Kapitel 5

Nach dem Mittagessen ging Jessica zum Telegrafenamt, um Dr. Martin am Krankenhaus von Seattle ein Telegramm zu schicken und ihn von der Änderung ihrer Pläne zu unterrichten. Sie reichte Leroy Fenton, dem alten Telegrafisten von Powell Springs, ihre Nachricht.

»Seattle, ja? Hab Neuigkeiten aus der Gegend gehört – anscheinend haben sie dort oben gerade eine Grippewelle.«

»Wirklich?«

Leroy rückte seinen Ärmelhalter zurecht. »Es heißt«, fuhr er fort, »die Grippe sei wahrscheinlich in Camp Lewis ausgebrochen und habe sich dann auf einige Zivilisten übertragen, die sich dort eine Parade der Infanterie der Nationalgarde angeschaut haben.« Er zuckte die Achseln. »Die Ärzte dort meinen aber, wir bräuchten uns keine Sorgen zu machen. Andere Militärlager hätten sie auch schon, aber sie hätten die Lage im Griff. Das macht dann drei Dollar, Miss Jessica.«

Jess hatte selbst schon von einigen Grippeausbrüchen gehört – von manchen Ärzten als Lungenentzündung diagnostiziert – und sie wusste auch, wie überbelegt die provisorischen Militärlager waren. Unter solchen Umständen konnten sich Krankheiten rasch ausbreiten. Bei der Erwähnung von Camp Lewis musste sie unweigerlich wieder an den jungen Cookson denken.

»Im Krieg sterben mehr Männer an Krankheiten als an Verletzungen«, sagte sie, während sie in ihrer Beuteltasche nach dem Geld kramte, um Leroy zu bezahlen.

»Wirklich?« Er sah noch einmal auf ihre Nachricht und blickte sich dann rasch um, als wäre außer ihnen beiden noch jemand anwesend. Heutzutage war das keine grundlose Angst. Eine harmlose Bemerkung konnte einen in Teufels Küche bringen. »Dann bin ich froh, dass ich zu alt bin, um eingezogen zu werden«, murmelte er mit gesenkter Stimme.

Sie tätschelte seinen Arm und lächelte. »Ich auch, Leroy.«

Draußen auf dem Gehweg blieb sie einen Augenblick stehen, erfüllt von einer unguten Vorahnung, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Dann holte sie tief Luft und machte sich auf den Weg ins Hotel.

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Vor Jessicas Hotelzimmertür zog Cole seinen rechten Wildlederhandschuh aus, doch seine erhobene Hand verharrte unschlüssig vor der hölzernen Türfüllung. Es war Amys Idee gewesen, aber ihm ging das alles ziemlich unter die Haut, und er war fest entschlossen, diese Begegnung so kurz wie möglich zu halten. Wenn Amy ihn nicht darum gebeten hätte, wäre er jetzt wieder in seiner Schmiede oder würde Susannah und Tanner mit den Pferden helfen.

Ein Gast ging im Flur an ihm vorbei, und Cole wollte nicht so wirken, als liege er hier wie der böse Wolf auf der Lauer. Er klopfte scharf an die Tür.

Drin näherten sich Schritte. »Wer ist da, bitte?«

»Cole.« Sie öffnete die Tür zunächst nur einen Spalt weit, zog sie jedoch bei seinem Anblick ganz auf. »Hast du etwa Angst vorm Schwarzen Mann?«

Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein schmal geschnittenes hellbraunes Kleid mit einem breiten Kragen, der bis zu den Schultern reichte, und einem Volantrock, dessen Säume schwarz eingefasst waren. Das Kleid brachte ihre Rundungen zur Geltung, sodass er seine Augen nicht von ihr wenden konnte.

