„Wir hatten mal was miteinander“, sagte er, um die Sache voranzutreiben. „Das fällt also nicht weg.“
„Ha!“ Wieder sah sie ihn an und musterte ihn von oben bis unten. „Ich bin mir nicht sicher, ob mir das Gesamtpaket gefällt, also nein, wir hatten nichts miteinander.“
„Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, was du meinst“, erwiderte er, weil er sie genau verstand. Ihr gefiel sein Aussehen nicht. Er ballte die Fäuste. „Zu deiner Information: Ich bin so hässlich, wie es nur geht.“
Ihr Blick war süffisant, als sie erwiderte: „Ja, ich weiß. Genau das habe ich gerade gesagt.“
Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Ich bin sexy, verflucht! Gut, sein Äußeres war vielleicht etwas unorthodox. Blau gefärbte Haare, ein paar Piercings, Tätowierungen – wenn auch nicht zu vergleichen mit Aeron. Der Junge sah ja aus wie ein Bilderbuch. Doch Gideon hatte sich und die Tinte unter Kontrolle. Er hatte Motive gewählt, die ihm etwas bedeuteten.
Ein Paar schwarze Augen, die er jedes Mal sah, wenn er seine Augen schloss. Ein Paar blutrote … Lippen … Wie vom Blitz getroffen fuhr er hoch und starrte zu Scarlet hinüber. Die schwarze Augen hatte. Und blutrote Lippen.
„Was?“, knurrte sie. „Ich weiß, dass ich umwerfend bin, ganz im Gegensatz zu dir, aber komm schon. Leg um Himmels willen ein paar Manieren an den Tag.“
Solange er denken konnte, hatte er Bilder in seinem Kopf. Schwarze Augen, rote Lippen und einen Satz, an den er nur in den dunkelsten Stunden der Nacht dachte: SICH TRENNEN HEISST ZU STERBEN. Leuchtend rote Blumen rankten sich unter den Worten entlang.
In seinem Kopf hatten sich diese Worte und Blumen von hinten um die Taille einer Frau geschlungen. Jedes Mal, wenn er daran dachte, beschleunigte sich sein Herzschlag, also hatte er sich die Worte – und ja, auch die Blumen – um seine eigene Taille tätowieren lassen. Das mochte mädchenhaft sein, und viele Leute hatten ihn deshalb schon aufgezogen, doch das kümmerte ihn nicht.
„Ich möchte nicht deinen unteren Rücken sehen“, sagte er schroff.
Sie erstarrte und wagte nicht einmal mehr zu atmen. „Nein, verdammt!“
„Ich werde nicht darum betteln.“ Er musste es sehen. Er musste es wissen. „Ich habe dich noch nie zuvor gesehen. Ich weiß nicht, dass du dort ein Blumenmotiv eintätowiert hast.“ Sie hatte so ein Tattoo, das wusste er genau.
„Du irrst dich.“
Das war bestimmt eine Lüge. „Dann beweis es mir nicht.“
„Das brauche ich gar nicht.“
Argh! Nervenaufreibendes Weib. Er stand auf. Nach dem langen Sitzen protestierten seine Muskeln schmerzend, und seine Knie zitterten.
„Was? Du bekommst nicht, was du willst, also gehst du? Gut. Geh schmollen wie ein Kleinkind.“
Zuerst hatte sie gewollt, dass er ging, und jetzt wurde sie bockig, weil sie glaubte, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Frauen.
Mit den bandagierten Handgelenken bekam er den Saum seines Hemdes nur unter Schwierigkeiten zu packen, doch nach mehreren frustrierenden Minuten schaffte er es. Er zog den Stoff hoch, drehte sich um und bot Scarlet freie Sicht auf seinen Rücken. Zuerst reagierte sie nicht. Dann hörte er sie scharf einatmen. Er vernahm das Rascheln von Kleidung und Schritte.
Warme Finger berührten seine Haut, und er musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht laut aufzustöhnen. Ihre Fingerspitzen waren rau und hart – vom Waffengebrauch? –, und es schabte herrlich, als sie jedes Wort und jedes Blütenblatt nachzeichnete.
Sie hätte ihm ein verstecktes Messer in den Rücken rammen können, während er abgelenkt war, doch das kümmerte ihn nicht. Sie berührte ihn. Und das erregte ihn stärker, als in einer anderen Frau zu sein.
„Sich trennen heißt zu sterben“, flüsterte sie gebrochen. „Weißt du, was das bedeutet?“
„Ja. Sag es mir nicht.“ Bitte, Götter, bitte.
„Ich … Ich …“ Sie nahm die Hand weg. Einen Schritt, zwei Schritte, sie entfernte sich immer weiter von ihm.
Gideon wirbelte herum. Einen Moment lang vergaß er die Gitterstäbe und streckte die Hand nach ihr aus. Seine Wunden stießen gegen das Metall, und er zuckte zusammen. Während Scarlet außer Reichweite tänzelte, setzte sie wieder einen neutralen Gesichtsausdruck auf.
„Sag es mir nicht“, befahl er.
„Ich habe dir gesagt, du sollst gehen, Gideon.“
Gideon. Zum ersten Mal hatte sie seinen Namen ausgesprochen. Das berührte ihn zutiefst. Das Wort rauschte durch seinen Körper und ließ sein Inneres zu Asche zerfallen – vor allem sein rasendes Herz. Weil … weil … sie seinen Namen zwar in dieser Unterhaltung zum ersten Mal gesagt hatte, es aber nicht das erste Mal überhaupt war, dass er hörte, wie sie ihn aussprach.
In diesem Augenblick wusste er, dass er sie schon einmal seinen Namen hatte sagen hören. Irgendwo, irgendwann. Sie hatte ihn leidenschaftlich geschrien; ihn flehentlich geflüstert. Sie hatte seinen Namen wütend geknurrt und voller Schmerz geweint.
Er war mit ihr zusammen gewesen.
„Teufel“, sagte er und wünschte sich, er könnte stattdessen ihren Namen sagen.
Anscheinend hatte sie in seiner Stimme die Emotionen gehört, die in ihm tobten, denn ausnahmsweise reagierte sie nicht mit einem sarkastischen Kommentar.
„Geh einfach, Gideon, so wie ich dich gleich am Anfang gebeten habe. Bitte.“
Bitte. Er bezweifelte, dass sie dieses Wort oft gebrauchte. Doch andererseits klang sie, als sei sie den Tränen nahe, und er hielt sie nicht für eine der Frauen, die bei jeder Gelegenheit vor einem Mann weinten.
Außer dass sie es schon getan hatte. Das wusste er. Sie hatte geweint, und er hatte sie festgehalten. Aber wann? Und wo?
Die einzige Zeit, die infrage kam, war, als er noch im Himmel gelebt hatte. Da sie von einem Dämon aus der Büchse der Pandora besessen war, musste sie einst eine Gefangene des Tartarus gewesen sein. Zwar hatte er sie nicht eingesperrt, aber hatte er sie womöglich gesehen, wenn er andere Gefangene dort abgeliefert hatte? Hatte er möglicherweise mit ihr gesprochen?
Doch wie sollte es möglich sein, dass sie eine Beziehung geführt hatten und er sich nicht daran erinnerte?
Ob jemand seine Erinnerung ausgelöscht hatte? Die Götter waren dazu in der Lage. Die Götter waren zu allen möglichen grausamen Dingen in der Lage. Doch das warf die Frage auf, warum jemand seine Erinnerung hätte auslöschen sollen. Was hätte eine solche Tat gebracht? Oder verhindert?
„Hast du keinen Mann?“ Seine Stimme war so rau und heiser, dass man hätte denken können, er müsste sich noch von einer schweren Halsentzündung erholen. Doch ein Ehemann wäre eine Erklärung. Er hätte Gideon aus dem Weg räumen wollen.
„Nein“, flüsterte sie so traurig, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. So traurig, dass sie Cameo, der Hüterin des Dämons Elend, ernste Konkurrenz machte. „Habe ich nicht.“
„Keinen Vater?“
„Mein Vater ist tot.“ Sie legte sich wieder auf ihr Feldbett und starrte an die Decke. „Und zwar schon seit langer, langer Zeit.“
Wahrheit? Verdammt noch mal, Dämon! Ich bitte dich, hilf mir. „Keine Mutter?“
„Meine Mutter hasst mich.“
Er würde ihre Worte als Evangelium hinnehmen müssen. „Gibt es jemanden, der dich gern … glücklich sähe?“ Bitte begreif, dass ich unglücklich meine.
Statt zu antworten, rollte sie sich auf die Seite, sodass sie ihm den Rücken zukehrte. „Wenn ich dir sage, was du wissen willst, lässt du mich dann in Ruhe? Diesmal tue ich nicht nur so, als ob ich mit dir verhandeln wollte, Gideon. Wenn ich es dir sage und du nicht gehst …“
Er wollte nicht gehen. Mehr als je zuvor wollte er bleiben. Aber er musste die Antwort erfahren. Vielleicht würde es ihm dabei helfen, das Rätsel zu lösen. „Nein. Sag es mir, und ich bleibe.“
Eine Pause. Dann: „Vorhin, als ich so getan habe, als würde ich dich nicht erkennen, habe ich gelogen. Ich habe dich vom ersten Moment an erkannt. Sich trennen heißt zu sterben“, krächzte sie. „Diese Worte hast du einst zu deiner … Frau gesagt.
23. KAPITEL
Aeron stand auf dem Balkon neben seinem Zimmer, hielt sich am Geländer fest und blickte in den indigoblauen Himmel. Sich zwischen Legions und Olivias Leben zu entscheiden war die schwerste Entscheidung, die er je hatte treffen müssen. Wenn er Olivia wählte, wie er es sich – immer noch – so sehnlich wünschte, müsste Legion bis in alle Ewigkeit leiden. Seine Freunde wären in Gefahr. Und zwar durch niemand Geringeren als Luzifer. Wenn er Legion wählte, würde er sie und seine Freunde retten, und Olivia könnte unversehrt nach Hause zurückkehren. Sie könnte das tun, wozu er sie einst hatte zwingen wollen. Und was er nun am liebsten lauthals beklagt hätte. So wie Zorn es in seinem Kopf hemmungslos tat.
Behalt sie. Bitte. Wir brauchen sie.
Blende es aus. Hör nicht hin, befahl er sich selbst.
Wäre Legion in diesem Moment aufgetaucht, hätte er sie womöglich geschüttelt. In was für eine furchtbare Situation sie ihn gebracht hatte … Was er nun ihretwegen ihr und Olivia antun müsste … Er spürte, wie seine Fingernägel sich zu Krallen verformten und sich in seine Handflächen bohrten, wobei das Metall ächzte und sich wie Wachs verbog. Doch das Schlimmste? All die Dinge, die er nicht mit Olivia machen könnte. Nicht mehr.
Nie mehr würde er die Freuden der körperlichen Liebe mit ihr teilen können. Und genau das war es gewesen: Liebe. Obwohl er es nicht gewollt und versucht hatte, sich dagegen zu wehren, hatte es am Ende sogar sein Körper gewusst. Mit Olivia zusammen zu sein war richtig. Perfekt.
Doch jetzt konnte er sie unmöglich noch bei sich behalten. Selbst wenn es bei seiner Entscheidung nicht um Leben und Tod ginge, so würde doch keine Frau bei ihm bleiben, wenn sie wusste, dass er bald mit einer anderen schlafen würde. Und das würde er. Ihm kam die Galle hoch. Er würde es nicht zulassen, dass jemand von Legion Besitz ergriff. Er würde den zerstörungswütigen Luzifer nicht in sein Reich lassen.
Irgendwann wird Olivia mir dafür dankbar sein. Jedenfalls redete er sich das auf der Suche nach etwas Trost ein. Wenn sie hier bliebe, würde sie ein Mensch werden. Sie würde dahinwelken und sterben, und er müsste ihr hilflos dabei zusehen. Diese Aussicht hatte ihn schon immer abgeschreckt. Und trotzdem hätte er in diesem Moment alles dafür gegeben, mehr Zeit mit ihr verbringen zu können.
Wir können sie nicht verlieren.
Wir müssen. Am liebsten hätte er sie festgehalten, nachdem sie sich geliebt hatten, während er in Gedanken an ein ewiges Zusammensein mit ihr schwelgte. Jetzt würde er den Rest seines Lebens ohne sie verbringen müssen, in dem Wissen, dass sie irgendwo da draußen war und er sie nie wieder sehen, hören oder schmecken könnte.
Nein!
Wie sollte er mit Legion schlafen, wenn Olivia doch die einzige Frau war, die ihn erregte? Er lachte bitter. Vom fest überzeugten Junggesellen war er zu einem Mann geworden, der – unfreiwillig – zwei Eisen im Feuer hatte. Die eine Frau begehrte er nicht, und die andere war kurz davor, ihn zu verlassen.
Schon bald werde ich gehen, hatte Olivia gesagt.
Sogleich war er in Panik geraten. Ich kann sie jetzt nicht verlieren, hatte er gedacht. Deshalb hatte er ihr gesagt, dass sie noch Zeit hätten und sie hierbleiben sollte. Doch damit hatte er nichts getan, als das Unvermeidbare hinauszuzögern und die Trennung noch schmerzhafter für sie beide zu machen. Doch das war ihm scheißegal gewesen!
„Aeron“, ertönte eine leise Stimme hinter ihm.
Himmel, seufzte Zorn.
Bleib stark. Widersteh ihr. Er erlaubte sich nicht, sich umzudrehen, sondern rief nur: „Hier draußen.“
Er vernahm leise Schritte, dann stand Olivia neben ihm und blickte in die heraufziehende Nacht, während ihr wilder Duft ihn einhüllte. Sie zu riechen, ohne sie zu berühren, war Folter. Eine Folter, die er verdiente.
„Wo ist Legion?“, fragte er. Er rechnete damit, dass das Mädchen jede Sekunde ins Zimmer platzte.
„Sie schläft.“
Ohne dass Aeron bei ihr war? „Das klingt so gar nicht nach ihr.“
Olivia zuckte eine zierliche Schulter. „Wenn du es genau wissen willst, ich habe sie unter Drogen gesetzt. Und es tut mir nicht leid!“
Seine Lippen zuckten. Götter, er lieb… bewunderte diese Frau. Dann erstarb sein winziges Lächeln.
Denn plötzlich zog eine von Zorns Visionen durch seinen Kopf: Olivia und Legion schlichen auf Zehenspitzen durch die Flure der Burg, während sie einander immer wieder anrempelten. Legion trug eine Flasche Wein und Olivia zwei Gläser.
Sie waren eindeutig in der Küche gewesen. Und zwar ausgerechnet, um sich Alkohol zu beschaffen. Aber wohin waren sie noch gegangen und warum?
Sie erreichten sein Schlafzimmer, und Olivia sagte: „Einen Toast auf deinen Erfolg.“
„Stimmt“, erwiderte Legion selbstgefällig. „Mein Erfolg. Ich habe dir doch gesagt, dass Aeron niemals dir gehören wird, sondern mir.“
Wieder hätte Aeron sie am liebsten geschüttelt.
„Und du hattest recht.“ Olivia wurde blass, als sie den Wein einschenkte. Mit dem Rücken zu Legion riss sie ein klitzekleines Stückchen Stoff vom Ärmel ihrer Robe ab und ließ es in eins der Gläser fallen.
„Schlaf“, flüsterte sie, als sich der Stoff auflöste. Dann drehte sie sich mit einem aufgesetzten Lächeln zu Legion um. „Ich weiß, wann ich verloren habe.“
Gierig stürzte die Dämonin den Wein herunter, und noch ehe sie das Glas geleert hatte, begann sie zu schwanken. Ihr Blick fiel auf Olivia. „Irgendetwas … stimmt nicht …“
„Natürlich nicht. Hast du wirklich gedacht, ich würde deinen Wein nicht präparieren?“
„Schlampe“, brachte Legion noch undeutlich heraus, als ihre Knie nachgaben. Als sie auf dem Boden aufschlug, schnarchte sie bereits.
Olivias Robe hatte mehr Fähigkeiten, als Aeron gewusst hatte, und in diesem Augenblick hätte er eigentlich das Verlangen verspüren müssen, Olivia unter Drogen zu setzen. Doch zu seinem unendlichen Erstaunen war Zorn von ihrer Tat … verzaubert. „Himmel“ hatte mit „Hölle“ doch bloß gespielt, und der Dämon wollte den Gewinner dieses Spiels in die Arme schließen.
„Bist du wütend auf mich?“, fragte Olivia und riss ihn aus seinen seltsamen Gedanken.
„Dankbar.“ Momentan war er zu durcheinander, als dass er sich mit Legion hätte befassen können. Zu durcheinander, als dass er über das Mädchen hätte nachdenken können, das er als seine Tochter ansah. Wechsel das Thema. Sofort. „Irgendetwas an deiner Stimme ist anders. Es ist mir schon früher aufgefallen, aber jetzt ist es noch deutlicher.“ Sie hatte ihm von Legion erzählt, doch er hatte nicht den Zwang verspürt, ihr zu glauben.
„Ja“, erwiderte sie. „Es ist etwas anders.“
„Und was?“, wollte er wissen, auch wenn er meinte, die Antwort bereits zu kennen. Offenbar verlor sie umso mehr ihrer engelhaften Fähigkeiten, je länger sie hierblieb.
Wie würden die anderen Engel darauf reagieren, wenn sie nach Hause zurückkehrte? Der Gedanke, dass sie eine so wundervolle Frau mieden, missfiel ihm.
Wieder zuckte sie mit den Schultern, und diesmal streifte ihre Haut seine. Einen Moment lang schloss er die Augen und genoss die weiche Berührung. Und als eine kühle Brise über den Balkon wehte, ihre Haare ergriff und einige Strähnen gegen seine nackte Brust spielten, dachte er, der letzte dünne Faden, der ihn noch an seine geistige Gesundheit band, zerrisse nun endgültig.
Meins. Dein. Unsers. Für immer. Schreie von seinem Dämon und von ihm.
Niemals. Eine unerbittliche Erinnerung.
Als er die Augen öffnete, konzentrierte er sich wieder auf den Himmel. „Du hast lange dort gelebt“, sagte er mit heiserer Stimme.
„Ja.“
„Wie war das?“
„Wir leben in Wolken, die ganz anders und viel mehr sind, als du dir vorstellst.“ Ihre Begeisterung war offensichtlich. „In den Wolken gibt es Zimmer, und was immer wir haben wollen, die Wolken erschaffen es für uns. Wir sind vor dem Rest der Welt versteckt, können aber trotzdem sehen, was rings um uns passiert. Wie zum Beispiel Engel, die vorbeifliegen, oder Krieger, die Dämonen einsperren. Wir können Stürme sehen, werden jedoch nicht von ihnen berührt. Wir können die Sterne sehen, die so nah vor uns funkeln, werden jedoch nicht von ihnen verbrannt.“
Die Erregung des Dämons war greifbar. Ja, ja.
„Und das alles hast du aufgegeben.“ Für ihn. Für ein bisschen Spaß. Er war demütig. Er fühlte sich schuldig. Er schämte sich. Hauptsächlich hatte er ihr Schmerz und Kummer bereitet. Aber er war auch … froh.
„Ja“, sagte sie wieder. Offenbar nervös, wechselte sie die Position und das Thema. „Was ich mich schon immer gefragt habe: Warum hast du zwei Schmetterlingstattoos?“
„Der auf meinem Rücken ist das Zeichen meines Dämons, und der auf meinen Rippen kommt von mir. Ich wollte immer den schmalen Grat vor Augen haben, auf dem ich mich bewege, damit ich das nie vergesse.“
„Ich glaube nicht, dass du je eine visuelle Erinnerungshilfe brauchtest. Du scheinst es auch so nie zu vergessen.“ Die Begeisterung war einer tiefen Traurigkeit gewichen. „Aber genug der Erinnerungen. Ich weiß, dass du heute Nacht in die Schlacht ziehst.“
Die Erinnerung daran ließ seinen Kopf im Nu klar werden. „Richtig.“ Er fragte nicht, woher sie von dem bevorstehenden Kampf wusste. Er konnte es sich denken. Sie und Legion hatten ihm hinterherspioniert. Deshalb hatten sie sein Zimmer verlassen.
„Ich möchte mit dir gehen“, sagte sie. „Wenn ich jetzt nach Hause zurückkehre, werde ich dich begleiten können, ohne dass die Jäger meine Anwesenheit bemerken. Dann kann ich dich wie ein Schild beschützen. Ich kann …“
„Nein!“ Er räusperte sich und sagte dann etwas sanfter: „Nein.“
Wieder ächzte und verbog sich das Geländer, und Aeron löste seine Finger vorsichtig. Abermals dachte er: Ich kann sie jetzt nicht verlieren. Abermals wimmerte Zorn. „Das ist nicht notwendig.“
Sie hatten doch noch Zeit, verdammt.
„Ich muss sowieso gehen, warum also nicht jetzt? Warum nicht, solange ich dir noch helfen kann?“
Zu jeder anderen Zeit seines Lebens hätte er eine solche Entschlossenheit bewundert. Jetzt wandte er sich ihr knurrend zu. „Warum solltest du mir helfen wollen? Warum schreist du mich nicht an? Warum tobst du nicht wegen der Sache, die ich vorhabe?“ Damit hätte er besser umgehen können.
Stattdessen sah sie ihn aus ruhigen Augen an. „Ich habe keinen Grund, auf solche Emotionen zurückzugreifen. Ich bin ein Engel.“
„Ein gefallener“, korrigierte er sie mit finsterem Blick und blinzelte dann. Zum ersten Mal hatte er eingeräumt, dass es einen Unterschied gab, und die Ironie der Situation traf ihn tief.
Es entstand eine Pause. Dann erklang ein bedauerndes Seufzen, und Olivia sagte: „Nicht mehr lange.“
Meins.
Er stellte sich dicht vor sie, packte die Robe mit seinen Fäusten und verankerte seine Hände am Geländer, sodass Olivia nicht entkommen konnte. Machte es ihr nichts aus, dass sie getrennt wären? Machte es ihr nichts aus, dass sie nie wieder zusammen wären? Dass sie nie wieder miteinander schlafen würden? Dass er schon bald etwas Abscheuliches und Unverzeihliches täte?
„Lass mich los, Aeron.“ Immer noch so ruhig.
Niemals, dachte er.
Niemals, pflichtete Zorn ihm bei.
Wir dürfen nicht so denken. „Werden deine Leute dich anders behandeln, wenn du … zurückgehst?“ Allein es auszusprechen fiel ihm schon schwer, aber da musste er jetzt durch. „Du wirst nicht dieselbe sein wie vorher.“
„Sie werden mich willkommen heißen.“ Sie schüttelte den Kopf, wobei weitere seidige Haarsträhnen über seine Haut tanzten. „Abgesehen von unserem Rat sind sie sehr tolerant. Und sehr geduldig.“
„Lysander scheint keins von beidem zu sein.“
Sie lächelte ironisch. „Nun ja, er ist auch nicht gerade ein typischer Engel.“
Dieses Lächeln … Er brauchte mehr davon. Er musste mehr davon haben. So viel wie möglich, bis … „Wir haben noch sieben Tage.“ Die Worte waren nicht mehr als ein Krächzen. Dumm. Trotzdem presste er seine Brust gegen ihre, und als er ihre kleinen Knospen spürte, wurde er sofort hart. Er wollte sie. „Versprich mir, dass du noch sechs bleibst.“
Endlich fiel die Ruhe von ihr ab, und ein Sturm schien sich in ihr zusammenzubrauen. „W…warum?“
„Versprich es mir einfach. Bitte.“
Bitte, wiederholte Zorn genauso flehentlich wie Aeron.
Wer hätte je gedacht, dass sie so erbärmlich enden könnten?
„Ich kann nicht“, erwiderte sie. „Es tut mir leid.“ Sie wandte den Blick ab.
Doch da hatte er die Tränen schon gesehen, die in ihren Augen schimmerten. Und diese Tränen richteten ihn förmlich zu Grunde. Er legte ihr eine Hand in den Nacken und zwang sie, ihn anzusehen. Sie sollte das Verlangen in seinem Gesicht sehen und die Entschlossenheit, die der ihren mit Sicherheit in nichts nachstand.
„Ist das ein Vielleicht?“
Ein zittriges Lachen entfuhr ihr. „Nein. Das ist ein Nein.“
Das habe ich gemacht. Ich habe sie zum Lachen gebracht. „Was kannst du mir denn versprechen?“ Inzwischen würde er sich mit allem zufriedengeben.
„E…einen Tag“, bot sie unsicher an.
Einen Tag. Ein Tag war nicht genug. Vielleicht war selbst die Ewigkeit nicht genug. Er hielt sie fester. „Du bleibst, bis ich aus der Stadt zurückkomme. Auch wenn es etwas länger dauert als vierundzwanzig Stunden. Bitte.“
„Warum ist das so wichtig für dich?“, wollte sie wissen und klang dabei irgendwie atemlos.
Weil ich dich brauche. Weil ich dich will. Weil ich den Gedanken, von dir getrennt zu sein, hasse. Weil ich, wenn es nur um dich und mich ginge und meine Entscheidung sonst niemanden beträfe, ohne zu zögern sterben würde, nur um noch eine Minute in deinen Armen liegen zu können.
„Dann bleibst du?“, hakte er nach, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Wenn ich das Gefühl habe, dass du womöglich gehst, werde ich mich im Kampf nicht konzentrieren können.“ Eigentlich war es nicht seine Art, andere zu manipulieren. Er nannte stets die Fakten, mit allen Vor-und Nachteilen, unbeeindruckt von den Ergebnissen. Aber jetzt… „Ich würde ein leichtes Ziel abgeben und vielleicht wieder verletzt werden. Also sag es mir. Sag mir, dass du bleibst.“
Sie leckte sich die Lippen und ließ die Schultern hängen. „Ich … In Ordnung.“
Das reichte nicht. „Sag es.“
„Ja“, flüsterte sie. „Ich bleibe, bis du aus der Stadt zurückkommst.“
Ohne den Klang der Wahrheit in ihrer Stimme wusste er nicht, ob sie log oder nicht. Aber er entschied sich, ihr zu glauben, weil er den Gedanken an ihre Abwesenheit nicht ertrug.
„Da wir das jetzt geklärt haben, lässt du mich nun gehen?“ Während sie sprach, legte sie ihm die Hände auf die Brust, jedoch nicht, um ihn wegzustoßen, sondern um seine Tätowierungen nachzuzeichnen.
Mmmmh. Zorn seufzte.
Vielleicht wollte sie ihn nicht gerade jetzt, aber dass sie ihn wollte, war offensichtlich. „Warum begehrst du mich? Warum hast du mich ausgewählt? So hübsch, klug und bezaubernd, wie du bist, hättest du doch jeden haben können. Jemanden, dessen Körper nicht mit den Bildern seiner Sünden gepflastert ist.
„Darum.“ Trotz ihrer rebellischen Antwort wich sie nicht zurück.
„Warum?“ Jetzt schüttelte er sie. Er wollte unbedingt ihre Gründe wissen, auch wenn er nicht gern darüber nachdachte, warum das so wichtig für ihn war. „Bitte, Olivia. Sag es mir.“
Vielleicht war es das Bitte, das sie bewegte. Vielleicht auch sein harsches Benehmen. Auf jeden Fall rief sie aus: „Weil du nicht das bist, was du zu sein glaubst. Weil du nicht das bist, wofür die anderen dich halten. Du magst unzählige Morde verübt haben, aber du liebst leidenschaftlicher als jeder, den ich kenne. Du gibst, ohne an dein eigenes Glück zu denken.“ Sie lachte genauso bitter wie eben noch er. „Lustig, nicht wahr? Dieselben Charakterzüge, die mich zu dir geführt haben, schicken mich nun fort.“
Bleib.
Er unterdrückte das Flehen. Er liebte leidenschaftlicher? Bei den Göttern, und wie er das täte. Und zwar jetzt, in diesem Moment, bevor die Zeit ihm einen Strich durch die Rechnung machte.
Ohne Vorwarnung und ohne jegliche Selbstbeherrschung presste er seine Lippen auf ihre und drang mit der Zunge in ihren Mund ein. Begierig nahm sie ihn auf und quittierte sein raues Vorgehen mit einem lustvollen Stöhnen. Das war gut. Er hatte keine Kontrolle und war froh darüber. Alles, was er hatte, war ein Anfang – Olivia – und das verhasste Ende – ihr Verlust. Und dieser Verlust … Götter. Sie zu verlieren würde ihn umbringen.
Nein, dachte er dann. Das würde bereits ihr Kuss erledigen. In dieser innigen Begegnung zweier Seelen lag sein Untergang, und auch darüber war er froh. Er schmeckte und forderte und eroberte ohne Zurückhaltung. Er gab, und er nahm.
Wenn dies das Ende wäre, würde er wie ein Krieger sterben.
„Ich werde dich zu meiner Frau machen.“ Er raffte die Robe um ihre Taille. Ihre Beine – nackt. Ihr Zentrum – sein. Sie trug noch immer kein Höschen, und diese Erkenntnis ließ ihn fast in die Knie gehen. Eines Tages würde er sie in einem Bett nehmen. Er würde ihr langsam die Kleider ausziehen und sich beim Liebesspiel viel Zeit lassen. Er würde jede Sekunde und jedes leise Seufzen genießen.
