DANKSAGUNG

Ich möchte all den wunderbaren Menschen bei Harlequin Books danken, weil sie mich schon so lange unterstützen und ermutigen. Ich bin sehr froh darüber, mit Euch zusammenarbeiten zu dürfen!

1. KAPITEL

Anscheinend macht es ihnen nichts aus, dass sie sterben.“ Aeron, ein unsterblicher, vom Dämon Zorn besessener Krieger, saß auf den Dächern der Bübäjos-Appartements im Zentrum von Budapest und starrte auf die Menschen hinunter, die so unbedarft den Abend verlebten. Einige kauften ein, andere redeten und lachten oder aßen im Gehen einen kleinen Snack. Aber niemand fiel auf die Knie und flehte die Götter um mehr Zeit in diesen schwachen Körpern an. Genauso wenig schluchzte einer von ihnen darüber, dass er diese Zeit nicht bekommen würde.

Statt auf die Menschen konzentrierte sich Aeron nun auf deren Umgebung. Fahles Mondlicht schien herab und mischte sich in den bernsteinfarbenen Glanz der Straßenlaternen, die ihre Schatten auf das Kopfsteinpflaster warfen. Überall standen Häuser. Einige der höher gelegenen hatten helle Vordächer – der perfekte Kontrast zu den smaragdgrünen Bäumen, die sich neben den Gebäuden erhoben.

Hübsch, sofern man das von Särgen sagen konnte.

Die Menschen wussten, dass sie vergänglich waren. Zur Hölle, sie wuchsen in dem Bewusstsein auf, dass sie alles und jeden verlassen mussten, den sie liebten, und trotzdem – das hatte er schon häufig beobachtet – baten sie nicht um mehr Zeit. Und das … faszinierte ihn. Wenn Aeron erführe, dass er schon bald von seinen Freunden, den anderen dämonbesessenen Kriegern, mit denen er die letzten Jahrtausende verbracht hatte, getrennt werden würde, täte er alles – ja, sogar betteln –, um sein Schicksal zu ändern.

Warum also taten die Menschen das nicht? Was wussten sie, das er nicht wusste?

„Sie sterben nicht“, sagte sein Freund Paris, der neben ihm saß. „Sie leben, solange sie die Chance dazu haben.“

Aeron stieß einen verächtlichen Laut aus. Das war nicht die Antwort, nach der er suchte. Wie sollten sie leben, solange sie die Chance dazu hatten, wenn ihre „Chance“ kaum mehr bedeutete als ein Augenzwinkern? „Sie sind schwach. Leicht zu vernichten, wie dir ja bekannt ist.“ Wie grausam von ihm, das zu sagen. Immerhin war Paris’ … Freundin? Geliebte? Auserwählte Frau? Was immer sie war, sie war erst vor Kurzem vor Paris’ Augen erschossen worden. Dennoch bereute Aeron seine Worte nicht.

Paris war der Hüter von Promiskuität und gezwungen, jeden Tag mit einem anderen Menschen ins Bett zu gehen. Wenn er es nicht tat, wurde er immer schwächer und würde sich dadurch letztlich selbst töten. Er konnte sich eigentlich nicht leisten, den Tod einer speziellen Geliebten zu betrauern. Vor allem nicht den einer feindlichen Geliebten, denn genau das war diese kleine Sienna gewesen.

Aeron gestand es sich zwar nicht gern ein, aber in gewisser Hinsicht war er sogar froh, dass die Frau tot war. Sie hätte Paris’ Bedürfnisse nur gegen ihn eingesetzt und ihn letzten Endes zerstört.

Ich hingegen werde bis in alle Ewigkeit für seine Sicherheit sorgen. Das war ein Schwur. Der Götterkönig hatte Paris vor die Wahl gestellt. Paris hatte entweder die Seele seiner Frau zurückholen oder Aeron von dem entsetzlichen Blutdurst befreien können, der unentwegt Mordgedanken in ihm hervorgerufen hatte. Gedanken, die Aeron – wie er schamvoll zugeben musste – in die Tat umgesetzt hatte. Immer und immer wieder.

Wegen jenes Fluchs hatte Reyes, Hüter des Dämons Schmerz, beinah seine über alles geliebte Danika verloren. Aeron war kurz davor gewesen, ihr den Todesstoß zu versetzen. Er hatte das gewetzte Messer schon hoch erhoben … und gerade als er über ihren hübschen Hals herfallen wollte, hatte Paris sich für Aeron entschieden. Augenblicklich war der Wahnsinn von ihm abgefallen, und allein das hatte Danika das Leben gerettet.

Tief in sich fühlte Aeron sich wegen dessen, was um ein Haar geschehen wäre, immer noch schuldig. Ganz zu schweigen von seiner Verantwortung für die Konsequenzen, die diese Entscheidung für Paris bedeutete. Das Schuldgefühl brannte wie Säure in Aerons Knochen und fraß ihn immer weiter auf. Paris musste leiden, während er seine Freiheit genießen konnte. Doch das hieß noch lange nicht, dass er in dieser Sache Gnade walten ließ. Dafür liebte er seinen Freund viel zu sehr. Mehr noch: Aeron war ihm etwas schuldig. Und er beglich seine Schulden immer.

Deshalb saßen sie jetzt auch auf diesem Dach.

Doch für Paris zu sorgen war keine leichte Aufgabe. Die vergangenen sechs Nächte hatte Aeron seinen Freund trotz lautstarken Protests hierher geschleppt. Paris brauchte sich nur eine Frau auszusuchen, dann brachte Aeron sie zu ihm und sorgte dafür, dass die beiden ungestört Sex haben konnten. Allerdings traf Paris seine Wahl jede Nacht später. Immer später.

Aeron hatte das Gefühl, dass er und Paris diesmal bis zum Morgengrauen hier sitzen würden.

Hätte Paris es ihm gleichgetan und die schwachen Menschen gemieden, würde er sich jetzt nicht so verzweifelt nach etwas sehnen, das er nicht haben konnte. Er würde sich nicht nach etwas verzehren, das ihm für alle Ewigkeit verwehrt bleiben würde.

Aeron seufzte. „Paris“, begann er. Dann hielt er inne. Wie sollte er weitermachen? „Deine Trauer muss endlich ein Ende haben.“ Gut. Direkt zum Punkt kommen, so wie er es am liebsten hatte. „Sie schwächt dich.“

Paris fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Als ob ausgerechnet du mir etwas über Schwäche beibringen könntest! Wie oft bist du Zorn schon erlegen? Unzählige Male. Und für wie viele dieser unzähligen Momente kannst du den Göttern die Schuld geben? Für exakt einen. Wenn der Dämon von dir Besitz ergreift, verlierst du die Kontrolle über dein Handeln. Also sorg dafür, dass du nicht auch noch Heuchelei auf die Liste deiner Sünden setzen musst, okay?“

Er widersprach nicht. Traurigerweise war Paris’ Behauptung unwiderlegbar richtig. Manchmal übernahm der Dämon die Kontrolle über Aerons Körper, flog mit ihm durch die Stadt, fiel jeden an, der in Reichweite war, und weidete sich an dem Schrecken seiner Opfer. Währenddessen wusste Aeron jedes Mal genau, was er tat, jedoch ohne in der Lage zu sein, das Massaker zu beenden.

Nicht, dass er das Massaker immer beenden wollte. Einige verdienten auch, was sie bekamen.

Aber er verabscheute es, die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren und sich zu fühlen, als wäre er nur noch eine Marionette. Oder ein Bär, der auf Befehl tanzte. Wenn er auf dieses Stadium reduziert wurde, hasste er seinen Dämon – allerdings nicht so sehr wie sich selbst. Denn neben Hass verspürte er auch Stolz. Auf Zorn. Aeron die Kontrolle zu entreißen erforderte Macht, und jegliche Macht verdiente Anerkennung.

Dennoch. Diese Hassliebe belastete ihn.

„Es war vielleicht nicht deine Absicht, aber du hast meinen Standpunkt gerade bestätigt“, sagte er und nahm die Unterhaltung wieder auf. „Aus Schwäche resultiert Zerstörung. Ausnahmslos.“ In Paris’ Fall war Trauer nur ein anderer Ausdruck für Ablenkung. Und Ablenkung konnte tödlich enden.

„Was hat das mit mir zu tun? Was hat das mit den Menschen da unten zu tun?“, wollte Paris wissen.

Zeit für den Blick aufs Ganze. „Diese Menschen. Sie altern und verfallen in Windeseile.“

„Und?“

„Lass mich ausreden. Wenn du dich in eine von ihnen verliebst, hast du sie vielleicht für den Großteil eines Jahrhunderts. Aber auch nur, wenn sie von Krankheiten oder Unfällen verschont bleibt. Doch in diesem Jahrhundert wirst du ihr beim Altern und schließlich beim Sterben zusehen. Und währenddessen weißt du immer, dass eine Ewigkeit ohne sie auf dich wartet.“

„Alter Pessimist.“ Das war nicht die Reaktion, mit der Aeron gerechnet hatte. „Für dich ist es ein Jahrhundert, das man damit verbringt, etwas zu verlieren, das man nicht beschützen kann. Ich betrachte es als ein Jahrhundert, in dem man mit einem großen Geschenk gesegnet wird. Mit einem Geschenk, das dir in der Ewigkeit helfen wird.“

Helfen? Absurd. Wenn man etwas Kostbares verlor, wurde das Gedenken daran zu einer quälenden Erinnerung an das, was man nie wieder haben konnte. Zusammen mit den Problemen, die man ohnehin schon hatte, würde dieses Gedenken einen ablenken – im Gegensatz zu Paris beschönigte er es nicht – und eben nicht stärken.

Der Beweis lag für Aeron auf der Hand. Denn genauso erging es ihm mit Baden, der der Hüter von Misstrauen und einst sein bester Freund gewesen war. Vor langer Zeit hatte er den Mann verloren, den er mehr geliebt hatte, als er einen Blutsbruder hätte lieben können. Und wenn er jetzt allein war, musste Aeron jedes Mal an Baden denken und fragte sich, was wäre, wenn.

Das wollte er Paris ersparen.

Vergiss den Blick aufs Ganze. Zeit für noch etwas mehr Gnadenlosigkeit. „Wenn du so gut darin bist, Verluste zu verkraften, warum trauerst du Sienna dann immer noch nach?“

Ein Mondstrahl fiel auf Paris’ Gesicht, und Aeron sah, dass seine Augen glasig waren. Offenbar hatte er getrunken. Mal wieder. „Ich wurde meines Jahrhunderts mit ihr beraubt. Wir hatten nur ein paar Tage zusammen.“ Monotoner Tonfall.

Hör jetzt nicht auf. „Und wenn du vor ihrem Tod hundert Jahre mit ihr gehabt hättest, könntest du jetzt deinen Frieden damit schließen?“

Schweigen.

Das hatte er auch nicht gedacht.

„Schluss jetzt!“ Paris rammte seine Faust auf das Dach, und das gesamte Gebäude bebte. „Ich will nicht mehr darüber sprechen.“

Zu schade. „Verlust ist Verlust. Schwäche ist Schwäche. Wenn wir uns nicht gestatten, uns an die Menschen zu binden, ist uns auch egal, wenn sie von uns gehen. Wenn wir unsere Herzen stählen, werden wir uns nicht nach dem sehnen, was wir nicht haben können. Das haben unsere Dämonen uns doch sehr anschaulich vorgemacht.“

Aerons und Paris’ Dämonen hatten einst in der Hölle gelebt und sich nach Freiheit gesehnt, weshalb sie sich ihren Weg nach draußen erkämpft hatten. Nur hatten sie damit am Ende ein Gefängnis gegen ein anderes eingetauscht, und das zweite war weitaus schlimmer gewesen als das erste.

Statt Schwefel und Flammen ertragen zu müssen, waren sie tausend Jahre lang in der Büchse der Pandora gefangen gewesen. Tausend Jahre der Dunkelheit, der Trostlosigkeit und des Schmerzes. Man hatte ihnen weder Eigenständigkeit gewährt noch Hoffnung auf Besserung geschenkt.

Wären diese Dämonen stärker gewesen und hätten sie sich nicht nach dem Verbotenen gesehnt, dann wären sie auch nicht eingefangen worden.

Hätte Aeron einen stärkeren Willen gehabt, hätte er später nicht dabei geholfen, die Büchse zu öffnen. Dann wäre er nicht dazu verflucht worden, das Böse, das er befreit hatte, in seinem Körper zu beherbergen. Dann wäre er nicht aus dem Himmel verbannt worden, aus dem einzigen Zuhause, das er je gekannt hatte, um den Rest der Ewigkeit in dieser chaotischen Welt zu verbringen, in der rein gar nichts blieb, wie es war.

Dann hätte er Baden nicht im Krieg gegen die Jäger verloren – verachtenswerte Sterbliche, die die Herren hassten und für alles Übel der Welt verantwortlich machten. Ein Freund war vor Kurzem an Krebs verstorben? Daran waren natürlich die Herren schuld. Ein junges Mädchen hatte gerade erfahren, dass es schwanger war? Da hatten eindeutig die Herren wieder zugeschlagen.

Wäre Aeron stärker gewesen, hätte er sich nicht noch einmal in diesen Krieg gestürzt, in dem er kämpfen und töten musste. Immerzu töten.

„Hast du dich je nach einer Sterblichen gesehnt?“, fragte Paris und riss ihn damit aus seinen düsteren Gedanken. „Sexuell, meine ich?“

Aeron entfuhr ein leises Lachen. „Du meinst, ob ich an einem Tag eine Frau in mein Leben gelassen habe, um sie am nächsten wieder zu verlieren? Nein.“ So dumm war er nicht.

„Wer sagt, dass du sie verlieren musst?“ Paris zog eine Flasche aus der Innentasche seiner Lederjacke und trank einen großen Schluck.

Schon wieder Alkohol? Offensichtlich hatten seine aufmunternden Worte seinem Freund kein bisschen gutgetan.

Paris schluckte und fügte hinzu: „Maddox hat Ashlyn, Luden hat Anya, Reyes hat Danika, und jetzt hat Sabin Gwen. Sogar Gwens Schwester, Bianka die Schreckliche, hat einen Lover. Einen Engel, mit dem ich Öl-Catchen musste, aber egal. Das ist eine andere Geschichte.“

Öl-Catchen? Ja. Lieber nicht ins Detail gehen. „Ja, sie haben einander, aber jede der Frauen verfügt über eine Fähigkeit, die sie von den anderen ihrer Art abhebt. Sie sind mehr als nur Menschen.“ Doch das hieß nicht, dass sie ewig lebten. Sogar Unsterbliche konnten getötet werden. Aeron wusste das mit Gewissheit. Denn er war derjenige gewesen, der Badens Kopf aufgesammelt hatte – ohne den Körper des Kriegers. Er war derjenige gewesen, der als Erster seinen auf ewig erstarrten Ausdruck des Schreckens gesehen hatte.

„Wie heißt also die Lösung? Finde eine Frau mit einer Fähigkeit, durch die sie sich von den anderen abhebt“, erwiderte Paris trocken.

Als ob das so einfach wäre. Außerdem … „Ich habe Legion, und mehr kann ich im Augenblick auch gar nicht bewältigen.“ Er rief sich die kleine Dämonin ins Gedächtnis, die wie eine Tochter für ihn war, und lächelte. Wenn er stand, reichte sie ihm nur bis zur Taille. Sie hatte grüne Schuppen, zwei winzige Hörner, die mitten auf ihrem Kopf emporragten, und scharfe Giftzähne. Diademe waren ihr Lieblings-Accessoire, und Lebendfleisch war ihre Leibspeise.

Ersteres gönnte er ihr von Herzen, und an Letzterem arbeiteten sie gerade.

