Kapitel 4
»Corporal Braddock, mein Bester, hätten Sie vielleicht ein Streichholz für mich?«
Riley Braddock blickte nach links, in die Richtung, aus der die Bitte gekommen war. Es war jedoch sinnlos. In solch einer schwarzen, wolkenverhangenen Nacht in einem feuchten, elenden Schützengraben war es so verdammt finster, dass man nicht einmal die Hand vor Augen sah. Er war umgeben von den Männern seines Bataillons, aber diese Stimme erkannte er an ihrem Singsang.
»Whip, bist du das?«
»Genau der«, erwiderte Remy Whipperton Fournier III. »Ich hab’s endlich geschafft, mir ne trockene Zigarette zu drehen, aber ich hab keine Streichhölzer.«
»Mal sehen.« Riley tastete seine Uniformtaschen ab und wühlte in den Fächern seines Patronengurts. Seine Finger umschlossen eine kleine Blechbüchse. Er öffnete den Deckel und zog ein einzelnes Streichholz heraus. »Hier, bitte.«
Whips Hand tastete in der Dunkelheit, bis sie das Gesuchte gefunden hatte. »Danke.« Das Streichholz flammte auf und beleuchtete für einen Augenblick das freundliche Gesicht des Mannes. »Verdammt, wie ich das hier hasse«, klagte er matt. »So hab ich mir unseren großen Ausflug eigentlich nicht vorgestellt. Jeden Moment können die Deutschen eine Granate abfeuern, und peng, ist dein Kopf weg und kullert wie ein Krocketball durch den Schützengraben – oder wird weggespült, falls es regnet.«
Riley lächelte. »Zumindest heute Nacht wird das wohl nicht passieren. Aber ich muss gestehen, dass ich es in dem Bauernhaus, in dem wir gestern noch waren, auch gemütlicher fand. Das Essen war um Klassen besser als dieses Affenfleisch und der Dosenlachs, den wir hier kriegen.«
Whip zog an seiner Zigarette. Ein kleines orangefarbenes Leuchtfeuer glomm auf und erhellte sein breites Grinsen. »Auch das Ambiente war weitaus hübscher. Die junge Frau des Alten – oh là là!« Whippy war ein Gentleman aus dem Süden, aus Baton Rouge, mit einem stark ausgeprägten Akzent und trockenem Humor. Da er fließend Französisch sprach, konnte er sich leichter als die anderen mit den Einheimischen verständigen, auch wenn Riley den Eindruck hatte, dass sie seine eigentümliche Aussprache als Beleidigung für ihre Ohren empfanden.
»Denkst du eigentlich jemals an etwas anderes als an Weiber, Fournier?«, fragte eine Stimme aus dem Dunkeln.
»Natürlich. Ich mache mir Gedanken, wie ich Leib und Seele zusammenhalten kann.«
»Und was ist mit der Umgebung? Ist dir dieses Wäldchen mit waschechten Bäumen nicht aufgefallen?«
»Meine Herren, ich stimme zu, dass die Landschaft ebenfalls sehr ansprechend war, mit Ausnahme des unseligen Schmuckstücks, das hier offenbar in keinem Garten fehlen darf.«
»Du meinst den Misthaufen vor der Tür?«
Whip seufzte laut. »Ja, daran kann ich mich einfach nicht gewöhnen.«
»Macht mal halblang«, ließ sich eine andere Stimme vernehmen, die nach Steven Collier klang. »Wenn die Franzosen so kleinlich wie die Amerikaner wären, würden sie uns, verlaust wie wir sind, gar nicht erst reinlassen. Wenigstens sind sie diesbezüglich nicht so pingelig. Und wir riechen auch nicht viel besser als diese Misthaufen.«
»Teufel noch mal, Leutnant, das ist wohl nur ein schwacher Trost«, erwiderte Riley mit einem freudlosen Glucksen.
Fournier ließ sich nicht beirren. »Ich könnte mir vorstellen«, fuhr er in seinem schleppenden Singsang fort, »wenn so ein Prachtweib wie deine Miss Susannah zu Hause auf mich warten würde, würde ich auch lieber an sie denken. So ein bildschönes, engelhaftes Wesen auf Gottes herrlicher Erde. Zeig uns doch noch einmal ihr Bild, Braddock.« Genüsslich inhalierte er den Rauch seiner Zigarette.
Automatisch legte Riley die Hand über die Uniformtasche, in der Susannahs Fotografie steckte. »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Außerdem ist es hier sowieso zu dunkel, um irgendwas zu erkennen.«
»Und wo sind wir hier noch mal?«
»Mein Gott, Whippy, hörst du denn nie zu?«, fragte Riley. Fournier war ein netter Kerl und auch ein guter Soldat, wenn es darauf ankam, aber er schien mit den Gedanken immer woanders zu sein. Er war auf dem College gewesen und hätte eigentlich Offizier werden sollen, hatte die Beförderung jedoch abgelehnt. Zu viel Verantwortung, war sein Kommentar gewesen. Manchmal wunderte sich Riley, dass Fournier immer noch den Kopf auf den Schultern trug, wie dieser manchmal scherzte. »Die Schlacht hat am sechsundzwanzigsten September begonnen. Wir sind in der Nähe von Verdun, irgendwo zwischen der Maas und dem Argonnerwald. Vermutlich. In der Dunkelheit ist das schwer zu sagen.«
»Ach ja, die Argonnen. Wo schon so lang gekämpft wird.« Mit einem letzten Zug erlosch die Zigarette. Riley hörte das Geräusch eines Absatzes, der sie in den Schlamm trat. »Ich muss mal zur Latrine, Jungs«, verkündete Whippy. »Versprecht mir, dass ihr mich holt, wenn die Deutschen aufkreuzen. Ich will nichts verpassen.«
Das Bataillon hatte einen mehrstündigen Marsch im Regen hinter sich. Ihr Weg hatte sie durch Laufgräben und über zerstörte Straßen geführt, auf denen ein Chaos aus Fahrzeugen, Pferden und Männern herrschte, die sich gegenseitig blockierten. Sie brachten Nachschub für ein anderes Frontbataillon. Das nächtliche Vorrücken schützte sie vor feindlichen Scharfschützen oder Spähtrupps, aber das Wetter war höchstens etwas für die Frösche und Ratten, von denen es in diesem Loch nur so wimmelte.
