Kapitel 15
Adam Jacobsen saß an seinem Schreibtisch, ein leeres Blatt Papier vor sich. Derzeit gab es keine Sonntagspredigten zu verfassen. Heute Abend würde ihn ein Schriftstück anderer Art beschäftigen.
Draußen war die Oktobernacht hereingebrochen, und der Himmel war so klar, dass die Dunkelheit schwarz wie Samt wirkte. Seine Schreibtischlampe war die einzige Lichtquelle im Haus – er hatte sich unmittelbar nach seiner Rückkehr an diese Aufgabe gemacht. Nettie Stark war schon vor Stunden nach Hause gegangen.
Er nahm seinen Federhalter, tunkte ihn in das Tintenfass seines Vaters und adressierte mit entschlossenem Strich einen Brief an den Leutnant seines Zugs bei der American Protective League. Er schätzte die APL besonders für ihre durchdachte Organisation mit Kompanien und Zügen und einer militärischen Befehlsstruktur. Manchmal beneidete er die größeren Städte um ihre großen Finanz- und Industrieunternehmen. Oft gehörten die meisten Arbeiter dort der American Protective League an und erstatteten ihrem Führungsoffizier in der Firma Bericht. In einem kleinen Ort wie Powell Springs war Adam der einzige Agent der Stadt. Sein Führungsoffizier, ein Banker in East Portland, war auch für Agenten in anderen Städten zuständig.
Adam trompetete seine Mitgliedschaft nicht in die Welt hinaus – ein Agent hatte darüber Diskretion zu wahren und auch sein Abzeichen zu verbergen. Aber die meisten Leute hier wussten es, und er war sicher, dass ihm diese Tatsache einen Status verschaffte, wie er ihn als einfacher Geistlicher nicht erreicht hätte. Ein Pfarrer in der Organisation war vielleicht etwas ungewöhnlich, aber er war vermutlich nicht der Einzige.
Jetzt lehnte er sich im Stuhl zurück, um sich den Inhalt des wöchentlichen Berichts zu überlegen. In der Regel identifizierte er jene Leute, die er für unpatriotisch hielt – Drückeberger, Faulenzer und solche, die keine Kriegsanleihen kauften oder sich nicht an die empfohlenen Rationierungen hielten. Er notierte mitgehörte Gespräche, die auf Aufwiegelei oder Kriegsgegnerschaft hinwiesen. Jeder, an dessen Patriotismus es auch nur den leisesten Zweifel gab, wurde einer Überprüfung unterzogen. Mae Rumsteadt hatte er bereits mehrmals in seinen Berichten angezeigt, weil sie weder Kriegsanleihen kaufte noch die Nahrungsmittelrationierung befolgte. Fremde und Ausländer standen auf der Liste der zu beobachtenden Personen ebenfalls ganz oben, wenngleich es hier keine Ausländer gab.
Diese Woche hatte er ein ganzes Bündel Notizen zu bearbeiten, aber vor allem ein Name spukte ihm die ganze Zeit im Kopf herum.
Cole Braddock.
Gegen Braddock hatte er im Grunde nichts Konkretes vorzubringen. Dass er vom Kriegsdienst verschont blieb, passte Adam nicht in den Kram, wurde von staatlicher Seite jedoch gebilligt. Aber irgendetwas musste es doch geben. Mit seiner ganzen Haltung hatte Braddock ihm gegenüber immer wieder Feindseligkeit und Verachtung gezeigt. Adam mochte ihn nicht, das stimmte, seine Abneigung war jedoch nicht von Stolz, Neid oder persönlicher Feindschaft getrieben. Nein, wirklich nicht. Cole Braddock hatte etwas Unpatriotisches an sich, und Adam würde herausfinden, was es war.
Adam arbeitete stets für das Wohl des Landes. Und auch wenn er nicht dem Expeditionskorps angehörte, war er dennoch ein Soldat in der Armee Gottes.
Er beugte sich vor, tauchte erneut die Feder ein, und begann zu schreiben.
Jessica schob Cole von sich weg. »Hör auf«, verlangte sie, ihr Gesicht kribbelte von seinen Bartstoppeln. »Wir werden das nicht tun!«
Er setzte sich auf die Fersen und sah sie an, die Augen erfüllt von einem Gefühl, das sie nicht bezeichnen konnte – stärker als Begehren, glühender als Lust. Sein Atem kam in kurzen, stoßartigen Zügen, und ihr wummerte das Herz wie Donner in der Brust. Mit zitternder Hand strich sie sich das Haar aus dem Gesicht.