Aeron war ihr in der Hölle begegnet. Na ja, zumindest so dicht an der brodelnden Grube, wie ein Mann herankam, ohne in den Flammen zu vergehen. Er war gewissermaßen nebenan angekettet gewesen, trunken vor Blutlust und entschlossen, selbst seine Freunde abzuschlachten, als Legion sich ihren Weg zu ihm gebahnt und ihre Gegenwart irgendwie seinen Verstand geklärt hatte. Sie hatte ihm die Stärke verliehen, die er so schätzte. Sie hatte ihm geholfen zu fliehen, und seitdem waren sie zusammen.

Außer jetzt. Sein geliebtes kleines Mädchen war in die Hölle zurückgekehrt, an einen Ort, den sie verachtete. Und das alles, weil irgend so ein unsichtbarer Engel, der sich im Schatten versteckt hielt und auf irgendetwas wartete, Aeron beobachtete. Worauf er wartete, wusste Aeron nicht. Er war jedoch sicher, dass der intensive Blick in diesem Moment zwar nicht auf ihm ruhte, wohl aber wiederkommen würde. Das tat er immer. Und Legion konnte es nicht leiden.

Er lehnte sich zurück und blickte in den Nachthimmel. Die Sterne waren heute so klar wie Diamanten auf schwarzem Satin. Manchmal, wenn er sich nach der Illusion von Einsamkeit sehnte, flog er so hoch, wie seine Flügel ihn trugen, um sich dann schnell und sicher fallen zu lassen und sich erst Sekunden vor dem Aufprall wieder zu fangen.

Als Paris noch einen Schluck aus seiner Flasche trank, stieg sanft und süß wie der Atem eines Babys der Duft von Ambrosia in die Luft. Aeron schüttelte den Kopf. Ambrosia war die Lieblingsdroge seines Freundes, das Einzige, was den Kopf und den Körper von Männern wie ihnen betäuben konnte. Doch allmählich geriet Paris’ Konsum außer Kontrolle, was den einst wilden Krieger nachlässig machte.

Da Galen, der Anführer der Jäger und ebenfalls ein dämonbesessener Krieger, durch die Straßen zog, musste sein Freund unbedingt bei klarem Verstand sein. Kalkulierte man dann noch den unsichtbaren Engel mit ein, hieß das sogar, dass Paris in Bestform sein musste. Denn wie Aeron kürzlich erfahren hatte, waren Engel Dämonenmörder.

Ob sein Engel ihn auch töten wollte? Er war sich nicht sicher, und Biankas Gemahl Lysander wollte es ihm nicht verraten. Aber wahrscheinlich spielte es keine Rolle. Aeron hatte vor, den Feigling – egal ob männlich oder weiblich – auseinanderzunehmen, sobald dieser endlich die Eier hatte, sich zu erkennen zu geben.

Niemand trennte ihn ungestraft von Legion. Genau in diesem Moment erlitt sie womöglich Schmerzen – seelische oder körperliche. Bei dem Gedanken daran verkrampften sich Aerons Hände so stark, dass beinah seine Knochen brachen. Die Brüder seines kleinen Lieblings hatten es sich zum Hobby gemacht, Legion wegen ihrer Freundlichkeit und ihres Mitgefühls zu verspotten. Außerdem machte es ihnen Spaß, sie zu jagen. Und nur die Götter wussten, was sie ihr antun würden, wenn sie sie tatsächlich erwischten.

„Sosehr du Legion auch liebst“, begann Paris, und wieder riss er Aeron aus dem tiefen Sumpf seiner Gedanken. Paris warf einen Stein auf das gegenüberliegende Gebäude, bevor er die Flasche ansetzte und den letzten Schluck trank. „Sie kann nicht all deine Bedürfnisse erfüllen.“

Er meinte Sex. Konnten sie dieses Thema nicht endlich und ein für alle Mal ausklammern? Aeron seufzte. Er war seit Jahren nicht mehr mit einer Frau im Bett gewesen, vielleicht sogar seit Jahrhunderten. Sie waren die Anstrengung einfach nicht wert. Wegen Zorn war sein Verlangen, ihnen wehzutun, schnell stärker als sein Verlangen, sie glücklich zu machen. Mehr noch: So tätowiert und kriegerisch, wie Aeron war, musste er für jedes bisschen Zuneigung, das er bekam, hart arbeiten. Frauen hatten Angst vor ihm – und das zu Recht. Sie für ihn zu öffnen erforderte Zeit und Geduld, beides fehlte ihm. Außerdem gab es Tausende andere, wichtigere Dinge, die er tun konnte. Zum Beispiel trainieren, sein Heim bewachen, seine Freunde beschützen. Und sich in Nachsicht für Legions Marotten üben.

„Solche Bedürfnisse habe ich nicht.“ Das stimmte größtenteils sogar. Er war so diszipliniert, dass er sich der Lust kaum hingab. Und wenn doch, dann nur allein. „Ich habe alles, was ich mir wünsche. Aber sag mal: Sind wir eigentlich hergekommen, um über unsere Gefühle zu quatschen oder um eine Frau für dich zu suchen?“

Mit einem wütenden Schrei warf Paris die leere Flasche in demselben Bogen wie vor wenigen Augenblicken den Stein hinüber. Sie zerschellte an der Außenfassade des Gebäudes, Staubwolken und kleine Steinbrocken wirbelten durch die Luft. „Eines Tages wird dich jemand faszinieren, dich anziehen und verführen, und du wirst dich mit jeder Faser deines Körpers nach ihr sehnen. Ich hoffe, sie macht dich wahnsinnig. Ich hoffe, dass sie dich – zumindest eine Zeit lang – zurückweist und du um sie kämpfen musst. Vielleicht verstehst du dann ansatzweise meinen Schmerz.“

„Wenn ich mich damit für das revanchieren kann, was du für mich getan hast, werde ich so ein Schicksal liebend gern erdulden. Ich werde die Götter auf Knien darum bitten.“ Aeron konnte sich nicht vorstellen, jemals eine Frau – unsterblich oder Mensch – so sehr zu begehren, dass es sein Leben zerstörte. Er war anders als die anderen Krieger, die permanent nach Gesellschaft suchten. Er war einfach am glücklichsten, wenn er allein war. Oder vielmehr, wenn er mit Legion allein war. Außerdem war er viel zu stolz, als dass er jemandem nachlaufen würde, der seine Gefühle nicht erwiderte.

Aber er hatte gemeint, was er gesagt hatte. Für Paris würde er alles ertragen. „Hast du das gehört, Cronus?“, rief er in den Himmel. „Schick mir eine Frau! Eine, die mich quälen wird. Eine, die mich zurückweisen wird!“

„Alter Angeber.“ Paris lachte in sich hinein. „Was, wenn er dir wirklich diese unerreichbare Frau schickt?“

Götter! Wie sehr er sich über das Lachen freute! Endlich schimmerte der alte Paris wieder durch. „Das bezweifle ich.“

Cronus wollte, dass sich die Krieger darauf konzentrierten, Galen zu besiegen. Davon war er regelrecht besessen, seit Danika vorausgesagt hatte, dass der Götterkönig durch Galens Hand sterben würde.

Als Allsehendes Auge machte Danika stets korrekte Vorhersagen. Auch wenn sie unerfreulich waren. Doch es gab einen Silberstreif am Horizont: Mithilfe dieser Vorhersagen konnte man das Schicksal abwenden. Zumindest theoretisch.

„Aber was wäre, wenn?“, fragte Paris noch einmal, als Aeron zu lange schwieg.

„Wenn Cronus auf meine Bitte reagiert, werde ich die wilde Fahrt genießen“, erwiderte Aeron grinsend. „Aber jetzt genug von mir. Lass uns tun, wofür wir hergekommen sind.“ Er setzte sich auf, blickte auf die Straße hinab und musterte die sich immer stärker lichtende Menschenmenge.

Um weder die alten Straßen noch die Fahrzeuge zu beschädigen, war es in diesem Stadtteil verboten, mit dem Auto zu fahren. Alle mussten zu Fuß gehen. Und genau aus diesem Grund hatte Aeron diesen Ort ausgewählt. Denn eine Frau aus einem fahrenden Wagen zu zerren gehörte nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. So brauchte Paris nur seine Wahl zu treffen, und schon würde Aeron seine Flügel ausbreiten und den Krieger hinunterfliegen. Einen Blick ins Gesicht des wunderschönen Kriegers mit den blauen Augen, und die Frau seiner Wahl würden stehen bleiben und nach Atem ringen. Manchmal brauchte es nur ein Lächeln, um sie dazu zu bringen, sich auf der Stelle auszuziehen – mitten in der Gasse, wo alle, die dort herumlungerten, zusehen konnten.

„Du wirst keine finden“, meinte Paris. „Ich habe sie mir schon angesehen.“

„Was ist denn mit … der da?“ Er zeigte auf eine spärlich bekleidete Blondine.

„Nein.“ Kein Zögern. „Zu … gewollt.“

Jetzt geht das wieder los, dachte er genervt, zeigte aber einfach auf eine andere. „Und die?“ Diese Frau war groß, hatte perfekte Kurven und kurzes rotes Haar. Außerdem war sie konservativ gekleidet.

„Nein. Zu unweiblich.“

„Was soll das denn heißen, zum Teufel?“

„Dass ich sie nicht will. Nächste bitte.“

In der folgenden Stunde zeigte Aeron auf unzählige potenzielle Betthäschen, und Paris lehnte sie aus diversen – lächerlichen – Gründen ab. Zu unverdorben, zu verbraucht, zu braun, zu blass. Die einzige Begründung, die tatsächlich zählte, war: „Die hatte ich schon mal“. Und angesichts der Anzahl Frauen, mit denen Paris schon geschlafen hatte, hörte Aeron diesen Satz recht häufig.

„Irgendwann musst du dir eine aussuchen. Warum ersparst du uns beiden dieses Theater nicht einfach, schließt die Augen und zeigst in die Menge? Wen auch immer du auswählst, sie wird unsere Siegerin sein.“

„Das Spiel habe ich schon mal gespielt. Das Ende vom Lied war …“ Paris erschauerte. „Egal. Den Gedanken sollte ich am besten erst gar nicht zu Ende denken. Also nein. Einfach nur nein.“

„Was ist mit …“ Er konnte den Satz nicht beenden, als die Frau, die er ins Auge gefasst hatte, plötzlich im Schatten verschwand. Sie war nicht einfach aus seinem Blickfeld verschwunden, so wie es natürlich war. Normal. Sie hatte sich einfach aufgelöst! Eben noch da, jetzt verschwunden! Und die Schatten zerrten irgendwie an ihr, wie mühsam im Zaum gehalten.

Aeron sprang auf, seine Flügel fuhren sofort aus den Schlitzen auf seinem Rücken und entfalteten sich. „Wir haben ein Problem.“

„Was ist los?“ Auch Paris sprang auf. Obwohl er wegen der Ambrosia leicht taumelte, war er immer noch ein Krieger. Er zog seinen Dolch.

„Die dunkelhaarige Frau. Hast du sie gesehen?“

„Welche?“

Das beantwortete Aerons Frage: Paris hatte sie nicht gesehen. Sonst hätte er nicht nachzufragen brauchen.

„Komm.“ Aeron schlang die Arme um die Taille seines Freundes und sprang von dem Dach. Der Wind stob durch Paris’ mehrfarbige Locken und trieb ihm einige Strähnen ins Gesicht, während sie dem Boden näher kamen … immer näher … „Halt nach einer Frau mit schulterlangem schwarzen Haar Ausschau, dünn, ungefähr eins sechzig groß, Anfang zwanzig, schwarze Kleidung. Höchstwahrscheinlich ist sie mehr als ein Mensch.“

„Töten?“

„Einfangen. Ich will ihr ein paar Fragen stellen.“ Zum Beispiel wollte er wissen, wie sie einfach so verschwinden konnte. Er würde sie fragen, warum sie hier war. Und für wen sie arbeitete.

Unsterbliche hatten immer einen Auftrag.

Kurz bevor sie auf dem Beton aufschlugen, tat Aeron einen Flügelschlag. Er verlangsamte das Tempo gerade so, dass es nur eine sanfte Erschütterung gab und er aufrecht landen konnte. Er ließ seinen Passagier frei, und sogleich liefen sie in verschiedene Richtungen los. Nach vielen Tausend Jahren des gemeinsamen Kampfes wussten sie, auch ohne es vorher zu besprechen, wie sie taktisch vorgehen mussten.

Als Aeron die Gasse zu seiner Linken hinunterspurtete, in dieselbe Richtung, in die auch die Frau gegangen war, versteckte er seine Flügel wieder. Er sah mehrere Leute – ein Händchen haltendes Paar, einen obdachlosen Mann, der eine Flasche Whiskey leerte, einen Mann, der mit seinem Hund spazieren ging –, aber keine dunkelhaarige Frau. Dann erreichte er eine Steinmauer und wirbelte herum. Verdammt. War sie wie Lucien? Konnte sie sich allein durch die Kraft ihrer Gedanken an einen anderen Ort bewegen?

Mit finsterem Blick setzte er sich wieder in Bewegung. Falls nötig, würde er jede Gasse in der Gegend absuchen. Nur dass die Schatten um ihn herum in der Mitte dieser Gasse plötzlich dunkler waren, sie zehrten regelrecht von ihm, erstickten den goldenen Glanz der Straßenlampen. Es war, als sickerten Abertausende stumme Schreie aus der Finsternis. Angsterfüllte Schreie. Gequälte Schreie.

Er blieb stehen, damit er nicht in irgendetwas – oder irgendjemanden – hineinlief, und zog zwei Messer. Was, zum Teufel, war …

Eine Frau – die Frau – trat nur wenige Meter vor ihm aus den Schatten. Sie war das einzige Licht in der tiefen Dunkelheit, die sich so plötzlich gesenkt hatte. Ihre Augen waren genauso schwarz wie die Düsternis um sie herum, ihre Lippen rot und feucht wie Blut. Sie war auf eine barbarische Weise hübsch.

Zorn fauchte in seinem Kopf.

Einen Moment lang fürchtete Aeron, Cronus hätte ihn tatsächlich gehört und ihm eine Frau geschickt, die ihn quälen sollte. Doch als er sie ansah, spürte er weder Hitze in seinen Adern, noch begann sein Herz zu hämmern, so wie es angeblich bei den anderen Herren der Fall gewesen war, als sie ihre Frau gefunden hatten; die Frau, die sie einfach hatten haben müssen. Diese Frau war für Aeron wie jede andere: leicht zu vergessen.

„Sieh an, sieh an. Ich bin ja vielleicht ein Glückspilz. Du bist einer von ihnen, einer der Herren der Unterwelt. Und du bist zu mir gekommen“, sagte sie mit rauchiger Stimme. „Ich brauchte dich nicht einmal darum zu bitten.“

„Ich bin ein Herr, ja.“ Es gab keinen Grund, das zu leugnen. Die Stadtbewohner erkannten ihn und die anderen auf den ersten Blick. Einige hielten sie sogar für Engel. Auch die Jäger erkannten sie auf den ersten Blick, bezeichneten sie allerdings viel zu schnell als Dämonen. So oder so – diese Information konnte wohl kaum gegen ihn verwendet werden. „Und ich bin gekommen, um dich zu suchen.“

Auf seine unumwundene Bestätigung reagierte sie mit einem überraschten Gesichtsausdruck. „Das ist natürlich eine große Ehre. Warum hast du mich denn gesucht?“

„Ich möchte wissen, wer du bist.“ Die bessere Frage wäre wohl gewesen, was sie war.