Aber jetzt wollte er sie einfach.
Ein unbeschreibliches Verlangen durchströmte ihn, als er nach dem Knopf seiner Hose griff und versuchte, ihn zu öffnen – er verhedderte sich, und so riss er die Hose einfach auf. Sein Schaft sprang heraus. „Ich hoffe, du bist bereit für mich, Olivia.“
Bereit für ihn? Olivia glaubte, für ihr restliches Leben jeden Tag und jede Minute bereit für diesen Mann zu sein. Er sah sie an, als wäre sie für ihn überlebensnotwendig. Als lebte er nur, weil es sie gab.
Und dies wäre das letzte Mal, dass sie einen solchen Blick auf sich spürte.
Die Traurigkeit drohte sie zu überwältigen, doch ihr Verlangen war stärker. Später. Später würde sie sich in ihrem Unglück wälzen können. Aber jetzt lag sie in Aerons Armen. Ihr Körper verzehrte sich nach ihm. Sie war jetzt schon feucht und hatte weiche Knie.
Dafür hatte sie ihre Flügel geopfert. Dafür hatte sie die Ewigkeit geopfert. Und nun brauchte sie nur noch zuzugreifen. Was auch immer geschähe, das hier würde ihr niemand nehmen können.
„Olivia“, flehte er mit kehliger Stimme.
„Bereit. Ich schwöre.“
Er nahm ihre Pobacken in die Hände und hob sie hoch, und als sie die Beine um seine Hüfte schlang, drang er hart und tief in sie ein. Unfähig, sich zu beherrschen, schrie sie auf. Seine Größe dehnte sie, und obwohl sie hätte wund sein müssen – bedachte man, dass sie dasselbe vor nicht allzu langer Zeit schon einmal getan hatten –, war ihre Lust unvergleichlich.
„Ich brauche dich.“ Fest stieß er in sie.
„Ja!“ Stöhnend bohrte sie ihm die Fingernägel in den Rücken. Sie gab sich keine Mühe, sich zu beherrschen. Sie brauchte es. Brauchte diese Erinnerung. Denn die würde sie des Nachts warm halten müssen. „So ist es gut.“
Immer härter stieß er zu. Es war wie Himmel und Hölle zugleich. So gut und so kurz vor dem Ende. Mach, dass es nie vorbeigeht, betete sie, obgleich sie wusste, dass dieses Gebet unerhört bliebe.
Das Geländer wackelte in ihrem Rhythmus, es ächzte – bis es schließlich nachgab. Sie stolperten und fielen … und fielen … Nicht für eine Sekunde hörte Aeron auf, in sie zu stoßen. Sie liebte es und badete in dem Gefühl, während rings um sie der Wind peitschte. Freiheit und Liebe und Glück – alles zugleich. Ohne Angst oder Bedauern. Aeron würde sie beschützen.
Und das tat er. Kurz bevor sie aufschlugen, breitete er die Flügel aus, sodass sie sanft landeten. Vorsichtig legte er sie auf den Boden, und immer noch bewegte er sich in ihr. Sie hielt die Beine fest um ihn geschlungen, nahm ihn tief in sich auf und bog sich ihm verzweifelt, gierig und verloren entgegen.
Glühend rot ging die Sonne langsam unter, und jeder, der jetzt aus den Fenstern der Burg blickte, könnte sie sehen. Es kümmerte sie nicht. Ihr Verlangen war einfach zu groß.
„Olivia“, keuchte er.
„Aeron.“
Ihre Blicke trafen sich. Seine violetten Iris sahen wild aus. Sein Gesicht war angespannt, die Lippen waren schmal und blutig, dort, wo sie ihn anscheinend gebissen hatte. In Momenten wie diesem war er von einer unvergleichlichen kriegerischen Schönheit. Voll wilder Zärtlichkeit.
„Du gehörst mir“, sagte er abgehackt.
Niemandem sonst wollte sie gehören. „Ja, dir.“ Bis er sich Legion hingäbe. Dann würde Aeron ihr gehören, genau wie das Mädchen gesagt hatte. Schluss. Aufhören. Denn Olivia gehörte das Hier und Jetzt.
Als hätte er ihre Gedanken gespürt und wollte sie verjagen, beugte er den Kopf hinunter und küsste sie wieder. Und dieser Kuss war noch herrlicher und stürmischer als der letzte. Seine Zunge drängte sich gegen ihre, Zähne klackten aneinander. So viel Leidenschaft …
Sie kratzte, biss und schrie, verlor förmlich den Verstand und fiel wieder, diesmal wie in einer Spirale. Sie schrie und klammerte sich an ihren Liebhaber, als sich jeder Muskel ihres Körpers wundervoll zusammenzog. Ja. Oh ja! Er traf sie genau am richtigen Punkt, und ihr Orgasmus schraubte sich noch weiter in die Höhe. Sie presste ihre Lider so fest zusammen, dass sie nur noch Sterne sah, doch sie spürte, wie er über ihr erzitterte. Sie hörte, wie er ihren Namen brüllte.
Als er auf ihr zusammenbrach, hätte sein Gewicht sie beinahe erdrückt, doch sie liebte das Gefühl viel zu sehr, als dass sie ihn hätte wegschieben können. Wenn sie doch nur für immer so hätten daliegen können – verloren im Hier und Jetzt.
„Olivia“, krächzte er.
Langsam öffnete sie die Augen. Aerons Blick ruhte auf ihr, und zum ersten Mal war es, als könnte sie in seinem Gesicht wie in einem offenen Buch lesen und all seine Bedürfnisse sehen. „Sag es nicht“, bat sie. Falls er vorhatte, ihr zu sagen, dass das hier an der Situation nichts geändert hatte – das wusste sie auch von alleine, und sie war nicht scharf darauf, dass er den Dolch noch tiefer in ihre Brust rammte. Falls er vorhatte, sie zu bitten, bei ihm zu bleiben, obwohl er mit Legion schlafen musste – wenn auch nur ein einziges Mal –, wäre sie versucht, seiner Bitte nachzugeben. Selbst wenn der hohe Rat jemanden schicken würde, der ihn töten sollte. Selbst wenn die Bilder von ihm mit der Dämonin sie bis in alle Ewigkeit verfolgen würden.
Ganz gleich, wie die Sache ausginge, sie waren verdammt.
„Ich muss aber.“ Seine Stimme klang kehlig. „Du sollst wissen, dass …“
„Äh, Aeron“, rief jemand. „Ich störe ja wirklich nur ungern, aber es ist Zeit zu gehen.“
Schon wieder erwischt, dachte sie mit einem Seufzer. Würden sie das viel gepriesene Nachspiel denn niemals genießen können? Auch wenn sie dieses Mal dankbar für die Unterbrechung war. Sie rutschte unter Aeron hervor, stand auf und richtete ihre Robe.
„Geh“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. „Ich werde hier auf dich warten, wie versprochen.“ Und dann werden wir einander Auf Wiedersehen sagen.
24. KAPITEL
3:00 Uhr. Der Mond schien nicht mehr ganz so hell, und die Straßen lagen verlassen da. Die Geschäfte waren geschlossen, und die feiernden Menschen hatten das „Asylum“ endlich verlassen. Die Lichter waren aus, drinnen regte sich nichts.
In knapp hundert Metern Entfernung hockte Aeron neben Strider in einer dunklen Nische. In den Händen hielt der Krieger eine Fernbedienung sowie ein kleines Auto mit einer winzigen Kamera auf dem Dach. Diese Kamera konnte die Dunkelheit wegzaubern. Sie filmte Gesichter und Körper so deutlich, als wären sie in Sonnenlicht gebadet.
Torin fand immer die coolsten Spielzeuge. Das bestätigte auch das Grinsen, das sich auf Striders Gesicht ausbreitete, als er das Fahrzeug losschickte.
Die restlichen Männer waren rings um das Gebäude verteilt, bei dessen Instandsetzung sie einst geholfen hatten und das sie in Kürze dem Erdboden gleichmachen würden. Einige lagen auf hohen Dächern, die Läufe ihrer Waffen nach unten gerichtet. Andere befanden sich wie Aeron auf der Straße und hielten sich an unterschiedlichen Stellen versteckt.
Aeron hob den tragbaren Monitor hoch, der es ihm und Strider ermöglichte, durch die Kameralinse zu schauen. Und tatsächlich waren die Gebäude und Straßen, durch die er schon seit ihrer Errichtung streifte, gut zu erkennen. Erstaunlich.
„Läuft“, sagte er zu Niederlage.
„Wir sind bereit für dich, Willie“, sprach Strider in sein Mikro.
Aeron trug ebenfalls ein Headset und hörte Williams Antwort. „Götter, ich kann nicht glauben, dass ich mich von Anya dazu überreden lassen konnte. Ich gehe jetzt rein.“
Wenige Sekunden später verließ William seinen Posten und bog um eine Ecke. Seine Kleidung war unordentlich, und er hielt eine Flasche Whiskey umklammert. Er hatte keine Ähnlichkeit mehr mit sich selbst: Die dunklen Haare waren gebleicht und die durchdringenden blauen Augen mit dunklen Kontaktlinsen verdeckt. Und sein Gesicht … Irgendwie war seine Haut rauer, und sogar seine Gesichtszüge hatten andere Formen.
Er sah aus, als könnte er bei jedem Schritt stolpern, und dennoch schaffte er es, ein Liebeslied zu lallen, während er durch die Straßen torkelte.
Alte Spottdrossel. Auch wenn er nicht wusste, dass Aeron vorhatte, Olivia zu betrügen.
Die süße Olivia.
Meine, stellte sein Dämon klar.
Unsere. Nein! Um ein Haar hätte er das Gerät in seinen Händen auf den Boden geschmettert. Sie gehört niemandem. Nicht Zorn und mit Sicherheit nicht ihm. Außer …
Wie sollte er ohne sie weiterleben? Sie war das Licht und die Fröhlichkeit. Sie war die Liebe und das Glück. Sie war … alles.
„Bist du noch da, Zorn?“, murmelte Strider.
Die Frage kam genau im richtigen Moment und zerrte ihn wieder in die Gegenwart. Er beobachtete, wie William wie geplant stolperte und gegen die Eingangstür des Clubs krachte. Ablenkung. Als er fiel, zerschellte Glas. Einen Moment lang lag er da und nuschelte scheinbar betrunken vor sich hin. Der ferngesteuerte Minitruck raste über die Glasscherben und schlüpfte unbemerkt in das Gebäude.
Es dauerte nicht lange, bis eine Armee bewaffneter Männer den Unsterblichen einkreiste.
„Was machst du hier?“
„Oh Gott, stinkt der.“
„Schafft ihn hier raus, und macht das sauber. Sofort!“
Zwei der Wachmänner zerrten William grob auf die Beine.
„Hey, Jungs“, lallte er mit einem entsetzlichen britischen Akzent. „Steigt hier die Party? Ach, guck mal, ‘ne Knarre. Wie männlich. Aber wahrscheinlich sollte ich den Engeln auf dem Hügel Bescheid sagen. Ich kann ja schlecht das organisierte Verbrechen unterstützen, nicht wahr?“
„Boss?“, sagte einer der Männer, die William festhielten. „Wir können ihn nicht einfach so ziehen lassen. Er hat zu viel gesehen.“
„Also, erstens bin ich nicht dein Boss“, sagte William und verzog danach das Gesicht und hielt sich den Bauch. „Und zweitens muss ich gleich kotzen.“
Der verantwortliche Mann – Dean Stefano, Galens rechte Hand, bei dessen Anblick Zorn durch Aerons Kopf zu tigern begann und bereit war, zu verletzen und zu töten – warf William nur einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder den Überresten der Tür widmete. „Lasst es wie einen Überfall aussehen. Und erledigt die Sache in sicherem Abstand von dem Gebäude. Ich will nicht, dass hier jemand herumschnüffelt.“
Ein kaltes, völlig gleichgültiges Todesurteil für einen Mann, von dem sie annahmen, dass er ein Mensch war. Menschen – die Lebewesen, die die Jäger angeblich „beschützen“ wollten. Aber andererseits war Stefano ein kalter, gleichgültiger Mann. Er gab den Herren, allen voran Sabin, die Schuld am Selbstmord seiner Frau und gäbe keine Ruhe, bis sie alle tot wären.
Bestrafen…
In der Vergangenheit hätte Aeron den Befehl seines Dämons insgeheim geliebt und sich dafür gehasst. Ganz gleich, wie sehr das Opfer verdiente, was er austeilte. Doch er würde sich nicht länger geißeln. Olivia zu verlieren war Grund genug, um wütend zu sein. Einen bösen Menschen vernichten? Das war ein Grund zu frohlocken. Und genau das täte er schon bald.
Er würde Spaß haben.
Die zwei Wachmänner zerrten einen jetzt protestierenden William nach draußen. „Was ist los? Lasst mich doch einfach gehen, dann werden wir bestimmt …“
„Schnauze, Arschloch, sonst schneide ich dir die Zunge raus.“
In dem Moment begann William zu heulen wie ein Kind. Wenn Aeron es nicht besser gewusst hätte, er hätte gedacht, der Krieger sei ernsthaft verängstigt. Doch er wusste es besser. Das gehörte alles zu der Rolle, die William freiwillig spielte. Und mit „freiwillig“ meinte er natürlich, „in die Knie gezwungen durch Anyas Drohung, sein Buch zu verbrennen, wenn er nicht kooperierte“. Sie hatten gehofft, es würde nicht zu dem kommen, was nun geschehen sollte, doch insgeheim hatte jeder von ihnen mit diesem Ausgang gerechnet.
William konnte sich nicht einfach befreien und weglaufen, denn das hätte womöglich ihr Misstrauen geweckt und sie in Alarmbereitschaft versetzt. Er musste bis zum Schluss mitspielen und die Männer anschließend gehen lassen.
Die Wachmänner bogen um eine Ecke und eilten außerhalb ihrer Sichtweite ein finsteres Seitengässchen entlang. Obwohl Aeron nicht sehen konnte, was geschah, konnte er es über seinen Knopf im Ohr hören.
Als sie ihr Ziel erreicht hatten, verstummten die Schritte.
„Ich wollte doch niemandem was tun, Mann“, weinte William.
„Tut mir leid, Kumpel, aber du bist jetzt eine Belastung für uns.“ Als Nächstes hörte Aeron Metall an Leder schaben, gefolgt von reißendem Fleisch. Ein Grunzen. Noch ein Reißen, noch ein Grunzen.
William war gerade mit zwei Hieben niedergestochen worden.
Aeron zuckte mitfühlend zusammen. Bis zum Schluss mitzuspielen erforderte Mumm. Und Williams Mumm hatte vermutlich dazu geführt, dass sich in diesem Augenblick seine Gedärme auf dem Gehweg verteilten. Doch er würde es überleben und wäre in der Lage, sich zu rächen. Wie sie alle.
Er hörte Kleidung rascheln, dann einen dumpfen Schlag. William musste in die Knie gesunken und wie tot umgefallen sein. Wieder vernahm Aeron Schritte, und kurze Zeit später kamen die beiden Wachmänner – lächelnd ob ihres perfekt erledigten Jobs – wieder um die Ecke. Sie gingen zurück ins Gebäude.
Strider hielt die Kamera des versteckten Autos auf Stefano und die Arbeiter gerichtet, die das Loch in der Tür mit Sperrholz vernagelten. Schließlich waren sie fertig.
„Arschlöcher“, grollte William in seinem Ohr. „Die zwei gehören mir. Sie sind auf meine süßen, unschuldigen Nieren losgegangen.“
Nichts an William war süß oder unschuldig. Nicht einmal seine Nieren.
„Nur noch ein paar Minuten“, versprach Aeron.
„Bis morgen früh will ich zwei Wachleute an der Tür haben“, bellte Stefano. „Der Rest von euch widmet sich wieder dem, wobei ihr vorhin unterbrochen wurdet. Und irgendjemand von euch kontaktiert sofort Galen. Besser, wir erzählen ihm, was passiert ist, bevor er es über Dritte erfährt.“
Die beiden Männer, die William niedergestochen hatten, nickten und bezogen ihre Posten.
Galen war also nicht da. Was für eine Enttäuschung.
Aeron beobachtete, wie die restlichen Jäger den Eingangsbereich verließen, den Club durchquerten und einen Flur hinuntergingen. Strider starrte auf den Monitor, während er das Auto geräuschlos hinter ihnen herlenkte. Von dem Flur gingen mehrere Türen ab. Eine führte in ein Zimmer, in dem ein paar Jäger vor einem Fernseher herumlungerten. In dem zweiten Raum starrten einige auf Bildschirme und tippten auf Tastaturen herum – so wie Torin. Im dritten Zimmer reihte sich ein Bett an das nächste. Mehrere Jäger schliefen dort.
Stefano ging durch die vierte Tür in ein leeres Zimmer. Dort gab es weder Menschen noch Möbel, sondern nur einen Teppich. Er war beiseitegeschoben worden und gab ein dunkles, gähnendes Loch frei. Und in diesem Loch verschwand nun Stefano.
Ein unterirdischer Tunnel.
Gruben sie sich einen Weg zur Burg?
Hatten sie vor, sich so zu den Herren hineinzuschleichen, damit sie sich nicht mit den Fallen auf dem Hügel herumschlagen müssten?
„Wir haben ihr Versteck gefunden“, sagte Strider selbstgefällig.
Dann konnte es ja losgehen. Jedenfalls für Aeron.
„Du weißt, wo du langmusst?“, fragte Strider.
„Ja.“ Aeron hatte sich den Weg mithilfe des Monitors eingeprägt.
Strider klopfte ihm auf die Schulter. „Mögen die Götter mit dir sein, mein Freund.“
„Und mit dir.“ Aeron sprang auf. Da er gewusst hatte, dass er fliegen würde, trug er kein Hemd. Ein mentales Kommando reichte, und seine Flügel breiteten sich aus.
„Viel Glück, Mann“, meinte Paris.
„Sei vorsichtig“, sagten ein paar andere.
„Wenn mir irgendetwas zustößt“, sagte er, ohne sich speziell an eine Person zu richten, „sorgt dafür, dass Olivia sicher nach Hause zurückkehrt.“
Aeron wartete nicht auf ihre Antworten, sondern katapultierte sich in den Himmel.
Bestrafen…
Er stieg immer höher auf und flog so schnell, dass er für jede Kamera in der Umgebung nicht mehr wäre als ein verschwommener Fleck. Schließlich begab er sich in die Waagerechte und schwebte majestätisch.
Bestrafen…
Unter ihm lag der Club. Er suchte die Dunkelheit ab, konnte aber weder Jäger auf dem Dach sehen noch die Herren, von denen er wusste, dass sie sich in der Nähe versteckten.
Heute Nacht würde der Sieg ihm gehören.
Bestrafen…
Mit Vergnügen. „Setze jetzt zur Landung an.“ Er fiel tief hinunter, der Wind peitschte seine Haut, und er hatte die Flügel angezogen, um die Fallgeschwindigkeit noch zu erhöhen. Als er das Gebäude erreichte, breitete er sie wieder aus und raste durch die Holzplatten, die eben erst angebracht worden waren. Sie zerschnitten und brachen ihm die Flügel, doch sie schlugen auch die Wächter nieder.
Aeron hielt nicht an, sondern flog durch die Lobby und den Tanzbereich und bog in den Flur ein. Die Jäger hatten den Krach gehört und kamen aus den Zimmern gestürmt – allerdings erst, als Aeron schon an ihnen vorbeigerauscht war, weshalb sie ihn nicht mehr zu fassen bekamen. Erst als er das Zimmer mit dem Teppich erreichte, blieb er endlich stehen.
Irre lachend schickte Zorn Bilder durch Aerons Kopf. Sie zeigten die Sünden seiner Zielobjekte: Schlägereien, Messerstechereien, Entführungen. So viel Gewalt und so viel Hass. Diese Männer verdienten, was sie bekämen.
„Ein Dämon!“
„Haltet ihn auf!“
Er versteckte seine Flügel – oder versuchte es zumindest. Wieder einmal waren sie zu zerfetzt, als dass sie in die Schlitze gepasst hätten. Aber egal. Er eilte zu dem verschobenen Teppich, als die Jäger die Tür erreichten. Eine Kugel bohrte sich in seinen Rücken, doch er verlangsamte seine Bewegungen nicht. Stattdessen drehte er sich einfach nur im Gehen um, zog eine Pistole aus dem Halfter am Unterarm, feuerte drauflos und zwang mehrere Männer, in Deckung zu gehen.
Eine Atempause. Er warf die dicke bunte Matte zur Seite.
„Bastard!“ Hinter ihm zischte noch eine Kugel durch die Luft und traf ihn in die Seite.
Er schoss zurück.
Inmitten der neuen Schüsse hörte er seine Freunde ins Gebäude eindringen. Schon bald ertönten Grunzlaute und Schreie. Glas splitterte. Keine Zeit zu jubeln. Eine dritte Kugel traf ihn, diesmal in den Oberschenkel, und zwang ihn in die Knie.
„Brauche Hilfe“, schrie er durch zusammengebissene Zähne in sein Headset. Er feuerte weiter und schickte die Jäger damit zurück in ihre Deckung. Doch lange würde er sie nicht mehr auf Abstand halten können. Das Magazin der Pistole war … leer. Mist. Er warf die jetzt nutzlose Waffe auf den Boden.
Bestrafen. Mehr. Mehr!
„Bin fast da“, keuchte Strider, als die Schießerei von Neuem losging.
Aeron zog in genau dem Augenblick eine zweite Pistole hervor, als sein Freund ankam. Binnen weniger Augenblicke fielen mehrere Körper wie Puppen vornüber, dann lugte Strider ins Zimmer. Blutspritzer zierten sein Gesicht, doch seine Augen leuchteten hell, und seine Mundwinkel bogen sich nach oben.
„Schaff alle hier raus“, befahl Aeron ihm. „Das Ding fliegt gleich in die Luft.“
Strider nickte und rannte hinaus, um ihren Mitstreitern Warnungen zuzurufen.
Aeron zog an dem Ring der Falltür zum Tunnel; er hielt stand. Obwohl sein Arm pochte und zitterte, betätigte er immer wieder den Abzug seiner Waffe, bis das Metall zerbarst.
„Jetzt!“, ertönte Striders Ruf in seinem Kopfhörer.
Aeron erlaubte sich nicht, sich seinen Schmerzen zu ergeben – Schmerzen, die schon bald stärker würden. Er erlaubte sich nicht, sich einzugestehen, dass sich bereits eine betaubende Lethargie in seinem Körper ausbreitete. Und alles nur wegen dieser verdammten Giftmunition. Stattdessen nahm er eine Handgranate aus seiner Hüfttasche und zog den Stift mit den Zähnen heraus.
Er riss die Tür hoch – mehrere Gewehre wurden gleichzeitig auf ihn abgefeuert und durchsiebten seinen Körper förmlich –, und während er sich mit dem letzten bisschen Kraft, das er noch in den Beinen hatte, in die Luft erhob, ließ er die Granate fallen.
Zorn brach wieder in freudiges Gelächter aus. Bestrafen!
Wumm!
Die folgende Druckwelle schleuderte ihn durch das Dach. Als er in der Luft zum Stillstand kam, schnappte er sich eine zweite Granate, zog den Stift heraus und warf sie durch das gähnende Loch, das er fabriziert hatte.
Wumm!
Holz-und Glassplitter flogen in alle Richtungen, verletzten ihn noch mehr und brachten ihn vom Kurs ab. Doch er hielt durch. Seine Flügel waren jetzt so kaputt, dass er kaum noch damit schlagen konnte, doch er schaffte es, sich noch höher in die Lüfte zu erheben. In sicherer Distanz hielt er an. Aber es erwies sich als unmöglich, in der Luft zu schweben.
Als er fiel, ließ er den Blick über die Umgebung schweifen. Schwarze Rauchwolken verbargen das Gebäude vor seinen Blicken. Trotzdem konnte er goldene Flammen erkennen, die sich knisternd ihren Weg in den Himmel bahnten.
Ein solches Gemetzel konnte keiner der Menschen überlebt haben. Doch er wollte nicht das geringste Risiko eingehen. Er zog die dritte Handgranate heraus, und als er sich dem Gebäude näherte, ließ er sie fallen.
Wumm!
Wieder wurde er nach oben geschleudert. Die neuen Flammen berührten ihn und versengten seine Haut. Mitten in der Luft drehte er sich um, sodass sein Rücken den größten Schaden abbekam, ehe er sich wieder umdrehte, die Richtung änderte und schließlich herunterfiel und an der Stelle auf dem Boden aufkam, wo er und Strider zu Anfang gewartet hatten.
Sein Freund war bereits da. „Ich könnte dich küssen“, waren die Begrüßungsworte des Kriegers, „obwohl du echt scheiße aussiehst.“
Aeron hätte gern gelacht, aber er hatte so viel Rauch eingeatmet, dass seine Kehle rau und geschwollen war. Er bekam kaum noch Luft. Seine Augen tränten durch die Verbrennungen, und er hatte nicht die Kraft, die Tränen wegzuwischen.
„Du willst bestimmt einen Bericht hören“, fügte Strider hinzu und half ihm auf die Füße. „William hat es geschafft, den Kerlen, die ihn abgestochen haben, die Kehlen durchzuschneiden. Paris hat eine Kugel in den Bauch abgekriegt, und Reyes wurde die Kniescheibe zertrümmert. Weil es ihnen nicht so besonders geht, bringen Maddox und Amun sie gerade nach Hause. Wo du übrigens auch hingehörst. Lucien wird noch eine Weile hierbleiben, um die Seelen der Toten in die Hölle zu begleiten, und Sabin wird bei ihm bleiben für den Fall, dass er seinen Körper hier zurücklassen muss. Oder falls es Überlebende gibt. Wenn der Tunnel tief genug ist, sind womöglich diejenigen, die abgehauen sind, von der Explosion verschont geblieben. Und du weißt ja, wie gern Stefano abhaut.“
Ein Schwindel ergriff ihn, zuerst ganz sachte, dann immer stärker, und hätte Strider ihm nicht einen Arm um die Taille gelegt, wäre er gestürzt. Doch noch schlimmer war, dass die Dunkelheit über ihn hereinbrach.
„Sie haben bestimmt vergiftete Kugeln benutzt“, meinte Strider. „Wie die, die dich fast umgebracht hätte. Wie hast du überlebt? Was hast du gemacht? Das hätten wir dich schon früher fragen sollen, aber es war so viel los …“
Aerons Gedanken zerfaserten, aber er wusste, dass es etwas gab, das er seinem Freund sagen musste. Etwas Wesentliches. Etwas, das über Leben und Tod entschied. Ja. Das war es. Leben! „Männer … angeschossen … sterben … brauchen … Wasser“, stammelte er.
„Ich verstehe nicht.“
Mist, Mist, Mist. Wenn er ohnmächtig würde, bevor er alles Nötige erklärt hatte, würden seine Freunde darunter leiden. Womöglich stürben sie, ehe er wieder aufwachte oder Olivia es erklären könnte. „Fluss. Trinken.“
„Hast du Durst?“
„Wasser … Männer … müssen … trinken. Wasser … Leben.“
„Aeron, ich verstehe kein Wort“, erwiderte Strider, offensichtlich frustriert. „Die Männer, die angeschossen wurden, brauchen Wasser? Wie soll Wasser sie denn retten?“
„Wasser … Leben. Brauchen nur … ein bisschen. Olivia. Olivia … weiß.“ Und dann riss die Finsternis ihn mit sich.
25. KAPITEL
Unruhig schritt Olivia in Aerons Schlafzimmer auf und ab. Legion schlief immer noch, doch während der vergangenen Stunde hatte sie mehrfach gegähnt, was Olivia verriet, dass sie bald aufwachen würde. Und würde das nicht einfach großartig werden?
… kannst nicht aufgeben, sagte Versuchung – Luzifer – gerade. Seit Stunden redete er sich schon den Mund fusselig. Du musst Aeron gewinnen.
Was auch hieße, einem Prinzen der Dunkelheit den Sieg zu schenken. Niemals. Gegen solche wie ihn hatte sie doch ihr gesamtes Leben gekämpft. Alles, was wirklich zählte, war der Sieg des Guten, auch wenn es sie ihr eigenes Glück kostete. Und genau das war der Preis, um den es hier ging: ihr Glück.
Er braucht dich.
„Ruhe.“
Ohne dich wird er sich elend fühlen.
„Und er wird jedes Quäntchen dieses Elends verdienen.“ Heilige Gottheit, zu wem wurde sie denn da? Diese Einstellung wäre ihr im Himmel alles andere als dienlich. Ja, Engel waren tolerant und geduldig, wie sie es Aeron gesagt hatte, aber das musste nicht bedeuten, dass ihnen Olivias Entwicklung gefiele.
Wenn du gehst, wirst du ihn nie wieder schmecken.