»Amy, meine Schwester, deine Zukünftige, liegt in der Schulturnhalle auf einem Feldbett, ihr Leben hängt am seidenen Faden, und du … ich …«, stammelte Jessica und verstummte. Schließlich sagte sie: »Wie kannst du es wagen?«
Mit finsterer Miene stand er auf. Der kleine Raum war ganz von seiner Präsenz erfüllt, und Zorn pulsierte zwischen ihnen. »Warum bist du nicht nach Hause gekommen? Ich habe dich schon so oft gefragt, aber du hast mir nie eine richtige Antwort darauf gegeben. Du hast versprochen, du kommst zurück und heiratest mich. Stattdessen hast du mich über ein Jahr lang zappeln lassen, und dann kam aus heiterem Himmel dieses gottverdammte Telegramm von dir, in dem du mir mitgeteilt hast, ich soll nicht mehr warten. Warum? Und komm mir nicht mit diesem Quatsch von den Armen und Kranken. Warst du so damit beschäftigt, das Leid der Welt zu lindern, dass du gar nicht gemerkt hast, wie du andere verletzt?«
Jessica starrte ihn an. »Aus heiterem Himmel? Aus heiterem Himmel?« Vom Stuhl aufspringend marschierte sie in ihr Schlafzimmer und wühlte in einem Koffer herum. Sie warf Kleider und andere unausgepackte Dinge hierhin und dorthin, bis sie fand, wonach sie suchte. Es war ein mit einer Schleife zusammengebundenes Bündel Briefe, mit dem Telegramm, das ihrem Telegramm an ihn vorangegangen war, ganz oben.
Sie zog es aus dem Stapel und stürmte zurück in die Küche. Inzwischen hatte er angefangen, wie eine Wildkatze im Käfig in dem kleinen Raum auf und ab zu tigern, er konnte seine unbändige Wut kaum beherrschen. Sie hielt ihm den Umschlag unter die Nase. »Hier! Kommt dir das bekannt vor?«
Er riss es ihr aus der Hand. »Was ist das?«
»Das Telegramm, das du mir geschickt hast. Sein Inhalt hat mich nicht gerade verlockt, nach Hause zu kommen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie verraten ich mich fühlte, nach allem, was wir uns bedeutet hatten. Dann, ein paar Wochen später, bekam ich diesen fröhlichen Brief von Amy, in dem sie mir erzählte, dass du ihr den Hof machst!« Tränen liefen ihr übers Gesicht, und sie wischte sie ärgerlich mit dem Handrücken ab. »Gott, Cole, ich weiß nicht, wie du dich erdreisten kannst, dich nach diesem Telegramm wie der verletzte, sitzengelassene Verehrer aufzuführen.«
Er nahm die Nachricht aus dem Umschlag und las sie. Dann sah er sie an. Seine verdutzte Miene war fast überzeugend. »Das sehe ich zum ersten Mal.«
»Was … was …?« Wieder stolperte sie vor Frustration und Ungläubigkeit über die eigene Zunge. Sie zog ein Taschentuch aus der Rocktasche und putzte sich energisch die Nase. »Verkauf mich nicht für dumm. Du hast es geschrieben. Dein Name steht darunter. Es wurde hier im Telegrafenamt aufgegeben. Also wirklich, du willst doch nicht etwa behaupten, du hättest plötzlich Gedächtnisverlust, nur um …«
Er wedelte mit dem braungelben Blatt vor ihr herum. »Ich sage dir doch, ich habe das nicht geschickt. Ich habe es nicht geschrieben.«
Sie stopfte das Taschentuch in die Tasche, schnappte sich das Blatt Papier und las laut vor. »›Jessica, wollte dich zur Frau, weigere mich aber, auch nur einen Tag länger zu warten. Tut mir leid.‹ Wenn du es nicht geschickt hast, wer dann?«
Cole hatte das Gefühl, wie die kleine Alice aus dem Buch, das Susannah Tanner Grenfells Neffen vorgelesen hatte, sein Leben durch einen Spiegel zu sehen. Nichts ergab einen Sinn, alles schien auf dem Kopf zu stehen. Er wusste, dass er das Telegramm nicht geschickt hatte, aber hier stand es, schwarz auf vergilbtem Papier.