„Vielleicht bin ich doch nicht so ein Glückspilz, wie ich dachte.“ Sie verzog die vollen roten Lippen zu einem Schmollmund und tat, als müsste sie sich eine Träne von der Wange wischen. „Wenn mich nicht einmal mein eigener Bruder erkennt.“

Okay, immerhin hatte er jetzt schon mal einen Teil der Antwort: Sie war eine Lügnerin. „Ich habe keine Schwester.“

Sie zog eine schwarze Augenbraue hoch. „Bist du dir da ganz sicher?“

„Ja.“ Er hatte weder Mutter noch Vater. Zeus, der König der griechischen Götter, hatte ihn einfach mit Worten zum Leben erweckt. Genauso wie die anderen Herren.

„Sturkopf. Tz.“ Ihr Tz-Laut erinnerte ihn an Paris. „Ich hätte wissen müssen, dass wir uns so ähnlich sind. Egal. Es ist so schön, endlich mal einen von euch allein zu erwischen. Wen habe ich denn erwischt? Raserei? Narzissmus? Ich habe recht, nicht wahr? Gib’s zu, du bist Narzissmusl Deshalb hast du dir auch von Kopf bis Fuß dein eigenes Gesicht eintätowieren lassen. Hübsch. Darf ich dich Narzisschen nennen?“

Raserei? Narzissmus? Keiner seiner Brüder trug diese Dämonen in sich. Zweifel, Krankheit, Elend und noch viele andere, ja, aber diese nicht. Er schüttelte den Kopf. Doch dann fiel ihm ein, dass sich irgendwo da draußen in der Tat noch andere dämonenbesessene Unsterbliche herumtrieben. Unsterbliche, denen er nie begegnet war. Unsterbliche, die er finden sollte.

Da er und seine Freunde diejenigen waren, die die Büchse der Pandora geöffnet hatten, hatten sie immer angenommen, dass nur sie dazu verflucht worden waren, einen bösen Geist in sich zu tragen. Doch vor Kurzem hatte Cronus diese Annahme korrigiert und den Herren zwei Schriftrollen überreicht, auf denen die Namen anderer standen, die ihr Schicksal teilten. Offenbar hatte es mehr Dämonen gegeben als Krieger, und als die Griechen – die Götter, die damals an der Macht gewesen waren – die Büchse nirgendwo finden konnten, hatten sie die verbliebenen Dämonen in die unsterblichen Gefangenen im Tartarus verbannt.

Diese Entdeckung verhieß nicht gerade Gutes für die Herren. Als ehemalige Elitekrieger von Zeus hatten sie viele dieser Gefangenen eingesperrt – und Kriminelle lebten oft nur um der Rache willen. Das hatte Zorn ihn gründlich gelehrt.

„Hallo?“, fragte die Frau drängend. „Jemand zu Hause?“

Er blinzelte sie an und fluchte im Stillen. Er hatte sich in der Gegenwart eines möglichen Feindes ablenken lassen. Idiot. „Wer ich bin, hat dich nicht zu interessieren.“ Das war eine Information, die man gegen ihn verwenden konnte. Vor allem, da Zorn sich in letzter Zeit so leicht provozieren ließ, dass die harmlosesten Aussagen ihn – und somit auch Aeron – in jene mörderische Laune versetzten, die eine große Gefahr für diese Stadt und ihre Bewohner war.

Die Schuld dafür gab er dem Stalker-Engel.

Nur konnte er dem Engel natürlich nicht die Schuld dafür geben, wenn Zorn vor lauter Ungeduld, endlich jemanden verletzen zu dürfen, in seinem Kopf zu knurren anfing und von innen gegen seinen Schädel schlug. Die außergewöhnlichste Fähigkeit des Dämons bestand seit jeher darin, die Sünden eines jeden zu spüren, der in seiner Nähe war. Und wie er feststellen musste, waren die Sünden dieser Frau gewaltig.

„Ich werte deinen finsteren Gesichtsausdruck mal als Nein. Du bist nicht mein Narzisschen, und es ist auch niemand zu Hause.“

„Hör auf … zu reden …“ Er fasste sich an die Schläfen, und die Klingen in seiner Hand drückten sich kühl gegen seine Haut, als er versuchte, den bevorstehenden mentalen Beschuss abzuwehren. Es wäre nur eine weitere nutzlose Ablenkung, die er sich nicht leisten konnte. Und dennoch zogen Bilder von ihren unzähligen Sünden durch seinen Kopf, so wie Hunderte Filme, die alle gleichzeitig abliefen. Erst kürzlich hatte sie einen Mann gefoltert, hatte ihn an einen Stuhl gekettet und angezündet. Vorher hatte sie eine Frau ausgeweidet. Sie hatte betrogen und gestohlen. Ein Kind aus seinem Zuhause entführt. Hatte einen Mann in ihr Bett gelockt und ihm die Kehle durchgeschnitten. Gewalt … so viel Gewalt … so viel Schrecken und Schmerz und Dunkelheit. Er konnte die Schreie ihrer Opfer hören, konnte verbranntes Fleisch riechen und Blut schmecken.

Vielleicht hatte sie gute Gründe für ihre Verbrechen gehabt. Vielleicht auch nicht. So oder so, Zorn wollte sie bestrafen, indem er sie die eigenen Gräueltaten spüren ließ. Zuerst würde er sie anketten, dann ausweiden, ihr dann die Kehle durchschneiden und sie zuletzt anzünden.

So funktionierte Aerons Dämon. Er schlug Schläger, ermordete Mörder und alles, was dazwischen lag. Auf Zorns Drängen hin hatte Aeron all diese Dinge getan. Und zwar schon häufig. Jetzt spannte er jeden Muskel in seinem Körper an, um an Ort und Stelle zu bleiben. Ruhig. Verlier nicht die Kontrolle. Und auch nicht den Verstand. Aber Götter – der Drang zu bestrafen war so stark … ein Verlangen, das er mehr genoss, als gut für ihn war. Wie immer.

„Warum bist du hier in Budapest, Frau?“ Gut. Das war gut. Langsam ließ er die Arme sinken.

„Wow“, erwiderte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. „Das war ja mal eine beeindruckende Darstellung von Selbstbeherrschung.“

Hatte sie gewusst, dass sein Dämon sie verletzen wollte?

„Lass mich raten.“ Sie tippte sich mit dem Fingernagel gegen das Kinn. „Narzissmus bist du nicht, also musst du … Chauvinismus sein. Wieder richtig, stimmt’s? Du denkst, ein hübsches kleines Ding wie ich kann nicht mit der Wahrheit umgehen. Falsch. Aber egal. Behalt deine Geheimnisse ruhig für dich! Du wirst noch früh genug sehen, was du davon hast.“

„Drohst du mir etwa, Frau?“

Wieder ignorierte sie ihn. „Man erzählt sich, dass Cronus euch Schriftrollen gegeben hat und dass ihr vorhabt, uns mit ihrer Hilfe zu finden. Um uns zu benutzen. Vielleicht sogar, um uns zu töten.“

Aeron drehte sich der Magen um. Erstens wusste sie von den Schriftrollen, während er und seine Freunde eben erst von ihrer Existenz erfahren hatten. Zweitens wusste sie, dass sie auf dieser Liste stand. Was bedeutete, dass diese Frau tatsächlich eine Unsterbliche war – und eine Kriminelle. Und wenn man ihr glauben konnte, war sie auch von einem Dämon besessen.

Aeron kannte sie nicht, was hieß, dass er und seine Freunde sie nicht eingesperrt hatten. Also stammte sie von vor ihrer Zeit im Himmel. Und das wiederum hieß, dass sie eine Titanin war und somit eine noch größere Bedrohung darstellte, denn die Titanen waren weitaus grausamer als alle anderen.

Schlimmer noch: Die jetzt freien Titanen trugen momentan die Verantwortung. Womöglich hatte sie also göttliche Hilfe.

„Welchen Dämon trägst du in dir?“, wollte er wissen.

Sie schenkte ihm ein böses Grinsen. Augenscheinlich amüsierte sein schroffer Ton sie. „Du hast mir diese Information verweigert. Warum also sollte ich irgendetwas von mir verraten?“

Nervtötendes Weib. „Du hast uns gesagt.“ Er schaute über ihre Schulter und rechnete schon fast damit, dass jemand einen Satz nach vorn machte und ihn angriff. Alles, was er sah, war Dunkelheit – und alles, was er hörte, waren noch mehr dieser stummen Schreie. „Wo sind diese anderen?“

„Hölle, wenn ich das nur wüsste!“ Sie breitete die Arme aus und zeigte ihm ihre leeren Hände, als wäre sie davon überzeugt, dass er keine Waffe einsetzen würde. „Ich bin allein, so wie immer, und genauso mag ich es.“

Vermutlich noch eine Lüge. Welche Frau würde sich schon ohne Rückendeckung einem furchterregenden Herrn der Unterwelt nähern? Er blieb wachsam, als er ihr in die Augen sah. „Falls du hier bist, um einen Krieg gegen uns anzuzetteln, solltest du wissen, dass …“

„Krieg?“ Sie lachte. „Wenn ich euch genauso gut umbringen könnte, während ihr schlaft? Nein, ich bin nur hier, um euch eine Warnung zu überbringen. Pfeift eure Hunde zurück, oder ich fege euch von dieser Welt! Denn wenn irgendjemand dazu in der Lage ist, dann ich.“

Nach allem, was er in Gedanken gesehen hatte, glaubte er ihr aufs Wort. Sie war ein Phantom, das ohne Vorwarnung in der Dunkelheit angriff. Ohne Zweifel gab es kein Verbrechen, das ihr zu widerwärtig war. Was jedoch nicht bedeutete, dass er ihre Forderungen erfüllen würde. „Du hältst dich vielleicht für mächtig, aber du kannst uns nicht alle besiegen. Deshalb werden wir dir mit einem Krieg antworten, wenn du weiterhin solche Warnungen aussprichst.“

„Wie du meinst, Krieger. Ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Bete lieber, dass du mich heute zum letzten Mal gesehen hast.“ Wieder verdichteten sich die Schatten, umschlossen und verschluckten sie, ohne die kleinste Spur zu hinterlassen.

Dann hörte Aeron plötzlich ihre Stimme direkt an seinem Ohr: „Ach ja, eine Sache noch: Das war mein Höflichkeitsbesuch. Beim nächsten Mal werde ich nicht so nett sein.“

Im nächsten Moment nahm er schlagartig wieder die Umgebung wahr: die Häuser links und rechts, die Mülltüten, die den Betonboden übersäten, den betrunkenen Mann, der jetzt bewusstlos war. Endlich beruhigte Zorn sich.

Aeron blieb in Alarmbereitschaft. Mit Blicken suchte er die Umgebung ab, sein Körper war bereit zum Angriff. Aeron lauschte, hörte jedoch nur seine eigenen Atemzüge, die entfernten Schritte von Menschen und das Lied der Nachtvögel.

Wieder einmal breitete er seine Flügel aus und schoss gen Himmel. Er wollte nur noch Paris finden und dann so schnell wie möglich mit ihm in die Burg zurückfliegen. Er musste die anderen Herren benachrichtigen. Wer auch immer diese blutdurstige Frau war und was auch immer sie sonst noch tun konnte, sie mussten sich um sie kümmern. Und zwar schnell.

2. KAPITEL

Aeron! Aeron!“

Aerons gestiefelte Füße landeten gerade auf dem Balkon, der in sein Schlafzimmer führte. Erschrocken von der unbekannten Frauenstimme, ließ er Paris los.

„Aeron!“

Als sich der verzweifelte Schrei zum dritten Mal in ihre Ohren bohrte, wirbelten er und Paris herum und starrten auf den unter ihnen liegenden Hügel. Üppige Bäume ragten in den Himmel und behinderten die Sicht, doch dort, inmitten des scheckigen Grüns und Brauns, erahnte Aeron eine in Weiß gehüllte Gestalt.

Eine Gestalt, die sich eilig ihrer Burg näherte.

„Das Schattenmädchen?“, fragte Paris. „Wie, zum Teufel, ist es so schnell an unserem Tor vorbeigekommen? Und das auch noch zu Fuß?“

Aeron hatte ihm auf dem Weg erzählt, was mit der Frau in der Gasse geschehen war. „Das ist sie nicht.“ Diese Stimme war höher, voller und weit weniger selbstsicher. „Das mit dem Tor … Keine Ahnung.“

Vor Wochen, nachdem er und Paris sich von den Verletzungen erholt hatten, die ihnen von den Jägern zugefügt worden waren, hatten sie rings um die Burg einen Eisenzaun errichtet. Das Gebilde war viereinhalb Meter hoch, mit Stacheldraht umwickelt und hatte Spitzen, die so scharf waren, dass sie schon bei der leisesten Berührung bis auf den Knochen schnitten. Außerdem floss genug Strom durch seine Streben, dass ein Mensch bei Kontakt sofort einen Herzstillstand erlitt. Niemand, der versuchte, darüberzusteigen, würde lange genug leben, um die andere Seite zu erreichen.

„Glaubst du, sie ist ein Köder?“ Paris neigte den Kopf und sah die Gestalt intensiver an. „Vielleicht ist sie aus einem Hubschrauber hier abgesetzt worden.“

Die Jäger waren bekannt dafür, hübsche Menschenfrauen zu benutzen, um die Herren anzulocken, abzulenken und sie dann gefangen zu nehmen und zu foltern. Diese schien ihren Kriterien genau zu entsprechen. Sie hatte langes schokoladenbraunes, wallendes Haar, wolkenblasse Haut und einen wohlgeformten, himmlischen Körper. Aeron konnte ihre Gesichtszüge zwar noch nicht erkennen, doch er war sicher, dass sie wunderschön war.

Seine Flügel sprangen aus ihren Schlitzen, als er antwortete: „Möglich.“ Diese verfluchten Jäger und ihr perfektes Timing. Die Hälfte seiner Freunde war nicht zu Hause. Sie waren nach Rom gereist, um dort nach dem Tempel der Unaussprechlichen zu suchen – Ruinen, die sich erst vor Kurzem aus dem Meer erhoben hatten. Sie hofften, irgendetwas zu finden, das sie zu den fehlenden göttlichen Artefakten führte. Vier Artefakte, die – denjenigen, die sie alle hatten – den Weg zur Büchse der Pandora weisen würden.

Die Jäger hofften, die Dämonen wieder in die Büchse sperren und damit die Herren vernichten zu können, da diese ohne ihre Dämonen sterben würden. Die Herren hingegen wollten die Büchse einfach nur zerstören.

„Da draußen wimmelt es nur so von Stolperdrähten.“ Je mehr Paris sagte, desto deutlicher fiel Aeron das Zittern in seiner Stimme auf. Wegen des Schattenmädchens, wie Paris sie getauft hatte, war nicht mehr genügend Zeit für Sex gewesen, und seine Kräfte verließen ihn allmählich. „Wenn sie nicht aufpasst … Selbst wenn sie ein Köder ist, verdient sie es nicht, so zu sterben.“

„Aeron!“

Paris umklammerte das Balkongeländer und beugte sich vor, um besser sehen zu können. „Warum ruft sie dich?“

Und warum benutzte sie seinen Namen derart vertraut? „Wenn sie ein Köder ist, liegen die Jäger da draußen vermutlich auf der Lauer und warten auf mich. Ich versuche, ihr zu helfen, und sie greifen mich an.“

Paris richtete sich auf, und plötzlich tauchte der Mond sein Gesicht in ein helles Licht. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. „Ich hole die anderen, und dann kümmern wir uns um sie. Um sie alle.“ Ehe Aeron irgendetwas erwidern konnte, eilte sein Freund auch schon durchs Schlafzimmer in Richtung Flur, wobei seine Schritte durch die schweren Stiefel auf dem Holzfußboden laut polterten.

Aeron konzentrierte sich wieder auf das Mädchen. Während es den Hügel weiter hinauflief und immer näher kam, erkannte er, dass das weiße Stück Stoff, das das Mädchen einhüllte, eine Robe war. Die Rückseite, die er bislang nicht hatte sehen können, war tiefrot.

