«, muss ich anerkennen.

»Findest du? Da habe ich ja langsam Sorge, dass an seinem Gefasel über Männer und Frauen wirklich was dran sein könnte, wenn schon so eine intelligente Frau wie du auf eine so derart billige Nummer abfährt.« Tom scheint richtig sauer zu sein.

»He, was ist denn los mit dir? Ich freue mich einfach, dass unsere Idee mit der Tournee mittlerweile richtig gut läuft. Und das ist auch dein Erfolg. Also lass ihn in seiner Limousine vorfahren, wenn ihm das Spaß macht. Hauptsache, er bezahlt das nicht aus unserem Etat.« Ich knuffe Tom in die Seite, der ringt sich ein mühsames Lächeln ab.

»Hast ja recht. Aber als mir Dwaine heute Morgen von eurem wilden Partywochenende erzählt hat, da habe ich mich schon komisch gefühlt. Irgendwie … ausgeschlossen. Mit mir wolltest du nicht mal abends essen gehen. Na ja, nichts für ungut. Du bist die Chefin, und er ist der Star. Also macht mal, wie ihr meint.«

Wildes Partywochenende? Da stellen sich mir doch zwei Fragen. Erstens: Ist Tom eifersüchtig? Zweitens: Was hat Dwaine erzählt? Und warum? Das sind genau genommen schon drei Fragen … und jede der Antworten würde mich brennend interessieren! Aber nun muss ich wohl erst mal Tom trösten, er klingt ziemlich demoralisiert.

»Ach komm – hat dir denn Dwaine wenigstens über das Ende unseres glorreichen Abends berichtet? Und dass er mir so auf die Nerven gegangen ist, dass ich ihm meinen Gin Tonic ins Gesicht schütten und dann die Flucht ergreifen musste?«

Tom schweigt und guckt betreten zu Boden.

»Aha. Also nicht. Dann hole ich das später nach. Nicht, dass es noch heißt, ich sei seinem Charme erlegen. Und jetzt lass uns los – the show must go on.«

Der Gemeindesaal ist wirklich bis auf den letzten Platz gefüllt. Zum Glück herrscht nun aber, im Gegensatz zu der aufgekratzten Stimmung auf dem Vorplatz, gespanntes Schweigen. Fast andächtig warten die versammelten Männer auf den Beginn der großen Dwaine-Show. Dann erlischt das Saallicht, und es ist mit einem Schlag vollkommen dunkel.

Als die Lampen zwei Stunden später wieder angehen, ist es mucksmäuschenstill. Man könnte die berühmte Stecknadel fallen hören. Denken all diese Männer darüber nach, wie sie Dwaines angebliches Erfolgsrezept in ihrem eigenen Alltag umsetzen können? Oder sind sie einfach noch benebelt von seiner Show? Dann steht plötzlich einer auf und beginnt zu applaudieren. Ein weiterer schließt sich an, dann eine ganze Reihe, und schließlich steht der ganze Saal des Gemeindezentrums Üxleben und klatscht. Ich merke, dass ich eine Gänsehaut bekomme.

Tom ist in der Zwischenzeit schon zum Büchertisch gegangen, um Frau Meier bei dem zu erwartenden Ansturm von Kaufwilligen zu unterstützen. Tatsächlich bildet sich dort schnell eine lange Schlange. Ich beschließe, auch beim Verkauf zu helfen. Nicht, dass sich die Fans noch um die Bücher schlagen. Als ich aufstehe und auf den Tisch zugehen will, tippt mir jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich um und sehe eine junge hübsche Frau mit roten, hochgesteckten Haaren. Wie hat sie sich denn hier reingeschmuggelt in die erklärte Guys-only-Zone? »Sind Sie zufälligerweise Frau Seefeld?«, will sie von mir wissen.

»Ja, das bin ich«, bestätige ich. Als eine von zwei Frauen bin ich hier natürlich leicht auszumachen.

»Gut!«, freut sie sich. »Der Verlag hat mir Sie als Ansprechpartnerin für Herrn Bosworth genannt. Ich bin Mona Reinert von der Redaktion thomas talkt, Sie wissen schon, die große Talkshow am Freitagabend. Ich habe mir den Auftritt heute angesehen, weil wir überlegen, Herrn Bosworth als Gast in unsere Sendung einzuladen. Ich muss sagen, ich bin wirklich sehr beeindruckt.«

Ich bin mit einem Mal wie elektrisiert: thomas talkt! Das wäre wirklich eine Riesensache! Die Einschaltquote der Show ist Legende, Kay Thomas lädt nur absolute A-Promis oder Menschen mit sehr spannenden Geschichten in seine Sendung ein. Wenn wir Dwaine dort unterbringen könnten, wäre uns ein Platz auf der Bestsellerliste sicher! Angesichts dieser Aussichten muss ich mich bemühen, nicht zu aufgeregt zu klingen. Cool bleiben, befehle ich mir selbst.