Ihr entfuhr ein Wimmern. Am liebsten hätte sie gegen die Wand geschlagen. „Du bist ein Dieb, ein Lügner und ein Zerstörer. Du wirst mich sofort in Frieden lassen. Oder ich schwöre dir bei meiner Gottheit, dass ich darum ersuchen werde, dass man Lysander bis in die Tiefen der Hölle schickt, damit er dich zum Schweigen bringt. Wir wissen beide, dass diesem Ersuchen stattgegeben würde. Es steht dir nämlich nicht zu, mit Engeln zu verkehren.“
Du bist kein Engel mehr.
„Bald werde ich wieder einer sein.“
Luzifer schrie wütend auf, sagte jedoch nichts mehr.
„Deine Stimme ist so was von nervig“, murmelte Legion, als sie sich aufsetzte. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Anscheinend hatte sie vergessen, wie sie eingeschlafen war, denn sie sprang nicht auf, um zum Angriff überzugehen. Vielleicht hatte sie aber auch nur kein Interesse daran, sich zu rächen – nun, da sie wusste, dass Olivia ginge. „Wo ist Aeron?“
Ihr Ärger wich der Sorge, und Olivia blieb am Waschtisch stehen und ließ sich auf den Stuhl davor fallen, der zum Bett hingewandt stand. „Er überfällt gerade das Versteck der Jäger.“ Ob es ihm gut ging? Sie hatte seine Balkontür offen gelassen, sodass er direkt in sein Zimmer fliegen konnte. Doch es war bereits eine halbe Ewigkeit vergangen, und er war noch immer nicht aufgetaucht.
Legion gähnte. „Ach so. Gut. Dann wird er ja bald nach Hause kommen. Mein Mann tötet schnell.“
Ihr Mann. Ja. Das war er jetzt. Wieder hätte Olivia am liebsten ein Loch in die Wand geschlagen. Dann hätte sie wenigstens eine bleibende Erinnerung hinterlassen. Zwar eine, die Aeron und Legion zuspachteln könnten, wenn sie erst fort war, aber egal.
Das war jetzt nicht wichtig.
Eine sanfte Brise strich durch die offene Tür, doch seit einigen Minuten spürte Olivia etwas Düsteres in der Luft. Vielleicht ein Zeichen für Luzifers Anwesenheit – oder doch etwas anderes? Der Hauch von Rauch, den der Luftzug mit sich trug, biss in ihrer Kehle und brannte in ihren Augen.
Vielleicht war der Kampf schon ausgebrochen.
War er schon vorbei? War Aeron verletzt?
Nervös leckte sie sich die Lippen und umklammerte mit zitternden Fingern das Fläschchen, das sie in die Tasche ihrer Robe gesteckt hatte. Der Fluss des Lebens. Sie hob das kalte Glas und beäugte die darin herumwirbelnde blaue Flüssigkeit.
Nur einen Tropfen hatte sie verbraucht, es war also noch eine Menge da. Würde er heute Nacht noch einen Tropfen brauchen? Oder mehr als einen?
Falls ja – wie lange würde der Inhalt noch reichen?
„Was ist das?“, fragte Legion gähnend.
Da Olivia nicht mehr die Wahrheit sagen musste, hätte sie Legion anlügen und für sich behalten können, dass es sich um heilendes Wasser handelte. Doch sie würde nicht mehr lange hier sein und wollte, dass die Herren dann trotzdem noch Zugriff auf die Flüssigkeit hätten.
Sie erklärte, worum es sich handelte, während sie sich der anderen Frau widerstrebend näherte. Als sie die Hand ausstreckte und das kostbare Fläschchen auf ihrer Handfläche ruhte, sagte sie: „Hier. Ich möchte, dass du es nimmst.“
„Hölle, nein.“ Angewidert verzog die Dämonin das Gesicht und schlug ihre Hand weg.
Der Flakon fiel auf die Matratze. Olivia stemmte die Fäuste in die Hüften. „Legion!“
„Euer Fluss des Lebens verpestet unser Wassersystem. Wenn auch nur ein Tropfen von diesem Dreckszeug in das Wasser eines unserer Ströme gelangt, können wir nicht mal mehr baden.“
„Wie schade für euch. Sorg einfach nur dafür, dass die Herren sparsam damit umgehen. Je länger es hält, desto öfter kannst du Aeron den Armen des Todes entreißen.“
„Es kann Aeron retten?“ Legions Abscheu ließ zwar erst langsam nach, aber sie ergriff das Fläschchen und steckte es sich ins Dekollete. „Ich werde es sparsam einsetzen. Versprochen.“
Olivia glaubte ihr. Wenn irgendjemand sich um Aerons Gesundheit kümmern und dafür sorgen würde, dass der Krieger an erster Stelle käme, war das Legion.
Ich hätte es sein sollen.
Sie ging zur Balkontür, blieb jedoch drinnen stehen und lehnte den Kopf gegen den Türrahmen. Der goldene Mond stand noch immer hoch und hell am Himmel, doch die Sterne waren von einem Rauchschleier verdeckt. Ihre Sorge wuchs.
Du musst dich ablenken. „Warum liebst du Aeron?“, fragte sie, ehe sie sich zurückhalten konnte.
Nach einer kleinen Pause kam die Antwort: „Er spielt mit mir. Er sorgt dafür, dass ich glücklich bin. Er beschützt mich.“ Legion bemerkte es vermutlich nicht, aber sie klang defensiv.
Die Scharniere quietschten, als die Tür plötzlich mit Schwung aufging. Olivia wirbelte herum. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. „Aeron?“ Niemand antwortete, weil niemand da war. Und durch die weit offen stehende Zimmertür konnte sie sehen, dass auch der Flur leer war. Der Luftzug war wohl stärker, als sie gedacht hatte. Wann käme er nur endlich zurück?
Die anderen, die Frauen, kampierten in der Dachkammer, wo Sabins Frau Gwen sie beschützte. Nur für den Fall, dass sich jemand durch den Boden grub, hatte Torin erklärt. Obwohl er noch irgendetwas von einer SMS erwähnt hatte, hatte Olivia nicht verstanden, was er damit meinte. Aber wie dem auch sein mochte – sie mochte Gwen, und zwar von Anfang an, als sie noch verängstigt gewesen war und gehasst hatte, was sie war. Gwen war nämlich selbstbewusst. Und glücklich. Genau so, wie ich sein will.
Sie war dankbar gewesen, als die Frau ihr angeboten hatte, sich zu ihr und den anderen zu gesellen, doch Olivia hatte Legion nicht hilflos schlafend zurücklassen wollen. Und als Gwen angeboten hatte, die Dämonin ins oberste Stockwerk zu tragen, hätte sie zustimmen sollen, doch wieder hatte sie abgelehnt. Dies war ihre letzte Nacht in der Burg. Sie hatte sie nicht mit einer Gruppe Frauen verbringen wollen, die sie zwar kannte, die sie jedoch nicht richtig kannten. Sie hätten sie nur über Aeron ausgefragt, und damit hätte sie im Augenblick nicht umgehen können.
Außerdem überwachte Torin jeden Quadratzentimeter der Burg. Er würde Alarm geben, sobald sich irgendwer außer den Herren diesem Ort auch nur näherte.
Seufzend ging sie zur Tür und schloss sie, nur um danach zurück zur Balkontür zu gehen. Auf dem Weg fiel ihr Blick auf Legion. Die Dämonin lag immer noch im Bett, aber nun studierte sie ihre Nägel, als könnte sie nicht glauben, wie hübsch sie waren.
Wo waren sie stehen geblieben? „Wenn du jemanden liebst“, sagte Olivia, „willst du doch, dass er glücklich ist. Oder?“
„Ah, ja. Deshalb werde ich ja auch mit Aeron schlafen. Um uns beide glücklich zu machen.“
War Olivia jemals so ratlos gewesen wie in diesem Moment? „Nein. Damit wirst du dich glücklich machen. Er sieht dich als Tochter. Wenn du ihn dazu zwingst, wirst du ihn kaputt machen. Bei deinem Anblick wird er von seiner Schuld überrollt werden. Genau wie seine Tätowierungen wirst du ihn ständig daran erinnern, was er ist, was er getan hat und was er niemals haben kann.“
Mit einem reißenden Geräusch gruben sich diese Fingernägel in die Bettwäsche. „Und du denkst, du kannst ihn glücklich machen?“
„Ich weiß, dass ich es kann“, erwiderte sie leise. Oder sie wusste, dass sie es gekonnt hätte. Wie er sie das letzte Mal geliebt hatte … dabei war es nicht nur um Lust gegangen. Ihre Seelen hatten sich berührt. Sie hatten einander ein unmögliches Versprechen gegeben. „Er braucht mich.“
Hinter ihr ertönte ein Männerlachen. „Herrlich. Ein dämonischer Herr, verliebt in einen Engel. Ich kann mein Glück kaum fassen.“
Mit weit aufgerissenen Augen fuhr Olivia herum. Weder erkannte sie die Stimme – also war es schon mal nicht Luzifer –, noch sah sie irgendwen im Zimmer. Großartig. Noch ein unsichtbarer Foltermeister. Wer war es denn diesmal? War das die Strafe dafür, dass sie Aeron so häufig beobachtet hatte, ohne sich zu zeigen?
„Wer hat das gesagt?“, wollte Legion wissen.
„Du hast ihn also auch gehört?“ Was hatte das …
Plötzlich legten sich starke Hände auf Olivias Schultern, schleuderten sie nach draußen und zwangen sie, in den Himmel zu sehen. Noch ehe ihr Zeit blieb, sich zu wehren, stießen diese Hände sie über das Geländer, das sie in Aerons Abwesenheit repariert hatte, und sie stürzte tief hinab.
Zum ersten Mal in ihrem Leben jagte es ihr eine Heidenangst ein zu fallen. „Das Wasser“, rief sie Legion zu. „Vergiss nicht…“
Sie hätte weitergesprochen, wenn ihr nicht etwas Hartes den Mund verschlossen hätte. Etwas anderes, ebenso Hartes, schlang sich um ihre Taille und zog sie mit einem Ruck gegen eine feste Wand. Sie wurde langsamer und begann schließlich, wieder höher und höher zu steigen.
Ein Mann, begriff sie. Ein Mann hielt sie fest. Weder Aeron noch Lysander. Von diesem ging eine Bedrohung aus. Mit aller Kraft versuchte sie sich zu befreien, zerkratzte die Haut, die sie nicht sehen, nun aber fühlen konnte, und trat gegen die Beine, die über ihren lagen.
„Wenn ich du wäre, würde ich das lassen“, sagte er. Die Stimme aus dem Zimmer.
„Wer bist du? Was hast du mit mir vor?“
Sie durchbrachen eine Wolkenschicht und waren außer Sichtweite. „Jetzt bin ich aber wirklich verletzt. Ich dachte, mein Ruf eilt mir voraus.“
Galen, traf es sie wie ein Blitz. Aerons größter Feind. Er hatte den Tarnumhang gefunden; das hatte Aeron jedenfalls Torin erzählt. So hatte er die Burg unbemerkt betreten. So hatte er sich in Aerons Schlafzimmer geschlichen.
So würde er alles ruinieren, was von ihrem Leben übrig war.
In den Schlafräumen hatte Torin keine Kameras installiert, doch draußen gab es sehr wohl welche, und diese Kameras hatten mit Sicherheit ihren Sturz und Aufstieg eingefangen. Jeder, der sich das Filmmaterial ansähe, würde glauben, sie sei einfach zurück in den Himmel geflogen. Solange Legion den anderen nicht erzählte, was wirklich geschehen war, würde Aeron annehmen, dass Olivia ihn verraten hatte. Er würde denken, dass sie ihn ohne Abschied verlassen hatte.
Ihr gefror das Blut in den Adern. Sie musste Galen davon überzeugen, sie zurückzubringen. „Ich weiß nicht genau, was du zu erreichen hoffst, aber ich kann dir versichern, dass sich dein Wunsch nicht erfüllen wird. Ich bin Aeron nämlich egal. Er lässt mich gehen.“
„Daran hege ich ernsthafte Zweifel, aber du warst ohnehin nicht der Grund, weshalb ich in der Burg war. Du warst nur der letzte Ausweg.“
„Und was hast du eigentlich hier gewollt?“
Er hielt sie fester. „Glaubst du wirklich, ich würde dir meine Geheimnisse verraten?“
„Wirst du mir wehtun? Verrate mir wenigstens das.“
„Damit ich die ganze Überraschung verderbe?“ Er lachte in sich hinein. „Nein. Ich werde es dir lieber zeigen.“ Er zog die Flügel an, und sie begannen zu fallen …
Schlagartig erwachte Aeron. Eben noch war er verloren gewesen in einem brennenden Schmerz, der seine Organe in Asche verwandelt hatte, und nun rauschte ein kühler Regen durch seinen Körper. Ein kühler Regen, den er sofort wiedererkannte. Der Fluss des Lebens. Olivia war hier, und sie hatte ihn wieder geheilt.
Doch als er die Augen öffnete, sah er, dass es Legion war, die sich über ihn beugte, und musste Enttäuschung niederkämpfen.
„Es hat funktioniert.“ Sie lächelte glücklich. „Es hat tatsächlich funktioniert.“
Obwohl er sie liebend gern nach seinem gefallenen Engel gefragt hätte, konnte er es nicht. Nicht ohne die verschiedensten Probleme heraufzubeschwören. „Die anderen?“ Seine Stimme war rauer als normal, und das lag nicht daran, dass er so viel Rauch eingeatmet hatte. Das Wasser hatte ihn geheilt. Doch wenn er an Olivia dachte, verspürte er immer ein unbändiges Verlangen.
„Wen interessiert das?“ Legion zeichnete mit dem Finger die Linie seiner Brustmuskeln nach und setzte ihren Schlafzimmerblick auf. Doch er sah keine Sehnsucht in ihren Augen. Nein, in den Tiefen ihres Blicks lag pure Entschlossenheit. „Jetzt, da du wieder gesund bist, können wir uns endlich der Aufgabe widmen, die wir noch zu erledigen haben.“
Grob packte er ihr Handgelenk. „Die anderen, Legion. Wie geht es ihnen?“
Mit einem Seufzer machte sie eine Handbewegung, als wollte sie seine Sorge wegwischen. „Sie sind immer noch krank. Okay? In Ordnung? Aber sie werden auch von alleine wieder gesund. Da bin ich mir ganz sicher.“
Nicht mit diesen Kugeln im Körper, die Gift in ihr Blut abgaben. „Willst du mir sagen, dass sie nichts vom Fluss des Lebens bekommen haben?“ Vielleicht war Olivia ja dort und kümmerte sich um das Wohlergehen seiner Freunde. Das wäre typisch für sie. Stets liebevoll und hilfsbereit.
„Genau das will ich damit sagen, ja.“ Auf Legions Gesicht zeichnete sich wachsende Unnachgiebigkeit ab. „Aber nun zu unserer unerledigten Aufgabe …“
Zum Teufel mit ihr. Sie zwang ihn, zu fragen: „Hat Olivia das Fläschchen?“
Endlich gab Legion ihre Verführungsversuche auf und wandte den Blick ab. Wenigstens bekam sie keinen Wutanfall, weil er diesen – wunderschönen, perfekten – Namen erwähnt hatte. „Nein“, antwortete sie. „Es ist nämlich leer. Tut mir leid.“
Blödsinn. Als er es das letzte Mal benutzt hatte, war noch genug darin gewesen, um eine ganze Armee zu retten. Aeron setzte sich auf und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Also: Wenn Olivia das Wasser nicht hatte, musste Legion es haben, da er es eben erst bekommen hatte und sie außer ihm die Einzige in diesem Raum war.
Aber warum sollte Legion … Das Puzzleteil mit der Antwort rutschte an seinen Platz, und sein Blick verdunkelte sich. Natürlich. Sie hob den Rest für ihn auf.
„Vielleicht sollte ich mir etwas Bequemeres anziehen“, schlug sie vor.
Doch noch nicht durch mit der Verführungsnummer. Er erschauderte. „Gib mir das Wasser, Legion, und hör auf mit deinen Versuchen, mit mir zu schlafen. Ich weiß, dass wir es tun müssen, aber nicht jetzt.“
Zorn regte sich in seinem Kopf. Er streckte sich und gähnte.
„Nein, ich …“
„Legion. Ich gebe mein Leben auf, um deins zu retten. Da ist es doch nicht zu viel verlangt, mir das Wasser zu geben.“
Sie zog die Stirn in Falten und verschränkte die Arme vor ihrem üppigen Busen. „Wenn du es so sagst, klingt es, als ob ich dich … keine Ahnung, vernichten wollte.“
Er zog nur eine Augenbraue hoch. Doch sein Schweigen war Antwort genug und fachte ihre Wut zusätzlich an. Ein Leben ohne Olivia wäre in der Tat ein vernichtetes Leben. Legion ist dein kleiner Satansbraten. „Baby“ passte irgendwie nicht mehr. Du kannst sie nicht hassen. Na schön. „Du gibst mir jetzt das Wasser – sonst verpasse ich dir die Tracht Prügel, die du verdienst.“
Jetzt schnurrte Zorn.
Dem Dämon gefiel die Vorstellung, sie zu bestrafen? Das war neu.
„Na gut“, grummelte sie und zog das Fläschchen zwischen ihren Brüsten hervor. „Jeder von ihnen bekommt nur einen einzigen Tropfen, nicht mehr.“
Weil nicht mehr als ein Tropfen erforderlich wäre, erwiderte er: „Versprochen.“ Dann schnappte er sich den blau leuchtenden Flakon, dessen Glas so kalt war, als käme er direkt aus dem Kühlschrank. Er sprang auf und sah an sich hinab. Noch immer war er von Kopf bis Fuß mit Blut und Ruß beschmiert. Seine Jeans war zerfetzt, und er trug kein Hemd. Egal. So konnte er gehen.
„Du bleibst hier.“ Mit jedem Schritt, den er auf die Tür zuging, floss sein Blut schneller und kehrte etwas mehr Kraft in seinen Körper zurück.
„Falls du vorhast, den Engel zu suchen“, rief Legion, „solltest du wissen, dass er gegangen ist.“
Aeron blieb stehen und drehte sich um. „Gegangen? Du meinst, in ein anderes Zimmer?“
„Nein. Er hat die Burg verlassen.“
Nein. Nein. Das hätte Olivia niemals getan. Sie hatte versprochen zu bleiben, bis er wieder dawäre und sie geredet hätten.
Zorn gab keinen Mucks von sich.
„Ich sehe schon, du glaubst mir nicht.“ Mit einem Seufzer ließ Legion sich zurück auf die Matratze fallen. „Sie ist vom Balkon gehüpft und davongeflogen. Sie hat mich nicht mal gebeten, dir Auf Wiedersehen zu sagen. Wenn du mich fragst, ist das ziemlich unhöflich, aber wahrscheinlich fragst du mich ja eh nicht“, sagte sie grummelnd.
Nein!
Sein eigener Protest war ein Echo seines Dämons. Er stapfte aus dem Zimmer und den Flur entlang. Legion musste ihm gefolgt sein, denn auf einmal ging sie neben ihm, schob ihre Hand in seine und versuchte, ihn zum Stehenbleiben zu zwingen.
Er verlangsamte nicht einmal den Schritt. „Olivia!“, rief er.
Himmel!
„Ich habe es dir doch gesagt: Sie ist gegangen. Und zwar für immer.“
Er riss sich los und ballte die Fäuste. Olivia war keine Lügnerin. Auch wenn ihre Stimme nicht mehr den Klang der Wahrheit hatte, hätte sie ihn nicht angelogen. Das war einfach nicht ihre Art. Er wusste es genau. Er kannte sie doch. Irgendetwas musste passiert sein. Was, wusste er nicht, doch er war fest entschlossen, es herauszufinden.
„Olivia!“
Zorn wimmerte.
Wir werden sie finden. Den ersten Krieger, dem er begegnete – Strider –, hielt er an und warf ihm das Fläschchen Wasser zusammen mit ein paar mündlichen Anweisungen zu, ohne jedoch auf der Suche nach seinem Engel das Tempo zu verlangsamen.
„Aeron“, sagte Legion verzweifelt. „Bitte. Du hättest sie doch ohnehin verloren. Und du, Strider, gibst mir den Flakon wieder, sobald du fertig bist. Sonst sorge ich dafür, dass du niemals Kinder haben wirst!“
Aeron stürmte zurück in sein Zimmer und rüstete sich am ganzen Körper mit Waffen aller Art. „Es spielt keine Rolle, ob ich sie verliere oder nicht.“ Olivia, die einzige Frau, der er bis in alle Ewigkeit nachlaufen würde – zum Teufel mit dem Stolz und den äußeren Umständen –, war da draußen. „Sie gehört mir. Uns“, fügte er schnell hinzu, ehe Zorn protestieren konnte. „Und wir werden keine Ruhe geben, bis sie wieder bei uns ist.“
26. KAPITEL
Klatsch. Ihre Lippe platzte auf.
Umpf. Die Luft wich aus ihren Lungen.
Knack. Eine harte Faust krachte auf ihren Unterarm und zertrümmerte die Knochen.
Olivia ertrug alles stumm, doch sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Diese Folter hatte vor einer Stunde begonnen. Vor einer Ewigkeit. Ihre Handgelenke waren an den Armlehnen eines kleinen Holzstuhls festgebunden; sie war von Blutergüssen übersät, blutete und hatte jetzt auch noch einen gebrochenen Arm.
Ihre Haare waren nass, nachdem der Mann namens Dean Stefano ihren Kopf immer wieder unter Wasser gedrückt und sie gezwungen hatte, einen Mundvoll nach dem anderen einzuatmen. Jetzt war sie von diesen eiskalten Tropfen bedeckt. Sie hielten sie wach und sorgten dafür, dass sie jedes bisschen Schmerz spürte.
Das hier ist nicht so schlimm wie die Hölle, sagte sie sich. Du wirst es überleben. Du musst es überleben.
„Galen hat dein Wohlergehen in meine Hände gelegt“, sagte Stefano. Sein Gesicht war rußverschmiert, und an einigen Stellen seines Körpers hatten sich Brandblasen gebildet. „Er hat mich explizit darum gebeten, dich zu verhören. Und das werde ich auch tun. Versprochen. Das hier haben deine Freunde mir angetan, siehst du? Sie haben mich und das, was zu meinem Zuhause geworden war, verbrannt. Ich bin den Flammen nur knapp entkommen, und jetzt habe ich einen gut bei ihnen. Oder auch zwei.“
Schaudernd wandte sie den Blick von seinen irren Augen ab. Sie befand sich in irgendeinem Lagergebäude. Einem Lagergebäude mit Betonfußböden und Eisenwänden. Das Zimmer, in dem sie gerade saß, war klein. Auf einem Tisch stapelten sich diverse Messer, die dieses Dreckschwein mit Sicherheit jeden Moment benutzen würde. Daneben stand ein Wasserkübel, der tief genug war, um sie darin zu ertränken, und mit dem sie schon häufiger in Berührung gekommen war, als sie zählen konnte, und außerdem der Stuhl, auf dem sie saß.
„Bist du jetzt bereit zu reden, Engel?“ Wie ruhig er auf einmal klang. So gar nicht wie der grausame Mann, der er war.
Sie brauchte ihm nur zu sagen, was er wissen wollte, und würde den Herren damit das Leid ersparen, einen Krieg zu verlieren, dachte sie. Dann biss sie sich auf die Zunge. Nein. Nein! Galen musste ganz in der Nähe sein. Anscheinend spielte sein Dämon Hoffnung mit ihr, denn dieser Gedanke war nicht ihrem eigenen Kopf entsprungen.
Bleib stark.
„Du brauchst mir nur zu sagen, wo die Herren den Käfig versteckt haben, und das Ganze hier ist sofort vorbei.“ Stefano schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Das möchtest du doch bestimmt, hm?“
Wollte sie, dass es aufhörte? Ja. Wer hätte das nicht gewollt? Doch wenn sie ihm erst gesagt hätte, was er wissen wollte, würde er sie umbringen. Vergiss das nicht. Sie presste fest die Lippen aufeinander.
Er hob eine Feder auf, die zu Boden gefallen war, als Galen sie abgesetzt hatte, und fuhr mit der Spitze an ihrem Wangenknochen entlang. „Der Käfig. Wo ist er? Sag es mir. Bitte. Ich möchte dir nicht weiter wehtun.“
Du weißt, was du zu tun hast, knurrte plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf. Weder Luzifer noch Galen. Schon die dritte an diesem Tag. Dieses Mal musste sie einen Schluchzer der Erleichterung unterdrücken. Lysander. Er war hier. Sie konnte ihn weder sehen noch spüren, doch sie wusste, dass er da war.
Sie war in diesem Albtraum nicht länger alleine.
„Engel“, keifte Stefano. Unmittelbar vor ihr ballte er die Faust, um ihr noch einmal auf den bereits gebrochenen Arm zu schlagen. Die Feder war wieder zu Boden gesegelt und verhöhnte sie von dort aus mit ihrer Weichheit. „Rede endlich.“
„Ich weiß nicht … Ich weiß nicht, wo er ist“, keuchte sie. Eine Lüge. Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal dankbar wäre, lügen zu können, doch jetzt war sie es. Natürlich bedeutete das auch, dass sich der Mensch dazu entscheiden könnte, ihr nicht zu glauben.
Olivia, sag ihm, was er wissen will, und ich bringe dich nach Hause.
Oh, sie wusste, dass sie gehen könnte. Sie wusste, dass sie wie geplant in den Himmel zurückkehren und all dem Schmerz und der Erniedrigung entkommen könnte. Doch sie hatte Aeron ein Versprechen gegeben, und das wollte sie auch halten. Sie musste ihm Auf Wiedersehen sagen.
„Doch, du weißt es“, sagte Stefano. „Du bist wochenlang durch die Burg geschlichen, ohne dass jemand deine Anwesenheit bemerkt hat. Du musst ihn gesehen haben.“
Olivia, bitte. Komm, mit mir zurück. Ich halte es nicht aus, dich so zu sehen. Ich halte die Hilflosigkeit nicht aus – zu wissen, dass ich dich retten kann, aber nicht handeln zu können.
„Ich kann nicht“, sagte sie zu ihm.
Stefano schlug zu, und ein leiser Schrei fand seinen Weg nach draußen. Sie sah Sterne, und ein überwältigender Schwindel rauschte von einer Schläfe zur anderen durch ihren Kopf.
Olivia!
„Ich kann nicht“, sagte sie noch einmal, während sie nach Luft rang.
Klatsch. „Doch, du kannst“, erwiderte der Mensch, in dem Glauben, sie hätte mit ihm gesprochen. „Du zollst dem, was ich mit dir anstellen kann und werde, nicht genügend Respekt, und das verletzt meine Gefühle.“
In ihrem bereits aufgeplatzten Mund breitete sich der stechende Schmerz weiter aus.
Olivia, knurrte Lysander wieder. Das ist doch Wahnsinn.
Nichts ist eine solche Qual wert. Komm nach Hause. Bitte. Ich kann dir nicht mehr helfen, bis du es tust.
„Deine Frau … hätte das … nicht gewollt.“ Diesmal sprach sie mit Stefano und ignorierte Lysander. Sie war froh, dass er hier war, natürlich. Aber in dieser Sache würde sie nicht nachgeben.
Durch ihr wochenlanges Spionieren wusste Olivia, dass Stefanos Ehefrau Darla Selbstmord begangen hatte. Wegen Sabin, dem Hüter des Dämons Zweifel, und wegen Stefano – wegen der beiden Männer also, die sie geliebt hatten. Sie war in eine Zerreißprobe zwischen den beiden geraten, und der Tod war für sie der letzte Ausweg gewesen.
Stefano kniff die Augen zusammen. „Sie wurde hereingelegt. Die Dämonen haben sie getäuscht, sodass sie sie am Ende mochte.“ Er beugte sich herunter, legte die Handflächen auf ihre gefesselten Arme – auf ihre gebrochenen Knochen – und drückte zu. „Wenn sie bei Sinnen gewesen wäre, hätte sie sogar gewollt, dass ich noch mehr mache.“
Noch ein Schrei entfuhr ihr. Der beißende Schmerz zuckte durch ihren gesamten Körper, ehe er sich in ihrem Bauch sammelte und sie zu verzehren drohte.
Olivia!
„Aeron wird mich mehr hassen als je zuvor, wenn ich ihm einen deiner Finger schicke“, sagte Stefano wieder unheimlich ruhig. „Dann wird er kommen, um dich zu retten, und am Ende wird er für dich sterben. Bist du wirklich bereit, so einen hohen Preis zu zahlen? Sag mir, wo der Käfig ist, und ich werde Aeron verschonen.“
Da war sie wieder: die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wenn sie Stefano sagte, was er wissen wollte, käme sie frei, könnte zu Aeron zurückkehren, und sie könnten bis in alle Ewigkeit glücklich zusammenleben. Sie könnten miteinander schlafen und sogar eine Familie gründen.
Wusste Galen, was sein Helfer tat, um an die Antworten zu gelangen, nach denen er suchte? Interessierte es ihn überhaupt? War ihm klar, wie sich seine Nähe auf sie auswirkte?
Olivia, verflucht noch mal. Du brauchst es ihm weder zu sagen, noch musst du das aushalten. Komm einfach nach Hause.
Sie atmete tief ein und aus. Sie bekämpfte sich selbst und ihre Sehnsüchte. Bekämpfte diese alberne Hoffnung. Bekämpfte den Schmerz. Dann öffnete sie den Mund.