Riley lehnte mit dem Rücken an der Grabenwand, die mit Sandsäcken und dünnen Zweigen verstärkt war, neben sich mit dem Schaft nach unten sein von der Armee gestelltes Springfield-Gewehr. Von irgendwoher entlang der Front hörte er leisen Gesang, wunderschönen Gesang, ein harmonischer Chor wehmütiger Stimmen.
Eine lange, lange Nacht
muss ich warten,
bis meine Träume wahr werden.
Bis zu dem Tag, an dem ich den langen, langen Weg
mit dir gehe.
Riley musste schlucken. Plötzlich hatte er einen Kloß im Hals. Er wünschte, Whip hätte Susannah nicht erwähnt. Seit sechzehn Monaten hatte er seine Frau nicht mehr gesehen. Mein Gott, es kam ihm vor wie ein ganzes Leben. Mit diesem Gefühl der abgrundtiefen Einsamkeit und Isolation, obwohl er von Tausenden von Männern umgeben war, hatte er nicht gerechnet, als er seine Heimat verlassen hatte. Wie kann sich ein Mensch mitten im Gewühl anderer Menschen einsam fühlen? Aber bei ihm war es so.
Mit geschlossenen Augen stellte er sich Susannahs lange schwarze Locken vor, ihre zarten Wangen, die weiche Rundung ihrer Hüfte unter dem Hemd, die Art, wie sie ihn mit ihren schokoladenbraunen Augen ansah, wenn sie allein waren. Er stellte sich vor, wie sie bis zu den Schenkeln im hohen Sommergras stand, ihn anlächelte und mit einem Funkeln in den Augen lockte, und wie er zu ihr hinging und seine Hände in ihrem Haar vergrub. Dann zog sie ihn hinunter ins tiefe Gras, wo niemand sie finden würde.
Wenn er sich konzentrierte, konnte er sich an ihren Duft erinnern – Kirschbaumrinde und Mandeln. Unvermittelt nahm er einen tiefen Atemzug, und das holte ihn wieder in die Gegenwart zurück.
Die Gräben rochen wie – nun ja, es gab kein geeignetes Wort, das zu beschreiben. So vieles trug zu dem Gestank bei: Tausende nur dürftig zugeschaufelte Gräber, gekochtes Essen, übergelaufene Latrinen, ungewaschene Körper, verrottende Sandsäcke, alles vermischt mit dem Geruch nach modrigem Schlamm. In der Dunkelheit konnte er die braunen Ratten nicht erkennen, die ohne Scheu durch die Gräben huschten. Diese dreckigen Nager waren oft so groß wie Hauskatzen, da es ihnen nie an Nahrung fehlte. Sie lebten von den menschlichen Überresten, die überall verstreut lagen. Einige Veteranen schworen, dass die Ratten das bevorstehende Granatfeuer der Deutschen spürten und sich rechtzeitig davonmachten, bis es vorbei war.
Warum er ursprünglich einmal geglaubt hatte, Krieg sei eine edle und romantische Erfahrung, war ihm inzwischen entfallen. Nichts an seiner Arbeit als Pferdezüchter hatte ihn auf Dinge vorbereitet wie den kilometerlangen Stacheldraht, das Maschinengewehrfeuer, das ein Dorf innerhalb von Minuten in Schutt und Asche legen konnte, und die unaussprechlichen, unmenschlichen Gräuel, deren Zeuge er geworden war. Aber auf das, was er hier erleben musste, war keiner der Männer vorbereitet gewesen. Verflucht noch mal, er hätte doch wenigstens wie manch anderer warten können, bis er eingezogen wurde.
Manchmal … nur eine Minute lang … wünschte er, er hätte nachgegeben, als Cole und er darüber stritten, wer gehen und wer bleiben sollte. Cole hatte in den Krieg ziehen wollen.
Natürlich hatte Pop wie immer seine Sprüche geklopft und getönt, dass beide Söhne dem Namen Braddock Ehre machen würden. Für Riley hatte es außer Frage gestanden, dass er sich freiwillig melden würde. Bei Cole hatte Pops Genörgel jedoch letzten Endes nicht gewirkt, und Riley war froh darüber. Zwischen den Brüdern hatte es Groll darüber gegeben, wie die Dinge gelaufen waren. Aber jemand musste Susannah mit den Verträgen helfen, und sein Vater war nicht in der Verfassung dazu.
Die goldenen, strahlenden Tage in jenem endlosen Sommer, an den er sich so gut erinnerte – sie waren der Grund, warum er hier in Frankreich war. Warum er und die anderen einen Feind bekämpften, der ihre Freiheit grausam und tyrannisch zerstören wollte.
So hatte man es ihnen zumindest gesagt. Aber er glaubte nicht mehr daran. Falls er starb, was hätte er dann von der Freiheit?
Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel. Nicht viel zu sehen.
Wenigstens hatte der Regen aufgehört.