Kapitel 9
Als alle um den Tisch versammelt saßen, war Cole bereits am Verhungern. Susannah hatte eine ansehnliche Personenzahl zu verköstigen – Cole, seinen Vater, ihren Vormann Tanner Grenfell, Tanners Neffen Wade und Joshua und heute auch noch Amy. Vor dem Krieg, als die Belegschaft größer war, hatten sie eine eigene Köchin für die Farmarbeiter beschäftigt. Jetzt gab es mehr Arbeit denn je und weniger Leute, um sie zu erledigen.
Irgendwie bekam Susannah es hin. Sie hatte dieselbe eiserne Robustheit wie Jessica. Niemand fragte, wie sie das alles schaffte. Sie tat einfach, was nötig war. Aber sogar Cole musste zugeben, dass man ihr die Anstrengung allmählich ansah. Manchmal erschien sie morgens am Frühstückstisch mit dunklen Schatten unter den Augen, oder sie hatte ihre langen schwarzen Locken nur hastig mit einem Lederband zurückgebunden. Cole hörte sie oft noch längst, nachdem alle anderen im Bett waren, im Flur auf-und ablaufen oder in der Küche herumhantieren. Vermutlich hatte sie keine einzige Nacht mehr durchgeschlafen, seit Riley fort war. Einmal hatte er durch ihre offene Schlafzimmertür gesehen, dass sie das silbergerahmte Hochzeitsfoto vom Toilettentisch auf das Nachtkästchen gestellt hatte, als wäre Riley ihr so näher.
Sie genossen gerade ihr köstliches Brathähnchen, als Pop über den Tisch hinweg trompetete: »Nun, Mrs. Braddock, was hat unser Kriegsheld in seinem Brief zu berichten?« Unter der Post, die Cole mitgebracht hatte, war auch ein Brief von Riley an Susannah gewesen.
Susannah überflog Rileys hastiges Gekritzel auf wasserfleckigem Papier. »Er schreibt, es regnet seit Tagen ununterbrochen … seine Kleider werden gar nicht mehr trocken, und im Schützengraben stehen sie knöcheltief im Wasser und – in Schlimmerem … sie schlafen auch im Nassen. Gütiger Gott, er schreibt ständig, dass sie Affenfleisch essen. Das kann doch nicht sein.«
»Wenn ein Mann richtig Hunger hat, fragt er nicht lang, wo das Fleisch herkommt. Ich weiß noch, ich hab mal eine Klapperschlange gegessen, weil wir beim Viehtrieb nichts anderes hatten. Hab sie selbst geschossen und …«
Cole unterbrach ihn. »Ich habe von diesem Fleisch gehört. Es ist kein Affenfleisch, die Soldaten nennen es nur so. Es ist irgendein scheußlich schmeckendes französisches Zeug, das sie aus Madagaskar einführen.«
»Er ist zum Sergeant befördert worden.«
»Hah!«, kommentierte Pop und schlug auf den Tisch. »Ich wusste, dass er seinen Mann steht!«
Beim nächsten Absatz zogen sich Susannahs Brauen ein wenig zusammen. Dann berichtete sie mit leicht zitternder Stimme weiter. »Er … er möchte, dass ich ihm saubere Socken und Seife schicke. Die Deutschen greifen mit Giftgas an, und viele Männer sind erblindet oder gestorben. Oh … er schreibt, der Mann neben ihm ist von einer Granate getroffen worden und …« Sie brach ab, faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in ihre Schürzentasche.
Cole sah, dass sie um Fassung rang, in ihren braunen Augen glänzten Tränen. Offenbar hatte Riley noch mehr geschrieben, was sie entweder nicht erzählen konnte oder wollte.
»Zur Hölle mit diesem weinerlichen Mädchenkram. Was ist mit den Schlachten? Was ist mit ihm? Zeigt er es den Deutschen? Wenn ich da drüben wäre, würde ich ihnen schon die Flötentöne beibringen, bei Gott«, verkündete der alte Mann.
»Pop, lass sie in Ruhe«, warnte Cole. Die Taktlosigkeit seines Vaters ärgerte ihn.