Vielleicht würde sie nie erfahren, was sie hatte sagen wollen. Denn Stefano schlug sie, und sie brachte kein einziges Wort mehr heraus. Ihr wurde schwarz vor Augen … sie fiel… sie war wunderbar verloren …
„Es wird eine Weile dauern, und womöglich habe ich keinen Erfolg.“
Aeron musterte seinen Freund. Er konnte sich kaum noch beherrschen. Am liebsten hätte er diese bulligen Schultern gepackt und geschüttelt. Luciens verschiedenfarbige Augen – eins war braun, das andere blau – sahen ihn grimmig entschlossen an. „Es ist mir egal, wie lange es dauert. Tu es einfach.“
Am liebsten hätte er sich selbst geschüttelt, weil er nicht eher daran gedacht hatte.
Jeder hier dachte, Olivia sei in den Himmel zurückgekehrt, genau wie Legion es behauptet hatte. Verdammt, sie alle hatten das gesehen, was Torins Kamera aufgezeichnet hatte. Das Uberwachungsmaterial zeigte, wie sie vom Balkon seines Zimmers sprang.
Diese Szene wiederholte sich wie in einer Endlosschleife in seinem Kopf. Olivia hatte in seinem Zimmer gestanden und in die Nacht geblickt. Sie war erstarrt, hatte sich umgedreht. Dann hatte sie sich erneut umgedreht und war nach draußen gegangen, wobei sich ihre Lippen bewegten, als spräche sie mit irgendwem – Legion meinte, sie hätte vor sich hin gemurmelt, wie aufgeregt sie sei, weil sie bald ihre Freunde wiederträfe. Doch auf ihrem Gesicht hatte sich das Grauen gespiegelt. Dann war sie gesprungen. War gefallen und gefallen und dann aufgestiegen. Ohne ihre Flügel.
Wie hätte sie ohne Flügel fliegen sollen? Warum hatte sie Angst gehabt?
Die anderen vermuteten, das Grauen entstammte ihrer Furcht vor dem Ungewissen, da sie nicht wusste, wie die Engel sie empfangen würden. Aeron wusste es besser. Davor fürchtete Olivia sich nicht. Sie hatte ihm selbst gesagt, dass die Engel nachsichtig waren – tolerant und geduldig war ihre genaue Wortwahl gewesen – und dass sie sie mit offenen Armen empfangen würden.
Die einzig logische Schlussfolgerung war, dass Legion log. Mal wieder. Was bedeutete, dass Olivia entführt worden war. So wie er es anfangs angenommen hatte. Und es gab nur eine Möglichkeit, wie das abgelaufen sein konnte. Galen hatte den Tarnumhang benutzt.
Rette sie. Bestraf ihn.
Dass der Dämon zuerst retten und erst danach bestrafen wollte, war ein Beweis für seine tiefe Zuneigung.
Aeron hatte ganz Buda durchkämmt. Er hatte Gebäude abgesucht, Einwohner erschreckt und getötet. Oh, und wie er getötet hatte, und zwar frohen Mutes und ohne eine Spur von Reue, denn er hatte entdeckt, dass in der Nähe noch immer viele Jäger herumlungerten. Womöglich wäre er nie mehr in der Lage, sich das Blut von den Händen zu waschen. Doch er hatte nichts gefunden, was auf Olivia hingewiesen hätte. Keine Gerüchte, niemand hatte sie gesehen. Er … war … verzweifelt. Und diese Verzweiflung wuchs zusehends.
„Komm. Dieser Zeitpunkt ist so gut wie jeder andere, um anzufangen.“ Er ging Lucien voran den Flur entlang zu seinem Zimmer und stieß die Tür auf.
Legion, die sich mal wieder auf seinem Bett rekelte, setzte sich auf. Die Bettdecke rutschte herunter und enthüllte ihre nackten Brüste. „Endlich. Bist du jetzt endlich bereit, es zu tun, oder was?“
Er ignorierte sie. Das tat er schon, seit er Strider das Fläschchen zugeworfen hatte. Er war so wütend auf sie, dass er nicht wusste, wie er mit ihr umgehen sollte. Aeron trat beiseite, um Lucien Einlass zu gewähren.
Legion stieß einen frustrierten Seufzer aus. „Besuch? Jetzt?“
Zorn fauchte sie an.
Aeron merkte, dass der Dämon sie – genau wie er und trotz aller Wut – immer noch mochte, denn er verspürte keinerlei Drang, ihr wehzutun. Allerdings ließ Zorn sich durch ihre Anwesenheit nicht mehr beruhigen. Sie hatte sein Stückchen „Himmel“ zerstört, und das konnte weder der Dämon vergessen noch Aeron.
Lucien war sorgfältig darauf bedacht, nicht zum Bett zu sehen. In der Mitte des Zimmers blieb er stehen und drehte sich langsam. Er war hier, um Verbindung zu Olivias Geist aufzunehmen. Oder vielmehr zu dem Pfad, den ihr Geist hinterlassen hatte und dem er dorthin folgen konnte, wo sie festgehalten wurde. Aeron ballte die Fäuste.
„Götter“, sagte Lucien ehrfürchtig. „Sie hat den reinsten Geist, den ich je erblicken durfte.“
Aeron konnte ihn zwar nicht sehen, dafür aber spüren, und er nickte. „Ich weiß.“
„Wer?“, fragte Legion mit einem Schmollmund.
Wieder ignorierte er sie. Er hatte noch sechs Tage, um mit ihr zu schlafen, doch im Augenblick war er sich nicht sicher, ob er es überhaupt könnte – auch wenn er nur so seine Freunde retten konnte.
„Ich folge der Spur bis zum Ende“, sagte Lucien, „und falls ich …“
„Sobald du“, korrigierte Aeron ihn, wobei ein tiefes Knurren aus seiner Kehle aufstieg. Es geht ihr gut. Es muss ihr gut gehen.
Der Krieger nickte. „Sobald ich sie finde, komme ich zurück und hole dich.“ Mit diesen Worten verschwand Lucien auf die spirituelle Ebene.
Götter, wie hilflos er sich fühlte. Er wollte – musste – da draußen sein und selbst nach ihr suchen. Doch sein erster Versuch war erfolglos geblieben, und tief in seinem Innern wusste er, dass der zweite nicht anders verliefe. Galen hätte sie überall hinbringen können, und Lucien würde sie viel schneller finden. Wenn Aeron jetzt die Burg verließe, müsste Lucien auch ihn suchen, sobald er ihren Aufenthaltsort ausfindig gemacht hätte.
„Aeron!“ Legion sprang auf und starrte ihn finster an, während sie die Bettdecke fest um ihren Körper geschlungen hielt. „Es geht um den Engel, das habe ich kapiert. Aber er ist nun mal fort. Also lass ihn doch. Ohne ihn sind wir sowieso besser dran. Warum begreifst du das denn nicht?“
„Ohne Olivia sind wir nicht besser dran“, schrie er. Er konnte sich einfach nicht länger im Zaum halten. Wütend drehte er sich zu ihr um und nagelte sie mit seinem Blick fest. Warum konnte sie nicht begreifen, wie sehr er Olivia brauchte? „Sie ist besser als irgendeiner von uns.“
Fassungslosigkeit spiegelte sich in ihren Augen. „Ich habe es ihr nicht geglaubt, aber sie hatte recht. Du … du liebst sie.“
Aeron zog es vor zu schweigen. Wenn er zugäbe – und sei es nur vor sich selbst –, dass er Olivia liebte, wäre er nicht in der Lage, sie gehen zu lassen, wenn der Zeitpunkt käme. Er würde sie bei sich behalten und jeglichen Konsequenzen trotzen. „Sag mir, was passiert ist, als sie ging. Sag mir endlich die Wahrheit, verdammt noch mal!“
Sie öffnete den Mund. Um zu lügen. Er wusste es; und Zorn spürte es. „Tu es nicht.“ Bei jedem anderen hätte sein Dämon ihn mit dem Drang gequält, ebenfalls zu lügen. Bislang hatte Zorn sich nicht für Legions Sünden interessiert, er hatte sie nicht einmal registriert, doch wütend, wie sie beide auf sie waren, änderten sich die Dinge allmählich. „Die Wahrheit, verflucht. Nur die Wahrheit. Nach allem, was ich für dich getan habe – verdiene ich da etwa weniger?“
„D…du hast recht. E…es tut mir leid. Ich dachte nur … Ich dachte, es wäre leichter für dich, wenn du dächtest, sie hätte dich … freiwillig verlassen.“
Nein. Scheiße, nein. Er heulte auf wie ein gequältes Tier. Genau wie Zorn. „Dann hat also Galen …“
„Er hat sie geholt, ja. Es tut mir leid, Aeron. Ehrlich.“
Nun, da sich sein Verdacht bestätigt hatte … nun ja, er hätte sich genauso gut das Herz herausschneiden und es verbrennen können. Seine wundervolle Olivia war tatsächlich in den Händen seines Feindes. Und vermutlich fügte er ihr in diesem Moment unerträgliches Leid zu, denn Gnade gehörte nicht gerade zu den Praktiken, die Galens Armee anwandte.
Er warf den Kopf in den Nacken und brüllte.
„Aeron. Sag mir, was ich tun kann, um …“
„Ruhe!“ Als er zu ihr hinübersah, biss er sich auf sie Innenseite seiner Wange, bis er Blut schmeckte. „Du hast eine Frau verletzt, die ihr Leben geopfert hat, um uns zu retten. Uns. Nicht nur mich, sondern auch dich. Sie ist der Grund dafür, dass du immer noch hier bist.“
„Es tut mir leid“, wiederholte Legion zerknirscht. Dann wandte sie den Blick ab und starrte auf den Fußboden. „Das meine ich ehrlich.“
„Das spielt keine Rolle mehr.“ Weil es Olivia auch nicht zurückbrachte.
Bestrafen.
Die Forderung, die Zorn so entschlossen vorbrachte, erschütterte ihn.
Sie hat uns verraten.
Vorsichtig. Willst du nicht lieber Olivia retten, fragte Aeron.
Wut verwandelte sich in Kummer. Himmel.
Das wertete er einfach mal als Ja. Aeron schob Legion aus seinen Gedanken und stapfte zum Kleiderschrank, um sich auf Luciens Rückkehr vorzubereiten. Wieder band er sich so viele Messer und Pistolen an den Körper, wie er nur konnte.
Für alle Fälle packte er auch die Überbleibsel des Wassers aus dem Fluss des Lebens ein. Die halbe Flasche. Strider hatte seine Anweisungen nicht so ganz genau befolgt, aber ein bisschen war immer noch besser als nichts. Hoffentlich würde Olivia nichts davon brauchen. Aber wenn Galen ihr wirklich etwas angetan hatte, gäbe es auf der ganzen Erde kein Loch, in dem sich der Bastard verkriechen könnte, und kein Stück Stoff, unter dem er sich vor seinen Blicken verbergen könnte. Am Ende würde Aeron ihn finden.
Rache.
Ja. Die Rache wäre sein.
Was habe ich nur getan?, dachte Legion entsetzt, als Aeron aus dem Zimmer stapfte, das er nach ihren Vorlieben eingerichtet hatte. Er litt. Und sie war der Grund dafür. Er hatte recht. Er war immer gut zu ihr gewesen, und sie hatte ihn zu dem gemacht. Sein Blick war leer und seine Stimme rau vor Verzweiflung.
Ihr Magen brannte vor Übelkeit. Sie hätte alles getan, alles, um die Sache erträglicher für ihn zu machen. Vielleicht … vielleicht sogar beiseitetreten, damit er wieder mit Olivia zusammen sein konnte. Nein. Hör auf, so zu denken. Weil sie diesen jämmerlichen Deal mit Luzifer gemacht hatte, stand ihr Kurs fest – genau wie Aerons.
Aber es musste doch irgendetwas geben, das sie tun konnte. Etwas, das ihn wieder glücklich machte. Etwas wie …
Die Antwort traf sie mit einem gewaltigen Schlag, und sie schloss die Augen. Nein, nein, nein, dachte sie zuerst. Und dann: Das ist die einzige Möglichkeit.
Für Aeron.
Mit zitternden Händen zog sie sich an. Eine Hose und ein T-Shirt, die sie sich von Danika geliehen hatte. Sie konnte den Engel zurückholen. Nicht damit Aeron wieder mit Olivia zusammen wäre, sondern damit er sich endlich von ihr verabschieden könnte. Zwar konnte Legion im Gegensatz zu Lucien keine Energiespuren verfolgen, aber sie konnte ihre Brüder aufspüren. So hatte sie auch Aeron gefunden, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Sie hatte seinen Dämon in der Nähe gespürt. Und Galen konnte sie auch spüren.
Ich hätte ihn niemals mit dem Engel gehen lassen dürfen. Trotz des Tarnumhangs hatte sie in dem Augenblick, als er das Zimmer betreten hatte, gewusst, dass er es war. Doch in der Hoffnung, dass er ihren Wettstreit beenden würde, hatte sie nichts gesagt. Ich bin wirklich ein böses Mädchen.
Du musst ihn finden. Ja. Okay. Das würde sie. Sie würde Aeron sowohl Olivia als auch Galen präsentieren. Und dann würde er sie auch wieder lieben.
„Lass mich in Ruhe, Kind.“
„Ich bin kein Kind.“ Entrüstet stemmte Gilly die Hände in die Hüften, der personifizierte verletzte weibliche Stolz. Zu junger weiblicher Stolz. „Du brauchst jemanden, der deine Wunden versorgt.“
„Meine Wunden“, erklärte William ihr mit gerunzelter Stirn, „heilen wunderbar von selbst.“ Seit er mit Messerstichen übersät in die Burg zurückgekehrt war, wuselte sie nun schon um ihn herum.
Gut, es gefiel ihm. Welcher Mann genoss es nicht, umsorgt zu werden? Doch die Tatsache, dass er sich immer wieder daran erinnern musste, dass Gilly zu jung für ihn war, jagte ihm Angst ein. Eigentlich hätte es nicht nötig sein sollen, sich ständig in Erinnerung zu rufen, dass er ältere, erfahrenere Frauen bevorzugte.
Es hätte nicht nötig sein sollen, sich in Erinnerung zu rufen, dass er verheiratete Frauen bevorzugte. Oh Götter, und wie er verheiratete Frauen liebte. Besonders die mit gebrochenen Herzen. Sie waren leichte Beute. Eigentlich wirkte jede Frau mit einem angeknacksten Selbstbewusstsein wie ein Aphrodisiakum auf ihn. Er war richtiggehend süchtig danach, dabei zuzusehen, wie sie unter seinen Schmeicheleien aufblühten. Aber die anbetungswürdige kleine Gilly?
Nein. Nein, nein, nein. Sie war tabu. Für immer. Egal, wie alt sie war. Bei all den Frauen, die er schon gehabt hatte – und ja, es waren einige Tausend –, wusste er, dass man nicht zu Hause mit seinen Spielsachen spielte. Damit machte man viel zu viel Unordnung. Man spielte lieber mit den Spielsachen eines anderen in dessen Zuhause.
„Warum bist du so?“ Sie strich sich eine dunkle Strähne hinters Ohr. Ein bezauberndes Ohr. Ein Ohr, das wie gemacht dafür war, daran herumzuknabbern.
Idiot! „Raus mit dir“, erwiderte er barscher als beabsichtigt.
Sie zuckte zusammen, bevor sich ein Schleier der Verletzlichkeit über ihre lieblichen Gesichtszüge senkte. „Und wohin soll ich gehen? Die anderen Mädels sind bei ihren Freunden, und ich hab keinen Bock, mit den Singlemännern rumzuhängen.“
Äh, hallo. „Ich bin auch Single.“
„Ja, aber du bist anders als die“, erwiderte sie und sah dabei auf ihre Schuhspitzen.
Das stimmte. Er war bei Weitem attraktiver und intelligenter. Und vermutlich auch ein bisschen gefährlicher. „Gilly“, seufzte er. „Ich glaube, wir sollten uns mal unterhalten. Ich habe das Gefühl, dass du … etwas für mich empfindest. Ich mache dir deshalb keine Vorwürfe. Hölle, nein, ich lobe dich für deine Intelligenz und deinen Sinn für Schönheit. Aber wir sind Freunde, du und ich, und mehr können wir auch niemals sein.“
„Warum nickt?“ Blitzartig hob sie den Blich und sah ihn fest aus ihren großen, von langen Wimpern umrandeten Augen an. In Williams Kopf spielten sich verbotene Gedanken ab. Wie zum Beispiel, ihr beizubringen, dass Lust nicht hässlich sein musste.
Du bist ja noch schlimmer als ein Idiot. Er bemühte sich, seinen Ton unter Kontrolle zu halten. „Weil du zu jung bist, um mit einem Mann zusammen zu sein und zu verstehen, was das bedeutet.“
Sie lachte erbittert. „Ich weiß sckon seit Jahren, was das bedeutet.“
Da war sie wieder – die Bestätigung, dass man ihr schreckliche Dinge angetan katte. Dinge, die niemals hätten geschehen dürfen. „Wer auch immer mit dir zusammen war, hat dir großes Unreckt angetan“, sagte er bestimmt. „Unverzeihliches Unrecht.“
Ihre Wangen erröteten, und er war sich nicht sicher, ob diese Röte einem Gefühl der Scham, der Verlegenkeit oder der Erleichterung darüber entsprang, dass jemand die Misshandlung erkannt hatte, die sie hatte erfahren müssen. Sie wusste nicht, dass er von ihrem Stiefvater wusste, und er würde es ihr auch nicht verraten; sie wusste nur, dass William denjenigen verdammte, der ihr wehgetan hatte, und nicht Gilly selbst.
Was auch stimmte. Ihr Stiefvater gehörte erschossen. Und ausgeweidet. Und dann erhängt. Und danach angezündet. Und William würde für all das sorgen. Ja, das wäre seine nächste Mission. Ihrer Mutter würde es übrigens auch nicht viel besser ergeben.
„Mit dir wäre es kein Unreckt“, flüsterte sie.
Götter, sie brachte ihn schier um. „Warum willst du eigentlich bei mir abhängen?“ Er würde ihr nicht verraten, was er vorhatte. Sie könnte versuchen, ihn aufzuhalten. „Wodurch untersckeide ich mich von den anderen?“
Sie leckte sich über die Lippen, doch noch ehe er ihre rosa Zungenspitze richtig sehen konnte, war sie auch schon wieder verschwunden. „Na ja, du rauchst nicht.“
Das war es, was sie anziehend fand? „Genau wie die anderen Männer hier. Aber im Gegensatz zu ihnen habe ich mir überlegt, damit anzufangen.“ Und das würde er augenblicklich tun. „Und zwar ohne Filter!“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und trommelte mit den Fingern auf ihre Oberarme. „Es ist mehr als das. Du bist schön – aber das weißt du ja selber.“
„Tja, das lässt sich nicht leugnen.“
„Und auch noch bescheiden“, fügte sie trocken hinzu.
Er war, was er war. Er kannte seine Wirkung und schämte sich nicht, dazu zu stehen. „Aber Aussehen ist nicht alles. Vor allem weil ich so viel Tiefgang habe wie eine Pfütze. Ich benutze Frauen, Gilly. Ich schlafe mit ihnen, und danach lasse ich sie fallen, auch wenn sie mehr von mir wollen.“ Er hasste es, ihre Illusionen von ihm zu zerstören, aber es musste sein. Einer von ihnen musste in dieser Sache der Klügere sein.
Sie verlagerte ihr Gewicht von einem aufs andere Bein und wandte abermals den Blick ab. „Das ist nichts Neues für mich. Ich habe die Gerüchte über dich gehört.“
„Von wem?“ Wer auch immer über ihn tratschte, musste …
„Von Anya.“
Ein harter Schlag. „Egal, was sie dir erzählt hat, denk daran, dass sie eine Lügnerin ist.“
„Sie meinte, du kannst eine Frau ihre Sorgen vergessen machen, sodass sie glücklicher ist als vorher, wenn du gehst – selbst wenn du sie mit gebrochenem Herzen zurücklässt.“
Ach so. „Tja, da hat sie ausnahmsweise mal die Wahrheit gesagt.“ Seine Berührungen waren in der Tat magisch. „Aber hör zu: In ein paar Jahren wird dir der Richtige begegnen und dich viel glücklicher machen.“ Sicher, der Mann musste Williams Anforderungen erfüllen und sich sein Einverständnis verdienen, aber darüber würde er sich erst dann Gedanken machen, wenn es so weit war. „Und was mich angeht – ich bin nicht dieser Mann. Ich bin nicht der Richtige für jemanden, der etwas Dauerhaftes will.“
Wieder spiegelte sich auf ihrem Gesicht der Schmerz. „Aber…“
„Nein. Aus uns wird nichts werden, Gilly. Weder jetzt noch irgendwann.“
Sie schluckte und rang merklich um Fassung. „Also schön“, sagte sie schließlich. „Ich werde dich in Ruhe lassen. So wie du willst.“ Im nächsten Augenblick ging sie aus seinem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Leider ließ sie ihren süßen Vanilleduft zurück, der seine verfluchte Nase höhnisch umspielte.
William sprang auf. Da seine Wunden noch nicht abgeheilt waren, verspürte er stechende Schmerzen in der Seite, doch er musste hier raus, bevor er ihr noch folgte. Je mehr Abstand zwischen ihm und Gilly lag, desto besser. Außerdem musste er sich Zigaretten kaufen.
Vielleicht würde er Aeron bei der Suche nach seinem Engel unterstützen – wen interessierte es schon, ob sie auffindbar war oder nicht –, und dann, wenn er wieder voll belastbar wäre, würde er Gillys Familie aufspüren und umbringen.
Ein guter Plan, sagte er sich. Nur … warum fühlte er sich auf einmal so unvollständig?
Eine Frau, dachte Gideon benommen. Er hatte eine Frau gehabt. Eine Frau, an die er sich nicht erinnerte. Wie war das möglich?
Nach Scarlets Enthüllung war er regelrecht aus dem Kerker geflohen. Er hatte nicht gewusst, was er sagen sollte. Hatte nicht gewusst, ob er ihr glauben konnte, weil Lügen ihm verdammt noch mal nicht half. Alles, was er gewusst hatte, war, dass er sie nicht verlassen wollte. Aber er hatte es ihr versprochen, also musste er gehen.
Allerdings blieb er in ihrer Nähe, auf der Treppe. Er wartete, dachte nach, zappelte unruhig herum und hoffte, dass sie nach ihm rufen würde. Doch das hatte sie nicht. Jetzt, Stunden später, schlief sie, und er ging … irgendwo hin. Gerade hob er den Kopf, um sich zu orientieren, als er in einen ebenso abgelenkten Strider lief.
„Pass doch auf, wo du hinläufst, Mann“, sagte sein Freund mit einem Grinsen. „Solltest du nicht eigentlich in deinem Zimmer sein?“
Er lehnte sich gegen die Wand, um nicht umzufallen, schwer atmend und schwitzend. Seit Ewigkeiten hatte er nichts gegessen und wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer. „Wahrscheinlich nicht. Ich brauche keine Hilfe.“
Sorge verjagte Striders Lächeln. „Dann lass mich mal.“
Er legte dem geschwächten Krieger den Arm um die Taille, und Gideon verlagerte sein Gewicht. „Nein, danke, mein Feind.“
„Keine Ursache.“ Auf dem Weg berichtete Strider ihm von dem Bombenanschlag auf das „Asylum“ und dem damit einhergehenden Sieg. Das erklärte, warum seine Augen so glücklich leuchteten. Doch in seinem Blick lag noch etwas anderes. Etwas Unpassendes. Etwas … Dunkles und Beunruhigendes.
„Das ist nicht großartig, aber was beschäftigt dich außerdem nicht?“
Strider warf einen Blick über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass sie allein waren. Obwohl er niemanden sah, schwieg er, bis er Gideon in sein Zimmer geschleppt und auf sein Bett gelegt hatte.
Er setzte sich auf den Stuhl, auf dem Ashlyn – und dann die süße Olivia – gesessen hatten, stützte die Ellbogen auf die Knie, beugte sich vor und legte den Kopf in die Hände. „Hör zu. Wir haben die Unaussprechlichen gesehen. Die sind übel, Mann, echt übel. Sie kennen den Standort des vierten Artefakts und sind gewillt, ihn demjenigen zu verraten, der ihnen Cronus’ Kopf bringt. Auch wenn es die Jäger sind.“
„Also werden wir nicht …“
„Nein, das werden wir nicht. Erinnerst du dich an das Bild von Galen, das Danika gemalt hat?“
Verdammt. Ja, er erinnerte sich. Darauf hatte Galen Cronus geköpft.
„Wenn das eintrifft“, fuhr Strider fort, „werden die Unaussprechlichen, die sehr mächtig sind, von Cronus’ Herrschaft befreit werden. Dann können sie machen, was sie wollen. Wie zum Beispiel, keine Ahnung, jeden Menschen auf diesem Planeten fressen. Mir ist aufgefallen, dass sie organreiche Kost bevorzugen.“
Scheiße drückte nicht annähernd aus, was er empfand. „Das ist ja fantastisch.“
„Ich habe Cronus gerufen, in der Hoffnung, mit ihm über die Sache reden zu können – und um herauszufinden, ob es irgendeinen Weg gibt, die Unaussprechlichen zu vernichten, bevor Galen den kreativen Umgang mit seinem Schwert übt –, aber er ignoriert mich. Torin hat ihn auch gerufen. Nichts. Und hör dir das an: Ich bin gerade Danika über den Weg gelaufen. Sie hat soeben ihr neuestes Bild gemalt.“
Furcht machte sich in Gideon breit. Normalerweise hieß Strider jede bevorstehende Herausforderung willkommen. Aber jetzt sah er einfach nur elend aus. „Ich will es nicht wissen.
„Vielleicht änderst du deine Meinung, wenn du das hier hörst: Cronus und seine Frau Rhea sind darauf zu sehen. Ach ja – hat dir schon jemand erzählt, dass Rhea den Jägern hilft? Auf dem Bild sind sie mit Lysander zusammen. Cronus tobt vor Wut, und Rhea jubelt. Du kennst doch Lysander, oder? Der Engel, der mit Bianka zusammenlebt.“
„Nein.“ Ja.
„Keine große Sache, stimmt’s?“, fuhr Strider fort. „Was ist schon dabei, wenn Cronus wütend auf Lysander ist und Rhea zufrieden mit ihm? Der Engel macht uns doch keine großen Sorgen. Ha! Dein Dämon muss das gerade lieben. Das ist nämlich gelogen. Der Engel macht uns riesige Sorgen.“
„Erzähl nicht weiter. Und lass bloß kein Detail aus. Ich meine, ich liebe es, wie du die Sache in die Länge ziehst.“ Was er vermutlich nur deshalb tat, weil er die schlechte Nachricht einfach nicht überbringen wollte und erst noch den nötigen Mumm dafür aufbringen musste. Trotzdem. Lange würde Gideon es nicht mehr aushalten.
Mit grimmigem Gesicht blickte Strider auf. „Aeron ist auch auf dem Bild. Lysander hat ihm gerade den Kopf abgeschlagen.“
27. KAPITEL
Der Schmerz war es, der sie weckte. Langsam öffnete Olivia die Augen. Piep, piep. Zuerst war der Raum trüb, so wie durch eine ölverschmierte Scheibe. Doch dann kehrte Stück für Stück die Klarheit in ihren Blick zurück. Keine vollständige Klarheit – ihre Lider waren geschwollen –, aber genug, um zu sehen, dass sie sich immer noch in dem Lagergebäude befand, wenn auch in einem anderen Raum. In diesem standen fahrbare Krankenbetten. Sie hing an einem Tropf, und auf ihrer Brust klebten Elektroden, die ihre Herzfrequenz überwachten. Ihr gebrochener Arm war nicht geschient, sondern an das Bettgitter gekettet.
„Lysander?“ Selbst bei diesen drei Silben begann ihre Kehle unerträglich zu schmerzen. Tränen traten in ihre verwüsteten Augen.
Es kam keine Antwort.
Sie versuchte es erneut. „Lysander.“
Wieder nichts.
Dann war er also fort. Ignoriert hätte er sie nicht, das war nicht sein Stil. Eher hätte er sie noch etwas angeschrien, und im Augenblick wäre sie für sein Geschrei dankbar gewesen. Sie war allein und verängstigt.
Nein, nicht allein, bemerkte sie, als ihr Blick den Rest des Zimmers absuchte. Neben ihr lag ein Mann, ebenfalls auf einer Trage. Ein Mann, den sie nicht kannte. Er war jung, vielleicht Anfang zwanzig, und unter seinen Augen zeichneten sich Blutergüsse ab. Seine Wangen waren eingefallen, und seine Haut war leicht gelbstichig.
Er beobachtete sie.
Als er merkte, dass er von ihr ertappt worden war, errötete er und sagte: „Ah, hi. Es freut mich, dich wach zu sehen. Ich heiße Dominic.“
„Olivia“, erwiderte sie automatisch. Au. Das hatte noch mehr wehgetan.