»Nein, ich bin mit den Jahren nur vorsichtiger geworden. Zum Glück muss hier niemand seine Haustür absperren. Powell Springs ist eben nicht New York.«

Als ob er das nicht wüsste. »Da erzählst du mir nichts Neues. Ist das alles?« Er zeigte auf die beiden großen Koffer und einige kleinere Gepäckstücke, die an der Wand standen. Frauen reisten nie mit leichtem Gepäck, dachte er, und Jessica, wenngleich eine praktisch veranlagte Frau, war da anscheinend keine Ausnahme. Aber fairerweise musste er zugeben, dass sie schließlich auf dem Weg nach Seattle war, um … Karriere zu machen. Natürlich hatte sie all ihre Habe bei sich.

Trotz der weit geöffneten Tür wirkte Jessica nervös und nestelte an ihrem breitrandigen Hut, den Ärmelmanschetten und der schlichten Goldkette an ihrem Hals. »Ja, und es tut mir leid, dass ich sie nicht bereits habe nach unten bringen lassen, damit du nicht, na ja …« Sie brach ab, und ihr Blick huschte zum Bett.

Obwohl das Zimmer nicht gerade klein war, stach das große Eisenbett sofort ins Auge.

Mehr als zwei Jahre zuvor hatte er in einer Winternacht mit Jessica in einem ähnlichen Bett gelegen.

An jenem Nachmittag hatte das Begräbnis ihres Vaters stattgefunden, und sie hatte ruhig und gefasst gewirkt, hatte den Leichenschmaus organisiert, mit den Nachbarn geplaudert und sich um die schluchzende, untröstliche Amy gekümmert. Als endlich alle gegangen waren, hatte sie ihrer Schwester ein starkes Schlafmittel gegeben und sie zu Bett gebracht. Erst dann hatte sich ihre Erstarrung gelöst. In seinen Armen hatte sie geweint, bis er dachte, das Herz müsse ihr brechen, und ihm ebenso. Sie verbrachten die Nacht auf ihrem Bett liegend, immer noch in den Kleidern, die sie beim Begräbnis getragen hatten, während der scharfe Januarwind ums Haus heulte und durch die Fensterritzen drang. Die Vorderseite seines Hemds war nass von ihren Tränen gewesen. Noch nie waren sie sich so nah gewesen wie in diesen kalten, dunklen Stunden, nicht einmal bei ihren kurzen, heimlichen Begegnungen in der Wildblumenwiese, wo sie sich hungriger Leidenschaft hingegeben hatten.

Es war das letzte Mal gewesen, dass er sie weinen gesehen hatte. Und ihm wurde klar, dass es das einzige Mal gewesen war.

Sie deponierte ihre Beuteltasche auf der Kommode und legte sich einige Kleider über den Arm. »Hast du niemanden zum Helfen dabei?«

»Wozu? Wenn ich das nicht allein schaffe, kann ich mich auch gleich zur Ruhe setzen und meine Tage mit Pop bei Tilly’s zubringen.«

Sie zog eine Augenbraue nach oben, sagte aber nichts mehr.

Er trug einen der großen Koffer den Flur entlang und hinaus zu seinem Ford TT. Als er den Lastwagen letztes Jahr gekauft hatte, hatte es zu Hause Streit gegeben. Riley hatte darauf beharrt, dass sie ihn sich nicht leisten konnten, obwohl Cole ganz genau wusste, dass das nicht stimmte. Sein Vater hatte erklärt, dass er dem Ding eher eine Kugel zwischen die Frontscheinwerfer jagen würde, als es in die Nähe der Pferde zu lassen. Noch immer begegnete Pop dem Wagen mit Misstrauen, musste aber zähneknirschend zugeben, dass er seinen Zweck erfüllte, vor allem, wenn es um Transporte ging. Da es so viel zu tun gab, nutzte Cole das Fahrzeug oft.

Jessica folgte ihm mit ihrer Tasche und den Kleidern. Als sie zurückgingen, um den zweiten großen Koffer zu holen, meinte sie noch einmal: »Für den wirst du Hilfe brauchen. Er ist schwer.«

Er wedelte abwehrend mit der Hand. »Wenn ich mit Bill Franklins französischem Kaltblut klarkomme, dann werde ich das hier auch schaffen. Das Pferd wiegt über eine Tonne.«

»Wirklich? Und das trägst du auf dem Rücken?«, fragte sie honigsüß.