»Du hast also dieses Telegramm bekommen«, sagte er und nahm es ihr wieder ab. »Und daraufhin hast du mir telegrafiert, ich soll nicht auf dich warten.«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen?« Ihre Stimme klang rau, und unvermittelt setzte sie sich.
Er erinnerte sich noch an jenen Tag im Mai. Sehr lebhaft sogar. Er war bei Tilly’s gewesen und hatte sich derart betrunken, dass Tilly ihn mit einer Decke und einem Eimer auf die hintere Veranda des Saloons verfrachtet hatte. Zumindest war er dort am nächsten Tag aufgewacht, mit einem Kater, der einen Büffel umgebracht hätte. Während der Nacht hatte es geregnet, die Decke war feucht und schwer, und er hatte sich hundeelend gefühlt. Der Kater wäre schon schlimm genug gewesen, aber ihm war, als hätte er einen Tritt auf die Brust bekommen. Einen Tritt ins Herz.
»Da hat uns jemand einen üblen Streich gespielt, Jess.«
Sie verdrehte die Augen. »Das ist lächerlich. Wer sollte so etwas tun?«
»Ich weiß nicht, wer es getan hat und warum, aber es ist geschehen.« Er sah den Schmerz und die Gewissheit, betrogen worden zu sein, in ihren Augen. Und er sah, dass sie kein Wort von dem glaubte, was er sagte. »Ich hätte mich nie um Amy bemühen sollen – ich hätte mich nie um Amy bemüht, wenn du mir nicht dieses Telegramm geschickt hättest.«
»Dann ist es also meine Schuld?« Sie nahm die trockenen Brotkrusten und warf sie in einem kindischen Anfall nach ihm. Er ignorierte es.
»Nein, das habe ich nicht gesagt. Aber ich werde der Sache auf den Grund gehen.« Er faltete das Telegramm und steckte es in seine Hemdtasche. »Das muss ich eine Weile behalten.«
Aufgebracht streckte sie die Hand aus. »Nein, es gehört mir. Gib es zurück.«
»Und was zusammengehört, soll man nicht trennen, oder?«
»Was soll das nun wieder heißen?« Sie griff nach ihm, aber er wich zurück und legte schützend die Hand auf die Hemdtasche.
»Dieses Telegramm und deine Wut auf mich. Die sind für dich untrennbar, du willst keins davon aufgeben.«
Bestürzt, weil er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, ließ sie den Arm sinken. »Warum willst du es haben? Was hast du damit vor?«
»Das weiß ich noch nicht.« Er trat ans Fenster und sah die Straße hinunter zum Telegrafenamt. Ein paar mögliche Schuldige gingen ihm durch den Kopf. Pop – er hatte sich noch nie mit der Idee anfreunden können, dass er Jess heiratete. Jacobsen – möglicherweise, aber das ergab eigentlich keinen Sinn. Bis vor Kurzem schien er sich nicht für Jess zu interessieren. »Ich gebe dir Bescheid, wenn ich etwas herausfinde.«
»Das ist alles so unwahrscheinlich, Cole.«
»Ich bin nicht perfekt und habe in meinem Leben Dinge getan, die ich nur allzu gern rückgängig machen würde«, sagte er leise. »Aber ich habe dich nie angelogen. Früher nicht und heute nicht.«
»Vielleicht nicht.« Plötzlich lag nichts Heftiges mehr in ihrer Stimme, und ihre Worte klangen hohl, müde. Er drehte sich zu ihr. Sie wirkte auch so: leer, erschöpft. »Aber das ist alles längst vorbei und Teil unserer Vergangenheit. Ich kann heute Nacht nicht mehr darüber nachdenken. Schließlich wollte ich mich eigentlich nur kurz ausruhen, bevor ich wieder zurück muss.«
»Leg dich ein bisschen aufs Ohr. Ich warte hier am Tisch, bis du ausgeschlafen hast, dann fahre ich dich zurück.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist wahrscheinlich keine gute …«
Wieder sank er vor ihr auf die Knie, nahm ihre Hand und drückte ihr einen Kuss auf die Handfläche. »Bitte. Lass mich das für dich tun.«
Einen Augenblick schloss sie die Augen und seufzte. Dann betrachtete sie ihn mit jenem prüfenden Blick, bei dem er sich immer gefühlt hatte, als könnte sie bis in sein Herz schauen. »Na schön. Gib mir eine Stunde.«
»Mach lieber zwei daraus.« Er drückte ihr die Hand, weil er das Gefühl mochte, sie in seiner zu spüren.