»Die Jungs bei Tilly’s erwarten ausführliche Berichte.«
Susannah reichte Amy, die noch unglücklicher wirkte als ihre künftige Schwägerin, den Kartoffelbrei. Amy konnte Unfrieden nicht ertragen.
Die Spannung im Raum ignorierend, plapperte Pop ungeniert weiter. »Im Nassen schlafen, meine Güte, das ist doch gar nichts. Ich habe schon Vieh getrieben bei sturzbachartigen Regengüssen und bei Schneestürmen in Montana, die so schlimm waren, dass die Kühe steif gefrorene Beine hatten. Du lieber Himmel, einmal war das Schneetreiben so dicht, dass die dummen Viecher fast von einem Felsen gestürzt wären. Und ich habe bei Wetter im Freien geschlafen, das weder für mich noch für die Herde gesund war, nur mit einer Decke und einer Flasche Whiskey, um mich warmzuhalten. Das Cowboyleben ist nichts für Waschlappen.« Er nahm einen großen Bissen von einer Keule und redete mit vollem Mund weiter. »Aber ich habe nicht gejammert, ich habe einfach weiter …«
Susannah legte ihre Gabel auf den Teller und funkelte ihn an. »Ich nehme nicht an, dass du dir beim Viehtreiben Sorgen machen musstest, dass du durch eine Haubitze ins Jenseits befördert oder von einem Bajonett durchbohrt wirst, oder?«
Pop hielt mitten im Kauen inne. »Na ja, es hätte mir jederzeit ein Wolf oder ein wütender Puma über den Weg laufen können …«
Susannah faltete die Hände auf dem Tisch, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten und die Fingerspitzen sich rot verfärbten. »Und wenn einer gekommen wäre, hätte der dich dann mit Giftgas angegriffen?«
»Mit Gas?«
»Hast du deine Familie vermisst, als du da draußen warst und nicht wusstest, ob du sie jemals wiedersehen würdest?«
»Nein, das ist Jahre her. Damals hatte ich noch keine Familie, aber …«
»Dann kann man es meiner Meinung nach nicht vergleichen, Shaw. Tut mir leid, dass ich nichts Besseres für dich habe, was du diesen Schwachköpfen bei Tilly’s erzählen kannst. Vielleicht interessieren sie sich für deine Geschichten vom Viehtrieb. Entschuldigt mich.« Sie schob ihren Stuhl zurück und verließ den Raum. Tanner sah ihr nach, dann bedachte er den alten Mann mit einem bösen Blick. Sie hörten, wie sie die Treppe hinauf und durch den oberen Flur lief. Einen Moment später schlug über ihnen eine Tür zu.
»Was zum Teufel war das denn gerade?«, schimpfte Pop völlig verdutzt.
»Bist du jetzt glücklich?«, fuhr Cole ihn an. Susannah hatte Pop lang verhätschelt – in Coles Augen sogar regelrecht verzogen –, aber offensichtlich war jetzt auch bei ihr die Grenze erreicht. Auf der Ranch gab eine Menge Arbeit, und er wusste, dass sie sich Sorgen wegen Riley machte, obwohl sie immer so tapfer tat, und Shaw Braddock war ein unsensibler alter Kauz, wie es keinen zweiten gab.
Amy saß da, die Hände auf dem Schoß, und starrte auf ihren Teller. Ihre Wangen waren rot vor Verlegenheit. Tanner versuchte sich den Anschein zu geben, ganz mit dem Essen beschäftigt zu sein, dabei schob er es nur auf dem Teller hin und her. Wade und Josh glotzten die Erwachsenen mit großen Augen an, bis Tanner sie mit dem Ellbogen anstieß und zu ihren Tellern nickte.