„Du hörst dich schrecklich an.“ Er strahlte Reue und Schuldgefühle aus. „Angeblich sind wir die Guten. Stefano hat mir erzählt, dass du die Freundin von Zorn bist, aber das ist mir egal. Das hätten sie dir nicht antun dürfen. Keinem Menschen sollte so etwas angetan werden.“
Sie brauchte nicht zu fragen, wer „wir“ war. Die Jäger. Sie ließ ihren Blick über den Körper des Jungen gleiten, um nach Verletzungen zu suchen. Er trug kein Hemd, und sein Bauch und seine Schulter waren bandagiert. Auf dem Bauchverband sah sie getrocknete Blutflecken. Er trug eine locker sitzende Jogginghose. „Dich … auch verletzt?“
Offenbar war er zu sehr in seine Gedanken vertieft, denn er schien sie nicht zu hören. „Sie sagten mir, unser Anführer sei auch ein Dämon.“ Bei dem Wort „Dämon“ fing er zu husten an. Er hustete so heftig, dass er Blut spuckte. Als er sich endlich beruhigte, fügte er hinzu: „Ich hätte ihnen glauben sollen. Nach allem, was man dir angetan hat, muss ich ihnen glauben.“
Ihnen. Den Herren? Sie konnte in seinem Ton keine Lüge ausmachen, aber andererseits auch nicht die Wahrheit. So oder so – tief in ihrem Innern wusste sie, dass er nicht mehr lange leben würde. Der Gedanke, dass er auf diese Art und in so einer Umgebung sterben musste, war ihr verhasst. Und sie würde vermutlich einen ähnlichen Tod sterben.
Nein. Nein. So durfte sie nicht denken. Sie war eine Glücksbotin, doch das hieß nicht, dass sie hilflos war. Sie hatte die Flammen der Hölle überstanden, hatte es ertragen, dass man ihr die Flügel ausgerissen hatte. Auch diesem Gefängnis könnte sie entkommen. Ja, sie würde es schaffen.
Dominic setzte sich auf und rieb sich leicht schwankend die Schläfen. Kaum hatte er sich gefangen, schwang er die Beine über den Rand des Betts und stand auf.
„Vorsicht“, krächzte sie.
Wieder schien er sie nicht zu hören. „Sie fanden mich auf der Straße. Ich war ein Dieb und ein Stricher. Sie sagten mir, es sei nicht meine Schuld.“ In seiner Stimme schwang Scham mit. Und diese Scham war weitaus größer als zuvor die Reue. „Sie sagten, es sei ihre Schuld. Die Schuld der Herren. Dass sich der Dämon Niederlage an mir und meinen Lebensumständen labte. Ich glaubte ihnen, denn das war einfacher, als mir selbst die Schuld zu geben.“
„Gelogen“, sagte sie. Er legte ein letztes Geständnis ab, und das brachte sie fast zum Schluchzen. Eigentlich hätte der Tod sie nicht berühren sollen. Das hatte er früher auch nicht. Doch jetzt wusste sie um seine Endgültigkeit. Dieses Kind, denn nichts anderes war dieses Wesen, das da vor ihr stand, hätte die Chance auf ein langes, glückliches Leben haben sollen. Stattdessen hatte der Junge nur Kummer und Leid erfahren.
Mit einem wackligen Schritt nach dem anderen ging er ganz langsam um sein Bett herum und auf ihres zu. „Ich weiß, dass sie gelogen haben. Jetzt. Die Herren, sie haben mich zurückgeschickt. Freigelassen. Obwohl sie es nicht wollten, haben sie es getan. Niederlage hat es getan, und ich habe Mitgefühl in seinen Augen gesehen. Das Böse kennt kein Mitgefühl, nicht wahr?“
„Nein.“
„Ich habe ihn beobachtet, weißt du? Intensiver als die anderen. Ich wollte ihn töten, aber er hat mich gerettet. Und Stefano, was er dir angetan hat …“ Dominic schüttelte den Kopf und blickte finster drein. „Eine wehrlose Frau zu verprügeln zeugt nicht gerade von Mitgefühl. Galen war wütend, als er es herausfand, aber der Engel hat Stefano nicht für sein Handeln bestraft.“
Galen und verärgert über ihre Misshandlung? Das war überraschend.
Als Dominic sie endlich erreichte, schenkte er ihr ein kleines Lächeln, das zugleich traurig und glücklich war. „Diese Dreckschweine dachten, ich würde dir nicht helfen.“ Er zog ein Band aus seiner Hose, und da, am Ende, hing ein dünner Metallstreifen. „Sie haben sich geirrt. Mit den Jahren habe ich gelernt, immer auf alles vorbereitet zu sein.“
Überrascht riss sie die Augen auf, als er sich an den Handschellen zu schaffen machte, die sie gefangen hielten. Und wieder stiegen Tränen in ihr auf. Der Schmerz war unerträglich, und um ein Haar wäre sie wieder in die gnädige Schwärze gefallen. Zum Glück klickte das Metall, bevor sie fiel. Sie war frei, was die Schmerzen ein wenig linderte.
„Danke.“
Er nickte. „Wir haben zehn Minuten. Vielleicht. Irgendjemand kommt immer rein, um nach dir zu sehen.“ Während er sprach, half er ihr, sich aufzusetzen. „Außerdem sollte ich eigentlich Galen rufen, sobald du aufwachst. Natürlich werde ich das nicht tun.“ Nach einer klitzekleinen Pause fügte er hinzu: „An der Tür werden wir nach links gehen. Wir werden an den anderen Eingängen vorbeigehen, wobei mein Körper deinen hoffentlich abschirmen wird. Es sind nur ein paar Männer hier, doch auch wenn sie zum medizinischen Personal gehören, werden sie keine Sekunde zögern, dich zu erschießen, wenn sie merken, wer du bist und dass du frei bist.“
Unsicher belastete Olivia ihren linken Fuß, dann den rechten. Sie trugen ihr Gewicht. Ihr entfuhr ein Seufzer der Erleichterung – und sie zuckte zusammen. Ihre Lippen waren verkrustet, und durch die kleine Bewegung waren sie wieder aufgeplatzt.
„Ich kann nicht ohne den Umhang gehen“, meinte sie. „Wo ist …“
„Unmöglich. Galen trägt ihn die ganze Zeit bei sich. Du kannst ihn nur bekommen, wenn du ihm entgegentrittst, und das würdest du nicht überleben.“
Dominic hatte recht. Sie hatte nicht die Kraft, Galen zu besiegen. Aber sie konnte diesen Umhang auch nicht in seinem Besitz lassen. Sonst würde er am Ende noch jemanden entführen – sehr wahrscheinlich sogar. Galen würde nicht zögern, und mit seinem nächsten Opfer wäre er vielleicht nicht so … nachsichtig.
„Komm“, sagte Dominic, legte ihr den Arm um die Taille und führte sie zur Tür.
„Wo ist Galen jetzt?“
„Oh nein. Ich weiß, was du denkst, aber ich habe es dir doch gerade gesagt. Wir können das nicht machen. Es gibt einfach keine Möglichkeit.“
„Ich muss es versuchen“, erwiderte sie und ließ ihre Entschlossenheit auf ihn übergehen.
Er blieb stehen und schloss die Augen. Sie konnte spüren, dass sein Herz unregelmäßig und viel zu hart gegen seine Rippen schlug. „Er ist hier und wartet ungeduldig.“ Er lachte bitter. „Ich habe versucht, dich eher zu wecken, aber du warst völlig weggetreten.“
Wenn sie ginge, würde Galen dieses Lager verlassen und nie wiederkommen, weil er wusste, dass sie die Herren herbringen könnte. Dann wüsste sie nicht mehr, wo er zu finden wäre, und das wollte sie auf keinen Fall riskieren.
„Ich möchte, dass du ohne mich weitergehst“, sagte sie. Sie erklärte ihm, wie er zur Burg käme. „Die Herren werden dich entdecken, sobald du den Hügel erreicht hast. Frag nach Aeron, und sag ihm …“
„Nein.“ Dominic schüttelte den Kopf. „Wie oft muss ich es dir denn noch sagen? Du kannst Galen nicht schlagen. Er wird dich umbringen und dann mit dem Umhang abhauen. Ich sterbe sowieso, und es ist mir egal, ob es hier passiert oder irgendwo anders. Aber du … Nein“, wiederholte er. „Das werde ich nicht zulassen. Ich werde nicht in dem Wissen sterben, dass ich nichts unternommen habe, um dir zu helfen.“
Sie öffnete den Mund, um zu protestieren und ihn irgendwie davon zu überzeugen, dass er alles so machen sollte, wie sie es wollte, doch das Geräusch von schweren Schritten und ein entfernter Ruf hinderten sie.
Dominic erstarrte. „Er kommt zurück, um nach dir zu sehen“, flüsterte er panisch. „Mist. Mist.“ Er zog sie neben die Tür und drückte sie gegen die Wand, wo sie versteckt wären, wenn die Tür aufginge.
„Ich kann nicht ohne den Umhang gehen. Es geht einfach nicht.“
Abermals schloss Dominic die Augen, als wägte er die Möglichkeiten ab. Es dauerte nur eine Sekunde, eine Sekunde, die sich ewig hinzuziehen schien, aber als er sie wieder öffnete, lag mehr Entschlossenheit in seinem Blick, als sie es jemals bei jemand anderem gesehen hatte.
„Der Umhang steckt in seiner Tasche. Wenn man ihn zusammenfaltet, schrumpft er. Er ist grau und weich. Schnapp ihn dir, und dann lauf. Schau nicht zurück, sondern lauf einfach. Okay?“
Genau wie sein Herz schlug nun auch ihres hart in ihrer Brust. Ihr brach der Schweiß aus, ihre Gliedmaßen zitterten, und ihr Mund wurde trocken. „Was ist mit dir?“ Er behauptete zwar, bereit zu sein zu sterben, aber sie war nicht bereit, ihm dabei zuzusehen. Er war ein netter Junge, der in seinem kurzen Leben viel zu viel Schlechtes erlebt hatte. Er verdiente es, glücklich weiterzuleben.
„Ich komme schon mit Galen klar. Okay?“ Er zog das andere Band aus seiner Hose, an dessen Ende ein Messer hing. Er nahm es so fest in die Hand, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. „Fass einfach in seine Taschen, greif dir so viel wie möglich, und dann lauf.“
Taschen. Galen trug genau so eine Robe wie Olivia, und die hatte drei Taschen. Zwei rechts und eine links. Es wäre unmöglich, alle drei gleichzeitig zu filzen. Trotzdem antwortete sie „Okay“ und betete, dass sie die richtige Entscheidung träfe.
Die Tür schwang auf, und Galen kam hereingestiefelt. Mitten im Zimmer blieb er stehen und ließ seinen Blick über die leeren Betten schweifen. Ohne lange zu überlegen, warf Olivia sich einfach auf ihn und schob die Hände in zwei seiner Taschen.
Fluchend versuchte er, sie wegzustoßen. Vielleicht half Lysander ihr doch, denn Galen schaffte es nicht.
Ihr gebrochener Arm pochte, und die geschwollenen Finger folgten ihren mentalen Kommandos nur widerwillig, doch sie packte alles, was sie zu greifen bekam, drehte sich um und lief los. Sie lief einfach davon, genau wie Dominic gesagt hatte. Jemand zog an ihren Haaren, doch sie blieb nicht stehen.
Sie lief durch die Tür, während ein Teil von ihr erwartete, jeden Augenblick zurückgerissen zu werden, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen hörte sie einen Schrei, ein schmerzerfülltes Brüllen, und wusste, dass Dominic Galen gerade einen Stich mit dem Messer verpasst hatte.
Doch eine Stichwunde würde den Unsterblichen nicht lange aufhalten.
Durch die offen stehenden Türen der anderen Zimmer stürmten mehrere Männer in den Flur. Als ihre verwirrten, panischen Blicke auf sie fielen, beschleunigte Olivia ihr Tempo und sah auf ihre Beute hinab. Da, in der Mitte ihrer Handfläche, lag ein quadratisches Stück grauen Stoffs.
Erleichterung. Aufregung. Ja, sie fühlte beides, und die Gefühle gaben ihr Kraft. Olivia ließ alles andere fallen und schüttelte den Stoff aus. Dabei war sie abgelenkt und lief in einen Mann hinein, dessen Körper so unnachgiebig war wie eine Mauer.
Ein gewaltiger Schmerz durchfuhr sie, und dennoch schaffte sie es, im Fallen den Stoff weiter auszuschütteln. Gerade als der Mann sich bückte, um sie zu packen, warf sie sich den Umhang um die Schultern.
Eben noch hatte sie ihre Gliedmaßen gesehen, nun waren sie verschwunden. Nicht atmen. Sei still.
Irritiert fingen die Männer an, nach ihr zu suchen. Sie schössen auf die Stelle, an der sie gelegen hatte, aber sie war schon weitergekrochen. Atemlos drückte sie sich an eine Wand, und schließlich stürmten die Männer an ihr vorbei und riefen nach Verstärkung.
Galen stürmte aus dem Zimmer. Er blutete aus dem Bauch. Mit finsterem Blick zog er einen bewusstlosen – bitte, mach, dass er noch lebt – Dominic hinter sich her.
„Wohin ist sie gegangen?“, fragte er scharf.
„Ich weiß nicht.“
„Sie ist einfach verschwunden.“
Galen fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Er ließ Dominic fallen. Der Junge keuchte nicht einmal. „Sie kann nicht weit sein. Sie ist verletzt. Schwärmt aus, und bewegt euch zum Versteck der Dämonen. Das ist ihr Ziel. Wenn ihr irgendetwas spürt, aber nicht sehen könnt, schießt. Wenn ihr eine Frau atmen hört, sie aber nirgends entdecken könnt, schießt. Verstanden? Jetzt werden härtere Seiten aufgezogen, denn sie hat etwas, das mir gehört. Aber setzt keinen Fuß auf den Hügel, sonst sehen euch die Herren, und dafür bin ich noch nicht bereit.“
Ein Chor von „Jas“ ertönte. Dann waren die Männer fort.
Galen stand noch eine ganze Weile da, schob den Unterkiefer von links nach rechts und atmete tief durch. Olivia wagte es nicht, auszuatmen. Sie hielt einfach die Luft an und wartete. Endlich schritt er in dieselbe Richtung davon wie seine Männer.
Auf Zehenspitzen schlich sie zu Dominic und legte die Fingerkuppen an seinen Hals. Kein Puls. Ihr Kinn zitterte, und sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Er war bereit gewesen zu sterben, hatte es sogar gewollt, und dennoch brach es ihr das Herz. Er hatte niemals Freude erfahren. Obwohl er es verdient hätte.
Du kannst später für seine Seele beten. Wenn du auch stirbst, bist du nämlich niemandem mehr eine Hilfe. Olivia stand auf, während ihr die Tränen wie ein warmer Regen über die Wangen liefen. Sie konnte kaum etwas sehen, stolperte aber trotzdem vorwärts – in die gleiche Richtung wie Galen.
Der Flur führte in einen leeren Vorraum, und dieser leere Vorraum führte zu einer verschlossenen Tür. War das der Ausgang? Höchstwahrscheinlich. Durch den Spalt zwischen den Doppeltüren drang Sonnenlicht.
Sie schluckte, als sie den unverletzten Arm ausstreckte und einen Türflügel aufstieß. Sogleich hüllte sie warme Luft ein. Und tatsächlich strahlte die Sonne hell über einem Parkplatz. Zu hell für ihre überempfindlichen Augen. Doch sie kniff die Lider zusammen und stapfte weiter.
Bis sich ihr ein grinsender Galen in den Weg stellte.
Er hatte seine Flügel weit ausgebreitet, und sie bewegte sich zu schnell, als dass sie rechtzeitig hätte anhalten können. Sie stieß mit ihm zusammen, torkelte zurück und fiel gegen die Metallwand des Lagergebäudes. Mit einem erschrockenen, schmerzerfüllten Keuchen rutschte sie auf den mit Kieselsteinen bedeckten Boden.
„Ich habe mir schon gedacht, dass du zuerst nach dem Jungen sehen würdest“, sagte er, wobei sein Grinsen noch breiter wurde. „Deine Freunde sind schuld an seinem Tod, und dennoch wolltest du zu ihnen zurückkehren. Wie enttäuschend. Wie vorhersehbar.“
Dreckschwein!
Er stürzte auf die Wand zu, und Olivia rollte sich zur Seite, wobei sie mit einer Hand so viele Steinchen wie möglich packte. Sorgfältig darauf bedacht, keine weiteren Geräusche zu machen, rappelte sie sich auf, während Galen gegen die Wand knallte.
Er stand wieder auf. „Egal. Ich kann deine Fußspuren sehen. Jetzt brauche ich dir nur noch zu folgen.“
Danke für die Warnung. Im Zickzack bewegte sie sich weiter, während sie die Umgebung unaufhörlich nach einem sicheren Weg absuchte. Doch wohin sie auch sah, sie erblickte nur Staub und Geröll. Was bedeutete, dass er auch weiterhin ihre Fußabdrücke sähe, ganz egal, wo sie hinträte. Und so war es auch. Galen blieb ihr dicht auf den Fersen.
„Wenn du mir entwischst, werde ich mich als Nächstes Aeron widmen. Ich werde ihm den Kopf abschneiden, und du wirst mir hilflos dabei zusehen.“
Er verhöhnte sie. Er wollte sie zum Aufgeben zwingen.
Ganz langsam, Zentimeter für qualvollen Zentimeter, bewegte sich Olivia rückwärts. Galen folgte ihr. Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Etwa hundert Meter entfernt lag eine belebte Gegend mit einer stark befahrenen Straße und vielen Gebäuden. Die Jäger hatten diesen Ort vermutlich gewählt, weil sie sich hier unauffällig auffällig hatten verstecken können. Was sie jedoch nicht mit einkalkuliert hatten, war, dass es auch für ihre Gefangenen leichter wäre, sich zu verstecken. Sie musste es nur irgendwie dorthin schaffen, dann wäre sie in Sicherheit. Dann wäre es unmöglich für ihn, sie zu finden.
Das Problem: Er war schnell, schneller als sie, und unverletzt. Wenn sie rannte, könnte er sie einholen. Das Risiko ist es wert.
Sie sammelte ihre letzten Kräfte aus Reserven, von deren Existenz sie bis dato selbst nichts gewusst hatte, wirbelte herum und sprintete los. Hinter sich hörte sie Kies knirschen. Galen war ihr also dicht auf den Fersen. Jedes Mal, wenn sie ein Bein vor das andere warf, protestierte ihr schmerzender Körper, doch sie steigerte ihr Tempo nur noch mehr.
Fast hatte sie es geschafft … als Galen nach dem Umhang griff und zog. Mit einem Aufschrei hielt sie den Stoff mit der freien Hand fest um ihren Körper geschlungen, bog um eine Ecke und raste geradewegs in eine Gruppe Fußgänger. Zwei fielen rückwärts um, wobei ihre Schulter und ihr Arm enthüllt wurden. Keuchend richtete Olivia den Umhang und presste sich dann gegen die nächstgelegene Mauer.
Sie warf die Kieselsteine, die sie noch immer festhielt, gegen einen Pfosten. Kling, kling, kling. Erwartungsvoll beobachtete sie, wie Galen an ihr vorbei auf den Pfosten zurannte und dann in die Richtung weiterlief, in der er sie vermutete.
Das war knapp gewesen. Nur um Haaresbreite war sie der Katastrophe entkommen. Aber sie hatte es geschafft. Sie hatte es tatsächlich geschafft.
Heißer Atem raste durch ihre Nase ein und aus, verbrannte ihre Kehle und Lunge. Jetzt badete sie förmlich im Schweiß, und wahrscheinlich roch sie übel. Wieder zitterten ihre Gliedmaßen. Unglücklicherweise konnte sie nicht zur Burg gehen, denn bis sie dort ankäme, hätten Galens Männer die Gegend schon längst umstellt. Aeron anrufen konnte sie auch nicht, weil sie seine Nummer nicht hatte.
Doch irgendetwas musste sie tun, irgendwo hingehen; hier konnte sie nicht bleiben. An die Wand gestützt, stemmte sie sich hoch und torkelte los. Sie bog um mehrere Ecken und glitt durch immer neue Menschenmengen und Umgebungen, bis sie endlich eine schattige, ruhige Gasse erspähte und sich setzte. Ein Fehler. In dem Moment, als ihr Körper zur Ruhe kam, wusste sie, dass sie ihn nicht wieder dazu zwingen könnte, sich zu bewegen. Krämpfe durchzuckten ihre Muskeln, und jeder Funken Energie erlosch.
„Lysander“, flüsterte sie. Und wartete.
Wieder bekam sie keine Antwort.
Allein. Ein schrecklicher Gedanke. Das hier war nicht der beste Ort, um sich zu verstecken. Irgendwer könnte über ihre unsichtbaren Beine stolpern. Außerdem würden die Jäger vermutlich jede Gasse absuchen, wenn sie nicht an der Burg auftauchte. Aber …
Ich muss die Augen zumachen, dachte sie. Nur ein bisschen. Und erst mal tief durchatmen. Dann würde sie sich irgendwie hochhieven und weitergehen.
Nur dass sie stattdessen eingeschlafen sein musste. Denn als sie endlich die Augen öffnete, immer noch unfähig, sich zu bewegen, sah sie, dass die Sonne untergegangen war und bereits der Mond am Himmel leuchtete.
Die Schmerzen waren noch schlimmer geworden, und ihre Entschlossenheit war gebrochen. Sie konnte nicht. Sie konnte nicht weitergehen. Der Tod wäre ihr willkommen. Sie würde nicht dagegen kämpfen. Sie würde …
„Olivia“, sagte eine Männerstimme. Sie erschrak. „Komm schon, Süße. Ich weiß, dass du hier bist. Dein Energiepfad endet hier, aber ich kann dich nicht sehen.“ Eine Sekunde später nahm ein Körper Gestalt an.
Lucien. Obwohl sie einander nie so richtig vorgestellt worden waren, erkannte sie ihn sofort. Sie wusste, dass er den Dämon Tod in sich trug. Wie passend. Er könnte sie begleiten, wenn sie …
„Ich werde dir nichts tun. Ich möchte dir helfen. Aeron ist auf der Suche nach dir.“
Aeron. Der Tod konnte einpacken. Mit einer zitternden Hand, die sich anfühlte, als zerrten riesige Felsbrocken daran, griff sie nach oben und zog sich den Umhang von den Schultern. „H…hier. Ich bin hier.“
Lucien riss die Augen auf, als sie plötzlich aus dem Nichts erschien. „Oh nein, Süße. Es tut mir ja so leid. Alles wird …“ Er schüttelte den Kopf. „Keine Zeit, um zu erklären, was hier vor sich geht. In dem Lagergebäude, in dem du gefoltert wurdest, wartet eine Seele darauf, von mir ins Jenseits begleitet zu werden.“
„Sein Name ist Dominic“, sagte sie mit rauer Stimme. „Er hat mich gerettet. Sei bitte sanft zu ihm.“
„Versprochen.“ Lucien verschwand.
Sie faltete den Umhang, so gut es ging. Sie rechnete damit, dass … Lucien kam mit Aeron zurück.
Sämtliche Gedanken zerfielen. Aeron. So unerwartet. So willkommen. „Ich dachte, du wolltest … die Seele …“
„Das mache ich als Nächstes. Ich sehe euch in der Burg.“ Mit diesen Worten verschwand Lucien ein zweites Mal.
„Oh Baby“, sagte Aeron zärtlich, als er sich neben sie hockte. Unter der Zärtlichkeit konnte sie die Sorge und Wut in seiner Stimme hören. Aber er war hier und hatte die Schlacht gut überstanden. „Was haben sie mit dir gemacht?“
Wie Lucien hatte auch sie keine Zeit für Erklärungen. „Sind da draußen und suchen mich. Warten bei der Burg.“
Sofort versteifte er sich und suchte mit dem Blick die Umgebung ab. „Es ist niemand in der Nähe. Du bist in Sicherheit. Und ich werde Torin anrufen, um die anderen zu warnen. Sie werden sich um jeden Einzelnen gekümmert haben, bis wir dort sind.“ Er zog ein Fläschchen aus der Tasche und hielt es an ihre Lippen. „Trink, meine Süße, trink.“
Sie schüttelte den Kopf. Es gab keinen Grund, einen Tropfen an sie zu verschwenden. Bald ginge sie nach Hause und …
Entschlossen öffnete er ihre Lippen und neigte die Flasche. Die kühle Flüssigkeit – es war mehr als ein Schluck – rann ihre Kehle hinab und sammelte sich angenehm in ihrem Bauch. Innerhalb weniger Sekunden breitete sich die Flüssigkeit in ihrem gesamten Körper aus und gab ihr Kraft und Ruhe. Der Schmerz fiel vollständig von ihr ab und ließ ein kühles, glückliches Summen zurück.
Eigensinniger Mann. „Du hättest mir nicht so viel geben sollen.“ Sogar ihr Hals war geheilt, die Worte kamen wieder samtweich heraus.
„Ich würde dir alles geben.“
Wie schön, dass er das sagte. Schön und falsch. Sie wollte so etwas nicht hören. Nicht jetzt. Es würde ihr den Abschied nur noch schwerer machen. „Wie hast du mich gefunden?“
Seine Augen wurden schmal. „Ich wusste, dass du nicht gegangen wärst, ohne dich zu verabschieden, also habe ich Lucien gebeten, deiner Energiespur zu folgen. Was bedeutet, dass er gesehen hat, wo du warst und welche Wege du eingeschlagen hast. Ich werde mir niemals verzeihen, dass es so lange gedauert hat, bis wir dich gefunden haben. Und ich werde Galen töten, dieses verfluchte Schwein. Auch wenn es das Letzte ist, das ich …“
„Aeron“, unterbrach sie ihn. Sie würde nicht zulassen, dass er sich ihretwegen in Gefahr brächte. „Halt mich einfach fest.“
Er schob ihr die Arme unter Knie und Rücken, hob sie hoch und drückte sie vorsichtig an seine Brust. „Wenn wir nach Hause kommen, wirst du mir genau erzählen, was sie dir angetan haben. Und vielleicht erzählst du mir dann ja auch, was die Dämonen in jener Nacht mit dir gemacht haben.“ Mit jedem Wort wurde seine Stimme härter. „Und dann werde ich Galen und die Dämonen suchen und mich revanchieren. Niemand verletzt meine Frau und lebt danach weiter.“
28. KAPITEL
So vorsichtig wie möglich legte Aeron Olivia auf sein Bett. Zwar waren die Schwellungen abgeklungen und Platzwunden wie Brüche verheilt, doch er wollte kein Risiko eingehen. Legion war nicht da, und er war froh darüber. Er hatte keine Ahnung, wo sie war; er wusste nur, dass er sich jetzt nicht mit ihr befassen könnte. Seine geliebte Olivia … als er sie gefunden hatte …
Er ballte die Fäuste. Zorn schrie nach Rache, und Aeron wollte sie ihm verschaffen. Jetzt. Nicht länger warten. Er wollte, dass Lucien ihn dorthin beamte, wo Olivia gefangen gehalten worden war, damit er mit dem Töten beginnen konnte. Eigentlich war das „Wollen“ eher ein essenzielles Bedürfnis, wie Atmen und Essen. Doch die Feiglinge waren bereits geflüchtet. Das Lagergebäude stand leer. So viel hatte Lucien ihm verraten, bevor er ihn zu der Gasse gebracht hatte. Nur interessierte das seinen Dämon nicht.
Olivia war offensichtlich geschlagen und gefoltert worden. Lucien hatte ihm gesagt, ihre Energiespur sei vor Schmerz und Angst glühend rot gewesen. Es war Aeron egal, was er tun müsste, um Galen zu finden. Er würde diesen Bastard aufspüren und umbringen.
Langsam und qualvoll, sagte Zorn.
Langsam und qualvoll, stimmte er ihm zu. Doch zuerst würde er diesen düsteren Drang bezähmen und seine versprochene Unterhaltung mit Olivia führen. Ihr Wohlergehen und ihre Bedürfnisse kamen vor allem anderen. Außerdem könnte er Galen ohnehin erst angemessen bestrafen, wenn er genau wusste, was dieses Arschloch seiner Frau angetan hatte.
Und er würde ihn angemessen bestrafen.
Entspann dich. Olivia zuliebe. Aeron hockte sich neben das Bett, und Olivia rollte sich auf die Seite, ohne den Blickkontakt abbrechen zu lassen. „Ich hätte es verstanden, wenn du während Galens Verhör … nach Hause gegangen wärst“, sagte er. Es wäre ihm sogar lieber gewesen. Lieber hätte er sie für immer verloren, als zu wissen, dass sie gelitten hatte.
„Ich wollte nicht gehen. Noch nicht. Ich musste schließlich sichergehen, dass du das hier bekommst.“ Sie hob ein kleines Stück grauen Stoffes hoch. „Das ist der Tarnumhang.“
Einen Moment lang konnte er nur verblüfft blinzeln. Dann schüttelte er den Kopf und lachte. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten, so erschien es. Diese zierliche Frau, dieser gefallene Engel, hatte getan, wozu eine Armee Unsterblicher nicht in der Lage gewesen war. Sie hatte den Jägern das dritte Artefakt unter der Nase weggeklaut – und Galen damit vernichtend geschlagen. Seine Brust schwoll vor Stolz an.