Sie bedachte ihn mit einem kleinen, müden Lächeln. »In Ordnung. Zwei Stunden.«
Mit der freien Hand zog er seine Taschenuhr heraus. »Du kannst dich auf mich verlassen.«
Etwas mehr als zwei Stunden später ließ Cole Jessica am Krankenhaus aussteigen. Von der Tür aus sah sie zu, wie der Ford in der Dunkelheit verschwand. In ihrer Wohnung war sie in einen traumlosen Schlaf gefallen, bis sie seine Hand an ihrer Schulter gespürt und er sie wachgerüttelt hatte.
Auf dem Weg hierher hatten sie nicht viel miteinander gesprochen und waren über die ganze vertrackte Situation von vorher hinweggegangen – die Küsse, ihre unterdrückten Gefühle, das Telegramm. Was, wenn es stimmte? Was, wenn tatsächlich jemand anderer das Telegramm geschickt hatte? Und wer um alles in der Welt sollte auf so ein teuflisches, hinterhältiges Manöver kommen? Jessica schwirrte der Kopf, als sie über die Auswirkungen nachdachte.
Sie zwang sich, ihre Gedanken auf die derzeit akuten Probleme zu lenken, drehte sich um und ging hinein. Wieder schlugen ihr die Gerüche entgegen, die sie bis in ihre Träume verfolgten und sich in ihren Kleidern und Haaren festsetzten. Die Lage war im Großen und Ganzen unverändert. Nachdem sie in ihrer Tasche nach dem Stethoskop gekramt hatte, ging sie an den Reihen der Krankenbetten vorbei direkt zu Amy. Mrs. Donaldson saß bei ihr.
»Ach du meine Güte, Jessica, ich bin so froh, dass Sie hier sind. Das arme Ding, das arme kleine Ding.« Laura Donaldson schüttelte den Kopf, weinte und zerdrückte ihr Taschentuch, als wäre Amy bereits tot.
Alarmiert nahm Jessica das Handgelenk ihrer Schwester und blickte in ihr vom Fieber gerötetes Gesicht. Ihr Zustand hatte sich nicht gebessert, aber wenigstens auch nicht verschlechtert. Manche Menschen verfielen so schnell, dass Jessica ihnen förmlich beim Sterben zuschauen konnte. »Mrs. Donaldson, wären Sie so freundlich, ein kaltes Tuch für ihre Stirn zu holen? Ich möchte sie kurz untersuchen.«
»Ja, ja, natürlich!« Die Frau, die immer noch bläuliche Flecken unter den Augen von ihrem kürzlich erlittenen Nasenbeinbruch hatte, sprang von dem Hocker neben Amys Bett auf.
Jessica nahm darauf Platz, legte das Stethoskop auf Jessicas Brust und lauschte dem nassen, rasselnden Klang ihrer verschleimten Lunge. Es klang wie das Geräusch, wenn man einen Milchshake mit dem Strohhalm einsaugt. Schwer seufzend legte sie ihre Hand auf die von Amy. Das Haar ihrer Schwester war ein Gewirr honigfarbener Strähnen auf dem Kissen, und die blauen Schatten ließen ihre geschlossenen Augen eingesunken wirken. Aber sie trug immer noch die Ohrringe, die Cole ihr geschenkt hatte.
»Oh, Amy«, sagte Jess, mehr zu sich selbst.
Amys Lider flatterten, und sie öffnete die Augen. »Jessie.«
Mit diesem Kosenamen hatte ihre Mutter sie als kleines Mädchen immer angesprochen. Seit Jahren hatte sie niemand mehr so genannt. Jess wurde ganz eng in der Kehle und sie musste die Tränen zurückhalten, die ihr unter den Lidern brannten.