»Was habe ich denn verbrochen?«, fragte Pop. »Ich wollte doch nur wissen, wie es mit den Kämpfen steht und was Riley in Frankreich so treibt. Ich hätte nicht gedacht, dass sie gleich in die Luft geht.« Er tunkte ein Stück Brot in die Soße, aber auch er war bis zu den Ohren rot angelaufen und wagte keinem in die Augen zu sehen. »Pah, das ist das Schlimme an den Frauen – sie regen sich immer auf.«
»Ja, es macht ihnen Sorgen, wenn ihr Ehemann in einem fremden Land im Krieg ist«, entgegnete Cole scharf. »Deshalb hätte ich mich zum Kriegsdienst melden sollen und nicht Riley. Er hat alles zu verlieren. Ich gar nichts.«
Amy neben ihm keuchte entsetzt auf, sprang vom Tisch auf und flüchtete in die Küche. Durch die Tür hörte man ihr gedämpftes Schluchzen.
»Mist!«, murmelte Cole und warf seine Serviette auf den Tisch. Er zeigte mit dem Finger auf den alten Mann. »Wenn du nicht mein Vater wärst, würdest du heute im Stall schlafen!« Damit stand er auf und verließ ebenfalls den Raum, sodass nur noch Pop, Tanner und die Jungen übrig blieben.
Es kostete ihn einige Mühe, aber schließlich konnte Cole Amy beruhigen und ihr klarmachen, was er gemeint hatte. Seine Bemerkung bezog sich natürlich auf die Zeit, bevor er angefangen hatte, mit ihr auszugehen.
Sie fuhren in Coles Lastwagen, schweigend. Nur das Quietschen der Federn und das Knarren der Scharniere unterbrachen die Stille, als sie über die holperige Straße in die Stadt fuhren. Es war leichter, als nachts ein Fuhrwerk zu lenken. Die Scheinwerfer des Lastwagens beleuchteten die vor ihnen liegende Straße.
Schließlich sagte Cole: »Pop ist ein bornierter alter Schw… Hundesohn. Manchmal denke ich, Mutter ist nur gestorben, um von ihm wegzukommen.«
Amy zog die Jacke fester um sich. Die Abende waren jetzt kühl, seit der Sommer sich verabschiedet hatte. »Vielleicht ist er auch so, weil sie gestorben ist. Sie ist schon lang tot, nicht wahr?«
»Ja, ich war damals acht. Dein Vater hat gesagt, etwas stimmte mit ihrem Herzen nicht, vielleicht schon von Geburt an. Eines Tages hörte es einfach auf zu schlagen, als sie im Garten stand und die Wäsche aufhängte.«
»Oh, dann war sie noch jung.«
»Ja, jünger als ich jetzt. Sie war siebenundzwanzig.«
»Und Mr. Braddock hat nie wieder geheiratet. Er trauert ihr wahrscheinlich nach, und das hat ihn bitter und unsensibel für die Gefühle anderer gemacht. Vielleicht beneidet er uns und Riley und Susannah, weil wir uns so nah sind.«
Cole hielt nichts von ihrer Theorie, aber Amy rechtfertigte stets die Handlungen anderer und suchte immer das Gute im Menschen. Und wenn sie es nicht fand, dann bastelte sie es sich zusammen. »Schon möglich. Wie dem auch sei, der Streit beim Essen tut mir jedenfalls leid.«
Sie berührte kurz seinen Ellbogen. »Mir auch. Es war dumm von mir, gleich – wie hat dein Vater es formuliert – in die Luft zu gehen. Ich konnte es Susannah so gut nachfühlen, und als ich mir dann vorstellte, dass du in Gefahr wärst und nichts zu verlieren hättest, da …« Sie wandte sich ab und blickte auf das Feld, das in der purpurfarbenen Dämmerung vorbeiflog. »Ich weiß, das ist jetzt nicht gerade patriotisch von mir, aber ich bin froh, dass du dich nicht freiwillig gemeldet hast. Ich bin froh, dass du in Powell Springs geblieben bist, wo du sicher bist.«
Cole entgegnete nichts darauf. Wieder kam ihm dieses Wort in den Sinn und ging ihm den ganzen Weg zur Stadt nicht mehr aus dem Kopf.
Drückeberger.
Horace Cooksons Voraussage, dass Jessica kaum Patienten haben würde, erwies sich als ziemlich jämmerlich.