Er runzelte die Stirn und ging in die Hocke, um den Koffer anzuheben. Der rührte sich jedoch keinen Millimeter. Er versuchte es noch einmal, die Muskeln angespannt und schmerzend vor Anstrengung. Nichts – nur dass seine Schultergelenke knackten. Er sah zu Jess hoch, zog seine Handschuhe zurecht und packte den seitlich angebrachten Ledergriff. Auch als er heftig daran zerrte, schaffte er es kaum, ihn mehr als einen Meter weit zu ziehen.

»Meine Güte, was ist denn da drin?«, fragte er völlig außer Atem. Er hatte das Gefühl, gleich würden ihm die Adern im Kopf platzen.

»Medizinische Fachbücher.«

Sein Stirnrunzeln wurde finster. »Warum zum Teufel hast du mir das nicht gesagt?«

»Du hast mir versichert, es wäre kein Problem für dich. Der Koffer wiegt doch bestimmt nicht so viel wie das Pferd, oder?«

»Wie hast du ihn hierher gebracht?« Er rückte seinen Hut gerade.

»Es waren drei Männer und ein Junge nötig. Ich habe sie am Bahnhof engagiert.« Sie wirkte sehr zufrieden mit sich.

Meine Güte, was für ein freches Ding. Das war sie schon immer gewesen. Wie konnte eine so ernsthafte Frau mit einem solch ernsthaften Beruf so frech sein? Aber genau das machte ja ihren Charme aus – eine Mischung von Gegensätzen in ein und derselben Person. Fleißig und diszipliniert, aber auch rebellisch und draufgängerisch. Belesen, aber unschuldig. Amy dagegen war weltfremd und unkompliziert. Obwohl Cole Jessica länger kannte, war er nie ganz aus ihr schlau geworden. Das war irritierend, hatte aber auch seinen Reiz. Wenn sie es darauf anlegte, konnte sie einen Mann ganz schön aus dem Gleichgewicht bringen.

»In Ordnung, ich muss jemanden holen, der mir hilft. Geh du einstweilen in die Praxis zurück.«

»Ich muss zuerst noch zur Wäscherei.«

Er fasste in seine Gesäßtasche. »Hier ist der Schlüssel. Wir treffen uns in der Praxis, wenn ich jemand gefunden habe, der – also, es wird eine Weile dauern.«

Er war sich nicht sicher, aber er glaubte das Aufblitzen der Genugtuung in ihrem Lächeln zu entdecken, als sie sich zum Gehen wandte.

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»Keine Sorge, Ma’am, wir liefern Ihnen die Sachen später am Nachmittag, gebügelt und so gut wie neu.« Clarence Wegner nahm Jessica die zerknitterten Kleider ab. Nachdem sie tagelang eingepackt gewesen waren, waren sie so zerdrückt, dass man sie nicht mehr tragen konnte. Freundlich und interessiert plapperte er weiter. »Schön, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen. Ich wette, Sie sind froh, wieder zu Hause zu sein. Sieht so aus, als würden wir hier bald die Hochzeit Ihrer Schwester erleben dürfen.«

»Äh, ja, Mr. Wegner …«

»Schade, dass Riley Braddock drüben in Frankreich ist. Aber wir hoffen ja, dass er zur Hochzeit hier sein kann. Als ich Mrs. Wegner geheiratet habe, war mein Bruder auch Trauzeuge und …«

Jessica bemühte sich, Mr. Wegners Worten zu folgen. Der Himmel war klar, es war ein kühler Tag. Trotz der offenen Tür war die Luft in der Wäscherei allerdings stickig und feucht. Durch den Spalt in den purpurfarbenen Vorhängen, die den Arbeitsbereich von der Ladenfront abtrennten, konnte sie sehen, wie Dampf aus den Waschzubern quoll und von den Bügeleisen und der Wäschemangel aufstieg. Von irgendwoher kamen Essensgerüche. Vielleicht von Mae Rumsteadts Café ein Stück weiter die Straße hinunter, oder aus der Küche im ersten Stock, wo Clarence Wegner und seine Frau wohnten.