Sie drückte Amys Hand. »Ja, ich bin hier, Amy. Ich bin hier bei dir.«
Gequält durch den Husten und den Infekt war Amys Stimme kaum mehr als ein Krächzen. »Jessie … ich fühle mich so schlecht …«
»Ich weiß, Liebes. Wir tun alles, was wir können, damit es dir wieder besser geht.«
»Nein … ich meine, ich habe etwas getan … etwas ganz Schlimmes … Versprich … versprich mir, dass du es niemandem sagst. Wenn ich sterbe … sollst du wissen …«
Eine kalte, dunkle Ahnung erfasste Jessica und ließ sie erschauern. »W-was hast du getan?«
»Du sagst es aber …«
»Nein. Versprochen. Drei Finger darauf.« Jess legte drei Finger auf ihre Brust.
»Diese Porzellanschüssel … die aus England mit den Hüttensängern … Mutters Lieblingsschüssel …«
Jessica wartete, verwundert. »Schüssel?«
»Ich habe ihr gesagt … dass die Katze sie zerbrochen hat. Aber ich war es … bitte … erzähl es ihr nicht. Sie wäre so …« Ein Hustenanfall unterbrach ihre Beichte.
Jessica konnte ein Zittern in der Stimme nicht unterdrücken. »Das macht doch nichts. Nicht mehr.« Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit einem fiebernden Patienten zu diskutieren. Sie konnte von Glück reden, dass Amy sie überhaupt erkannte.
Mrs. Donaldson kam mit einem feuchten Tuch zurück. »Wie geht es ihr?«, flüsterte sie. Sie legte das Tuch auf Amys Stirn.
»Sie ist noch bei uns. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Sie denkt, dass sie noch klein ist.«
»Ich weiß.« Die Mundwinkel der Frau zogen sich nach unten und ihre Brauen nach oben, als sie wieder in Tränen ausbrach. »Sie hat mir erzählt, wie sehr sie Cole mag, aber er beachtet sie nicht, weil er zu sehr mit seinen ›Jungensachen‹ beschäftigt ist. Sie muss ihn schon damals geliebt haben. Es ist so romantisch, so tragisch.«
Jess rutschte auf dem Stuhl herum, denn plötzlich musste sie schuldbewusst an Coles Kuss denken. Aber mochte es auch noch so kindisch und kleinlich sein, ihr lag eine bissige Antwort auf der Zunge, die sie gerade noch zurückhalten konnte.
Ich habe ihn zuerst geliebt.
Ich liebe ihn immer noch.
»Verdammt, grabt schneller, Männer«, brüllte Leutnant Collier.
Granaten explodierten im kalten Morgengrauen um Riley und seine Kameraden herum, als ein Trommelfeuer der Deutschen auf sie herniederging. Sie gruben sich ein, hier in diesem Apfelgarten im Niemandsland des Argonnerwaldes gefangen. Er und einige andere, darunter Stoney, Kansas Pete und Bob Tompkins stießen ihre Schaufeln in den Boden. Gott sei Dank hatte er zuvor die obersten Knöpfe seiner Jacke geöffnet – bei der Arbeit kam man ins Schwitzen, und die enge Uniform machte es noch schlimmer. Die Erde flog von ihren Schaufeln und regnete auf sie herab, wenn die Granaten nervenzermürbend und ohrenbetäubend nah einschlugen. Schon oft hatte Riley gesehen, welchen Schaden ein solches Artilleriefeuer einem menschlichen Körper zufügen konnte, wenn sämtliche Körperteile in verschiedene Richtungen flogen. Bei einem derart vernichtenden Angriff waren ihre Stahlhelme nicht mehr wert als aus Zeitungspapier gefaltete Hüte. Er wagte seine Aufmerksamkeit nicht von seiner Arbeit abzuwenden, nur einmal blickte er hoch. Hinter einer schweren Rauchwolke, aufstiebender Erde und dem Schweiß, der seine Sicht verzerrte, sah er Männer wie Gerste im Hagelsturm umfallen, nur Meter von ihm entfernt. Durch einen Schleier aus Dreck und Ruß tauchte Whippy auf. Irgendwie schien er immer zu ahnen, woher die Kugeln kamen, und konnte ihnen ausweichen. Wie er so quer über das Niemandsland auf ihren Unterstand zurannte, erinnerte er Riley an einen Footballspieler, der im Zickzack zur Torlinie läuft. Links neben Whippy bekam ein französischer Soldat eine Kugel in den Hals und fiel um.