Schnell sprach sich herum, dass und wo sie praktizierte, und jene, die Granny Mae nicht trauten oder mit ihrer ärztlichen Kunst nicht zufrieden waren, standen am Sonntagmorgen nach der Kirche bei ihr vor der Tür.
Sie bekam es mit allen möglichen Leiden zu tun, hauptsächlich Bagatellen. Das war auch gut so, denn sie hatte noch keine Zeit gehabt, sich richtig in der Praxis umzusehen, und benutzte im Grunde nur ihre Arzttasche für die Arbeit. Außerdem hatte Horace Cookson so verzweifelt nach einem Arzt für Powell Springs gesucht, dass er zu ihrem Glück das Stellenangebot mit einem Telefonanschluss im Arbeitszimmer, einer anständigen Ausstattung und einigen Materialien und Medikamenten versüßt hatte. Manches stammte noch von ihrem Vater, wie ihr auffiel. Neben der Beobachtung von Eddie Cookson, dessen Mutter bestens in der Lage schien, ihm die nötige Pflege zukommen zu lassen, verband Jessica einen verstauchten Knöchel, schnitt eine Eiterbeule auf und stellte eine Schwangerschaft fest, alles bis um zwei Uhr mittags.
Es war fast zehn Uhr abends, als sie im Nachthemd im Zimmer stand und die milde, saubere Luft einatmete. Abgesehen von Eddies heiseren Hustenanfällen war die Nacht ruhig und duftete frisch, ein leichtes Lüftchen bauschte die Spitzengardinen und brachte von draußen den Geruch vom letzten Heu, das auf den Wiesen vor der Stadt gemäht worden war. In Powell Springs war es viel ruhiger als in New York. Es gab keine Straßengeräusche, keinen Lärm von scheppernden Feuerwehrautos und Lastwagen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit vorbeifuhren.
Nachdem sie ihrem Haar die obligatorischen hundert Bürstenstriche gegönnt hatte, lockten sie die sanft gebauschten Gardinen zum Sessel am Fenster. Sie schaltete die Deckenleuchte aus, sodass nur noch der Mond Schatten auf den Boden warf. Während sie ihr Haar flocht, blickte sie auf die ruhige Hauptstraße. Die Schaufensterscheiben waren dunkel, und wenn sie angestrengt genug lauschte, trug der Wind, wenn er sich drehte, von Zeit zu Zeit das sanfte Plätschern des Powell Creek zu ihr hin. Sie stellte die Ellbogen auf die Fensterbank, legte das Kinn in die Hände und holte tief Luft, um die Frische zu riechen.
Es war Nacht in einer Kleinstadt. Ihrer Stadt.
Die idyllische Stimmung rührte ihr Herz an, es war noch friedlicher, als sie es sich in Augenblicken des Heimwehs vorgestellt hatte. Die Wohnung war wirklich hübsch, dachte sie, als sie den Blick über die schwach beleuchteten Umrisse wandern ließ. Auf alle Fälle hübscher, als sie erwartet hatte. Dr. Pearson würde sich hier sehr wohlfühlen. So wie sie in der kurzen Zeit ihres Aufenthalts.
Sie hatte einen langen, anstrengenden Tag hinter sich, und die Müdigkeit steckte ihr in den Gliedern. Aber es war wenigstens nicht das völlig ausgepumpte Gefühl wie früher. In New York hatte es Nächte gegeben, da hatte sie sich kaum die Treppe zu ihrer Wohnung im dritten Stock hinaufschleppen können.
Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie stundenlang wachgelegen, wenn ihr der Kummer in der Welt nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, und sich geschworen, am nächsten Tag noch härter zu arbeiten, um ihn zu lindern. Aber was sie auch tat, der Kummer in der Welt wurde nicht weniger.
Gähnend durchquerte sie den Raum und kletterte in ihr bequemes, einladendes Bett. Der Schlaf kam und schloss sie in seine weichen Arme.
Hier in Powell Springs war sie die Einzige, deren Herz Kummer litt.