Sie trug keine Schuhe, und als sie mit dem nackten Fuß gegen einen Felsen stieß, stürzte sie zu Boden, und das dichte schokoladenbraune Haar fiel ihr ins Gesicht. In ihre Locken waren Blüten gewoben, die zerrupft aussahen. Er konnte auch Zweige erkennen, wenn er auch nicht davon ausging, dass sie sie absichtlich dort platziert hatte. Zittrig strich sie sich die Strähnen aus dem Gesicht.

Endlich sah er ihre Gesichtszüge, und jeder Muskel in seinem Körper verkrampfte. Sie war wunderschön, genau wie er vermutet hatte. Und das, obwohl sie schmutzig und ihr Gesicht vom Weinen geschwollen war. Sie hatte große himmelblaue Augen, eine perfekte gerade Nase, vollkommene Wangen und einen zierlichen Kiefer – beide nur sanft gerundet – und perfekte Lippen, die einen herzförmigen Mund bildeten.

Er hatte sie noch nie gesehen, daran hätte er sich erinnert, doch auf einmal hatte sie etwas beinahe … Vertrautes.

Sie rappelte sich auf, verzog unter Stöhnen das Gesicht und setzte sich wieder in Bewegung. Dann stürzte sie erneut. Ein schmerzvolles Schluchzen entfuhr ihr, aber trotzdem gab sie nicht auf, sondern stand wieder auf und schleppte sich weiter auf die Burg zu. Köder oder nicht – eine derartige Entschlossenheit war bewundernswert.

Irgendwie gelang es ihr, sämtlichen Fallen auszuweichen, als wüsste sie genau, wo sie lagen. Aber als sie gegen den nächsten Felsen stieß und zum dritten Mal hinfiel, blieb sie zitternd und weinend liegen.

Seine Augen wurden größer, als er sich ihren Rücken genauer ansah. Das Rote … War das … Blut? Frisches, noch feuchtes Blut? Der metallische Geruch stieg in den Wind auf, erreichte Aerons Nase und bestätigte seinen Verdacht. Tatsächlich Blut.

Ihres? Oder das eines anderen?

„Aeron.“ Es war kein Schreien mehr, sondern ein herzergreifendes Wimmern. „Hilf mir!“

Seine Flügel breiteten sich aus, noch ehe er nachdenken konnte. Ja, die Jäger würden ihre Köder absichtlich verletzen, ehe sie sie in die Höhle des Löwen schickten, in der Hoffnung, bei ihrem Zielobjekt Mitleid zu erregen. Und ja, vermutlich würde er mit Pfeilen und Kugeln im Rücken enden – mal wieder –, aber er würde sie nicht verletzt und dem Tode nah da draußen liegen lassen. Er würde nicht zulassen, dass seine Freunde ihr Leben riskierten, um seine kleine Besucherin zu retten – oder zu vernichten.

Warum ich, fragte er sich, als er sich vom Balkon abstieß. Steil flog er nach oben, bevor er sich in ihre Richtung fallen ließ. Er bewegte sich im Zickzack, um kein allzu leichtes Ziel abzugeben, doch es zischten weder Pfeile vorbei, noch knallten Schüsse. Dennoch landete er nicht neben ihr, sondern erhöhte seine Geschwindigkeit, streckte die Arme aus und packte sie, ohne auch nur eine Sekunde lang langsamer zu werden.

Vielleicht hatte sie Höhenangst, und das war der Grund, warum sie sich urplötzlich verkrampfte. Oder vielleicht hatte sie erwartet, dass er getötet wurde, ehe er sie erreichen konnte, und war, als er sie nun tatsächlich fest in den Armen hielt, starr vor Schreck. Wie dem auch war, es kümmerte ihn nicht. Er hatte erledigt, wofür er aufgebrochen war. Er hatte sie.

Sie begann sich schwach zu winden, um sich aus seinem festen Griff zu befreien, und stöhnte dabei vor Angst und Schmerzen. „Fass mich nicht an! Lass mich los! Lass mich gehen, oder ich verspreche dir, dass ich …“

„Sei ruhig, sonst lasse ich dich wirklich fallen, das schwöre ich bei den Göttern.“ Einen Arm hatte er um ihren Bauch geschlungen, sodass ihr Gesicht dem Boden zugewandt war. Sie konnte genau sehen, wie tief sie fallen würde.

„Aeron?“ Sie verrenkte sich den Hals, um ihn ansehen zu können, und in dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, entspannte sie sich. Lächelte sogar langsam. „Aeron“, wiederholte sie und seufzte glücklich. „Ich hatte schon Angst, du würdest nicht kommen.“

Diese Freude, die so rein und frei von jeglicher Boshaftigkeit war, überraschte – und verwirrte – ihn. Frauen sahen ihn nie so an. „Du hast dich vor den falschen Dingen gefürchtet. Du hättest Angst haben sollen, dass ich komme.“

Ihr Lächeln verblasste.

Schon besser. Das Einzige, das ihn nun noch verstörte, war die absolute Funkstille seines Dämons. Wie zuvor beim Schattenmädchen hätten jetzt eigentlich Bilder und die Gier nach Rache auf ihn einprasseln müssen. Denk später darüber nach.

Aeron setzte seinen Zickzackflug fort und flog direkt in sein Schlafzimmer, ohne – wie gewöhnlich – auf dem Balkon anzuhalten. Er musste so schnell wie möglich in Deckung gehen. Nur für alle Fälle. Nur leider gelang es ihm nicht, seine Flügel schnell genug einzuziehen, sodass sie gegen den Türrahmen knallten und bis in die Spitzen wie Feuer brannten.

Aeron ignorierte den Schmerz und konzentrierte sich darauf, die Füße sicher aufzusetzen. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, schritt er zum Bett und legte seine Fracht sanft mit dem Gesicht nach unten auf der Matratze ab. Mit dem Finger fuhr er an ihrer Wirbelsäule entlang. Sofort öffnete sie den herzförmigen Mund und stöhnte gequält auf. Er hatte gehofft, ihre Kleidung wäre mit dem Blut eines anderen getränkt, aber nein. Ihre Verletzungen waren echt.

Doch dieses Wissen würde ihn nicht erweichen. Wahrscheinlich hatte sie sich selbst verletzt – oder den Jägern erlaubt, es zu tun –, nur um Mitleid zu wecken. Kein Mitleid von mir. Nur Wut. Als er auf seinen Kleiderschrank zuging, zog er seine Flügel ein, doch mitgenommen, wie sie nun waren, passten sie nicht mehr richtig unter ihre Klappen. Das verstärkte seine Wut auf sie nur noch.

Da er kein Seil hatte und nicht den Raum verlassen wollte, um eins zu holen, schnappte er sich zwei der Krawatten, die Ashlyn ihm gegeben hatte – für den Fall, dass er sich mal „aufbrezeln“ wollte. Dann ging er zum Bett zurück.

Die Frau drückte die Wange auf die Matratze, während ihr Blick jeder seiner Bewegungen folgte, als könnte sie nicht anders, als ihn anzustarren – aber sie wirkte nicht angewidert, im Gegensatz zu den meisten Frauen. Sie sah ihn beinahe sehnsüchtig an.

Das war sicher nur gespielt.

Aber … diese Sehnsucht … kam ihm irgendwie vertraut vor. Irgendwie beunruhigend. Das ist es, was mir vorhin aufgefallen ist, dachte er. Als sie seinen Namen gerufen hatte, hatte dieselbe Sehnsucht in ihrer Stimme gelegen, und tief in sich hatte er gewusst, dass er diesem Gefühl schon einmal begegnet war. Aber wann? Und wo?

Bei ihr?

Er starrte weiterhin auf sie hinab, und Zorn … schwieg immer noch, wie er feststellte. Das hier war (vermutlich) das erste Mal, dass er sich in Gegenwart dieser Frau befand, und trotzdem überflutete der Dämon sein Bewusstsein nicht mit Bildern ihrer Sünden. Das war seltsam. Und es war ihm erst ein einziges Mal passiert. Bei Legion. Warum, das hatte er nie herausgefunden. Denn, bei den Göttern, sein Baby hatte gesündigt, und das nicht gerade selten.

Warum also geschah es jetzt wieder? Und dazu noch mit einem möglichen Köder?

Diese Frau, hatte sie noch keine einzige Sünde begangen? Hatte sie noch nie ein unfreundliches Wort zu einem anderen gesagt? Noch niemandem einen Streich gespielt oder so etwas Harmloses getan wie ein Bonbon geklaut? Diese himmelblauen Augen waren die reine Unschuld. Oder hatte sie, wie Legion, sehr wohl gesündigt und flog bloß unterhalb von Zorns Radar?

„Wer bist du?“ Er schlang die Finger um eines ihrer zierlichen Handgelenke – mmh, warme, weiche Haut – und fesselte es mit der Krawatte an einen Bettpfosten. Anschließend band er ihre andere Hand ebenfalls fest.

„Mein Name ist Olivia.“

Olivia. Ein hübscher Name. Passend. Filigran. Im Grunde war das einzig Nichtfiligrane an ihr ihre Stimme. Sie troff geradezu vor … ja, vor was eigentlich? Das einzige Wort, mit dem er es beschreiben konnte, war „Wahrheit“, und sie strahlte so viel davon aus, dass es für ihn wie ein Stoß vor die Brust war.

Er hätte gewettet, dass diese Stimme noch nie die Unwahrheit gesagt hatte. Aber das war doch unmöglich.

„Was machst du hier, Olivia?“

„Ich bin … Ich bin deinetwegen hier.“

Diese Wahrheit … strömte mit einer Energie in seine Ohren und durch seinen Körper, dass es ihn schier umwarf. Es blieb kein Raum für Zweifel. Für keinen einzigen. Er musste ihr einfach glauben.

Sabin, der Hüter des Dämons Zweifel, hätte sie geliebt. Nichts machte den Dämon des Kriegers glücklicher, als das Selbstvertrauen eines anderen zu zerstören.

„Bist du ein Köder?“

„Nein.“

Wieder glaubte er ihr; er hatte keine Wahl. „Bist du hier? Um mich zu töten?“ Er richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust, während er sie unumwunden ansah und wartete.

Er wusste, wie wild er aussah, doch auch in diesem Moment reagierte sie nicht so, wie er es von Frauen gewohnt war: zittern, sich zusammenkauern, weinen. Sie sah ihn unter dem flatternden Schleier ihrer dunklen Wimpern hervor an und war offensichtlich verletzt, weil er ihren Charakter infrage stellte.

„Nein, natürlich nicht.“ Sie machte eine kleine Pause. „Na ja, nicht mehr jedenfalls.“

Nicht mehr? „Ach so. Es gab also mal eine Zeit, da wolltest du mich umbringen?“

„Ich bin geschickt worden, um das zu tun, ja.“

Diese Aufrichtigkeit … „Wer?“

„Zuerst hat mich die eine wahre Gottheit geschickt, weil er wollte, dass ich dich beobachte. Es war nicht meine Absicht, deine kleine Freundin zu verscheuchen. Ich habe nur versucht, meinen Job zu machen.“ Frische Tränen stiegen ihr in die Augen und verwandelten diese wunderschönen blauen Iris in Seen der Reue.

Nicht weich werden. „Wer ist die eine wahre Gottheit?“

Die reine Liebe erhellte ihre Miene und verjagte augenblicklich den Schimmer des Schmerzes. „Deine und meine Gottheit. Weit mächtiger als deine Götter, aber meist zufrieden damit, im Hintergrund zu bleiben, und ach so selten anerkannt. Vater der Menschen. Vater der … Engel. Wie mir.“

Engel. Wie mir. Als die Worte in seinem Kopf widerhallten, weitete Aeron die Augen. Kein Wunder, dass sein Dämon nichts Böses in ihr spüren konnte. Kein Wunder, dass ihm ihr Blick vertraut vorkam. Sie war ein Engel. Der Engel. Der Engel, der – ihren Angaben zufolge – geschickt worden war, um ihn zu töten. Auch wenn sie „nicht mehr“ vorhatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Warum eigentlich nicht?

Und spielte es überhaupt eine Rolle? Dieses zauberhafte Geschöpf war eine ganze Zeit lang der Henker gewesen, der ihn hatte richten sollen.

Auf einmal verspürte er den Drang zu lachen. Als hätte sie ihn bezwingen können!

Du konntest sie nicht sehen. Hättest du sie wirklich aufhalten können, wenn sie auf dich losgegangen wäre?

Der Gedanke ernüchterte ihn sofort. Sie war diejenige gewesen, die ihn all die Wochen beobachtet hatte. Sie war diejenige gewesen, die ihm ungesehen gefolgt war und eine gepeinigte Legion vertrieben hatte.

Was unweigerlich zu der Frage führte, warum Zorn nicht genauso reagierte wie Legion. Mit Angst und sogar mit körperlichen Qualen. Vielleicht kontrolliert der Engel, welche Dämonen ihn spüren, dachte er. Das wäre auf jeden Fall eine praktische Fähigkeit, mit der sie dafür sorgen könnte, dass ihre Opfer absolut keine Ahnung hatten, dass sie anwesend war, noch, was sie vorhatte.

Er wartete darauf, dass eine überirdische Wut von ihm Besitz ergriff. Eine Wut, die er sich immer wieder geschworen hatte, an dieser Kreatur auszulassen, sollte sie sich jemals offenbaren. Als die Wut ausblieb, wartete er auf Entschlossenheit. Um jeden Preis musste er seine Freunde beschützen.

Doch auch die Entschlossenheit blieb völlig aus. Was er stattdessen spürte? Verwirrung.

„Du bist …“

„Der Engel, der dich beobachtet hat, ja“, bestätigte sie seinen Verdacht. „Oder besser: Ich war ein Engel.“ Sie schloss die Augen, und in ihren Wimpern verfingen sich Tränen. Ihr Kinn zitterte. „Jetzt bin ich nichts.“

Obwohl er ihr glaubte – wie hätte er ihr nicht glauben können? Diese Stimme … Aeron bemühte sich ernsthaft, ihre Worte anzuzweifeln, doch er schaffte es nicht. Ihm zitterte die Hand, als er sie nach dem Engel ausstreckte. Was bist du? Ein Kind? Benimm dich gefälligst wie ein Mann!

Bei diesem offensichtlichen Zeichen seiner Schwäche verfinsterte sich sein Blick, und er zwang sich, seine Hand ruhig zu halten. Er strich ihr das Haar zurück, wobei er sorgfältig darauf achtete, ihre Verletzungen nicht zu berühren. Er griff nach dem runden Halsausschnitt ihrer Robe und zog vorsichtig daran. Ohne großen Widerstand riss der weiche Stoff auf, sodass ihr Rücken entblößt war.

Von Neuem wurden seine Augen größer. Zwischen ihren Schulterblättern, dort, wo eigentlich die Flügel hätten hervorragen sollen, prangten zwei lange, tiefe Wunden, in denen zerrissene Sehnen und Muskeln zu sehen waren. An einigen Stellen schimmerten sogar die Knochen durch. Diese Wunden sahen grausam und unbarmherzig aus, und noch immer sickerte Blut aus ihnen heraus. Ihm waren selbst einmal gewaltsam die Flügel entfernt worden, und das war die schmerzhafteste Verletzung seines langen Lebens gewesen.

„Was ist passiert?“ Dass er so heiser war, irritierte ihn.