Belohn sie.
Zuerst hatte sein Dämon Legion züchtigen wollen, und jetzt wollte er Olivia eine Belohnung geben. Wir verstehen uns, Dämon. „Danke. Nicht, dass dieses winzige Wort annähernd ausdrückt, welch tiefe Dankbarkeit ich empfinde, aber trotzdem: danke.“
„Gern geschehen. Und, was hältst du davon? Von dem Artefakt, meine ich.“
„Es sieht so klein aus.“ Er betrachtete es von allen Seiten. Und so harmlos. „Wie soll es …“
„Einen kompletten Körper bedecken? Es wird größer, wenn man es auseinanderfaltet.“
Er wollte sie nicht allein lassen, nicht mal für eine Sekunde, aber er musste sich vergewissern, dass der Umhang tatsächlich Schutz bot. „Ich bin in einer Minute zurück“, versprach er, und sie nickte.
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, erhob sich dann widerwillig und rannte förmlich aus dem Zimmer. Der erste Krieger, der ihm über den Weg lief, war … Strider. Schon wieder. Aeron legte ihm das Stückchen Stoff in die Hände und sagte: „Tarnumhang. Gib ihn Torin. Er soll darauf aufpassen.
Danke.“ Da. Erledigt. Nicht mehr sein Problem. Und dann raste er auch schon zurück zu seinem Zimmer.
Kurz bevor er die Tür erreichte, holte Strider ihn ein, packte ihn am Arm und stoppte ihn. „Wie bist du da drangekommen?“
„Später.“
„Na gut. Details über den Umhang werden zurückgestellt. Es gibt ohnehin Wichtigeres zu besprechen.“
„Später.“ Ihm blieben nur noch fünf Tage mit Olivia -wenn er sie davon überzeugen könnte, den Rest der Zeit zu bleiben. Wenn nicht … Hölle, nein. Er würde es schaffen. Er war schließlich ein Krieger, also würde er sich auch wie einer verhalten. Sieg um jeden Preis.
Himmel. Um jeden Preis.
Zwei gegen einen. Das Kräfteverhältnis gefiel ihm. Und erst wenn ihre Zeit um wäre, würde er sich rächen.
„Das kann nicht warten“, drängte Strider.
„Dein Pech.“ Er legte die Finger um den Türknauf.
Sein Freund zerrte nochmals an seinem Arm.
Mit finsterer Miene wirbelte Aeron herum. „Lass mich los, Mann. Ich bin beschäftigt.“
„Für die Nachricht, die ich für dich habe, wirst du dir wohl oder übel etwas Zeit nehmen müssen. Und schon geht’s los. Du wirst schon sehr bald deinen Kopf verlieren. Und zwar buchstäblich. Eigentlich wollte ich es dir schonend beibringen, aber das war ja leider nicht möglich.“
Er erstarrte. „Was meinst du mit ,meinen Kopf verlieren’? Woher weißt du das?“
„Danika hat ein neues Bild gemalt. Darauf war dein Kopf von deinem Körper abgetrennt.“
Er würde sterben? Bislang hatten sich Danikas Bilder immer als richtig erwiesen. Die Herren hofften natürlich, dass sie das Schicksal verändern konnten, aber ob es tatsächlich funktionierte, hatten sie noch nie erfahren. Was bedeutete, dass es mehr als wahrscheinlich war, dass er sterben würde.
Er wartete darauf, dass ihn die Wut packte. Nichts geschah. Er wartete darauf, dass ihn Traurigkeit überwältigte. Nichts geschah. Er wartete auf den Drang, sich auf die Knie zu werfen und weinend um mehr Zeit zu flehen. Doch wieder geschah nichts.
Er lebte seit vielen Tausend Jahren. Und jetzt, da er Olivia begegnet war, führte er endlich ein erfülltes und herrliches Leben. Weil er liebte. Seine Freunde, seine Ersatztochter Legion – trotz ihrer jüngsten Fehltritte –, doch am meisten Olivia. Er liebte sie. Er konnte das Gefühl nicht länger leugnen. Sie gehörte ihm. Sie gehörte Zorn. Sie war ihr Grund zu leben. Die Quelle ihres Glücks. Ihre Besessenheit.
Ihr Himmel.
Er hätte sie auf der ganzen Welt gesucht, nur um noch ein paar Minuten länger mit ihr zu verbringen. Minuten. Vielleicht war das alles, was ihnen jetzt noch blieb. Keine Rede mehr von den Tagen, um die zu kämpfen er bereit gewesen war. Sie war sein Ein und Alles, und er würde nicht noch mehr kostbare Zeit ohne sie verschwenden.
Endlich verstand er die Menschen. Sie bettelten nicht um mehr Zeit, weil sie die Zeit, die ihnen noch blieb, miteinander genießen wollten – statt sie damit zu vergeuden, sich nach dem zu sehnen, was hätte sein können.
Zorn schien ebenfalls verstanden zu haben. Denn der Dämon weinte weder, noch drängte er ihn, seinen Kurs zu ändern. Ohne den Engel hatten sie nichts. Und solange sie ihre Mission zu Ende brachten – und Galen zerstörten –, konnten sie glücklich sterben.
„Aeron“, mahnte Strider.
Er zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. „Wer holt sich meinen Kopf?“ Er müsste immer noch mit Legion schlafen. Daran gab es nichts zu rütteln. Niemals ließe er zu, dass seine Freunde mit dem Schlamassel fertig werden müssten, den er angerichtet hatte – schon gar nicht, wenn er nicht mehr da wäre. Aber darum würde er sich kümmern, sobald Olivia fort und gerächt wäre. Und dann, erst dann könnte er in Frieden sterben. So wäre es ohnehin besser. Ohne seine Olivia wollte er nicht leben.
Und nun würde er es auch nicht müssen.
„Lysander. Denke ich. Cronus und Rhea sind auch da. Ich habe mit den anderen gesprochen, und wir vermuten …“
„Später“, fiel er ihm ins Wort. Die Spekulationen der anderen spielten im Augenblick keine Rolle. Solange sie keine Fakten hatten, interessierte es ihn nicht. „Erzähl es mir später. Ich weiß die Warnung zu schätzen, aber wie gesagt: Jetzt bin ich beschäftigt.“ Energisch trat er in sein Zimmer und schloss die Tür, wobei er Strider so lange ansah, bis das Holz den Blickkontakt unterbrach.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätten ihn die Verwirrung und Sorge auf Striders Gesicht zum Lachen gebracht.
Es klopfte. „Aeron. Komm schon, Mann.“
„Verschwinde, sonst schneide ich dir die Zunge raus und nagele sie an meine Wand, das schwöre ich bei den Göttern.“
Er hörte ein Knurren. „Halt die Klappe, Zorn. Ich versuche die Herausforderung in deiner Stimme zu ignorieren, aber es funktioniert nicht. Und jetzt hör mir zu: Wir dürfen dich nicht verlieren. Wir können so was nicht noch einmal durchmachen. Es geht einfach nicht.“ Während er redete, schlug Strider gegen die Tür. „Du weißt doch selbst, wie es nach der Sache mit Baden war!“
Auf so ein Gespräch würde er sich nicht einlassen. Aeron öffnete die Tür, schlug seinem Freund ins Gesicht und schloss die Tür wieder.
Eine Sekunde später machte Strider die Tür auf, schlug Aeron zweimal, lächelte süß, wenn auch etwas traurig, und stellte die Barriere zwischen ihnen wieder her. „Ich habe gewonnen. Und was die andere Sache betrifft: Du hast dreißig Minuten.
Danach werden wir alle dein Zimmer stürmen, um mit dir zu reden. Verstanden?“
„Ja.“ Leider.
Schritte erklangen und verhallten.
Aeron hörte, wie Olivia sich hinter ihm aufsetzte. „Wovon spricht er? Dich verlieren? Und warum schlagt ihr einander?“
Beim Klang ihrer Stimme stieß Zorn einen zufriedenen Seufzer aus.
Langsam drehte Aeron sich um und sah sie an. Er würde nicht zulassen, dass sie sich Sorgen machte, und so schenkte er ihr ein Grinsen, das – so hoffte er – alles übermittelte, was er für sie empfand. Vielleicht hatte es funktioniert. Denn ihre Augen wurden größer, und sie leckte sich nervös über die Lippen.
„Ignorier ihn. Ich glaube, er hat einen Hirnschaden.“ Was nicht unbedingt gelogen war. Aeron hatte den Krieger schon immer für leicht gestört gehalten. „Außerdem haben wir noch was zu erledigen. Ich hatte dich noch nie in einem Bett, und ich will dich unbedingt in einem Bett.“
Ja!
Zuerst reagierte sie nicht. Doch kurz bevor sich Panik in ihm breitmachen konnte, sie würde ihn zurückweisen -nein! –, ergriff sie den Kragen ihrer Robe und zog daran. Der Stoff teilte sich und enthüllte ihre wunderschönen Brüste mit den pflaumenfarbenen Spitzen, ihren weichen Bauch und ihre langen, perfekten Beine.
„Das würde mir gefallen.“
Ja, ja.
Ein Zittern durchlief seinen Körper, und sein Schaft wurde hart. Während er auf sie zuging, zog er sich aus. Er schüttelte sich die Stiefel von den Füßen und stellte sich dabei selbst ein Bein, weil er sich weigerte, auch nur für eine Sekunde stehen zu bleiben. Haut auf Haut. Das war alles, was er brauchte. Als er bei ihr ankam, war er genauso nackt wie sie. Er glitt auf ihren Luxuskörper und drückte sie mit einem Teil seines Gewichts sanft nach unten.
Perfekt. Hitze, so starke Hitze. Beide atmeten scharf ein. Sie schloss die Augen und bog sich ihm entgegen, als sie sich in seinem Rücken festkrallte. An ihrem freiliegenden Hals hämmerte ihr Puls wie wild. Ihre Lippen waren geöffnet, und ihr Haar breitete sich wirr um ihre Schultern aus.
Nie hatte Leidenschaft herrlicher ausgesehen.
Er hätte jede Minute ihrer halben Stunde damit verbringen sollen, sie bis zur Besinnungslosigkeit zu verwöhnen. Sie zu lecken, sie zu schmecken, an ihr zu saugen. An ihren Zehen anfangen und sich seinen Weg bis zu ihrem Mund bahnen. Über ihren Oberschenkeln und Brüsten etwas länger verweilen. Doch er tat es nicht. Er konnte nicht. Er musste in ihr sein. Nicht eine Minute länger konnte er existieren, ohne ganz und gar mit ihr vereint zu sein.
„Schling die Beine um meine Hüfte“, befahl er.
Sie zögerte keine Sekunde.
Im selben Augenblick, als sie sich für ihn öffnete, drang er tief in sie ein. So tief er konnte. Sie stöhnte auf, weil sie seine Größe nicht so schnell aufnehmen konnte. Doch schon sein zweiter Stoß war etwas sanfter und sein dritter ein stürmisches Dahingleiten.
„Aeron“, stöhnte sie.
Meins.
Unser. Du musst lernen zu teilen, Zorn. Das musste ich auch. Er legte die Hände an ihre Schläfen, rutschte ein Stückchen hoch und saugte ihren Duft ein, während er sich immer weiter in ihr bewegte. Selbst wenn in diesem Moment Galen hereingekommen wäre und ihm ein Gewehr an den Kopf gehalten hätte, er hätte nicht aufhören können. Diese Frau entzückte ihn, frustrierte ihn, begeisterte ihn, verärgerte ihn … gehörte ihm. Genau wie er ihr gehörte. Er wollte sie brandmarken, auf dass sie ihn nie vergessen würde. Er wollte sich selbst aus ihrem Gedächtnis löschen, auf dass sie nie mehr an ihn denken würde.
Er wollte nicht, dass sie litt, wenn sie auseinandergingen. Er wollte, dass sie jemand anderen fand – und gleichzeitig wollte er diesen anderen umbringen. Aber vor allem wollte er, dass sie glücklich war. Dass sie lächelte. Dass sie Spaß hatte.
Spaß. Ja. Den würde er ihr an diesem Tag bereiten. Spaß.
„Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, warum es so schwer ist, ein Penis zu sein?“, fragte er und verlangsamte seine Stöße.
Sie öffnete die Augen. In diesen himmelblauen Seen glühte die Leidenschaft, doch es hatte sich Verwirrung daruntergemischt. „W…was?“
Paris hatte ihm in all den Jahren eine Menge Witze erzählt, aber er erinnerte sich nur an diesen einen. Irgendwie hatte er ihn nicht vergessen können. „Warum es so schwer ist, ein Penis zu sein.“ Als er wieder zustieß, drehte er leicht die Hüfte und traf sie an einem anderen Punkt.
Ein Lustschrei teilte ihre Lippen. „Nein. Nein, aber das ist jetzt auch nicht so wichtig. Ich will, dass du …“
„Es ist so schlimm, ein Penis zu sein, weil du ein Loch im Kopf hast.“
Ihre Lippen zuckten, während sie sich an ihn klammerte. „So habe ich das noch nie gesehen.“
„Tja, und es wird noch schlimmer. Dein Besitzer würgt dich ständig.“
Aus dem Zucken wurde ein halbes Lächeln. Sie drückte ihre Knie fester an seine Hüfte und biss sich auf die Unterlippe. „Was noch?“
„Du musst den ganzen Tag mit einem blöden Sack rumhängen.“
Sie kicherte.
„Und dein Nachbar ist ein Arschloch.“
Aus dem Kichern wurde ein herzhaftes Lachen. Götter, er liebte ihr Lachen. Es war rein und magisch. Es liebkoste seine Seele und war ein Festmahl für seine Ohren. Er fühlte sich wie ein König, weil er diese Reaktion in ihr ausgelöst hatte.
„Also, dein Penis kann auch jederzeit bei mir abhängen.“
Jetzt kicherte er. Er wünschte, es wäre so. Und wie er es sich wünschte. „Olivia, süße Olivia“, sagte er. „Meine süße Olivia.“
Unsere. Du musst lernen zu teilen.
Wieder drehte er die Hüfte, und wieder schloss sie die Augen und stöhnte. Sie griff nach dem Kopfende, presste ihren Busen gegen seine Brust und nahm jeden seiner Stöße tief in sich auf. Sein Verstand verabschiedete sich, und das Verlangen nach Erfüllung übernahm die Kontrolle. Ja, ja, das war gut.
Feucht, warm, seidenweich rieb sich ihr Körper an seinem. Schneller, immer schneller stieß er in sie, unfähig, das Tempo zu drosseln, unfähig, alles auszukosten. Er musste ihre hemmungslosen Schreie hören. Er musste seinen Samen in sie schleudern. Er musste sie brandmarken.
Schon bald warf sie wild den Kopf hin und her. Wieder und wieder rief sie seinen Namen. Sie war alles, was er sah, alles, was er hörte, alles, was er roch, und er wollte, dass es für immer so bliebe. Doch je härter er in sie eindrang, umso näher kam er dem Ende. Seine Muskeln spannten sich an, sein Blut kochte, verbrühte ihn, zerstörte ihn für alles andere. Für jede andere. Das war es. Das war alles, wofür er existierte. Alles, wonach sich sein Dämon sehnte.
„Ich liebe dich“, brüllte er, als er kam.
In diesem Moment erreichte auch sie den Höhepunkt, spannte die Muskeln an, klammerte sich wieder an ihm fest und drückte ihm die Fingernägel tief in den Rücken. Sie zog sich sogar ein Stück hoch und biss ihm in die Halssehne. Vielleicht blutete es. Er wusste es nicht, und es war ihm auch egal. Er wusste nur, dass er sich weiter in ihr bewegte, sich wieder in ihr ergoss, ihre Muskeln sich wieder um ihn schlössen, er noch ein bisschen mehr verbrannte und sein Dämon befriedigt und zufrieden schnurrte. Aeron war verloren.
Als Olivia sich beruhigte und er endlich wieder zu Atem kam, sank er auf sie, ehe er sich auf die Seite legte. Sogleich kuschelte sie sich an ihn, und mehrere Minuten verstrichen still. Noch nie hatte ein Orgasmus ihn so verschlungen wie dieser.
Er hatte sie brandmarken wollen, doch nun war er derjenige, der gebrandmarkt worden war. Sie war auf ihm, in ihm, sein Ein und Alles. Sie war seine Luft zum Atmen. Mit ihr war er ruhig, genau wie sein Dämon, und das Leben war so, wie er es sich immer erträumt hatte.
„Das war … das war …“ Zutiefst zufrieden seufzte sie. Mit einem Finger malte sie ein Herz auf seine Brust.
„Umwerfend“, sagte er. „Du bist umwerfend.“
„Danke. Du auch. Aber … aber … hast du das vorhin ernst gemeint?“
Vorsicht jetzt. Wenn er ihr die Wahrheit sagte, würde sie sich womöglich zum Bleiben entschließen, obwohl er mit Legion schlafen müsste und obwohl sein Ende nahte, was sie zwingen würde, sowohl sein Fremdgehen als auch seinen Tod mit anzusehen. Was sie dazu zwingen würde, ohne ihn zu leben, falls – wenn – sich Danikas Vision als wahr herausstellte.
„Ja“, erwiderte er und fluchte innerlich. Dennoch verspürte er keine Reue. Sie verdiente es, die Wahrheit zu erfahren. Sie bedeutete mehr für ihn als nur Sex. Sie bedeutete ihm mehr als, nun ja, alles. „Ich liebe dich.“
„Oh Aeron. Ich liebe …“
„Sprich nicht weiter, Olivia“, grollte eine Männerstimme aus der Mitte des Zimmers.
Zorn knurrte den Störenfried wütend an.
Aeron erstarrte innerlich und griff instinktiv nach den Messern auf seinem Nachttisch. Er entspannte sich auch nicht, als er Lysander erblickte, der mit ausgebreiteten goldenen Flügeln dastand, die weiße Robe leuchtend im Mondlicht. Die Augen des Mannes waren vor Zorn ganz schmal.
Wer nimmt meinen Kopf, hatte er Strider gefragt.
Lysander. Denke ich.
„Lysander!“ Olivia keuchte und hielt sich die Bettdecke vor die Brust. „Was machst du hier?“
„Ruhe“, befahl er.
„Sprich nicht so mit ihr.“ Aeron stand auf, zog sich rasch seine Hose an und sagte: „Sag uns, was du willst, und dann verschwinde.“ Bitte sei nicht aus dem Grund hier, weshalb ich denke, dass du hier bist. Ich bin noch nicht bereit.
Lysander hielt seinem starren Blick stand und sprach die Worte, vor denen Aeron sich so gefürchtet hatte: „Ich will deinen Kopf. Und ich werde nicht gehen, bevor ich ihn habe.“
29. KAPITEL
Endlich fand Legion Galen. Er saß in einer schäbigen Bar in London. Von Buda hatte sie sich nach Belgien, weiter nach Holland und jetzt nach London gebeamt. Hierher hatte sich der Feigling geflüchtet, und nun saß er in einer schummrigen Ecke und nuckelte an einem Glas Whiskey. Sie konnte die Ambrosia riechen, die er bereits intus hatte; sie erkannte den süßlichen Geruch, weil Paris immer so roch, und wusste, dass Galen bald betrunken wäre. Sie brauchte nur abzuwarten.
Sie war zu ungeduldig, um abzuwarten.
Prüfend sah sie an sich hinab. Sie trug immer noch T-Shirt und Jeans. Beides war schlicht und sauber. Zwar enthüllte ihre Kleidung nichts, doch ihre Brüste waren so groß, dass sie den Stoff dehnten. Mehrere Männer hatten sie bereits bemerkt und pfiffen, als sie nun an ihnen vorbeiging. Nach außen schenkte sie ihrem Gebaren keine Beachtung. Aber innerlich freute sie sich diebisch darüber, nicht mehr als hässlich, abstoßend oder bestenfalls erträglich betrachtet zu werden.
An Galens Tisch blieb sie stehen, und er blickte durch dunkle Wimpern hoch. „Verschwinde.“
Kuhig. Ihr Instinkt schrie förmlich danach, zuzuschlagen und erst danach Fragen zu stellen. Bleib standhaft. Galen legte die Herren gern rein, indem er Köder zu ihnen schickte, die sie ablenken sollten, bevor er zuschlug. Heute wäre sie ihr Köder.
„Du bist schön“, sagte sie, und sie hatte recht damit. Mit den blonden Haaren und blassblauen Augen, mit seinen makellosen Gesichtszügen und dem sinnlichen Mund verkörperte er die Fantasie einer jeden Frau. Doch er hatte dabei geholfen, das Leben ihres Aeron zu zerstören, und dafür würde er jetzt bezahlen müssen. „Ich will dich.“ Tot sehen, aber den Teil behielt sie für sich.
Er zog eine Augenbraue hoch. „Natürlich willst du das. Du kannst gar nicht anders. Keine von euch kann das.“ Er klang beinahe … aufgebracht deswegen. „Hier kommt eine Eilmeldung für dich: Ganz gleich, welche Gefühle ich in dir auslöse – Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, auf eine Hochzeit, auf Kinder –, nichts davon wirst du von mir bekommen.“ Am Ende war seine Stimme nur noch ein tiefes Knurren. Er trank seinen Drink aus. „Und jetzt verschwinde. Ich bin hergekommen, weil ich meine Ruhe haben will.“
Seit ihrer Verwandlung war er der zweite Mann, der sie zurückwies. Da konnte sie sich nicht mehr beherrschen; sie gab ihm eine Ohrfeige. Sein Kopf flog zur Seite, und aus seinem Mundwinkel lief ein kleines blutiges Rinnsal. Ich bin wohl stärker, als ich dachte. Selbstgefällig grinste sie in sich hinein. Gut.
Als er sie das nächste Mal ansah, spiegelte sich Interesse auf seinem Gesicht. „Warum hast du das getan?“
„Vielleicht hast du mich nicht gehört, als ich sagte, dass ich dich will.“
„Und da dachtest du, ich würde meine Meinung ändern, wenn du mich schlägst?“
„Du bist immer noch hier, oder?“
Er musterte sie, ehe er seinen Blick durch die Bar schweifen ließ. „Und, wo willst du mich?“
„Auf der Toilette.“ Keine Zeugen. Nicht für das, was sie vorhatte. „Und übrigens: Ich will dich weder heiraten, noch will ich Kinder von dir. Wir werden Sex haben, und es wird dir gefallen.“
„Du bist aber ein energisches kleines Ding.“
„Das kannst du laut sagen. Also, machen wir’s jetzt oder nicht?“
Seine sinnlichen Lippen zuckten. „Nur damit wir uns richtig verstehen: Wir gehen jetzt auf die Toilette, ich werde dich vögeln, und du willst nicht mal wissen, wie ich heiße?“
„Ich fände es sogar besser, wenn du dein dämliches Maul halten würdest.“ Ups. Ihr Hass drängte nach draußen.
„Da sieh mal einer an. Du könntest glatt meine Seelenverwandte sein.“ In der nächsten Sekunde war er auf den Füßen, und sein Stuhl rutschte über den klebrigen Fußboden. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, legte er einen Arm um ihre Taille und marschierte los.
Auf der Toilette wusch sich gerade eine Frau die Hände. Ohne Vorrede schubste Galen sie raus.
„He“, rief sie wütend. Als er seinen Blick über ihren Körper gleiten ließ, wurde sie zahmer. „He.“ Diesmal klang es lasziv.
„Bleib draußen, sonst stirbst du“, drohte er ihr unverblümt. Dann knallte er die Tür zu und drehte sich zu Legion um.
Sie zitterte, ohne es zu wollen. In seinen Augen brannte so viel Feuer, dass sie für einen Moment erstarrte. Genau das hatte sie sich von Aeron gewünscht – und würde es womöglich nie bekommen.
Ein Schritt, zwei. Er kam auf sie zu. Sie wich zurück. Greif ihn an. Töte ihn. Doch sie tat nichts.
„Angst?“, flüsterte er. „Richtig so.“
Sie hob das Kinn, schaute nach hinten … und sah den Waschtisch und den Spiegel. Ihr Spiegelbild verschlug ihr den Atem. Die goldenen Haare, die darum flehten, von Männerhänden berührt zu werden. Die großen dunklen Augen, die voller Verlangen waren.
Verlangen? Sie wollte ihn? Ihn? Wie konnte sie bloß Hoffnung wollen? Er war ihr Feind. Er war Aerons Feind.
Sie spürte, wie sich kräftige Hände um ihre Taille legten und sie hochhoben. Sie schnappte nach Luft, als sie sich wieder auf ihn konzentrierte. Er machte sich bereits an ihrem Hosenknopf zu schaffen. Damit hatte er leichtes Spiel, und schon streifte Galen ihr die Hose ab.
Er feixte. „Kein Höschen. Du bist ja richtig scharf auf mich.“
Seine Belustigung ärgerte sie – auch wenn ihr Verlangen dadurch noch mehr angefacht wurde. Das liegt nicht an ihm, redete sie sich ein. Sie weigerte sich, das zu glauben. Sie hatte Sex haben wollen; das war einer der Gründe gewesen, warum sie sich diesen Körper ausgehandelt hatte. Allerdings hatte sie auf Sex mit Aeron gehofft.
Aber womöglich würde er sie niemals auf diese Weise wollen. Jedenfalls nicht mit seinem Herzen.
„Wer hat gesagt, dass ich scharf auf dich bin? Du bist schön, ja, aber du bist nur ein Ersatz für jemand anderen.“ Das war die Wahrheit. Eine Wahrheit, die ihr gefiel. Sie konnte ihn benutzen. Sex mit ihm haben und ihn danach umbringen.
Galen kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Ist das wahr?“
„Du redest ja schon wieder. Ich dachte, ich hätte dir gesagt, wie sehr ich das hasse.“
„Du bist diejenige, die besser ihre Zunge hüten sollte.“ Mit einem Knurren zog er ihr das T-Shirt aus. Sie trug auch keinen BH. Ohne um Erlaubnis zu fragen, beugte er sich vor und saugte an ihrer Brustwarze. Sein Mund war heiß wie Feuer und brachte sie zum Stöhnen. Vor Lust.
Das war … wunderbar.
Ja. Ja, sie würde den Sex haben, den sie wollte. Das würde ihn ablenken, und sie könnte ihn viel leichter umbringen. Das war alles, was sie an rationalen Erklärungen brauchte, um die Beine zu spreizen und ihn an sich zu ziehen. Seine von der Hose bedeckte Erektion berührte ihren Kitzler, und sie schrie auf.
Wunderbar war nicht das richtige Wort, um das zu beschreiben. Perfektion traf es wesentlich besser. Wie viel besser wäre dann erst der Sex mit Aeron gewesen? Aeron. Sie wollte jetzt nicht an ihn denken. Sie wollte nur fühlen.
„Mehr“, hörte sie sich sagen. Sie bog sich ihm entgegen und rieb sich an ihm. Ihre sensible Haut wurde immer empfindlicher. Tief in ihr loderte eine Sehnsucht, ein Feuer wie das, das sie in seinen Augen gesehen hatte. Beide wurden immer heißer.
„Du willst nicht mal ein Vorspiel?“ Galen fummelte an seiner Hose herum und befreite seinen steifen Schwanz. Er war groß. So prächtig groß. Die Dämonen in der Hölle hatten oft Sex – und zwar miteinander, diese verfluchten Seelen –, deshalb wusste sie, dass groß bevorzugt wurde und klein belächelt.
„Vorspiel? Was ist das?“ Im Ernst. Sie hatte keinen Schimmer.
Wieder lachte er leise. „Du gefällst mir, Frau. Wirklich.“ Er versuchte sie zu küssen, doch sie drehte den Kopf weg. Er folgte der Bewegung, und sie wandte sich wieder ab.
„Nicht küssen“, sagte sie heiser. Nicht, dass sie es nicht gewollt hätte. Ganz im Gegenteil. Aber wenn sie ihn küsste, würde sie ihn töten, ehe sie mit ihm fertig wäre. Sie sah zwar wie ein Mensch aus, doch ihre Zähne waren das pure Gift. Das konnte sie schmecken.
Sie verschränkte die Füße hinter seinem Rücken und zwang ihn, ihr entgegenzukommen. Ihr Verstand … vernebelte … ihr Körper … brannte …
„Küss mich“, verlangte er.
„Nein.“
„Küssen.“
„Nein!“
„Warum nicht? Ist doch nichts Besonderes.“
„Hör auf zu … quatschen!“, knurrte sie.
Sein Knurren war wie eine Liebkosung. „Na gut. Du willst einen schnellen Fick? Sollst du haben.“ Er packte seinen Penis, berührte ihre feuchte Öffnung und drang tief in sie hinein.
Sie schrie vor Schmerzen auf, doch der Schmerz verschwand genauso schnell, wie er gekommen war, und hinterließ nichts als ein Gefühl von Besitzergreifung. „Mehr.“ Er dehnte sie, füllte sie aus, und das war berauschend. Kein Wunder, dass alle Lebewesen es so oft machten.
„Jungfrau?“, keuchte er, offensichtlich erschrocken. Und zu ihrer Verwunderung schien seine Mimik weicher zu werden.