»Es freut mich, dass es Ihnen gefallen hat. Dwaine ist aber auch wirklich überzeugend – Sie sehen ja, was hier los ist.« Ich deute in Richtung Bühne, wo Dwaine geradezu umlagert wird von Männern, die sich ihre Bücher signieren lassen wollen. Mona Reinert nickt.

»Er kommt wirklich gut an. Wäre es denn möglich, ihn heute Abend persönlich kennenzulernen? Muss nicht lang sein, aber ich würde gerne ein paar Worte mit ihm wechseln, wo ich nun schon da bin.«

Das birgt natürlich ein gewisses Risiko. Immerhin ist Mona eine gutaussehende Frau, und ich bin mir nicht sicher, ob sie Dwaine immer noch beeindruckend findet, wenn der erst einmal seine peinliche Anbaggernummer an ihr ausprobiert. Andererseits kann ich ihr den Wunsch kaum abschlagen, ohne sie zu verärgern. Dann muss ich eben versuchen, Dwaine ein bisschen zusammenzufalten, bevor sie ihn trifft.

»Klar, kein Problem. Wir gehen noch etwas zusammen trinken, wenn Dwaine mit dem Signieren fertig ist. Kommen Sie doch mit. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn es losgeht.«


Eine Stunde später sitzen wir alle in einer Üxlebener Kneipe, die Sonja Meier vorgeschlagen hat. Dwaine fühlt sich sichtlich wohl – umgeben von drei Frauen läuft er zur Höchstform auf. Ich habe noch versucht, ihm klarzumachen, dass es nicht schaden könnte, sympathisch zu wirken. Und dass das garantiert besser gelänge, wenn er jeden zweiten frauenfeindlichen Spruch einfach wegließe. Ob es nun an meiner unglaublich kompetenten Beratung liegt oder ob Dwaine heute einfach einen guten Tag erwischt hat: Er ist ganz charmant, für seine Verhältnisse auch fast bescheiden. Mona und Sonja hängen an seinen Lippen, und Tom ist anzumerken, dass ihm genau diese Tatsache ziemlich auf den Keks geht. Vielleicht sollte ich ihn erlösen? Ich schätze, dass man Dwaine mit den beiden Damen ruhig alleine lassen kann; sie sind bereits völlig von ihm eingenommen. Ich gähne.

»Tom, ich würde gerne noch ein paar geschäftliche Sachen mit dir besprechen. Wäre es okay, wenn wir schon einmal zum Hotel gehen?« Er guckt irritiert. Kein Wunder, ist ja auch Schwachsinn.

»Klar, wenn du meinst, dann komme ich mit.«

»Können wir Sie mit Herrn Bosworth allein lassen?«, wende ich mich freundlich an die Damen. Mona und Sonja nicken synchron und sehen dabei aus wie zwei Wackeldackel.

»Mach dir keine Sorgen, Nina. Ich kümmere mich schon um die beiden«, gibt Dwaine den generösen Gastgeber. Ich lächle ihn an.

»Genau deswegen mache ich mir Sorgen.« Jetzt muss auch Tom grinsen. Ich zahle noch für alle, dann gehe ich mit ihm hinaus.

»Was willst du denn noch mit mir besprechen?«, erkundigt sich Tom, als wir vor der Tür stehen.

»Ach, in Wirklichkeit gar nichts. Ich hatte nur das ganz starke Gefühl, dass du keine weitere Stunde von Dwaines Geschwafel ertragen würdest.«

»Oh, danke, das ist nett von dir. Und du hast völlig recht. Wenn ich bedenke, dass wir nun wieder zwei Wochen mit ihm durch die Lande tingeln, könnte ich sofort Ohrensausen bekommen.« Wir lachen, dann gucke ich auf die Uhr.

»Ist auch schon nach zehn. Ich glaube, ich gehe ins Bett.«

»Würdest du vorher vielleicht noch ein Glas Wein mit mir trinken? Immerhin hast du mir vorgestern einen Korb gegeben. Also, wenn das nicht persönlich gemeint war, steht mir doch jetzt mindestens ein Rioja in deiner Anwesenheit zu.«

Hoppla, der gute Tom ist aber hartnäckig. Andererseits – warum nicht? Er wird mich schon nicht beißen. Und mittlerweile mag ich ihn ganz gerne.