„Ich bin gefallen“, erwiderte sie mit kehliger Stimme, die vor Scham troff. Sie barg das Gesicht im Kissen. „Ich bin kein Engel mehr.“

„Aber warum?“ Da er noch nie einem Engel begegnet war – abgesehen von Lysander, aber der Bastard zählte nicht, weil er sich weigerte, mit den Herren über relevante Themen zu sprechen –, wusste Aeron nicht viel über ihre Spezies. Er wusste nur so viel, wie Legion ihm erzählt hatte, und die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Hass auf diese Wesen ihre Berichte verzerrte, war ziemlich hoch. Keine ihrer Darstellungen passte zu der Frau auf seinem Bett.

Engel, hatte Legion gesagt, seien gefühllose, seelenlose Kreaturen mit nur einem Ziel: ihre dunklen Pendants, die Dämonen, zu vernichten. Sie hatte außerdem behauptet, dass dann und wann ein Engel der Fleischeslust erläge – fasziniert von genau den Wesen, die er – oder sie – eigentlich hassen sollte. Dieser Engel würde umgehend in der Hölle landen, wo die Dämonen, die er einst besiegt hatte, endlich ein wenig Rache üben könnten.

War das dieser Engelsfrau passiert, fragte Aeron sich. Ein Trip in die Hölle, wo die Dämonen sie gefoltert hatten? Möglich.

Sollte er sie losbinden? Ihre Augen wirkten so … arglos und unschuldig. Als sagten sie: Hilf mir. Und: Rette mich.

Aber vor allem sagte ihr Blick: Halt mich fest, und lass mich nie mehr los!

Auf so eine Unschuldsnummer bin ich schon einmal hereingefallen, dachte er und hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. Auch Baden war von einer Frau in die Falle gelockt worden – und gestorben.

Ein kluger Mann bringt zunächst mehr über eine Frau in Erfahrung, beschloss er.

„Wer hat dir die Flügel genommen?“ Die Frage entfuhr ihm wie ein grantiges Bellen, und er nickte zufrieden.

Sie schluckte, erschauderte. „Als ich hinabgeworfen wurde …“

„Aeron, du Vollidiot“, ertönte eine Männerstimme, die sie zum Schweigen brachte. „Sag mir, dass du nicht …“ Paris stob in sein Schlafzimmer, blieb jedoch abrupt stehen, als er Olivia sah. Er kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Aha. Dann stimmt es also. Du bist wirklich rausgeflogen und hast sie geholt.“

Olivia rührte sich nicht und hielt ihr Gesicht weiterhin abgewandt. Ihre Schultern zuckten, als ob sie weinte. Hatte sie schließlich doch Angst? Jetzt?

Warum? Frauen verehrten Paris.

Konzentrier dich. Aeron brauchte nicht zu fragen, woher Paris wusste, was er getan hatte. Torin, Hüter der Krankheit, überwachte die Burg samt dem Hügel, auf dem sie thronte, achtundzwanzig Stunden am Tag, neun Tage die Woche (so wirkte es zumindest). „Ich dachte, du wolltest die anderen holen.“

„Torin hat mir eine Nachricht aufs Handy geschickt, und ich bin zuerst zu ihm gegangen.“

„Und was hat er dir über sie erzählt?“

„Flur“, sagte sein Freund und wies mit einer knappen Kopfbewegung in Richtung Tür.

Aeron schüttelte den Kopf. „Wir können hier über sie reden. Sie ist kein Köder.“

Erneut fuhr Paris sich mit der Zunge über die ebenmäßigen weißen Zähne. „Und ich dachte immer, ich wäre dämlich, wenn es um Frauen geht. Woher weißt du, was sie ist? Weil sie es dir gesagt hat und du ihr einfach glauben musstest?“ Sein Ton war spöttisch.

„Sie ist ein Engel, du Tyrann! Der Engel, der mich beobachtet hat.“

Diese Worte wischten den Hohn von Paris’ Gesicht. „Ein richtiger Engel? Aus dem Himmel?“

„Ja.“

„Wie Lysander?“

„Ja.“

Ganz langsam musterte Paris sie von Kopf bis Fuß. Als Frauenkenner, der er war – zumindest früher einmal –, wusste er vermutlich alles über ihren Körper, als er fertig war. Die Größe ihrer Brüste, die Rundung ihrer Hüfte, die genaue Länge ihrer Beine. Das störte Aeron überhaupt nicht. Sie bedeutete ihm nichts. Nichts als Ärger.

„Was auch immer sie ist“, sagte Paris und klang weit weniger verärgert als zuvor, „es heißt nicht, dass sie nicht mit unserem Feind unter einer Decke steckt. Muss ich dich wirklich daran erinnern, dass Galen, der größte Schwachkopf aller Zeiten, auch behauptet, ein Engel zu sein?“

„Stimmt, aber er lügt.“

„Und sie könnte das nicht?“

Aeron rieb sich über sein plötzlich müdes Gesicht. „Olivia. Arbeitest du mit Galen zusammen, um uns zu schaden?“

„Nein“, murmelte sie, und Paris stolperte genauso zurück wie Aeron vor wenigen Augenblicken. Er griff sich an die Brust. „Bei den Göttern“, stammelte er. „Diese Stimme …“

„Ich weiß.“

„Sie ist weder ein Köder, noch hilft sie Galen.“ Eine unumstößliche Feststellung, die nun von Paris kam.

„Ich weiß“, wiederholte Aeron.

Paris schüttelte den Kopf, wie um seine Gedanken zu sortieren. „Trotzdem. Lucien will den Hügel nach Jägern absuchen. Nur zur Sicherheit.“

Einer der vielen Gründe, aus denen Aeron Lucien immer gefolgt war. Der Krieger war klug und umsichtig. „Wenn er fertig ist, ruf bitte alle, die noch hier sind, zu einem Treffen zusammen, und berichte ihnen von der anderen Frau. Die aus der Gasse.“

Paris nickte, und auf einmal trat ein Glänzen in seine blauen Augen. „War bis jetzt ja ein ziemlich aufregender Abend für dich, hm? Bin schon gespannt, wen du heute noch so alles triffst.“

„Mögen die Götter mir helfen, wenn noch jemand auf mich wartet“, murmelte er.

„Du hättest Cronus nicht herausfordern sollen, mein Freund.“

Aerons Magen zog sich zusammen, als sein Blick zurück zu dem Engel wanderte. Hatte der Götterkönig seine Herausforderung tatsächlich angenommen? War Olivia diejenige, der er vergebens nachjagen sollte? Wie er feststellen musste, raste sein Herz in der Tat, und sein Blut erhitzte sich.

Er biss die Zähne zusammen. Es spielte keine Rolle, ob sie es war oder nicht. Sollte sie sich doch bemühen, ihn in Versuchung zu führen, aber selbst sie mit ihrer schokoladenbraunen Mähne, ihren babyblauen Augen und ihrem herzförmigen Mund würde es nicht schaffen.

„Ich bereue nicht, was ich gesagt habe.“ Wahrheit oder Lüge, er wusste es nicht. Eigentlich hatte er immer geglaubt, Cronus könnte keine Macht über die Engel ausüben. Wie also hätte der Götterkönig sie herschicken sollen? Oder war er dafür gar nicht verantwortlich? Vielleicht lag Aeron mit seinem Verdacht ja falsch, und Cronus hatte nichts mit der Sache zu tun.

Aber auch das spielte keine Rolle. Die Engelsfrau würde nicht nur bei dem Versuch scheitern, ihn zu verführen. Er würde auch dafür sorgen, dass sie ging, bevor sie Zeit hätte, seine Entschlossenheit auch nur für einen einzigen Moment ins Wanken zu bringen.

„Nur zu deiner Information“, begann Paris, „Torin hat diese Frau über seine versteckten Kameras auf dem Hügel gesehen. Er meinte, sie habe sich aus dem Boden gewühlt.“

Aus dem Boden. Hieß das, sie war tatsächlich in die Hölle gestoßen worden und hatte sich den Weg in die Freiheit eigenhändig graben müssen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass diese zerbrechlich aussehende Frau so etwas tat – und es auch noch überlebte. Doch dann rief er sich ins Gedächtnis, welche Entschlossenheit sie an den Tag gelegt hatte, als sie auf die Burg zugelaufen war.

„Ist das wahr?“ Er betrachtete sie mit neuen Augen. Gewiss, unter ihren Fingernägeln war Dreck, und auch ihre Arme waren schmutzig. Doch ihre Robe war, abgesehen von dem Blut, vollkommen sauber.

Während er sie ansah, geschah etwas Außergewöhnliches. Dort, wo er die Robe zerrissen hatte, wob sich der Stoff ganz von alleine wieder zusammen. Genau wie seine Haut, wenn sie verletzt war. Ein Stück Stoff mit Selbstheilungskräften. Hörten die Wunder denn niemals auf?

„Olivia. Antworte jetzt!“

Sie nickte, ohne aufzublicken. Er hörte ein Schniefen. Sie schluchzte.

Ein heftiger Schmerz erfüllte seine Brust, doch er ignorierte ihn. Es spielt keine Rolle, wer sie ist oder was sie ertragen musste. Du wirst nicht weich werden, verdammt noch mal! Sie verängstigt und verletzt Legion und muss gehen.

„Ein echter, lebendiger Engel“, sagte Paris offensichtlich eingeschüchtert. „Ich nehme sie mit in mein Zimmer, wenn es dir recht ist, und …“

„Ihre Verletzungen sind zu schwer für Matratzensport“, unterbrach Aeron ihn bissig.

Paris warf ihm einen kurzen, seltsamen Blick zu, dann grinste er und schüttelte den Kopf. „Ich hatte nicht vor, mit ihr ins Bett zu steigen, also spar dir deine Eifersucht.“

Die Bemerkung war so lächerlich, dass sie keinerlei Beachtung verdiente. Er hatte noch nie Eifersucht verspürt und würde mit Sicherheit nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen. „Und warum hast du dann angeboten, sie mit in dein Zimmer zu nehmen?“

„Damit ich ihre Wunden versorgen kann. Und, wer von uns ist jetzt der Tyrann?“

„Ich kümmere mich um sie.“ Vielleicht. Vertrugen Engel die Medizin der Menschen überhaupt? Oder schadete sie ihnen? Er wusste nur zu gut, welche Gefahren es barg, einer Spezies ein Mittelchen zu verabreichen, das für eine andere entwickelt worden war. Ashlyn wäre fast gestorben, als sie Wein getrunken hatte, der für Unsterbliche bestimmt war.

Er hätte gern Lysander geholt, doch der Elite-Kriegerengel lebte momentan mit Bianka im Himmel, und falls es eine Möglichkeit gab, ihn zu erreichen, hatte niemand Aeron verraten, wie diese aussah. Außerdem mochte Lysander ihn nicht, und er war auch nicht der Typ, der bereitwillig Informationen über seine Art preisgab.

„Du willst der Verantwortliche sein, na schön. Aber gib es wenigstens zu.“ Paris schenkte ihm noch ein Grinsen. „Du erhebst offiziell Anspruch auf sie.“

„Nein. Tue ich nicht.“ Danach verspürte er nicht das geringste Verlangen. Es war nur so, dass sie verletzt war, nicht alleine zurechtkam und deshalb nicht in der Lage war, jemandes Betthäschen zu sein. Und Paris wollte sie für nichts anderes als für Sex. Ganz gleich, was er behauptete.

Außerdem hatte sie ihn gerufen. Sie hatte seinen Namen geschrien.

Unbeirrt fuhr Paris fort: „Technisch gesehen ist ein Engel kein Mensch. Ein Engel ist mehr.“

Aeron knackte mit dem Kiefergelenk. Musste der Mann sich ausgerechnet an diesen Teil ihrer Unterhaltung erinnern? „Ich habe doch gesagt, ich erhebe keinen Anspruch auf sie.“

Paris lachte. „Wie du meinst, Kumpel. Viel Spaß mit deiner Frau.“

Aeron fand das Gelächter seines Freundes mehr als unangebracht und ballte die Fäuste. „Geh, und erzähl Lucien, worüber wir gesprochen haben! Aber sag den Frauen auf keinen Fall, dass wir einen verletzten Engel hier haben! Die fallen sonst nur in mein Zimmer ein, um ihn zu sehen, und dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.“

„Warum nicht? Willst du mit dem Engel rummachen?“

Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass er Angst hatte, sie wären bald nicht mehr als eine schöne Erinnerung. „Ich will ihn verhören.“

„Aha. So nennt man das heute also. Tja dann, viel Spaß!“ Mit diesen Worten schritt Paris, immer noch grinsend, aus dem Raum.

Als Aeron wieder mit seiner Beute allein war, blickte er auf sie hinab. Ihr leises Schluchzen versiegte, endlich, und sie sah ihn wieder an.

„Was machst du hier, Olivia?“ Eigentlich hätte es ihn nicht berühren dürfen, ihren Namen auszusprechen – schließlich hatte er ihn vorher auch schon ausgesprochen –, aber das tat es. Sein Blut erhitzte sich um ein weiteres Grad. Das musste an ihrem Blick liegen … der ihn durchbohrte …

Zittrig atmete sie aus. „Ich war mir der Konsequenzen bewusst. Ich wusste, ich müsste meine Flügel, meine Fähigkeiten und meine Unsterblichkeit opfern, aber ich habe es trotzdem getan. Es ist nur … Mein Job hat sich verändert. Ich durfte nicht mehr Freude bringen. Sondern nur noch den Tod. Und ich habe gehasst, was sie von mir verlangten. Ich konnte es nicht, Aeron. Ich konnte es einfach nicht.“

Als sie seinen Namen mit derartiger Vertrautheit aussprach, berührte ihn das ebenfalls, und er atmete tief ein. Was war nur mit ihm los? Sei stark. Sei der kalte, harte Krieger, der du immer bist!

„Ich habe dich beobachtet“, fuhr sie fort, „und auch deine Freunde, und ich … bekam Sehnsucht. Ich wollte dich, und ich wollte das, was sie hatten – Freiheit und Liebe und Spaß. Ich wollte küssen und berühren. Ich wollte meine eigene Freude.“ Ihr niedergeschlagener, gebrochener Blick kreuzte seinen. „Am Ende hatte ich die Wahl. Fallen … oder dich töten. Ich entschied mich fürs Fallen. Und da bin ich. Nur für dich.“

3. KAPITEL

Nur für dich. Das hätte sie nicht sagen sollen.

Olivia war starr vor Schreck, als nur noch ein einziger Gedanke ihren Kopf beherrschte: Soeben hatte sie alles kaputt gemacht.

Sie hätte Aeron die Wahrheit schonend beibringen müssen. Immerhin hatte er ihr jedes Mal, wenn sie sich ihm in den vergangenen Wochen genähert hatte, mit Folter und Tod gedroht. Dass sie unsichtbar war, hatte keine Rolle gespielt. Er hatte gewusst, dass sie in seiner Nähe war. Woher, musste sie noch herausfinden. Eigentlich hätte sie nicht wahrnehmbar sein sollen, körperlos wie ein Phantom der Nacht. Und jetzt, da sie in Fleisch und Blut vor ihm lag und ihre Geheimnisse ausplauderte, sah er vermutlich eine noch größere Bedrohung in ihr. Wahrscheinlich betrachtete er sie als Feindin.

Wahrscheinlich? Sie lachte trocken. Natürlich! Seine Fragen hatten sich wie Peitschenhiebe angefühlt und tiefe Wunden in ihre Seele gerissen. Oh ja. Sie hatte es vermasselt. Jetzt würde er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Na ja, außer ihr die angekündigte Folter und den versprochenen Tod zu gewähren.

Du hast dich doch nicht mit letzter Kraft aus den Tiefen der Hölle gekämpft, um in dieser Burg umgebracht zu werden. Sie hatte sich mit letzter Kraft aus der Hölle gekämpft, um die Chance zu bekommen, mit Aeron zusammen zu sein. Ungeachtet der Möglichkeit zu scheitern.