»Whippy«, schrie Riley, »Mach schnell!«
Ein weiterer Soldat warf die Arme nach oben, wie um sich zu ergeben, und kippte, in den Rücken getroffen, vornüber.
Grabt schneller … grabt schneller … oder es ist aus mit euch.
Riley beugte den Kopf und zog die Schultern ein. Er hatte in seiner Jugend eine Menge Ställe ausgemistet und andere Löcher gegraben, seit er hier war, aber noch nie in diesem Tempo. Das Herz hämmerte ihm vor Anstrengung in der Brust, aber schließlich hatten sie einen annehmbaren Unterstand und warfen sich hinein. Angst durchflutete seine Adern.
»Gas! Gas!«
Oh mein Gott, schon wieder Gas. Er fummelte die Gasmaske aus ihrem Behälter, den er um den Hals hängen hatte. Gerade rechtzeitig stülpte er sie über, als er auch schon die unheilvolle, trübe Wolke sah, die auf sie zuwaberte, begleitet von einer Reihe Explosionen. Über den Rand ihres Schützengrabens sah er einen Mann keine zehn Meter entfernt, den das Gas, das Augen und Lungen verbrannte, bereits erwischt hatte. Der Soldat keuchte und zuckte wie ein aufgespießter Fisch. Er machte das wohlbekannte gurgelnde Geräusch, das einen Augenblick lang lauter war als alle Maschinengewehre und Bomben. Als er den Kopf zu ihm drehte, begegneten sich ihre Augen – die des anderen Soldaten auslaufend und blutig, Rileys Augen behindert, aber geschützt durch das Visier seiner Gasmaske.
»Whip!«, brüllte Riley entsetzt, die Stimme durch die Gasmaske gedämpft. Zitternd starrte er Whip an, der auf dem aufgewühlten Boden zuckte. Sie hatten Fournier mit Gas getötet. Diese Hurensöhne hatten den liebenswürdigen, leichtlebigen, kultivierten Fournier umgebracht. Jemand zog Riley wieder in den Graben, aus der Feuerlinie.
»Gottverdammt, Braddock, willst du, dass sie dir den Hintern wegschießen?«
Unbewusst drückte Riley die Hand auf die Jackentasche, die Susannahs Foto enthielt, dann schnappte er sich mit der anderen Hand sein Gewehr und sprang wieder auf. Gepackt von einer irrwitzigen Wut, wie er sie noch nie zuvor empfunden hatte, war Riley entschlossen, die Bastarde zu töten, die Remy Whipperton Fournier III buchstäblich das Leben ausgesaugt hatten.
Er sprang aus dem Graben, den er unter solcher Mühe ausgehoben hatte, in die Gaswolke hinein, stieß einen unverständlichen Fluch aus und feuerte beim Gehen sein Maschinengewehr ab. Erst einmal wollte er Fournier holen. Riley konnte ihn nicht da draußen lassen, damit er als Zielscheibe für die verdammten Boches diente. Whip würde bei seinen eigenen Leuten sterben, außerhalb der Schussweite, nicht durchsiebt von Kugeln. Er rannte zu Fournier und griff nach seinem Arm. Blind und im Todeskampf hustete Whip Blut und warf eine Hand hoch. Seine Faust schloss sich um Rileys Marke aus Aluminium, die von einer Kette baumelte, und klammerte sich daran wie an eine Rettungsleine.
»Keine Angst, Fournier, ich lass dich nicht hier draußen!«
Er begann ihn in den Schützengraben zu ziehen. Ein plötzlicher Schlag traf Riley am Bein, es fühlte sich an, als läge ein Zentner-sack Mehl darauf. Es brachte ihn zu Fall, und er fand sich neben Whip sitzend wieder, verblüfft und verwirrt.
Er roch weder das Giftgas noch die Aktivkohle seiner Gasmaske, sondern nur Kirschbaumrinde und Mandel.
Er sah nicht die tote, zerstörte Landschaft eines zerbombten Schlachtfelds, sondern die weiten, grünen Wiesen von Powell Springs.
Das letzte Geräusch, das Riley im Chaos der schreienden Männer und explodierenden Granaten wahrnahm, war die in nächster Nähe explodierende Kugel, die seinen dünnen Helm durchdrang.