»Na gut. Aber wirklich nur ein Glas.«


In der Hotelbar sind wir die einzigen Gäste. Der Barkeeper scheint über die Aussicht, noch ein wenig Umsatz zu machen, nicht sonderlich erbaut. Wahrscheinlich hatte er schon mit einem frühen Feierabend geliebäugelt. Das Schälchen mit Erdnüssen knallt er so lustlos auf unseren Tisch, dass gleich ein paar Nüsse herausspringen und auf den Boden kullern. Davon lassen wir uns aber nicht abbringen, sondern bestellen ganz tapfer zwei Gläser Rotwein.

Schon nach wenigen Schlucken breitet sich in mir eine wohlige Wärme aus. Tom sieht mich erwartungsvoll an. Fragt sich nur, was genau er erwartet. Ich versuche, ein möglichst unverfängliches Thema anzuschneiden.

»Wie läuft’s denn so auf Facebook?«

Er verzieht das Gesicht. »Du willst dich aber nicht den restlichen Abend mit mir über Dwaines Medienpräsenz unterhalten, oder? Weil, wenn das so ist, gehe ich lieber gleich ins Bett.«

»He, ich dachte, dich interessiert der Job! Also, was ist mit Facebook.« »Zweitausend Fans mittlerweile.« Er grinst. »Hammer, oder?«

»Unglaublich! Ich frage mich immer, was für arme Würstchen das wohl sind.«

»Wieso arme Würstchen? Ehrlich gesagt, ist das mit euch Frauen auch ganz schön kompliziert. Da kann man schon mal ein bisschen Unterstützung gebrauchen. Und sei es nur durch so eine Flachzange wie Dwaine.« Flachzange klingt nun wirklich negativ. Da könnte man doch glatt denken, dass Tom nicht hinter seinem Job steht … »Ich dachte eigentlich, Frauen suchen einen gleichberechtigten Partner. Aber wenn ich sehe, wie Dwaine eben zwei gebildete Frauen in null Komma nichts hypnotisiert hat – dann kommen mir da langsam Zweifel.«

»Das ist aber nicht repräsentativ. Sieh mich an, ich sitze hier noch ganz entspannt.«

Tom mustert mich kritisch. »Dwaine hat mir erzählt, dass ihr am Samstag zusammen weg wart. Du hast ihn sogar mit zu deiner Schwester geschleppt. Natürlich geht es mich nichts an – aber stehst du auf einen Typen wie ihn?«

Langsam komme ich mir vor wie bei der spanischen Inquisition. Ich hatte heute schon einmal das Gefühl, dass Tom eifersüchtig auf Dwaine ist. Und ich glaube, damit liege ich richtig. Da wechsle ich doch mal lieber das Thema.

»Tja, meine Schwester … weißt du, bei der ist es immer so langweilig. Ich war mir sicher, dass Dwaine diese Spießerrunde aufmischen würde. Ist ihm auch gelungen, war dann eine sehr lustige Familienfeier. Apropos Familie – hast du eigentlich auch Geschwister?«

Tom holt Luft, scheint etwas sagen zu wollen, lässt es aber.

»Was ist?«, hake ich nach. »Musst du erst überlegen, ob du Geschwister hast?«

Er schüttelt den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Ich bin Einzelkind.« Er schweigt kurz, fügt dann noch ein knappes, bitter klingendes »Vaters ganzer Stolz« hinzu. Öha, dieses Thema ist wohl auch nicht Smalltalk-tauglich.

»Tschuldigung, ich wollte nicht zu persönlich werden.«

»Brauchst dich nicht zu entschuldigen, war ja eine ganz normale Frage.«

»Willst du darüber reden?«, erkundige ich mich.

Tom lächelt. »Wenn ich jetzt mit dem großen Seelenstriptease anfange, sitzen wir noch nachts um zwei hier. Ich glaube, das wird dem Barkeeper nicht gefallen. Und dir wahrscheinlich auch nicht.«

»Quatsch, auf mich musst du keine Rücksicht nehmen. Ich bin immer froh, wenn jemand eine gruselige Familiengeschichte parat hat, dann kommt mir die eigene bucklige Verwandtschaft gleich viel schöner vor.« Wir lachen beide.