Du kannst es schaffen. Nach Wochen intensiver Beobachtung hatte sie das Gefühl, Aeron ziemlich gut zu kennen. Er war diszipliniert, distanziert und brutal ehrlich. Er vertraute niemandem außer seinen Freunden. Schwäche war ein Wesenszug, den er nicht tolerierte. Und dennoch ging er mit denen, die er liebte, freundlich, fürsorglich und achtsam um. Ihr Wohlergehen stand für ihn über allem anderen. Ich will auch so geliebt werden.

Wenn er sie doch nur hätte sehen können, bevor sie aus dem einzigen Zuhause ausgestoßen worden war, das sie je gehabt hatte. Wenn er sie doch nur gesehen hätte, bevor ihr die Fähigkeit zu fliegen genommen worden war. Bevor ihre neu entdeckte Gabe, flammende Waffen aus Luft zu formen, ausgelöscht worden war. Bevor ihre Kraft, sich vor dem Bösen dieser Welt abzuschirmen, vernichtet worden war.

Jetzt …

War sie schwächer als ein Mensch. Da sie sich Zeit ihres jahrhundertelangen Lebens eher auf ihre Flügel als auf ihre Beine verlassen hatte, konnte sie nicht einmal anständig gehen. Was, wenn sie es nicht schaffte?

Ihr entfuhr ein Schluchzen. Sie hatte ihr Zuhause und ihre Freunde aufgegeben – für Schmerz, Erniedrigung und Hilflosigkeit. Wenn Aeron sie nun auch verstieße, wüsste sie nicht, wohin sie gehen sollte.

„Weine nicht“, sagte Aeron mit angespannter Stimme.

„Ich … kann nicht … anders“, brachte sie unter heftigem Schluchzen hervor. Sie hatte erst ein Mal Tränen vergossen – und auch damals war Aeron der Grund gewesen. Damals, als sie erkannt hatte, dass ihre Gefühle für ihn ihren Selbsterhaltungstrieb komplett aushebelten.

Jetzt hallte das Ausmaß ihrer folgenschweren Entscheidung brüllend durch ihren Kopf. Sie war allein. Gefangen in einem zerbrechlichen Körper, den sie nicht verstand, und abhängig von der Gnade eines Mannes, der einer nichts ahnenden Öffentlichkeit von Zeit zu Zeit verheerenden Schaden zufügte. Einer Öffentlichkeit, die glücklich zu machen einst ihre Aufgabe gewesen war; die Aufgabe einer Glücksbotin.

„Versuch es, verdammt noch mal.“

„Kannst du mich … vielleicht … ich weiß nicht … festhalten?“, fragte sie, immer wieder unterbrochen von Schluchzern.

„Nein.“ Er klang, als entsetzte ihn allein der Gedanke daran. „Du wirst einfach augenblicklich aufhören.“

Doch sie weinte nur noch mehr. Wäre sie zu Hause gewesen, hätte ihr Mentor Lysander sie in den Arm genommen und ihr beruhigende Worte ins Ohr gesäuselt, bis sie sich wieder gefangen hätte. Zumindest glaubte sie, dass er das getan hätte – in der Praxis hatte sie diese Theorie nie getestet.

Der arme, liebe Lysander. Wusste er, dass sie fort war? Dass sie nie zurückkehren könnte? Er hatte gewusst, dass sie von Aeron fasziniert war. Jede freie Minute hatte sie in der Burg verbracht und ihn heimlich beobachtet, unfähig, die schreckliche Aufgabe zu erledigen, die man ihr auferlegt hatte. Aber Lysander hatte nie damit gerechnet, dass sie alles für diesen Mann aufgäbe.

Und ehrlich gesagt hatte auch sie das nicht getan. Nicht so richtig jedenfalls.

Möglicherweise hätte sie damit rechnen sollen, denn ihre Schwierigkeiten hatten schon begonnen, bevor sie Aeron überhaupt zum ersten Mal gesehen hatte.

Vor einigen Monaten hatte sie goldene Daunen in ihren Flügeln entdeckt. Doch Gold war die Farbe der Krieger, und sie hatte nie ein Kriegerengel sein wollen – auch wenn sie dadurch in eine höhere Position aufgestiegen wäre.

Beim Gedanken an ihre Traurigkeit seufzte sie. Bei den Engeln gab es drei Kasten. Die Elite der Sieben, zu denen Lysander gehörte, stand direkt mit der einen wahren Gottheit in Kontakt. Sie waren zu Anbeginn der Zeiten auserwählt worden und zauderten niemals bei der Ausübung ihrer Pflichten, der Ausbildung anderer Engel und der Überwachung böser Ereignisse. Als Nächstes gab es die Kriegerengel. Ihre Aufgabe war es, Dämonen, denen es gelungen war, aus ihrem flammenden Gefängnis zu entkommen, zu zerstören. Ganz unten standen die Gücksboten, zu denen einst auch Olivia gehört hatte.

Als die ersten goldenen Federn gewachsen waren, hatten viele ihrer Brüder und Schwestern augenblicklich Flügelneid verspürt – natürlich nicht von boshafter Natur –, doch zum ersten Mal in ihrem Leben war sie sich ihres Weges nicht sicher gewesen. Warum hatte man ausgerechnet sie für eine solche Aufgabe auserwählt?

Sie hatte ihre Arbeit geliebt. Hatte es geliebt, den Menschen bestätigende Worte ins Ohr zu flüstern, die ihnen Selbstvertrauen und Freude gaben. Der Gedanke jedoch, einem anderen Lebewesen etwas zuleide zu tun, selbst wenn es die Bestrafung verdiente … Sie erschauderte.

Das war der Zeitpunkt, als sie zum ersten Mal darüber nachgedacht hatte, zu fallen und ein neues Leben anzufangen. Allerdings war es anfangs nicht mehr als eine naive Gedankenspielerei gewesen. Was wäre, wenn … Erst als sie Aeron ausspioniert hatte, waren diese Gedanken konkreter und ernsthafter geworden. Was, wenn sie zusammen sein könnten? Vielleicht könnten sie bis in alle Ewigkeit miteinander glücklich sein.

Wie wäre es, menschlich zu sein?

Der himmlische hohe Rat war ein Respekt einflößendes Gremium, das sich aus Engeln aus allen drei Kasten zusammensetzte. Als man sie schließlich in seinen Gerichtssaal gerufen hatte, war sie davon ausgegangen, dafür bestraft zu werden, dass sie Aeron nicht vernichtet hatte. Stattdessen hatte der Rat ihr ein Ultimatum gestellt.

Sie hatte in der Mitte eines weitläufigen weißen Raumes gestanden, dessen Decken gewölbt waren und dessen Wände einen perfekten Kreis formten. Säulen erhoben sich ringsherum, und sogar der Efeu, der an ihnen emporrankte, war von einem reinen, unberührten Weiß. Zwischen den Säulen standen Throne, und auf jedem einzelnen saß eine majestätische Gestalt.

Weißt du, weshalb du hier bist, Olivia?, fragte eine volle Stimme.

Ja. Obwohl sie am ganzen Körper zitterte, stockten ihre Flügel nicht in ihrem anmutigen Schlag. Sie waren lang und majestätisch, und ihre weißen Federn waren jetzt mit einem mondhellen Gold durchsetzt. Um über Aeron aus der Unterwelt zu sprechen.

Wir haben uns wochenlang in Geduld geübt, Olivia. Die ausdruckslose Stimme dröhnte wie eine Kriegstrommel in ihrem Kopf. Wir haben dir unzählige Gelegenheiten gegeben, dich zu beweisen. Aber du hast jedes Mal versagt.

Ich bin nicht für diese Arbeit bestimmt, erwiderte sie mit zitternder Stimme.

Doch, das warst du. Das bist du. Es gibt keinen besseren Weg, Freude zu verbreiten, als Menschen vor dem Bösen zu beschützen. Und genau das wirst du tun, wenn du deine Aufgabe erfüllst. Dies ist deine letzte Chance. Entweder du beendest Aerons Leben, oder wir beenden deines.

Die Drohung des Ratsmitglieds war nicht grausam gemeint, das wusste sie. So funktionierte der Himmel eben. Ein einziger Tropfen Gift konnte einen ganzen Ozean verseuchen, und deshalb musste jeder ätzende Tropfen ausgelöscht werden, bevor er mit den Wellen in Berührung kam. Aber sie protestierte trotzdem.

Ihr könnt mich nicht ohne den Segen der wahren Gottheit töten. Und er würde seinen Segen nicht geben. Er war durch und durch zärtlich und freundlich. Ihm lagen seine Diener am Herzen, jeder einzelne. Selbst eigensinnige Engel. Kurz gesagt: Er war die Liebe.

Aber wir können dich fortschicken und dein Leben, wie du es kennst, beenden. Jetzt sprach eine Frau, doch ihre Stimme klang genauso hohl wie die ihres Vorredners.

Einen Moment lang hatte Olivia Schwierigkeiten zu atmen, und grelle Punkte tanzten vor ihren Augen. Ihr Zuhause verlieren? Das Leben in ihrer wundervollen Wolke? Die gemeinsame Arbeit mit ihren Freunden und Kollegen? Doch trotzdem gab sie Widerworte. Aeron ist nicht böse. Er verdient es nicht, zu sterben.

Das zu entscheiden steht dir nicht zu. Er hat ein uraltes Gesetz ignoriert und muss dafür bestraft werden. Bevor andere auf den Gedanken kommen, sie könnten das Gleiche tun, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

Ich bezweifle, dass er überhaupt weiß, was er getan hat. Flehentlich breitete sie ihre Arme aus. Wenn ihr ihm doch nur gestatten würdet, mich zu sehen und meine Stimme zu hören – dann könnte ich mit ihm sprechen und ihm erklären …

Dann würden wir ein uraltes Gesetz ignorieren.

Das stimmte. Glaube fußte nun einmal auf dem Prinzip, an etwas zu glauben, das man nicht sehen konnte. Nur der Elite der Sieben war es gestattet, sich auf der Ebene der Sterblichen zu zeigen, da ihre Mitglieder manchmal mit der Aufgabe betraut waren, Menschen für ihren Glauben zu belohnen.

Es tut mir leid, sagte sie mit gesenktem Kopf. Ich hätte euch nicht um so etwas bitten sollen.

Es sei dir vergeben, Kind, erwiderte der Rat einstimmig.

Vergebung wurde hier immer so einfach erteilt. Außer wenn jemand einen Befehl ignorierte. Armer Aeron, hatte sie gedacht, während sie Danke gesagt hatte.

Es war nur … sie fand Aeron anziehend. Obwohl jeder Zentimeter seiner tätowierten Haut den Dämon erkennen ließ, der er war, hatte der erste Anblick seines Körpers Sehnsüchte in ihr geweckt, die zu stark gewesen waren, um sie ignorieren zu können. Wie es wohl wäre, ihn zu berühren? Wie es wohl wäre, von ihm berührt zu werden? Ob sie endlich das Glück erfahren würde, das sie anderen schenkte?

Zuerst hatten diese Gedanken sie beschämt. Doch je besser sie Aeron kennengelernt hatte, umso stärker war das Verlangen geworden – bis sie an nichts anderes mehr hatte denken können, als zu fallen und bei ihm zu sein.

Am Ende hatte sie sich gesagt, dass ihre starken Gefühle für ihn gerechtfertigt waren, weil er – entgegen seiner äußeren Erscheinung und entgegen der Ansichten des Rates – aufrichtig und gut war. Und wenn er aufrichtig und gut war, konnte sie die gleichen Dinge tun, die er tat, und dabei auch aufrichtig und gut sein. Mehr noch: Es war in Ordnung, weil er, durch und durch Beschützer, für ihre Sicherheit sorgen würde. Er würde sie vor anderen und vor sich selbst schützen.

Wenn er jedoch ums Leben käme, würde sie den Rest ihres ewigen Daseins damit verbringen, über die unbeantwortete Frage zu grübeln, wie … herrlich es hätte sein können, alles an ihm zu entdecken. Sie würde es bereuen. Sie würde es betrauern.

Andererseits – ihn eigenhändig zu retten hieße, alles aufzugeben, was sie kannte; so hatte der Rat es verkündet. Sie würde nicht nur ihr Zuhause und ihre Flügel verlieren, sondern wäre zudem gefangen in einer Welt, in der Vergebung nicht immer gewährt wurde, in der Geduld Mangelware war und Unhöflichkeit zum Alltag gehörte.

Er ist dein erstes Ziel, und deshalb verstehen wir dein Zögern, Olivia. Aber du kannst nicht zulassen, dass dein Zögern dich ruiniert. Du musst es überwinden, sonst wirst du für immer und ewig dafür bezahlen. Wie entscheidest du dich?

Das war der letzte verzweifelte Versuch des Rates gewesen, sie zu retten. Dennoch hatte sie das Kinn gehoben und die Worte ausgesprochen, die seit all den Wochen in ihr brannten – die Worte, die sie hierher geführt hatten. Sie sprach, ehe sie aus Angst ihre Meinung ändern konnte.

Ich entscheide mich für Aeron.

„Frau?“

Die harte Stimme riss Olivia aus der Vergangenheit; sie war tiefer und voller als jede andere Stimme, die sie kannte, und … sie brauchte diese Stimme so sehr. Olivia blinzelte, und allmählich nahm sie ihre Umgebung wahr. Ein Schlafzimmer, das sie in-und auswendig kannte. Geräumig, mit silbrigen Steinwänden, an denen Bilder über Bilder von Blumen und Sternen hingen. Der Boden war aus dunkel glänzendem Holz, auf dem ein flauschiger rosafarbener Teppich lag. Es gab eine Kommode, einen Waschtisch und ein Kleinmädchen-Sofa.

Viele hätten bei der Feststellung, dass dieser starke, stolze Krieger in einem derart femininen Zimmer wohnte, eine spöttische Bemerkung fallen lassen, doch nicht Olivia. Die Einrichtung bewies nur, wie sehr Aeron seine Legion liebte.

War in seinem Herzen überhaupt Platz für noch jemanden?

Ihr Blick blieb an ihm haften. Er stand immer noch neben dem Bett, auf dem sie lag, und sah mit … kein bisschen Zuneigung in den Augen auf sie hinab, wie sie enttäuscht feststellte. Doch wer konnte ihm das schon übel nehmen? Sie bot mit Sicherheit einen erbärmlichen Anblick. Die Tränen waren auf ihren Wangen getrocknet, wodurch ihre Haut spannte. Ihre Haare waren zerzaust und ihre Arme schmutzverschmiert.

Er hingegen sah umwerfend aus. Er war groß und so muskulös, dass einem das Wasser im Mund zusammenlief. Seine faszinierend violetten Augen wurden von langen schwarzen Wimpern eingerahmt. Seine dunklen Haare waren raspelkurz abrasiert, und sie fragte sich, ob die Stoppeln wohl an ihrer Handfläche kitzeln würden, wenn sie über seinen Kopf strich.

Nicht, dass er ihr erlauben würde, ihn zu streicheln.

Er war überall tätowiert, sogar in seinem perfekt geformten Gesicht. Jede Tätowierung zeigte eine grauenvolle Tat. Erstechen, Erwürgen, Verbrennen, Blut – so viel Blut. Und jedes der Knochengesichter war vor Schmerz verzerrt. Doch inmitten all der Gewalt leuchteten zwei saphirblaue Schmetterlinge. Einer zierte seine Rippen, und der andere streckte die Flügel über seinen Rücken aus.

Ihr war aufgefallen, dass die anderen Herren alle nur ein Schmetterlingstattoo hatten, als Zeichen für ihre Besessenheit, und sie hatte sich oft gefragt, warum Aeron diese Zugabe bekommen hatte. Es machte nicht den Anschein, als wäre sein Körper von zwei Dämonen besessen.