„Geht dich nichts an. Mach weiter.“
Er fletschte die Zähne, stieß jedoch weiter in sie hinein. Sie spürte ihn immer intensiver, und das trieb sie immer weiter … irgendwo hin. Schon bald stimmte sie in seinen Rhythmus ein und warf sich ihm entgegen, weil sie unbedingt an diesem „Irgendwo“ ankommen wollte. Und sie wäre bereit, jeden in diesem Gebäude zu töten, wenn sie diesen Ort nicht erreichte.
„Mach schneller.“
„Götter, fühlst du dich gut an.“
Sie klammerte sich an ihn, und dann … endlich … sie flog davon, drehte sich, schwebte, sah Sterne. Jeder Muskel ihres Körpers verkrampfte sich, entspannte sich und verkrampfte sich wieder. Es war mächtig, es war überwältigend, doch allzu bald ließ es nach. Und hinterließ sie seltsam erschöpft.
Sie öffnete die Augen, schwer atmend. Galen war immer noch in ihr. Noch immer bewegte er sich in ihr. Auf seinem Gesicht spiegelte sich die pure Glückseligkeit. Er musste kurz vor demselben Rausch sein, den sie gerade erfahren hatte.
Das darf ich nicht zulassen, dachte sie. Er verdiente es nicht, dasselbe zu fühlen. Auch wenn er dafür gesorgt hatte, dass es ihr besser ging als je zuvor. Auch wenn Sex jetzt ihr neues Lieblingsspiel war und sie plante, es so oft wie möglich zu spielen.
„Galen“, sagte sie, und erschrocken sah er sie an. Ein Zittern lief durch ihren Körper und entfachte das Feuer in ihrem Blut von Neuem. Wie seltsam. Aber es war keine Zeit für eine zweite Runde. „Wir sehen uns in der Hölle.“
Mit diesen Worten schlug sie die Zähne in seinen Hals und biss sich fest, während er aufbrüllte. Es war kein lusterfülltes Brüllen, sondern ein gequältes. Er schüttelte sie und versuchte, sie wegzustoßen, doch sie hielt sich fest und pumpte ihr Gift tief in seine Halsschlagader. Erst als sie auch den letzten Tropfen verbraucht hatte, hob sie den Kopf und lächelte ihn an. Er war blass geworden, fast schon grün.
„Was hast du … mit mir gemacht?“ Seine Knie gaben nach, und er sank zu Boden.
Schweigend sprang sie auf die Füße und zog sich an. Die ganze Zeit über zitterten ihre Knie. Ein Teil von ihr wollte bleiben und seinen Schmerz lindern, doch sie durfte nicht vergessen, wer und was er war – nicht noch einmal. Das hier musste zu Ende gebracht werden. Für Aeron. Das war das Mindeste, das sie ihm schuldete.
„Eigentlich wollte ich dich zu meinem Mann bringen, damit er dich töten kann, aber so ist es besser. Leb wohl“, sagte sie und warf Galen einen Luftkuss zu. „Auch wenn dir nicht mehr viel Zeit dazu bleibt.“
Aeron starrte zu Lysander hinüber. Die Drohung, ihn zu enthaupten, war ausgesprochen worden, und der Engel war fest entschlossen. „Olivia“, sagte Aeron. Er hatte sich nicht vom Bett wegbewegt. Er und Zorn waren merkwürdig ruhig. „Geh zurück nach Hause. Jetzt. Bitte.“
„Nein. Nein.“ Sie warf die Arme um seine Taille und presste die Wange an seinen Rücken. Die feuchte Hitze ihrer Tränen verbrühte ihn förmlich. „Tu das nicht. Bitte, tu das nicht.“
„Du hast ihr nichts als Leid zugefügt, Dämon“, fauchte Lysander. „Du hast nicht gesehen, wie dein Feind sie gefoltert hat. Ich schon. Du hast sie nicht angefleht, nach Hause zurückzukehren, um sich den Schmerz zu ersparen. Ich schon. Und warum hat sie mich abgewiesen? Weil sie dir ein Versprechen gegeben hatte. Weil sie Auf Wiedersehen sagen wollte. Und zwar dir. Ich werde dir nicht noch eine Gelegenheit geben, mein Abkommen mit dir zum Gespött zu machen. Das hat jetzt ein Ende. Heute.“ Eben noch waren seine Hände leer gewesen, nun umklammerte er das Feuerschwert. Wenn er es bewegte, flogen knisternde Funken durch die Luft.
Noch nicht, schrie Zorn. Noch nicht. Wir müssen zuerst Galen töten.
„Lysander, nicht!“, weinte Olivia. Als ihr klar wurde, dass es nichts brächte, Aeron festzuhalten, versuchte sie, sich vor ihn zu stellen. „Nicht das Schwert. Alles, aber nicht das Schwert. Ich flehe dich an.“
Die Schuldgefühle waren so gewaltig, dass es Aeron schwindelte. Er stieß Olivia zurück aufs Bett und breitete seine Flügel aus. Diesen Kampf wollte er außerhalb seines Zimmers und nicht vor Olivias Augen führen. Denn es gäbe einen Kampf. Er würde sich nicht einfach hinlegen und sterben. Noch nicht, wie sein Dämon ihn erinnert hatte. Er hatte noch zu viel zu erledigen.
„Du willst mich?“, forderte er den Kriegerengel heraus. „Dann komm, und hol mich.“ Mit diesen Worten sprang er durch das geschlossene Fenster und stieg hoch in den Himmel auf.
Auf dem Weg ließ er seine Dolche fallen und sah sie harmlos auf dem Boden aufschlagen. Olivia liebte Lysander. Was auch geschähe, Aeron würde den Krieger nicht töten. Denn damit würde er Olivia verletzen, und Aeron schwor sich in diesem Moment und für alle Zeit, das nie wieder zu tun.
Zum Teufel mit den Konsequenzen.
Lysander folgte ihm ohne Zögern. Das wusste Aeron, weil er Olivia schreien hörte: „Nein, Lysander. Tu das nicht! Komm zurück.“
Er hasste es, dass sie sich sorgen musste, dass sie verzweifelt war. Falls er später noch lebte, würde er sie trösten und ihr alles geben, was sie sich wünschte. Außerdem fände er einen Weg, Legion aus Luzifers Fängen zu befreien, ohne sie anfassen zu müssen. Er musste. Er konnte sich keiner anderen Frau als Olivia hingeben. Darüber machte er sich nun keine Illusionen mehr.
Seinetwegen war sie geblieben. Seinetwegen hatte sie die Grausamkeit eines Jägers ausgehalten. Und dafür würde er sie nicht auch noch bestrafen.
Belohnen.
Immer. Mitten in der Luft drehte Aeron sich um, und tatsächlich war ein finster dreinblickender Lysander nur wenige Meter hinter ihm. Er hielt nicht mehr das Schwert in den Händen, sondern hatte die Fäuste geballt. In dem Moment, als ihre Blicke sich trafen, blieben beide stehen und schwebten auf der Stelle, allerdings nicht in Schlagweite.
„Es muss nicht so sein“, sagte Aeron.
„Es kann nicht anders sein. Du behauptest, sie zu lieben“, knurrte der Engel, „und trotzdem würdest du sie hierbehalten, während du mit einer anderen ins Bett steigst. Du würdest ihre Seele vernichten.“
„Ich hatte vor, sie vorher gehen zu lassen!“ Aber wäre er jemals in der Lage gewesen, es wirklich zuzulassen? Jedes Mal, wenn er es erwogen hatte, hatte er den Drang verspürt, irgendetwas zu zerstören. Und als sie hatte gehen wollen, hatte er sie überredet, noch ein bisschen zu bleiben. Trotz der Gefahr.
Nein, er wäre nie in der Lage gewesen, sie gehen zu lassen. Er wäre nie in der Lage gewesen, mit Legion zu schlafen.
Irgendwann hätte er diese Entscheidung auch von allein getroffen. Lysander hatte den Prozess nur etwas beschleunigt.
„Sie ist die Einzige, mit der ich je zusammen sein werde“, sagte er und reckte stolz das Kinn.
„Und das ist es wert, zuzulassen, dass sie sich in Lebensgefahr begibt? Weißt du, was die Jäger mit ihr gemacht haben?“
Er schüttelte den Kopf, und sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Nein. Aber ich habe sie danach gesehen, und dieser Anblick wird mich bis in alle Ewigkeit verfolgen.“
„Das reicht nicht! Erfahre also die Details. Stefano hat sie sowohl mit der Faust als auch mit der flachen Hand geschlagen. Er hat ihr die Knochen gebrochen. Er hat versucht, sie zu ertränken. Sie, die nicht einen Funken Bosheit in sich trägt. Und die Dämonen, mit denen sie gekämpft hat, um zu dir zu kommen? Sie haben sie an Stellen berührt, die nur ihrem Liebsten gehören sollten. Doch sie hat all das ertragen. Deinetwegen.“
Als er das hörte, breitete Aeron die Arme aus, wandte das Gesicht in den Himmel und brüllte. Er brüllte vor Wut, einer Wut, die so mächtig war, wie er es noch nie erlebt hatte. Er hatte gewusst, dass man Olivia Übles angetan hatte, denn wie gesagt: Er hatte sie danach gesehen. Selbst das hatte ihn schon in Rage gebracht. Doch jetzt, da Lysander ihm Details entgegenwarf, die tiefer schnitten als jede Klinge … wurde diese Rage immer intensiver. Olivia war so zart und zerbrechlich. Sie hätte sterben können. Sie hätte an den Schmerzen zerbrechen können.
Bestrafen.
„Stefano wird dafür bezahlen. Dafür werde ich sorgen.“ Ziel geändert. Endresultat – dasselbe. Noch ein Schwur. Er hatte bereits beschlossen, jeden zu töten, der an Olivias Folter beteiligt gewesen war, aber diesen … Stefano würde er wieder und wieder an den Rand des Todes führen, nur um ihn dann wiederzubeleben und von vorn zu beginnen. „Und die Dämonen auch.“
BESTRAFEN!
„Ich habe danebengestanden und alles mit angesehen, ohne es verhindern zu können.“ Ein Teil von Lysanders Wut schien abzukühlen. „Ich habe versucht, mit dir zu handeln. Ich habe versucht, deinen Fall zu wenden. Sogar die Götter abgelenkt, die deine Fäden zogen. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich werde dir eigenhändig Schmerzen zufügen. Du wirst genauso leiden, wie meine Olivia gelitten hat.“
Rote Punkte traten in Aerons Blickfeld. „Sie ist nicht deine Olivia. Sondern meine.“
Unsere. Wir müssen sie beschützen, und wir müssen sie belohnen.
„Aber wie lange noch?“, schnappte der Engel.
„Für immer.“
„Verstehst du denn nicht?“, schrie Lysander. „Du kannst ihr kein ,für immer’ bieten. Du hast dich entschieden, nicht mit der Dämonin Legion zu schlafen, sondern nur mit Olivia, also wird Luzifer dich holen kommen. Daran führt kein Weg vorbei. Deine Freunde werden einer nach dem anderen sterben. Ihre Dämonen werden ihren Meister nicht besiegen können. Denn das ist Luzifer für sie. Ihr Meister. Die Frauen sind als Nächste dran. Denkst du, dass er deine Frau, deine Menschenirau, übersehen wird? Nur dein Tod kann die Probleme lösen, die du verursacht hast.“
Flügel flatterten, ein Kampfschrei ertönte, und dann war Lysander direkt vor ihm. Sie krachten ineinander und rollten durch die Luft. Fäuste regneten auf ihn nieder, und Aeron schlug seinerseits auf den Engel ein, um sich zu verteidigen. Die Männer grunzten, stöhnten und keuchten. Sie verhakten die Beine ineinander und traten um sich.
So sehr waren sie in den Kampf vertieft, dass sie vergaßen, die Flügel zu bewegen und als zappelndes Knäuel auf ein felsiges Kliff zurasten. Kurz bevor sie aufschlugen, realisierte Aeron, was gerade geschah, packte Lysander an den Haaren und tat einen kräftigen Flügelschlag. Gemeinsam schössen sie zurück in den Himmel.
Lysander riss sich los und schlug Aeron mit der Faust auf den Mund. In seinen Zähnen explodierte ein wahnsinniger Schmerz, und Blut lief ihm die Kehle hinab. Als der Engel den nächsten Angriff startete, trat Aeron ihm in den Bauch, sodass er nach hinten trudelte. Sie hatten wieder die Burg erreicht, und der Engel krachte gegen eine Mauer. Steine bröckelten, und eine Staubwolke hüllte ihn ein.
Durch den Staub schoss er nach vorn, trat kräftig zu und schickte Aeron in Richtung Boden. Diesmal konnte er sich nicht rechtzeitig fangen und schlug mit voller Wucht auf. Die Luft wurde aus seinen Lungen gequetscht, und mehrere Knochen brachen.
Schnell stand er wieder auf – zuckte zusammen, als sein Knöchel sich weigerte, ihn zu tragen – und schoss wieder in die Luft. Ein Flügel war gebrochen. Nicht schon wieder, dachte er, während er den Schmerz ignorierte, der ihn durchfuhr. Wo war Lysander? Mit Blicken suchte er die Umgebung ab, doch der … Ein schweres Gewicht rammte ihm in den Rücken und wirbelte ihn durch die Luft.
Er wusste, das Lysander nur auf den Moment wartete, in dem sie stehen blieben, um sofort wieder anzugreifen. Und als der unvermeidbare Moment des Stillstands kam, schlug er zuerst zu. Er erwischte Lysanders Seite. Vielleicht hatte er eine Niere zerquetscht.
Jeden anderen hätte so ein Schlag außer Gefecht gesetzt, doch der Engel grunzte nur leise. Allerdings griff er nicht noch einmal an. Er stand in der Luft, während sich seine goldenen Flügel gleichmäßig auf und ab bewegten. „Du willst sowohl Olivia als auch Legion retten – und deine Freunde?“
Auch Aeron schwebte in der Luft. Er keuchte und schwitzte. „Ja.“ Mehr als alles andere.
„Nun, um das zu erreichen, musst du sterben.“
Das musste Lysander ja sagen. „Legions Handel …“
„Wird ungültig, wenn du vor Ablauf des Ultimatums stirbst. Das war Teil ihrer Bedingungen.“
Ungültig. Ungültig durch seinen Tod. Sie wäre frei. Seine Freunde könnten ohne die Bedrohung leben, die sie jetzt darstellte. Aber … „Olivia?“, fragte er durch den Knoten, der ihm plötzlich die Kehle zuschnürte.
„Wird nach Hause gehen können, und zwar ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil du ihretwegen jemanden verletzt hast, den du liebst. Ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob du sie eines Tages verachten wirst. Ohne sich dafür schämen zu müssen, dich zurückzulassen, falls sie zu dem Schluss kommt, dass du sie eines Tages verachten würdest. Ohne noch einmal von deinen Feinden entführt zu werden. Ohne Angst haben zu müssen, dass sie irgendwann gezwungen sein wird, dich zu töten.“
Sie würde alles für Aeron tun. Das wusste er jetzt. Jedes Elend und jeden mentalen oder körperlichen Schmerz würde sie ertragen. Und nichts anderes brächte ihr sein Leben: Schmerz. Ganz gleich, was er täte und wie er lebte, er brächte ihr Schmerz. Schlüsselwort: lebte.
Das konnte er ihr nicht antun. Er konnte diese Wahl nicht ihr überlassen. Sie sollte gar nichts aushalten müssen, ob sie bereit dazu war oder nicht.
Ohne ihn könnte sie ohne Schuld und Scham leben. Ohne Schmerz. Und das überzeugte ihn. Der Gedanke daran, dass sie so würde leben können, wie es ihr bestimmt war: glücklich, frei, sicher.
Werden wir jetzt sterben, fragte Zorn. Wie immer kannte er auch diesmal die Richtung, in die Aerons Gedanken gingen.
Ich schon.
Und ich ?
Du wirst weiter existieren. Und zwar wahnsinnig, aber daran erinnerte Aeron den Dämon nicht.
Um zu bestrafen. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Ja. Um zu bestrafen. Er betete, dass sein Dämon sich nach ihrer Trennung daran erinnerte. Sie haben ihr wehgetan.
Dann werden sie sterben.
So einfach war das. Ich danke dir für alles. Nun gab es nur noch ein paar abschließende Dinge zu klären. „Wirst du sie beschützen?“, fragte er Lysander. „Für immer und ewig?“
„Für immer und ewig.“
„Und mein Dämon?“ Wenn der Engel vorhatte …
„Wir werden deinen Dämon erhalten. Galen hat jetzt Misstrauen, und zum Ausgleich werde ich Zorn einfangen und ihn Cronus geben. Ich habe schon mit dem Götterkönig gesprochen, und er hat einen Körper ausgewählt. Einen Körper, der jemandem gehört, den er persönlich überwachen kann, um sicherzugehen, dass sie weder deinen Feinden hilft noch deinen Freunden etwas antut.“
Panik keimte auf. „Sie?“ Nicht Olivia, nicht Legion. Sicher nicht.
„Nein, weder Olivia noch Legion“, versicherte Lysander ihm. Ganz offensichtlich hatte er seine Gedanken erraten. „Mach dir darüber keine Sorgen. Legion wird nach Hause zurückkehren. Und wie ich dir schon gesagt habe, werde ich mich persönlich um Olivias Wohlergehen kümmern – jetzt und für alle Zeit.“
„Zorn hat noch eine Mission zu erfüllen. Wirst du dafür sorgen, dass Cronus …“
„Ich spüre, welche Art von Mission du meinst, und ich werde dafür sorgen, dass sie erfüllt wird. Und zwar auf eine Weise, mit der auch du extrem zufrieden wärst.“
Tja, dann … Auch wenn es unerträglich für ihn war, an dem bevorstehenden Massaker nicht teilnehmen zu können. „Ich habe ein letztes Anliegen, bevor ich dir erlaube, mein Leben zu beenden.“
Ein Nicken. „Nur zu.“
„Olivia sehnt sich nach Spaß. Sie muss Spaß haben.“
Noch bevor Aeron zum zweiten Mal „Spaß“ gesagt hatte, begann Lysander den Kopf zu schütteln. „Solch ein Verlangen entstammt ihrem Umgang mit dir. Sobald du fort bist …“
„Schwöre es, oder der Kampf geht weiter!“ Auch in diesem Punkt würde er stur bleiben.
Böse sah ihn Lysander an. „Ich werde mein Bestes tun.“
„Das ist nicht gut genug“, knurrte er. „Du lebst mit Bianka zusammen, einer Harpyie. Ich weiß, dass die Kleine der Spaß in Person ist.“
„Ja“, erwiderte Lysander, und in seiner Stimme schwang Stolz mit. Der gleiche Stolz, den man vermutlich bei Aeron hörte, wenn er von Olivia sprach. „Also gut. Ich werde dafür sorgen, dass sie Zeit miteinander verbringen.“
Dann war also alles geregelt.
Tod, dachte er als Nächstes. Dort stand er und starrte ihm in die Augen. Schließlich hatte er Aeron eingeholt, und der Krieger war bereit. Von seiner Seite aus gab es keinen Widerstand. Wieder wartete er darauf, dass die Gefühle ihn überrollten, doch wieder empfand er nichts.
Er hätte sich gern von Olivia verabschiedet, um sie daran zu erinnern, dass er sie liebte. Doch sie hätte nur versucht, ihm die Sache auszureden. Das wusste er genauso sicher, wie er wusste, dass er nachgeben würde. Es musste hier und jetzt enden.
Aeron atmete tief ein, hielt die Luft an … und weiter an … und dann, als er langsam ausatmete, breitete er die Arme aus. „Tu es. Nimm dir meinen Kopf.“
Lysander sah ihn an und neigte leicht den Kopf zur Seite, als hätte er nicht erwartet, dass Aeron sich fügen würde. „Bist du sicher?“
„Ja.“
Der Engel streckte den Arm aus, und wieder erschien das Feuerschwert.
„Nein!“, schrie Olivia unter ihnen. „Nein! Aeron! Lysander! Bitte nicht!“
Aeron wollte nicht, dass sie es mit ansehen musste, aber es war zu spät, um Lysander zu bitten, sie rasch an einen anderen Ort zu transportieren. Die flammende Klinge raste bereits auf ihn zu.
Auf Wiedersehen, Aeron, sagte Zorn leise.
Er spürte ein Knistern, als das Schwert ihn berührte, und dann nichts mehr.
Olivia schrie und schrie und schrie. Aeron. Tot. Für immer fort. Sein wunderschöner Kriegerkörper war erschlafft und vom Himmel gefallen. Dieser Sturz war ihr ewig vorgekommen, langsam und quälend. Er hatte sie verhöhnt und in ihr die Hoffnung geweckt, dass er ganz vielleicht sanft landen würde und alles in Ordnung wäre. Sie musste nur zu ihm …
„Bitte“, schluchzte sie, als sie aus seinem Zimmer nach draußen rannte. Doch tief im Innern wusste sie es. Auch wenn sie ihn erreichte – es würde nichts ändern. Aeron. Tot. Für immer fort.
Legion hatte sich gerade zurück in die Burg gebeamt, um Aeron von ihrer Tat zu berichten, als sie spürte, wie ihr Band zu ihm zerriss. Und in dem Moment wusste sie es. Denn nur eines konnte ein Band wie ihres zerstören.
Der Tod.
Sie war am Leben, und das bedeutete … Nein. Nein! Niemals. Energisch schüttelte sie den Kopf. „Aeron. Aeron!“ Ohne ihr Band könnte sie nicht hierbleiben. Sie würde …
„Nein“, schrie sie, als sie unaufhaltsam von der Burg zurück in die Hölle gezogen wurde.
Und als die Flammen sie einhüllten, hörte sie Luzifers Schrei wie ein Echo ihres eigenen. „Nein!“
30. KAPITEL
Olivia weinte, bis ihre Tränen versiegten. Die ganze Zeit über hielt sie Aerons Körper fest in ihren Armen. Sie nahm kaum wahr, wie die Sonne unter-und wieder aufging. Nur vage bemerkte sie, wie Aerons Freunde herunterkamen. Strider war auf die Knie gefallen und hatte wie ein Wolf geheult. Torin hatte geweint. Lucien hatte darauf gewartet, seine Seele zu begleiten, war jedoch nicht gerufen worden und hatte dafür keine Erklärung. Maddox hatte wütend nach Antworten gesucht, und fast alle anderen hatten einfach nur dagestanden und schockiert und ungläubig, blass und zitternd vor sich hin gestarrt. Selbst Gideon war nach draußen gestolpert, und seine Tränen hatten sie schier umgebracht. Aber die Reaktion, die sie am meisten mitgenommen hatte, die sie regelrecht bei lebendigem Leibe zerrissen hatte, war Sabins.
„Nicht er“, hatte der Krieger gestammelt. „Nicht dieser Mann. Nehmt mich an seiner Stelle.“
Dasselbe Gefühl hegte auch sie.
Wie Olivia weigerten sich die Krieger, den Hügel zu verlassen. Cameo versuchte sie zu überzeugen, aufzustehen und Aeron loszulassen, sodass die anderen ihn halten und sich von ihm verabschieden konnten. Sie weigerte sich. Sie schlug sogar nach diesen starken Armen, um sie zu vertreiben. Schließlich ließen sie sie in Ruhe, doch Olivia wusste, dass die Herren sie aus der Nähe beobachteten und darauf warteten, dass auch sie ihrem Freund Lebewohl sagen konnten.
Das kann nicht das Ende sein, dachte sie benommen. Das ging einfach nicht. Kein Unsterblicher konnte sich von einer Enthauptung erholen, und das wusste sie. Trotzdem konnte das nicht das Ende sein.
Aeron durfte nicht allein sterben.
Die Worte wanderten einmal durch ihren Kopf, dann ein zweites und sogar ein drittes Mal. Aeron durfte nicht allein sterben.
Aeron durfte nicht allein sterben.
Dieser Tod war in jeder Hinsicht falsch. Nutzlos und sinnlos.
Aeron durfte nicht allein sterben – und das würde er auch nicht.
Plötzlich keimte Hoffnung in der Dunkelheit ihrer Seele auf, und obwohl es sie all ihre Kraft kostete, ließ Olivia den Krieger schließlich los – nein, halt ihn fest, lass ihn niemals los – und stand auf. Oh nein. Er wird nicht alleine sterben, schwor sie sich.
„Olivia“, sagte einer seiner wartenden Freunde, während er auf sie zukam und unendlich viel Kummer, Bedauern und Schmerz ausstrahlte.
Ignorier ihn. Sie schloss die Augen, breitete die Arme aus und hob den Kopf der strahlenden Sonne entgegen. Tu es. „Ich bin bereit, nach Hause zurückzukehren und meinen rechtmäßigen Platz im Himmel einzunehmen. Ich bin bereit, der Engel zu sein, als der ich erschaffen wurde.“
Im selben Moment war sie zurück im Himmel, und aus ihrem Rücken sprossen zwei prächtige Flügel. Sie schlang sie um ihren Körper und betrachtete sie aufmerksam, nur um erschrocken festzustellen, dass nicht eine goldene Feder darin zu sehen war. Dann war sie also keine Kriegerin mehr. Lustig. Ausgerechnet jetzt, da sie so entschlossen war zu kämpfen wie nie zuvor, war sie keine Kriegerin mehr.
Aeron würde nicht allein sterben.
Eine Sekunde später war Lysander an ihrer Seite. Sein Gesicht sah so gequält aus, als hätte er körperliche Schmerzen. „Es tut mir leid, Olivia, aber es musste getan werden. Es gab keinen Ausweg.“
In seiner Stimme lag aufrichtige Reue, und Olivia erkannte sie mit einem Kopfnicken an. „Du hast getan, was du tun musstest, und genauso werde ich es auch machen.“ Sie gab ihm keine Zeit, Fragen zu stellen, sondern marschierte schnurstracks zum Gerichtssaal, bereit, dem Rat gegenüberzutreten.
Langsam öffnete Aeron die Augen. Sein erster Gedanke: Wieso war er dazu in der Lage? Mit einer Hand griff er nach oben und erlebte ein Wunder: Er hatte Augen, eine Nase und einen Mund. Sein Kopf saß fest auf seinem Körper. Doch seltsamerweise hatte er keinen Schorf am Hals – noch Tätowierungen an den Armen, stellte er schockiert fest, als er stattdessen glatte gebräunte Haut entdeckte.
Er runzelte die Stirn und setzte sich auf. Er fühlte weder Schwindel noch Schmerzen, sondern nur eine kühle Brise, die ihn umspielte, als wollte sie ihn willkommen heißen. Verwundert ließ er den Blick über seinen Körper schweifen. Intakt und unversehrt. Er saß auf einem Podium aus Marmor und trug eine weiße Robe, ganz ähnlich der von Olivia. Auch seine Beine waren frei von Tätowierungen.
Wie war das möglich? Wie war irgendetwas von all dem möglich?
Lysander hatte ihn nicht verfehlt. Er hatte das brennende Schwert gespürt.
Was also war geschehen? Und wo war er? Er sah sich seine Umgebung genau an. Die Luft war dunstig, wie in einem Traum. Es gab weder Häuser noch Straßen, nur eine Alabastersäule nach der nächsten, um die sich taufeuchter Efeu rankte.
Der Himmel? War er irgendwie zum Engel gemacht worden? Er langte nach hinten und betastete seinen Rücken. Nein. Keine Flügel. Enttäuschung machte sich breit. Als Engel hätte er Olivia suchen und mit ihr zusammen sein können.
Olivia. Süße, bezaubernde Olivia. Seine Brust schmerzte, und seine Hände juckten vor Verlangen, sie zu berühren. Er würde sie vermissen. Und zwar jeden Tag seines … Lebens?
Todes? Sehnsüchtig und unveränderlich. Wo war sie jetzt? Und was tat sie gerade?
„Aeron.“
Die tiefe Stimme erreichte seine Ohren, und ein Schauer überlief ihn.
Obwohl viele Tausend Jahre vergangen waren, seit er diese Reibeisenstimme zuletzt gehört hatte, wusste er sofort, zu wem sie gehörte. Baden. Einst sein bester Freund, doch vor Jahrhunderten gestorben. Aeron sprang auf und drehte sich um, nicht sicher, was er erblicken würde. Wie …?
Baden stand nur wenige Meter entfernt.
Aeron kämpfte mit dem Schock. Sein Freund sah genauso aus wie zu Lebzeiten. Groß, muskulös, mit leuchtend roten Haaren, die zottelig um sein Gesicht hingen. Braune Augen und sonnengebräunte Haut. Wie Aeron trug auch er eine weiße Robe.
„Wie bist du … wie sind wir …?“ Er war so verblüfft, dass er die Frage einfach nicht herausbrachte.
„Du hast dich verändert. Und zwar ziemlich.“ Baden grinste und zeigte dabei seine geraden weißen Zähne. Statt zu antworten, musterte er Aeron von oben bis unten. „Aber Götter, ich habe dich vermisst.“
Dann liefen sie aufeinander zu und schlössen sich in die Arme. Aeron hielt seinen Freund fest umschlungen. Er hatte geglaubt, ihn niemals wiederzusehen. Doch nun stand er hier und hielt ihn eng an sich gedrückt.