»Gut, aber meine Geschichte in der Kurzversion kannst du dir ja denken: Reicher Unternehmersohn enttäuscht Papi, weil er nichts auf die Reihe kriegt, während sein alter Herr noch ein Selfmademan vom alten Schlag ist.«

»Echt? So unspektakulär ist die Geschichte? Jetzt bin ich aber ein bisschen enttäuscht. Das ist ja auch nicht mehr Drama als bei mir.«

Tom guckt mich sehr interessiert an, ich werfe aber erst einmal ein paar Erdnüsse ein und lasse ihn zappeln. Nach einem weiteren Schluck aus meinem Weinglas ringe ich mich zu einem gedehnten »Na gut, dann verrate ich dir auch meine dunkle Familiengeschichte« durch. »Ich bin wahrscheinlich das typische Sandwichkind: eingeklemmt zwischen zwei Geschwistern, mit dem permanenten Gefühl, nicht beachtet zu werden. Meine Schwester ist eine sehr erfolgreiche Nachwuchspianistin. Oder besser: war. Dann heiratete sie den noch erfolgreicheren Chefarzt und bekam erst einmal ein Kind nach dem anderen. Alle Welt beneidet sie, inklusive meiner Wenigkeit. Wenn ich mit meiner Mutter spreche, dreht sich alles nur um Finja. Oder um Jakob, meinen kleinen Bruder. Der wiederum schickt sich jetzt an, in die Fußstapfen unseres verstorbenen Vaters zu treten und ein berühmter Journalist zu werden.« Ich nehme noch einen großen Schluck aus meinem Glas, das jetzt fast leer ist. Wenn wir bei diesem Thema bleiben, brauche ich gleich dringend Nachschub, das ist schon mal klar.

»Aber du bist doch auch sehr erfolgreich«, wendet Tom ein, »wo ist das Problem?« Wie nett von ihm.

»Erfolg ist leider immer relativ.«

»Ach so, du meinst, du bist nur in dem Blickwinkel des leider total erfolglosen und viel zu alten Volontärs erfolgreich?«

»Quatsch, so habe ich das nicht gemeint. Aber ich könnte wahrscheinlich die tollste PR-Agentin der Welt sein, meine Mutter würde es nicht bemerken. Die hat bis heute nicht verstanden, was ich eigentlich beruflich mache. Für sie ist klar, dass ich irgendwas mit Journalismus mache, ohne richtige Journalistin zu sein. Und gemessen an meinem Vater sehe ich damit immer alt aus. Demnächst auch gemessen an meinem kleinen Bruder.« Ich winke dem Barkeeper und halte mein leeres Glas hoch. Der soll mal nicht glauben, dass er uns gleich in die Heia schicken kann.

»Auweia. Und ich dachte immer, Geschwister zu haben sei etwas Tolles. Ich habe immer andere Menschen mit Bruder oder Schwester beneidet. Da lag ich dann wohl gründlich falsch, oder?« Tom grinst.

»Nee, so ist es natürlich auch wieder nicht. Ich liebe meine Geschwister, ganz klar. Aber es ist eben nicht immer leicht.«

»Und deswegen hast du Dwaine mitgeschleppt? Zu deiner Musterschwester? Um mal zu zeigen, mit was für tollen Typen du zusammenarbeitest? Okay, da hätte ich nicht so viel hergemacht, das gebe ich zu.«

»Schon wieder falsch. Was meinst du, wie glücklich es meine Mutter gemacht hätte, wenn ihr Finja von meiner Begleitung durch einen echten Verlegersohn erzählt hätte.« Ich greife in das Schälchen mit Erdnüssen – im gleichen Moment wie Tom. Für den Bruchteil einer Sekunde hält er meine Hand fest und guckt mir dabei direkt in die Augen.

»Den Gefallen hättest du ihr doch ruhig tun können, finde ich.«

Ich ziehe meine Hand zurück. Mir wird warm, und ich bezweifle, dass das nur am Rioja liegt. Für einen Moment weiß ich nicht, was ich sagen soll – und sage deswegen einfach nichts. Tom beschließt offenbar auch, dass es in diesem Moment die beste Taktik ist, den Mund zu halten. Es ist ein Schweigen, das nicht unangenehm ist, sondern sich ein bisschen spannend anfühlt. Erwartungsfroh. Und auch das liegt nicht nur am Rioja, wie ich mir eingestehen muss.

Tom schaut mir noch immer tief in die Augen. So langsam werde ich nervös. Dann sagt er mit dunkler Stimme: »Bei der nächsten Familienfeier bestehe ich darauf, dabei zu sein. Das würde mir schon Spaß machen, die Frau Mama zu beeindrucken. Und die schöne Tochter gleich mit …«

Huch, schöne Tochter? Meint der etwa mich? Ich kichere etwas verlegen und rette mich dann in einen Allgemeinplatz: »Äh, ja, Mütter. Ein abendfüllendes Thema.«

Jetzt grinst auch Tom ganz verlegen und rückt wieder etwas von mir ab. »Ja, ja, die liebe Familie …«

Mit einem Mal ist der spannende Moment vorbei. Super, Nina, den Flirt hast du dir jetzt ganz allein versaut. Aber ist wahrscheinlich besser so. Angeschickert mit dem Volontär zu flirten ist mit Sicherheit keine meiner besseren Ideen.

Sahnehäubchen: Roman
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