Außerdem verachtete er Schwäche. Erinnerten die Schmetterlinge ihn nicht ständig an seine Torheit? Und erinnerten die anderen, die grausamen Tätowierungen ihn nicht immerzu an die schrecklichen Taten, zu denen sein Dämon ihn gezwungen hatte?

Und was Olivia anging: Warum stieß dieser Mann sie nicht ab, so wie er jeden anderen Engel angewidert hätte? Und weshalb faszinierte er sie nach wie vor?

„Frau“, wiederholte er nun ungeduldig.

„Ja?“, krächzte sie.

„Du hast mir nicht zugehört.“

„Entschuldige.“

„Wer wollte mich tot sehen? Und warum?“

Statt zu antworten, bat sie schüchtern: „Bitte setz dich doch. Es ist so anstrengend für meinen Nacken, so zu dir hochzuschauen.“

Zuerst dachte sie, er würde ihre Bitte ignorieren. Aber dann hockte er sich überraschenderweise hin, und seine Gesichtszüge wurden weicher. Endlich befanden sie sich auf Augenhöhe, und sie konnte sehen, dass sich seine Pupillen weiteten. Seltsam. Das geschah normalerweise, wenn Menschen glücklich waren. Oder wütend? Er war weder das eine noch das andere.

„Besser?“, fragte er.

„Ja. Danke.“

„Gut. Und jetzt antworte mir.“

Was für ein Befehlston. Doch das machte ihr nichts. Die Belohnung war zu schön. Jetzt konnte sie sich an seinem unanständig köstlichen Anblick berauschen, während sie mit ihm sprach, wie sie es sich all die Wochen erträumt hatte. „Der himmlische hohe Rat will dich tot sehen, weil du einem Dämon geholfen hast, aus der Hölle zu fliehen.“

Er runzelte die Stirn. „Meiner Legion?“

Seiner Legion? Olivia nickte, während sich ihr Innerstes zusammenzog. Schmerz war etwas, das ihr bislang noch nicht widerfahren war – weder seelisch noch körperlich –, und sie wusste nicht, wie sie es schaffte, ihn zu ertragen.

Oder vielleicht wusste sie es doch. Menschen produzierten Adrenalin und andere Hormone, die sie ein Stück weit betäubten. Vielleicht produzierte sie jetzt auch so etwas – nun, da sie ein Mensch war. Mehr und mehr begann sie, zu ihrem neuen Körper und seinen unbekannten Schmerzen und Gefühlen eine angenehme Distanz zu verspüren.

„Ich verstehe nicht ganz. Als ich Legion begegnet bin, hatte sie sich doch schon längst befreit. Ich habe nichts getan, womit ich mir den … Zorn eines anderen hätte zuziehen können.“ Bei dem Wort „Zorn“ wurde sein Mund schmal.

„Doch, das hast du. Ohne dich wäre sie nicht in der Lage gewesen, die Oberfläche zu erreichen, weil sie immer noch an die Unterwelt gebunden war.“

„Ich verstehe immer noch nicht.“

Olivias Augenlider, die sich auf einmal anfühlten wie schweres Sandpapier, fielen wie von alleine zu – bitte, lass uns von etwas anderem sprechen –, doch sie zwang sich, sie wieder zu öffnen. „In der Regel sind Dämonen nur in der Lage, die Hölle zu verlassen, wenn man sie auf die Erde ruft. Von diesem kleinen Hintertürchen haben wir allerdings erst erfahren, als es schon zu spät war, um noch etwas zu ändern. Aber egal. Wenn sie gerufen werden, reißt ihr Band zur Hölle, und stattdessen werden sie an denjenigen gebunden, der sie gerufen hat.“

„Noch mal: Ich habe Legion nicht gerufen. Sie ist zu mir gekommen.“

„Vielleicht hast du sie nicht bewusst gerufen, aber in dem Moment, als du sie akzeptiert hast – dass sie zu dir gehört –, war es, als hättest du es getan.“

Er ballte die Hände zu Fäusten und entspannte sie wieder. Sie kannte diese Geste und wusste, dass er so die Kontrolle zu behalten versuchte. Vielleicht war er tatsächlich wütend. „Sie hat jedes Recht, auf dieser Erde zu wandeln. Ich bin auch ein Dämon, und ich tue seit Jahrtausenden dasselbe, ohne dafür bestraft zu werden.“

Richtig. „Aber dein Dämon ist in dir gefangen. Folglich bist du seine Hölle. Legion ist jetzt frei und kann kommen und gehen, wie und wann es ihr gefällt. Was bedeutet, dass sie keine Hölle mehr hat, und das widerspricht sämtlichen himmlischen Gesetzen.“

Sie sah, wie er ansetzen wollte, mit ihr zu streiten. Vielleicht wäre es hilfreich, ihm die Ursprünge der Hölle zu erklären.

„Die mächtigeren unter den Dämonen waren früher einmal Engel. Aber dann sind sie gefallen. Sie waren die ersten, die fielen, und ihre Herzen wurden schwarz, alles Gute war aus ihnen fortgewischt. Statt ihnen also ihre Flügel und überirdischen Fähigkeiten zu nehmen, wurden sie damit bestraft, für immer und ewig zu leiden. Das gilt auch für ihre Nachkommen. Es darf keine Ausnahmen geben. Dämonen müssen an irgendeine Form der Hölle gebunden sein. Wer dieses Band zerreißt, wird getötet.“

Seine Iris wurden rot und begannen bedrohlich zu glühen. „Willst du damit sagen, dass Legion sterben muss, weil sie keine Hölle hat?“

„Ja.“

„Bedeutet das, dass sie ein Engel war?“

„Nein. Als die Dämonen in der Hölle lebten, lernten sie, sich fortzupflanzen. So ist auch Legion entstanden.“

„Und obwohl sie niemandem geschadet hat, willst du sie trotzdem bestrafen?“

„Ich persönlich nicht, aber ja: trotzdem.“

„Damit wir uns richtig verstehen: Ich werde nicht zulassen, dass man ihr etwas antut.“ Er sprach ruhig, aber dennoch mit einem drohenden Unterton.

Olivia schwieg. Sie würde ihn nicht anlügen und ihm sagen, was er hören wollte. Dass er und Legion jetzt in Sicherheit wären. Dass die Verantwortlichen im Himmel ihre Verbrechen vergessen hätten. Irgendwann käme jemand und würde das vollenden, was Olivia nicht fertiggebracht hatte.

„Sie hatte es nicht verdient, dort zu sein“, knurrte er.

„Das zu entscheiden stand dir aber nicht zu.“ Sie sprach die Zurechtweisung so sanft aus wie nur möglich. Dass die Worte ein Echo dessen waren, was der Rat zu ihr gesagt hatte, hinterließ einen fahlen Nachgeschmack auf ihrer Zunge.

Aeron atmete scharf ein, wobei seine Nasenflügel bebten. „Du bist gefallen. Warum haben sie dich nicht in die Hölle gestoßen?“

„Die ersten gefallenen Engel kehrten der einen wahren Gottheit den Rücken. Deshalb sind ihre Herzen so schwarz. Ich habe mich nicht von ihm abgewandt, sondern mich nur für einen anderen Weg entschieden.“

„Aber warum wurdest du ausgerechnet jetzt zu mir geschickt? Ich meine, nicht als gefallener Engel, sondern als Henker? Vor abertausend Jahren habe ich weitaus grausamere Dinge getan, als das Band zu zerreißen, das eine kleine Dämonin an die Hölle fesselt. Genau wie meine Freunde.“

„Der Rat und die Götter waren sich einig, dass du und deine Brüder die Einzigen wart, die in der Lage wären, die entflohenen Dämonen zu beherbergen und eines Tages vielleicht sogar zu kontrollieren. Wie gesagt: Ihr seid ihre Hölle, und ihr wurdet schon genug für eure früheren Verbrechen bestraft.“

Siegessicherheit trat in seine Miene, als hätte er sie beim Lügen ertappt. „Im Augenblick meines Todes wird Zorn befreit werden und seiner sogenannten Hölle entkommen. Wie sieht es jetzt aus? Hältst du es immer noch für eine gute Idee, mich zu töten?“

Wäre dieses Schlupfloch doch nur nie geschlossen worden … „Früher war es uns nicht gestattet, die dämonischen hohen Herren zu töten, zu denen auch Zorn gehört. Doch dann entkamen sie den Tiefen der Hölle, was uns dazu zwang, unsere Regeln entsprechend zu ändern. Was bedeutet … ich hatte den Auftrag, auch Zorn zu töten.“

Bei diesem Geständnis wich der Triumph aus seinem Gesicht. „Du bist gefallen. Das bedeutet, dass du mit dem Befehl nicht einverstanden warst. Also damit, mich, meinen Dämon und Legion zu töten.“

„Stimmt nicht“, widersprach sie. „Ich fand, dass man dich verschonen sollte, ja. Und Zorn auch, weil der Dämon ein Teil von dir ist. Aber bin ich der Meinung, dass man Legion erlauben sollte, in dieser Welt zu leben? Nein. Sie ist in vielerlei Hinsicht eine große Bedrohung, auch wenn dir das vielleicht nicht klar ist. Und höchstwahrscheinlich wird sie unermesslichen Schaden anrichten. Ich bin gefallen, weil …“

„Du Freiheit, Liebe und Spaß wolltest“, äffte er sie knurrend nach. „Warum hat man dich für diese Aufgabe ausgewählt? Hast du schon mal getötet?“

Sie schluckte schwer. Es war ihr unangenehm, zuzugeben, wie sich die Dinge entwickelt hatten, gleichzeitig wusste sie jedoch, dass sie ihm eine Erklärung schuldete. „Der Dunkle, Reyes … Er hat wegen seiner Frau Danika schon häufig den Himmel besucht. Als ich ihn einmal sah, folgte ich ihm hierher. Ich war neugierig und wollte sehen, was für ein Leben sich ein dämonbesessener Krieger wohl aufgebaut haben könnte.“

„Moment.“ Aeron sah mit finsterem Blick zu ihr hinüber. „Du bist Reyes gefolgt?“

„Ja.“ Hatte sie das nicht gerade gesagt?

„Also, du bist Reyes gefolgt.“ Wut klang aus seiner Stimme und schien aus jeder Pore seines Körpers zu strömen.

„Ja“, flüsterte sie. Nun verstand sie. Auf einmal wünschte sie sich, sie hätte diesen Teil der Geschichte für sich behalten. Sie wusste doch, wie ausgeprägt Aerons Beschützerinstinkt war, wenn es um seine Freunde ging. Seine Abneigung ihr gegenüber musste von Minute zu Minute wachsen. „Aber ich habe ihm nichts getan. Danach habe ich … jeden Tag damit verbracht, hier herumzulungern.“ Um dir zu folgen, weil ich dich wollte. „Man hat mich auserwählt, weil ich deinen Tagesablauf besser kannte als irgendwer sonst.“

Oder hatten die Ältesten gespürt, dass ihr Verlangen nach ihm immer größer wurde, und sich gedacht, wenn sie ihn auslöschte, könnte sie auch gleichzeitig diese entsetzliche Sehnsucht verbannen? Das hatte sie sich schon oft gefragt.

„Nur damit du es weißt: Reyes hat eine Frau.“ Aeron zog eine Augenbraue hoch und brachte damit die Geisterseelen in Unruhe, die auf seine Stirn tätowiert waren. Schreiende Seelen auf dem Weg in die Verdammnis. „Aber das spielt eigentlich keine Rolle. Ich will wissen, wie du mich umgebracht hättest.“

Sie hätte ein Schwert aus Feuer geformt, so wie Lysander es ihr beigebracht hatte, und ihm den Kopf abgeschlagen. Soweit sie wusste, war das der schnellste und gnadenvollste Tod, den ein Engel überbringen konnte. Das Opfer war tot, bevor es auch nur den geringsten Schmerz verspürte.

„Es gibt verschiedene Wege“, sagte sie nur.

„Aber du bist gefallen, und jetzt kannst du deine Mission nicht mehr zu Ende bringen“, erwiderte Aeron, und seine Stimme klang angespannt vor Sorge. „Deshalb wird ein anderer an deiner Stelle kommen, nicht wahr?“

Allmählich verstand er. Sie nickte.

Sein Stirnrunzeln verschwand und wich einem finsteren Blick. „Wie gesagt: Ich werde nicht zulassen, dass Legion etwas passiert. Sie gehört mir, und ich werde mein Eigentum beschützen.“

Ach, wenn ich doch nur sein wäre, dachte sie, und die Sehnsucht quälte sie stärker als die körperlichen Schmerzen. Das war schließlich der Grund, weshalb sie hier war. Lieber einen Moment mit ihm erleben als ein ganzes Leben mit irgendjemand anders.

Natürlich wollte sie eigentlich mehr als bloß einen Moment, aber ein Moment war alles, was sie hatten. Wenn erst ihr Nachfolger käme – und es würde jemand kommen –, müsste Aeron sterben. Obwohl ihr Herz bei dem Gedanken stehen blieb, gab es an dieser Wahrheit nichts zu rütteln. Aeron hätte einem Gegner, den er weder sehen noch hören oder berühren konnte, nichts entgegenzusetzen. Zumal, wenn dieser Gegner ihn sehr wohl sehen, hören und berühren konnte.

Und wie sie die himmlische Gerechtigkeit kannte, würde ihr Nachfolger Lysander sein. Olivia hatte versagt, also würde ihr Mentor die Verantwortung für ihre Unzulänglichkeit übernehmen müssen.

Lysander würde keine Sekunde zögern, seinem Opfer den Todesstoß zu versetzen. Das tat er nie. Ja, es stimmte, dass er sich seit Beginn seiner Liaison mit Bianka – einer Harpyie und Nachfahrin von Luzifer höchstpersönlich – verändert hatte. Aber Aeron zu verschonen, würde bedeuten, dass auch Lysander fallen müsste. Er würde seine Ewigkeit mit Bianka aufgeben müssen, und so etwas gehörte nicht zum Handlungsspektrum eines Elitekriegers. Bianka war sein Ein und Alles geworden.

„Ich danke dir für die Warnung.“ Aeron sprang auf. Falls er davor noch etwas anderes gesagt hatte, so hatte sie es nicht gehört. Sie war viel zu sehr in ihre Gedanken vertieft gewesen. Was war nur los mit ihr? Seinetwegen war sie hergekommen, doch seit ihrer Ankunft verbrachte sie die meiste Zeit mit Grübeln.

„Keine Ursache. Aber es gibt etwas, das ich gern als Gegenleistung hätte. Ich … ich würde gern hierbleiben“, platzte es aus ihr heraus. „Bei dir. Ich kann dir auch bei deinen häuslichen Pflichten helfen, wenn du magst.“ Sie hatte Aeron oft beim Saubermachen in der Burg beobachtet und gehört, wie er über die ihm zugeteilte Arbeit fluchte.

Er beugte sich herab, um ihre Hände loszubinden, und war dabei so vorsichtig, dass die Bewegung nur leise Schmerzen auslöste. „Ich fürchte, das ist nicht möglich.“

„Aber … warum denn nicht? Ich werde dir auch keine Scherereien machen, bestimmt nicht.“

„Du hast mir bereits Scherereien gemacht.“

Die emotionale Taubheit, die sie verspürt hatte, verebbte blitzschnell, und ihr Kinn begann erneut zu zittern. Er hat immer noch vor, mich loszuwerden. Angst, Verwirrung, Verzweiflung – alles prasselte gleichzeitig auf sie ein. Weil sie nicht wollte, dass Aeron es sah, vergrub sie das Gesicht tief im Kissen. Sein Eindruck von ihr war auch so schon schlecht genug.