Plötzlich erinnerte sie sich lebhaft an den durchdringenden Geruch von gekochtem Kohl und ranzigem Schweineschmalz in dunklen, stickigen Fluren, die durch ebenso dunkle, stickige Treppenhäuser miteinander verbunden waren. Kinder, die in der Sommerhitze quengelten, ihre Mütter, die schrill keiften oder verzweifelt aufstöhnten. Eine Kakofonie von erhobenen Stimmen voller Zorn, Schmerz oder Hilflosigkeit drang durch die dünnen Wände der Mietskasernen. Egal, welches Gebäude – in New Yorks Armenvierteln waren sie alle gleich. Die Hölle auf Erden. In einem Raum ein kleines Mädchen mit einem gebrochenen Arm, am Ende des Flurs eine frischgebackene Mutter mit strähnigem Haar, die gegen das Kindbettfieber ankämpfte, das sie dahinzuraffen drohte, und wieder in einem anderen eine Frau, die ausgezehrt und hohläugig auf einer nackten, fleckigen Matratze lag, nur eine zerlumpte Steppdecke zum Zudecken, einen Tumor von der Größe einer Zitrone in der Brust.

Die Hitze.

Die Ratten.

Die Armut.

Die Hoffnungslosigkeit.

All das suchte sie in ihren Träumen heim, aber Jess hatte sich nicht mehr so lebhaft daran erinnert, seit sie New York für eine Auszeit in Saratoga Springs verlassen hatte.

»… alles in Ordnung, Miss Layton? Sie sehen ein bisschen blass aus.«

Ruckartig wurde Jessica in die Gegenwart zurückgeholt. »Ja, entschuldigen Sie.« Sie presste die Hand an die Stirn. Ihr klebte das Kleid am Rücken, und ihr Herz schlug so heftig wie die Basstrommel der Blaskapelle. Plötzlich schnürte ihr ein Gefühl von Panik die Kehle zu, und sie bemühte sich, es zu verbergen. »Es – es ist sehr warm hier drin, finden Sie nicht?«

»Aber sicher, die Sommermonate sind in unserem Gewerbe nicht einfach, auch wenn der neue elektrische Ventilator sie erträglicher macht.« Mr. Wegners Gesicht war von einem glänzenden Schweißfilm überzogen. Er deutete auf die rotierenden Ventilatorblätter in ihrem Drahtkäfig. »Aber kommen Sie doch nächsten Monat – von November bis März ist es hier angenehm warm.«

Jessica zog ein Taschentuch hervor. »Nun ja, ich – ich muss mich beeilen.« Wenn sie nicht bald hier rauskäme, würde sie noch in Ohnmacht fallen. Oder Schlimmeres.

»Selbstverständlich. Ich schicke eines der Mädchen, sobald …«

Aber Jess hatte sich schon aus der Tür geschoben und stand auf dem Gehweg. Unter der Markise hielt sie inne und wischte sich mit dem zusammengeknüllten Tuch über die Schläfen. Es war eine Erleichterung, wieder an der frischen Luft, in der Kühle zu sein, doch das Gefühl von Panik, das sie erfasst hatte, machte ihr Sorgen.

Wann würden sie diese Erinnerungen in Ruhe lassen? Hatten sie sich so tief in ihr Gedächtnis eingegraben, dass sie wieder und wieder vor ihrem inneren Auge ablaufen würden, wie Szenen aus einem Film? Nein, beruhigte sie sich, das konnte nicht sein. Wenn sie erst einmal in Seattle war, würde es ihr besser gehen – sie würde ganz neu anfangen, und neue Erinnerungen würden die alten überlagern.

Sie holte tief Luft, um wieder Haltung zu gewinnen, stopfte das feuchte Taschentuch in ihre Rocktasche und machte sich auf den Weg zurück zur Hauptstraße. Als sie in der Praxis ankam, sah sie, dass Eddie Cookson fort war.

Gut. Wenigstens war jemand gekommen, um ihn abzuholen. Was er jetzt vor allem brauchte, waren Bettruhe und vernünftige Pflege.