„Ich habe dich auch vermisst“, brachte er heraus, obwohl ihm auf einmal ein dicker Kloß die Kehle verstopfte.
Eine lange Weile verging, ehe sie sich losließen. Aeron konnte noch immer nicht fassen, dass das alles wirklich geschah. Dass er hier war, mit Baden. Dass er ihn berührte und sah.
Als sie sich das letzte Mal vor Badens Enthauptung gesehen hatten, hatte Aeron den Mann in Brand setzen wollen. Oder besser gesagt: Zorn hatte von ihm verlangt, es zu tun. Baden hatte ein komplettes Dorf abgefackelt, da er sicher gewesen war, die Einwohner würden seine Ermordung planen, und Aerons Dämon hatte sich danach verzehrt, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen – Feuer für Feuer, obwohl Baden seine Tat von ganzem Herzen bereut hatte. Eine Reue, die ihn womöglich direkt in die Arme von Hadiee getrieben hatte – dem Köder, der ihn zu seiner Hinrichtung geführt hatte.
Jetzt fühlte Aeron … nichts als Seelenverwandtschaft. Keinerlei Bösartigkeit. Keinen Drang, nach einem Streichholz zu greifen. Er sah auch keine Bilder in seinem Kopf. Und hörte keine Schreie in seinen Ohren. Eigentlich spürte er Zorn überhaupt nicht.
Das ergab doch keinen Sinn. Er hatte immer noch seinen
Kopf, also musste Zorn noch in ihm sein. Nicht wahr?
„Wo sind wir?“, fragte er. „Und wie sind wir hergekommen men?
„Willkommen im Jenseits, mein Freund. Erschaffen von Zeus persönlich, nachdem die Dämonen von uns Besitz ergriffen hatten – nur für den Fall, dass sie uns umbrächten. Er wollte nicht, dass unsere verdorbenen Seelen ihn irgendwie erreichten. Und ja, ich weiß, dass es nett gewesen wäre zu wissen, dass es einen solchen Ort für uns gibt, aber der alte Mistkerl hat nie auch nur eine Silbe darüber verloren.“ Baden machte eine ausladende Handbewegung über die Umgebung. „Ich nenne es Bad’s Land. Verstanden? Von Baden.“
„Ja, schon kapiert.“
„Noch immer keinen Funken Humor, wie ich sehe. Daran werden wir arbeiten müssen. Aber egal. Ich weiß, dass es hier nicht viel zu sehen gibt und dieser Ort sterbenslangweilig ist, aber es ist immer noch besser als die Alternative.“
Die Alternative? „Dann bin ich also wirklich tot?“
„Fürchte schon.“
Aeron ließ die Schultern hängen, was eine dürftige Geste für den alles verschlingenden Verlust war, den er auf einmal verspürte. Keine Chance also, nach Olivia zu suchen.
Und auch kein Zorn, wie er urplötzlich realisierte. Man hatte ihm seinen Dämon genommen und ihn freigelassen, als er gestorben war. Er war allein. Wirklich allein, zum ersten Mal seit Jahrhunderten.
Er war … betrübt. Ja, betrübt. Ganz am Ende hatten sie im Einklang gelebt.
„Sind du und ich die Einzigen hier?“
„Nein. Es gibt noch ein paar andere, aber sie halten Abstand von mir. Keine Ahnung, warum. Ich bin doch so süß wie ein Schokoladenplätzchen. Nicht, dass ich in letzter Zeit mal eins gegessen hätte …“, grummelte Baden. „Aber Pandora …“ Er erschauderte. „Sie ist auch hier, und sie hält keinen Abstand. Leider.“
Aeron musste den nächsten Schock niederkämpfen. Pandora. Die Frau, die für dimOuniak verantwortlich gewesen war – die Büchse, die einst sämtliche entflohenen hohen Herren der Dämonen gefangen gehalten hatte. Die Frau, die ihn und seine Freunde mit ihrem besonderen Status verspottet und immer wieder daran erinnert hatte, dass sie von den Göttern übergangen worden waren.
Einst hatte er sie verachtet. Doch jetzt … waren seit seinem letzten Gedanken an sie so viele Jahre vergangen, dass er den Hass in sich nicht wiederfinden konnte. Doch war er froh, dass sie hier in seiner Nähe war? Hölle, nein.
„Warum hast du sie nicht umgebracht?“, fragte er. „Noch mal.“
„Weil er nicht stark genug ist“, antwortete eine Frauenstimme hinter ihnen.
Gleichzeitig wirbelten sie herum. Pandora stand gegen eine der Säulen gelehnt und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
Obwohl Baden ihm von ihrer Anwesenheit erzählt hatte, ar ihr Anblick für Aeron wie ein Kinnhaken mit Schlagring. Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Wie er und Baden war auch sie groß und muskulös, wenngleich in einem deutlich kleineren Maßstab. Die braunen Haare reichten ihr bis ans Kinn und rahmten ihr Gesicht ein. Ein Gesicht, das zu harsch war, um hübsch zu sein. Ihre Augen waren golden. Zu golden. Zu hell. Wie von einer anderen Welt. Und voller Verachtung.
Genauso hatte sie ihn seinerzeit im Himmel immer angesehen.
Ah. Da baute sich sein altes Gefühl der Abscheu langsam in ihm auf. Anscheinend sollte er selbst als Toter noch einen Feind haben.
„Heute muss mein Geburtstag sein“, sagte sie mit einem grausamen Lächeln. „Die Männer, die mich hierher geschickt haben, haben einer nach dem anderen beschlossen, mir Gesellschaft zu leisten.“
„Du irrst dich. Das Geschenk ist für mich. Jetzt kann ich dich nämlich auf ewig quälen.“
Sie kam auf ihn zu – um anzugreifen? –, blieb dann stehen und schenkte ihm noch ein Lächeln. „Und? Wie geht es Maddox? Ich hoffe, er liegt im Sterben.“
Maddox war derjenige, der sie umgebracht hatte. Der Krieger war seinem Dämon, Gewalt, ausgeliefert gewesen und hatte wieder und wieder auf sie eingestochen. „Es wird dich enttäuschen zu hören, aber es geht ihm gut. Er erwartet sogar Nachwuchs.“
Die Luft blieb ihr im Hals stecken. „Ach, tatsächlich? Ist ja wundervoll.“ Mit dem Ausatmen schien bei Pandora ein innerer Damm zu brechen. „Dieser Bastard! Er verdient es nicht, glücklich zu sein! Er hat mich getötet und zugelassen, dass meine Büchse gestohlen wird und jetzt niemand weiß, wo sie ist. Sie ist unser Ticket hier raus, aber neeeiün. Selbst ich kann sie nicht finden. Er hat alles ruiniert, und jetzt erfüllen sich seine Träume? Denkst du vielleicht, ich weiß nicht, dass er immer von einer Familie geträumt hat? Natürlich weiß ich das! Aber er hätte sterben sollen! Er war derjenige, der …“
„Komm schon, erspar uns dein Selbstmitleid.“ Baden warf Aeron einen Siehst-du-was-ich-alles-ertragen-musste-Blick zu. „Götter. Du bist immer noch dieselbe Hexe wie damals.“
Schweigen. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie den Rotschopf an. „Jetzt, da du einen Freund hast, der dich beschützen kann, fühlst du dich wohl unbesiegbar, was?“
„Wohl kaum. Ich bin so oder so unbesiegbar.“
Sie zankten sich noch ein bisschen weiter, doch Aeron hörte nicht länger zu. Seine Gedanken wanderten zurück zu einem bestimmten Teil von Pandoras leidenschaftlicher Rede. Wenn sie die Büchse, dimOuniak, fänden, würde sie das aus diesem Reich befreien? Er wusste nicht, ob das wirklich stimmte. Aber eines wusste er genau: Wenn er entkäme, könnte er wie geplant nach Olivia suchen.
Ob sie ihn sehen könnte?
Das war ihm egal. Denn er würde sie sehen können. Die Büchse gehört mir.
31. KAPITEL
Olivia stand vor dem himmlischen hohen Rat, dessen Mitglieder nun zum zweiten Mal über ihr Leben oder ihren Tod entscheiden sollten. Seit Tagen schon kämpfte sie für ihren Fall, weder bereit aufzugeben noch zu gehen, doch der Rat war so zufrieden mit dem bisherigen Ergebnis, dass er sie immer wieder abgewiesen hatte. Aeron war tot, wie der Rat es gewollt hatte, und Legion war in die Hölle zurückgekehrt. In ihr Zuhause. Etwas, das Lysander Aeron nicht in seiner ganzen Bedeutung erklärt hatte.
Sie breitete Arme und Flügel aus und drehte sich langsam im Kreis, sodass das Gericht sie sah. Und zwar alles an ihr. Auf der Robe war Aerons Blut nicht mehr zu sehen, dafür aber an ihren Händen. Sie hatte nicht einmal den Stoff ihrer Robe angefasst, denn die Verantwortlichen sollten sehen, was sie angerichtet hatten.
Olivia blickte zu den Thronen hinauf und sah jedem einzelnen Ratsmitglied in die Augen. Jeder Einzelne von ihnen war schön. Stark, stolz und rein. Sie fühlten sich im Recht. Sie fühlten sich von allen Verpflichtungen entbunden. Sie zuckten nicht zusammen unter ihrem forschenden Blick.
Bleib standhaft. Du bist selbstbewmst und offensiv. „Dadurch, dass ihr ihn bestraft habt“, sagte sie, „habt ihr auch mich bestraft. Bis in alle Ewigkeit. Ich bin gefallen, ja, aber ihr habt mir erlaubt zurückzukehren. Ich bin wieder eine von euch. Ein Engel. Das bedeutet, dass meine Seele genauso rein ist wie eure. Deshalb frage ich euch: Was habe ich getan, dass ich eine solche Strafe verdiene?“
Endlich erhob sich Gemurmel.
Wieder keimte die Hoffnung in ihr auf.
„Wie meinst du das?“, fragte einer der Männer. „Dir zu erlauben, zu uns zurückzukehren, war nicht als Strafe gedacht, sondern als Privileg.“
„Ich liebe Aeron. Ich kann ohne ihn nicht glücklich sein.“
„Doch, das kannst du“, widersprach eine der Frauen. „Du brauchst einfach nur Zeit, um …“
„Nein! Keine Zeit. Ich verdiene es, genauso glücklich zu sein wie die Abertausend Menschen, die ich glücklich gemacht habe. Und ich habe euch gesagt, was dazu notwendig ist.“
Dieses Mal begegnete ihr kein Gemurmel, sondern nur Schweigen. Schweres Schweigen. Erdrückendes Schweigen. Dennoch senkte sie weder den Kopf, noch entschuldigte sie sich für ihre Vermessenheit. Sie würde nicht klein beigeben. Nicht in dieser Sache. Wenn der Rat ihr Aeron nicht zurückgäbe, würde sie mit ihm sterben.
Er würde nicht allein sterben.
Selbstbewusst. „Wenn ihr die Dinge so belasst, wie sie sind, und einen guten Mann bei den Toten lasst, seid ihr nicht besser als jene, vor denen ihr die Menschen beschützt.“ Dann wären sie wie die Dämonen. Das sprach sie zwar nicht aus, doch es war klar, was sie meinte.
„Es sterben ständig gute Männer, Olivia. Das ist der Preis des freien Willens.“ Eine andere Frau. Ihr Tonfall war sanfter und barg eine Spur Mitgefühl.
Offensiv. „Wir haben Aeron für seine Entscheidungen bestraft. Warum können wir ihn nicht auch belohnen? Denn das ist es doch, wodurch wir uns abheben: durch unser Mitgefühl und unsere Güte. Durch unsere Liebe. Liebe, die er selbst in einem Ehrfurcht gebietenden Ausmaß demonstriert hat. Er gab sein Leben für meines. Überwiegt dieses Opfer sein Verbrechen nicht? Hat er nicht ohne jeden Zweifel bewiesen, dass er Vergebung verdient?“
Wieder Gemurmel. Und dann schließlich ein Seufzen.
„Vielleicht lässt sich da etwas arrangieren …“
Die Tage vergingen schnell und scheinbar übergangslos. Aeron verbrachte all seine Zeit mit Baden. Sie redeten, lachten, weinten und holten die verlorene Zeit nach, und immerzu analysierten sie mögliche Standorte der Büchse der Pandora. Fester denn je war er dazu entschlossen, die Büchse zu rinden. Nicht um die Jäger aufzuhalten – obgleich das ein wundervoller Bonus wäre –, sondern für Olivia.
Er stellte fest, dass er weder schlafen noch essen musste. Er existierte bloß in diesem endlosen Weiß, ohne dass irgendetwas seine Entschlossenheit erschüttern konnte.
Bislang hatten sie einige gute Theorien entwickelt. Die Büchse könnte irgendwo unerkannt ganz offen zu sehen sein. Vielleicht war sie aber auch in einem Reich wie diesem versteckt, in das sich niemand einfach so hineinbeamen konnte. Womöglich lag sie im Meeresgrund vergraben. Doch wer sie genommen hatte und warum – das hatten sie noch immer nicht herausgefunden.
„Ich möchte so unglaublich gern zurückkehren“, sagte Baden, während sie durch den Nebel spazierten. Dabei kamen ihnen immer die besten Einfälle. „Hin und wieder gewährt man uns kleine Einblicke in das Leben da unten, aber die sind immer viel zu kurz.“
„Was hast du gesehen?“
„Ein paar von Sabins Kämpfen gegen die Jäger, bevor er nach Budapest gezogen ist. Eure Burg. Die Explosion, die euch alle wieder zusammengeführt hat. Die Frauen, die euch geholfen haben. Lucien ist ein verdammter Glückspilz. Seine Frau gefällt mir am besten.“
„Wenn du Anya tatsächlich mal triffst, wirst du ihm vermutlich dein Beileid aussprechen.“
Baden lachte. „Sie ist ein Unruhestifter, nicht wahr? Aber andererseits, sind das nicht alle Frauen?“ Als seine Belustigung abklang, klopfte er Aeron auf den Rücken. „Ich glaube, am meisten vermisse ich die Weichheit einer Frau.“
Dachte er an Hadiee? „Warum hast du es getan?“ Endlich stellte Aeron die Frage, die ihm schon seit Jahrhunderten im Kopf herumgeisterte. „Warum hast du den Jägern erlaubt, dich zu köpfen?“
Sein Freund zuckte die Achseln. „Ich war müde. Ich war es so leid, ständig über meine Schulter zu schauen und allem und jedem mit Misstrauen zu begegnen. Ich hatte sogar angefangen, dir zu misstrauen.“
„Mir?“
„Eigentlich euch allen.“ Baden seufzte. „Ich habe es gehasst. Ich habe es gehasst, dass ich euch allen unterstellt habe, ihr würdet euch gegen mich wenden, obwohl ich im Grunde meines Herzens wusste, dass so etwas niemals geschehen würde.“
„Du hast recht. Wir hätten dir niemals wehgetan.“ Dazu hatten sie diesen Mann viel zu innig geliebt. Von allen Herren war Baden derjenige gewesen, auf den sich jeder verlassen hatte. Derjenige, an dem sich jeder orientiert und den jeder um Rat gefragt hatte.
„Und dann kam diese Frau“, fuhr sein Freund fort. „Ich hatte schon den Verdacht, sie könnte ein Köder sein, aber viel schlimmer war, dass ich es hoffte. Also tat ich es. Ich begleitete sie nach Hause und ließ mich von ihr verführen, obwohl ich wusste, dass die Jäger auftauchen würden. Ich war … erleichtert, als sie endlich kamen. Ich habe mich nicht mal gewehrt.“
Genau wie er sich am Schluss nicht mehr gegen Lysander gewehrt hatte. „Bist du mit dem Ausgang des Ganzen zufrieden?“
„Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Pandora ist alles, was ich hier oben an Unterhaltung habe, und wie du selbst gesehen hast, ist sie nicht besonders unterhaltsam.“
Das ließ sich nicht leugnen. „Apropos Pandora, anscheinend ist sie verschwunden. Seit meiner Ankunft habe ich sie nicht mehr gesehen.“
„Das ist ihre Taktik. Sie lässt dich ein paar Tage in Frieden, wiegt dich in falscher Sicherheit und schlägt dann zu. Aber genug von ihr. Warum hast du es getan?“, fragte Baden und warf ihm einen kurzen Blick zu. „Warum hast du dich töten lassen? Und ja, ich weiß, dass du es zugelassen hast. Du bist nämlich ein viel zu guter Soldat, als dass dich jemand auf andere Art erwischt hätte.“
Aeron seufzte und klang dabei wie ein Echo von Baden. „All die Jahre habe ich mich vor dem Tod gefürchtet, aber am Ende … Du hast recht. Auch ich habe ihn mit offenen Armen empfangen. Nicht weil ich müde war, sondern weil ich meine Frau retten wollte.“
„Aha, eine Frau. Unser aller Niedergang. Erzähl mir von ihr. Ich habe noch keinen Blick auf sie werfen dürfen.“ Baden rieb sich voller Vorfreude die Hände. „Ich möchte wissen, was für ein Wesen solch einen argwöhnischen Mann bezaubern konnte.“
„Ja, Aeron, das möchte ich auch hören.“
Aeron erstarrte. „Hast du das gehört?“ Er wirbelte herum, und sein Blick suchte wie wild nach der Frau, nach der sich mehr sehnte als nach dem Leben. Er entdeckte keine Spur von ihr.
„Ich habe etwas gehört“, sagte Baden und runzelte die Stirn. „Eine Frauenstimme, stimmt’s?“
Dann war er also nicht wahnsinnig. „Olivia?“, rief er. Er hätte schwören können, dass sein Herz in seiner Brust zu klopfen begann. „Olivia!“
In einigen Metern Entfernung fing die Luft zu schimmern an, glitzernde Funken verdichteten sich zu einem perlglänzenden Schleier, und eine Silhouette entstand. Dunkle Locken. Strahlend blaue Augen. Makellose Haut. Herzförmige Lippen. Ein zartes Rosa blühte auf ihren Wangen, und hinter ihrem Rücken bogen sich prächtige weiße Flügel.
Flügel. Engel. Sie war nach Hause zurückgekehrt.
„Kannst du mich sehen?“ Inständig hoffend ging er auf sie zu. „Kannst du mich sehen?“
„Oh ja. Ich kann dich sehen.“
Als er sie erreichte, schlang er die Arme um sie und hob sie hoch. Er hielt sie so fest, dass er sie fast zerdrückt hätte, und wirbelte sie herum. Hier, sie war hier. Bei ihm. Und er würde sie nie mehr gehen lassen.
Sie ließ den Kopf in den Nacken fallen und lachte übermütig und hingebungsvoll. Dieses Lachen … Es war Balsam für seine Seele.
„Olivia.“ Er musste sie unbedingt schmecken, und so presste er seine Lippen auf ihre. Bereitwillig öffnete sie den Mund, und er küsste und küsste sie und sog alles tief in sich auf. Die Wärme ihres Körpers, die Süße ihrer Rundungen. Sie gehörte ihm. Ganz allein ihm.
„Aeron. Ich muss dir so viel erzählen.“
Zitternd setzte er sie ab und nahm ihr Gesicht in die Hände, ohne auch nur eine Sekunde lang den Kontakt zu unterbrechen. „Meine süße Olivia, was machst du hier? Wie kommst du hierher? Und wie ich sehe, bist du wieder ein Engel.“ Mein Engel.
„Ja. Und zwar keine Kriegerin mehr, sondern wieder eine Glücksbotin.“
„Für mich warst du immer eine Glücksbotin, aber wie … Ich verstehe das nicht.“
Sie strahlte ihn an und fuhr ihm mit den Fingerspitzen übers Gesicht, als könnte auch sie es nicht ertragen, ihn loszulassen. „Meine Gottheit ist der Schöpfer des Lebens, und er hat dir ein neues geschenkt. Genau wie der himmlische hohe Rat mir meinen alten Job zurückgegeben hat – obwohl sie finden, dass ich mich jetzt besser für die Kriegerkaste eigne. Von jetzt an werde ich deine persönliche Glücksbotin sein. Ihnen ist klar geworden, dass du ohne mich nicht glücklich sein könntest und dass ich ohne dich keine Freude hätte.“
Die Details wollten einfach nicht in seinen Kopf. „Warum sollte sie das interessieren? Sie selbst waren doch diejenigen, die mich überhaupt erst tot sehen wollten.“
„Du hast alles geopfert. Für mich. Meine Gottheit hat dein Opfer anerkannt und beschlossen, dich zu belohnen. Er wird dich zurück in deinen Körper bringen und ihn heilen. Und du darfst in die Burg zurückkehren. Wir können zusammen sein.“
„Zusammen.“ Am liebsten wäre er vor Dankbarkeit auf die Knie gefallen. Am liebsten hätte er laut geschrien und getanzt. Es war ein Wunder. Olivia gehörte ihm.
In ihren Blick schlich sich Unsicherheit. „Bist du glücklich darüber?“
„Ich bin glücklicher als je zuvor, mein Herz. Du bist alles, was ich will und brauche.“
Wieder erblühte ein Lächeln auf ihrem Gesicht. „Mir geht es genauso.“ Das Lächeln wurde eine Nuance matter. „Zorn … dein Dämon kann leider nicht zu dir zurückkehren. Ich habe wirklich alles versucht, aber er wurde bereits jemand anderem gegeben.“
„Wem?“
„Einer Frau namens Sienna Blackstone. Sie war früher eine Sterbliche und wurde durch einen Schuss getötet. Aber Cronus hat ihre Seele gerettet und bei sich behalten.“
Paris’ Sienna. Ausgerechnet. Was bedeutete das für den armen Paris? Wie es aussah, könnte er endlich seine Frau wiederhaben. Allerdings würde Zorn sie über viele Jahre hinweg in den Wahnsinn treiben. Sie würde nur existieren, um Rache an jenen zu üben, die gesündigt hatten.
Aeron täte alles in seiner Macht Stehende, um ihr die Veränderung so leicht wie möglich zu machen. Er konnte nur hoffen, dass der Dämon ihn erkannte. Schließlich hatten sie immer noch eine Mission zu erfüllen: Stefano bestrafen, genau wie die Dämonen, die Olivia gequält hatten.
„Werde ich sterblich sein?“, fragte er. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Er wäre mit Olivia zusammen. Was machte da schon ein alternder Körper?
„Nein. Du wirst unsterblich sein, wie vorher. Aber dein Körper wird wieder so aussehen wie zum Zeitpunkt deiner Erschaffung: ohne Tätowierungen, ohne deine Schmetterlinge. Ohne Flügel.“ Abermals wirkte sie unsicher. „Ist das okay?“
„Okay? Das ist fantastisch.“ Lachend wirbelte er sie ein zweites Mal durch die Luft. Konnte das Leben noch schöner werden? Offenbar nicht. Denn sie sah nicht so glücklich aus, wie er erwartet hätte. „Was ist los?“, fragte er, als er stehen blieb.
„Legion. Sie ist wieder in der Hölle und an das Inferno gebunden, nachdem das Band zu dir zerrissen ist.“
Ihm gefror das Blut in den Adern – und im selben Moment traf ihn die Erkenntnis. Das hatte Lysander also mit den Worten „Sie wird nach Hause zurückkehren“ gemeint. Er hätte es wissen oder zumindest ahnen müssen.
„Luzifer ist so wütend auf sie, dass er ihr ihren menschlichen Körper gelassen hat, und nun quälen die Dämonen sie unaufhörlich. Galen sucht nach ihr, und ich denke … ich denke, er wird sich ihretwegen sogar in die Hölle wagen. Er will sie umbringen, weil sie offenbar versucht hat, ihn umzubringen.“
Aeron riss die Augen auf. Legion hatte versucht, Galen umzubringen? Seit seinem Ableben war wirklich eine Menge passiert. „Ich kann sie unmöglich dort lassen“, sagte er. Trotz allem, was geschehen war, liebte er die kleine Dämonin.
„Ich weiß. Deshalb habe ich mit dem Rat auch über meine neuen Pflichten gesprochen. In meiner Funktion als deine Glücksbotin habe ich ihnen erklärt, dass du die Dämonin in deinem Leben brauchst, weil es sonst nicht vollständig ist. Sie haben zugestimmt, dass, wenn du dich entschließt, sie eigenhändig zu holen, sie bei dir bleiben darf. Denn das, was sie momentan erleidet, ist eine Hölle, die für tausend Leben reicht. Allerdings bekommt sie vom Augenblick ihrer Rettung an einen Engel als Wächter zur Seite gestellt, der dafür sorgen wird, dass sie den Menschen nicht schadet.“
„Ja, ja, ich nehme die Bedingung in ihrem Namen an.“ Legion hasste Engel, aber sie würde lernen, damit zurechtzukommen. Außerdem müsste sie sich ja auch an seine Olivia gewöhnen. „Ja“, wiederholte er. Er brauchte nicht einmal darüber nachzudenken. „Olivia, du bist noch unglaublicher, als ich dachte. Für das, was du getan hast, werde ich dir nie genug danken können.“ Er pflanzte lauter kleine Küsse auf ihr Gesicht. „Du hast mir alles gegeben.“
„So wie du mir alles gegeben hast.“
„Ich werde den Rest meiner Tage damit verbringen, dafür zu sorgen, dass du deinen Spaß hast.“
„Alles, was ich brauche, ist deine Liebe.“
Aeron küsste sie noch einmal tief und leidenschaftlich, und schon bald hatten sie sich ganz und gar in diesem Kuss verloren. Gierig wanderten ihre Hände über ihre Körper, und schnell waren sie bereit für mehr und fest entschlossen …
„Ah, Leute?“ Badens Stimme zerstörte die Illusion der Zweisamkeit, und beide drehten sich zu ihm um. Er winkte Olivia zu. „Hi. Ich unterbreche euch wirklich nur ungern, weil … wow … aber was ist mit mir? Ich hätte meinen Körper auch gern zurück.“
„Tut mir leid“, erwiderte sie. „Du hast kein Opfer erbracht. Ich fürchte, du musst hierbleiben.“
Augenblicklich störten Bedauern und Kummer Aerons neu gefundenen Frieden. Er hatte Baden doch eben erst gefunden, und jetzt sollte er ihn schon wieder verlassen?
Baden ließ die Schultern hängen. „Gibt es irgendetwas …“
„Nein“, unterbrach Olivia ihn sanft. „Es tut mir leid. Du bist schon tot. Es gibt kein Opfer, das du noch erbringen könntest.“
„Ich werde einen Weg finden, dich hier rauszuholen“, schwor Aeron. „Pandora hat doch die Büchse erwähnt. Ich werde nie aufhören, danach zu suchen, das schwöre ich bei meinem neuen Leben.“
Sein Freund nickte, doch seine Stimme klang traurig, als er sagte: „Ich werde dich vermissen.“
„Und ich dich.“ Jetzt brannten Tränen in seinen Augen.
Baden lächelte, aber selbst das sah traurig aus. „Sag Torin, dass er mir ein Schwert schuldet. Sag Sabin, dass ich nicht vergessen habe, wie er beim Schach immer geschummelt hat. Und sag Gideon, dass ich eine Revanche will. Er wird wissen, was ich meine.“ Er ratterte eine Liste Nachrichten für jeden einzelnen Krieger herunter, und das brach Aeron schier das Herz. Am Ende strömten ihm die Tränen nur so die Wangen hinunter. „Bis wir uns wiedersehen, Aeron.“
„Das werden wir ganz gewiss. Uns wiedersehen.“
„Ich werde die Hoffnung niemals aufgeben.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte Baden einen quälenden Schritt nach dem anderen zurück. Aeron hätte so gern gerufen, er solle stehen bleiben, so unerträglich war der Kummer. Doch in dem Moment, als er den Mund öffnete, verschwand der Krieger im Nebel.
„Es tut mir leid“, sagte Olivia uns streichelte ihm über die Brust.
Aeron zog sie zurück in seine Arme und hielt sie fest. „Das ist nicht das Ende. Das schwöre ich.“ Er barg das Gesicht an ihrer Halsbeuge. Er könnte ihr das, was sie für ihn getan hatte, niemals zurückgeben. „Ich liebe dich über alles.“
„Ich liebe dich auch.“
„Ich werde dich glücklich machen. Von allen Dingen, die ich geschworen habe, ist das mir das Wichtigste.“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Nasenspitze. „Du hast mich schon glücklich gemacht. Und jetzt lass uns nach Hause gehen. Eine Menge Leute können es kaum erwarten, dich wiederzusehen.“
„Zuerst – und ich kann kaum glauben, dass ich das jetzt sage – flieg uns bitte in mein Schlafzimmer. Wir brauchen nämlich eine angemessene Wiedervereinigung. Danach werden wir die anderen begrüßen.“
Das brachte ihm noch ein Lachen ein. „Stimmt. Jetzt habe ich Flügel und du nicht. Ich schätze, das heißt, dass ich jetzt auch für unsere etwas … verboteneren Aktivitäten verantwortlich bin. Aber betrachte das als erledigt. Schließlich ist es mein Job, dafür zu sorgen, dass du glücklich bist.“
„Wofür ich bis in alle Ewigkeit dankbar sein werde.“ Noch einmal küssten sie sich – und brachen dann nach Hause auf.
- ENDE—