„Frau“, knurrte er. „Ich habe dir gesagt, du sollst nicht weinen.“

„Dann hör auf, meine Gefühle zu verletzen.“ Der Baumwollstoff an ihren Lippen und, ja, auch ihre Tränen verwandelten ihre Worte in ein undeutliches Genuschel.

Sie hörte Kleidung rascheln, als verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Deine Gefühle verletzen? Du kannst froh sein, dass ich dich nicht umgebracht habe. Du hast keine Vorstellung davon, wie viel Kummer du mir in den letzten Monaten bereitet hast. Ich hatte keinen Schimmer, wer mich verfolgte oder warum. Meine treue Begleiterin konnte nicht bei mir bleiben, sondern musste an einen Ort zurückkehren, den sie aus tiefster Seele hasst.“

Einen Ort, den sie verdiente, auch wenn Aeron versucht hatte, Olivia vom Gegenteil zu überzeugen. Aber egal, wie einige der Herren so gerne sagten. „Tut mir leid.“ Trotz allem tat es ihr wirklich leid. Schon bald würde er alles verlieren, was ihm wichtig war, und keiner von ihnen beiden könnte irgendetwas dagegen unternehmen.

Hör auf, so zu denken, sonst fängst du gleich wieder an zu weinen, ermahnte sie sich.

Er seufzte. „Ich nehme deine Entschuldigung an, aber das ändert nichts. Du bist hier nicht willkommen.“

Er vergab ihr? Endlich, ein Schritt in die richtige Richtung. „Aber…“

„Du bist zwar gefallen, aber du bist immer noch unsterblich. Oder?“ Er gab ihr keine Zeit zu antworten. Ihre Robe hatte sich von allein wiederhergestellt, also musste es für ihn nur logisch erscheinen, dass auch Olivia sich aus eigener Kraft erholen würde. „Morgen früh wird es dir wieder gut gehen. Ich will, dass du diese Burg dann verlässt.“

4. KAPITEL

Aeron schritt in dem langen Flur auf und ab. Das tat er nun schon seit Stunden, und es sah nicht danach aus, als könnte er in nächster Zeit eine Pause machen. Irgendjemand musste die Engelsfrau bewachen. Nicht um sie vor Eindringlingen zu beschützen, sondern um sie daran zu hindern, in die Burg vorzudringen. Nur für den Fall, dass sie hier war, um herumzuschnüffeln und Gespräche zu belauschen, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren.

Auch wenn dieser Gedankengang nicht besonders viel Sinn ergab, würde er dennoch daran festhalten. Natürlich hätte sie als Engel, unsichtbar und unverwundbar, längst irgendetwas mit angehört haben können, das sie nicht hätte hören dürfen. Aber jetzt war sie verwundbar, und die Jäger könnten sie eines Tages entführen und benutzen, um seinen Freunden zu schaden.

Er ballte die Hände zu Fäusten und zwang sich, jeden Gedanken an eine gefolterte Olivia und den Tod seiner Freunde zu verdrängen, bevor er ausrastete und die Wand in Stücke schlug. Oder einen seiner Freunde zu Brei.

Außerdem erwartete ein Teil von ihm, dass Olivia versuchen würde, aus seinem Zimmer zu fliehen und nach Legion zu suchen, sobald es ihr gut genug ginge – was jetzt jeden Moment der Fall sein musste. Obwohl Legion nicht da war, würde Aeron das nicht zulassen, selbst wenn Olivia als gefallener Engel bei ihrer Suche nicht mehr viel Schaden anrichten könnte.

Trotzdem. Womöglich verriete sie einem anderen Engel, was sie herausgefunden hatte – etwa dem von ihr angekündigten Nachfolger –, und dieser Engel könnte versuchen, die Sache zu erledigen.

Nicht mit mir, dachte er.

Seine Freunde hatten ihr Treffen bereits abgehalten – er hatte ihr Murmeln gehört, dann ihr Gelächter, dann ihre Schritte, als sie auseinandergingen –, aber er hatte keine Ahnung, was sie beschlossen hatten. Niemand war zu ihm gekommen. Ob sie die seltsame Frau aufstöbern wollten, der er in der Gasse begegnet war? Ob Lucien auf dem Hügel irgendwelche Hinweise auf Jäger gefunden hatte?

Aeron hatte seine Meinung nicht geändert; er glaubte nicht, dass Olivia mit ihnen unter einer Decke steckte. Allerdings bestand die Möglichkeit, dass sie ihr hierher gefolgt waren. Immerhin waren Attacken aus dem Hinterhalt ihre Spezialität.

Und ehrlich gesagt wäre ein Sturm auf die Burg das perfekte Ende dieser furchtbaren Nacht.

Vor einer halben Stunde hatte er nach Legion gerufen, um sie davor zu warnen, was hier vor sich ging. Normalerweise hörte sie seinen Ruf, ganz gleich, wo sie war, und kam sofort zu ihm. Diesmal nicht. Wie Lucien konnte sie sich allein durch ihre Gedanken von einem Ort zum anderen beamen, doch sie war nicht erschienen.

War sie verletzt? Oder gefangen? Er war nahe daran, sie offiziell zu beschwören, genauso, wie sie es ihm beigebracht hatte – auch wenn er bis zu Olivias Erklärung nicht verstanden hatte, was ihre Worte bedeuteten –, denn das wäre etwas, das sie nicht ignorieren könnte. Je ernsthafter er diese Möglichkeit erwog, desto klarer wurde ihm, dass der Engel – gefallen oder nicht – aus der Burg verschwunden sein müsste, ehe Legion sich wohl genug fühlen würde, um zurückzukommen. Er hatte ihre Angst noch deutlich vor Augen, und wie sie jedes Mal gezittert hatte, wenn sie das Wort „Engel“ auch nur aussprach.

Er hätte Olivia bitten können, der kleinen Dämonin nicht länger wehzutun. Aufzuhören mit dem, was Legion solche Qualen bereitete – was immer das sein mochte. Das Gleiche galt für seine Freunde, auch wenn die anderen Krieger Olivia niemals gespürt hatten. Doch er hatte sie nicht darauf angesprochen. Sie erholte sich von ihren Verletzungen, und er wollte sie nicht dabei stören.

Vor allem, da sie schon so viel für ihn getan hatte. Nicht weich werden.

Also hatte er auch Legion in Ruhe gelassen. Fürs Erste.

Nicht, dass er sich vorstellen konnte, wie die zerbrechliche Olivia irgendjemandem wehtat. Auch nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte – wie groß die auch sein mochten. Wenn es zu einem Kampf käme, hätte Legion ihre Giftzähne binnen Sekunden tief in Olivias Halsschlagader versenkt und sie bewegungsunfähig gemacht.

Das ist mein Mädchen, dachte er und musste grinsen. Doch sein Grinsen war nicht von Dauer. Der Gedanke an eine sterbende Olivia fühlte sich ganz und gar nicht gut an. Sie hatte sich dem Befehl des hohen Rates widersetzt und ihn nicht getötet. Nicht, dass sie das hätte schaffen können, aber sie hatte es nicht einmal versucht. Und genauso wenig hatte sie Legion etwas angetan, obwohl sie dazu vermutlich große Lust gehabt hatte. Sie wollte nichts anderes, als die Freuden des Lebens zu genießen, die ihr bisher eindeutig verwehrt worden waren.

Sie verdiente es nicht, zu sterben.

Einen winzigen Moment lang erwog er, sie bei sich zu behalten. So ruhig wie Zorn in ihrer Gegenwart war – weder verlangte er von ihm, sie für Verbrechen zu bestrafen, die sie vor zwanzig Jahren begangen hatte, noch für solche, die erst einen Tag oder eine Minute her waren –, wäre sie die ideale Gefährtin für ihn. Sie könnte seine Bedürfnisse befriedigen, so wie Paris gesagt hatte.

Bedürfnisse, die zu haben er geleugnet hatte. Allerdings konnte er nicht leugnen, dass sich irgendetwas in ihm geregt hatte, als er sich neben sie gehockt hatte. Irgendetwas Heißes und Gefährliches. Sie hatte nach Sonne und Erde gerochen, und ihre Augen, so blau und rein wie der Morgenhimmel, hatten ihn voller Vertrauen und Hoffnung angesehen. Als wäre er kein Zerstörer, sondern ein Retter. Und es hatte ihm gefallen.

Du Idiot! Ein Dämon, der sich einen Engel hält? Das ist ja wohl ein schlechter Witz. Außerdem ist sie hier, um Spaß zu haben, und du, mein Freund, bist das absolute Gegenteil von Spaß.

„Aeron.“

Endlich. Neuigkeiten. Froh darüber, Olivia aus seinen Gedanken verbannen zu können, wirbelte er herum und erblickte Torin, der mit einer Schulter an der Wand lehnte. Die behandschuhten Arme hatte er vor der Brust verschränkt, und auf seinen Lippen lag ein respektloses Grinsen.

Als Hüter der Krankheit konnte Torin kein anderes Wesen berühren, ohne eine verheerende Plage auszulösen. Die Handschuhe dienten allen anderen zum Schutz.

„Und wieder einmal hält ein Herr der Unterwelt eine Frau in seinem Zimmer gefangen und fragt sich, was er mit ihr machen soll.“ Torin kicherte.

Bevor Aeron antworten konnte, begannen verschiedene Bilder vor seinem geistigen Auge aufzuflackern. Bilder von Torin, der mit eifriger und entschlossener Miene ein Messer hob. Die Klinge versank in einem Körper … fuhr seinem Opfer mitten ins Herz … und kam feucht und rot wieder zum Vorschein.

Der Mann – ein Mensch –, der erstochen worden war, brach zusammen und blieb als regloses Häufchen am Boden liegen. Tot. Auf sein Handgelenk war eine liegende Acht tätowiert – das Unendlichkeitszeichen, Erkennungsmerkmal der Jäger. Torin hatte der Mann nichts getan, ihn nicht einmal bedroht. Die beiden waren sich vor rund vierhundert Jahren einfach nur über den Weg gelaufen, als Torin die Burg verlassen hatte, um endlich mit der Frau zusammen zu sein, in die er sich verliebt hatte. Doch dann hatte er das Zeichen erspäht und angegriffen.

In den Augen von Zorn war der Übergriff bösartig gewesen und ohne jeden Anlass erfolgt. In den Augen von Zorn verdiente der Täter es, bestraft zu werden.

Aeron hatte dieses Ereignis schon unzählige Male vor seinem inneren Auge gesehen und jedes Mal den Drang zu handeln unterdrücken müssen. Das war jetzt nicht anders. Seine Finger legten sich fest um den Griff eines Dolches an seinem Gürtel, und das Bedürfnis, seinen Freund genauso zu erstechen, wie der den Jäger erstochen hatte, war überwältigend.

Ich hätte genau dasselbe getan, schleuderte er seinem Dämon entgegen. Ich hätte diesen Jäger böswillig und ohne jeden Anlass getötet. Torin verdient keine Bestrafung.

Zorn knurrte.

Ruhig. Aeron ließ den Arm fallen. Seine Hand war leer.

„Wollte dein Dämon wieder auf mich losgehen?“, fragte Torin sachlich.

Seine Freunde kannten ihn wirklich gut. „Ja, aber keine Sorge. Ich habe den Bastard unter Kontrolle.“

Er meinte, den Dämon schnauben zu hören.

Je mehr er Zorn verleugnete, desto stärker würde sein Verlangen werden, jeden zu bestrafen – bis dieser Drang Aeron überwältigte und er ausrastete. Dann wäre es wieder so weit: Er flöge in die Stadt, niemand wäre vor ihm sicher, und die kleinsten Sünden würden grausam und gnadenlos bestraft.

Diese Rachefeldzüge waren der Grund dafür, dass Aeron seinen Körper über und über tätowiert hatte. Da er unsterblich war und übernatürlich schnell heilte, hatte er getrocknete Ambrosia unter die Tinte mischen müssen, damit die Bilder dauerhaft blieben, und es hatte wie Feuer gebrannt, als er sich das Gebräu unter die Haut gejagt hatte. Aber hatte es ihm etwas ausgemacht? Zum Teufel, nein. Jedes Mal, wenn er in den Spiegel sah, wurde er an das erinnert, was er getan hatte – und was er wieder tun würde, wenn er nicht aufpasste.

Aber vor allem sorgten die Tätowierungen dafür, dass die Menschen, die durch seine Hand gestorben waren, obwohl sie den Tod nicht verdient hatten, niemals vergessen würden. Manchmal half ihm das, mit seiner Schuld zurechtzukommen. Und manchmal half es ihm dabei, seinen irrationalen Stolz auf die Macht seines Dämons zu dämpfen.

„… sicher, dass du die Kontrolle hast?“

„Was?“, fragte er und tauchte auf aus dem Sumpf seiner Gedanken.

Wieder grinste Torin. „Ich habe dich gefragt, ob du sicher bist, dass du deinen Dämon unter Kontrolle hast. Du bist zwischendrin vollkommen abwesend, und deine Augen leuchten rot.

„Es geht mir gut.“ Im Gegensatz zu der von Olivia floss seine Stimme nicht über vor purer Wahrheit. Die Lüge war zu hören, für jeden, der lauschte.

„Ich glaube dir. Wirklich. Also … können wir jetzt unsere Unterhaltung fortsetzen?“, fragte Torin.

An welcher Stelle hatte er sich ablenken lassen? Ach ja. „Ich bin mir sicher, dass du nicht hergekommen bist, um mich mit unseren verliebten Freunden zu vergleichen. Ich bin wohl kaum so ein verknallter Vollidiot, wie die anderen es waren, als sie ihre Frauen in die Burg geschleppt haben.“

„Jetzt hast du auf einen Schlag meine nächsten drei Witze kaputt gemacht. Mit dir kann man einfach keinen Spaß haben.“

Genau das Gleiche hatte Aeron gedacht, als Olivia ihre drei Sehnsüchte offenbart hatte. Doch als er seine eigenen Gedanken aus Torins Mund hörte, ging ihm das auf unerklärliche Weise gegen den Strich. „Torin. Bitte komm zur Sache.“

„Also gut. Dein Engel sorgt bereits für die ersten Probleme. Einige von uns wollen sie loswerden, und einige wollen, dass sie bleibt. Ich gehöre zum Team ,Bleiben’. Ich schätze, wir müssen sie mit einer Charmeattacke auf unsere Seite ziehen, bevor du dafür sorgst, dass sie uns alle hasst und sich dazu entschließt, dem Feind zu helfen.“

„Halt dich bloß von ihr fern.“ Aeron wollte nicht, dass sich der Krieger in Olivias Nähe aufhielt. Und das hatte rein gar nichts mit dem weißblonden Haar des Mannes zu tun oder mit seinen schwarzen Brauen und den grünen Augen, die niemals etwas ernst zu nehmen schienen und dafür sorgten, dass Torin eine Frau nicht zu berühren brauchte, um sie für sich zu gewinnen.

Torin verdrehte die Augen. „Trottel. Du solltest mir dankbar sein, statt mir zu drohen. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass du sie verstecken sollst. William ist auch im Team ,Bleiben’ und würde die Sache mit dem Charme nur zu gern übernehmen.“

William, ein sexsüchtiger Unsterblicher mit schwarzen Haaren und blauen Augen, die noch schelmischer blitzten als Torins. Ein Krieger, groß, muskulös und ungezügelt. Ein Krieger, dessen einzige Tätowierungen unter seiner Kleidung versteckt waren. Wenn Aeron sich recht erinnerte, trug er ein X über dem Herzen und eine Schatzkarte auf dem Rücken. Eine Schatzkarte, die sich über seine Rippen ausdehnte, seine Taille umschlang und schließlich in seine „Spaßzone“ führte.

Er war ein „echtes Sahneschnittchen“ – wenn man Menschenfrauen glauben konnte – und der Inbegriff von Spaß.

Olivia würde er bestimmt gefallen.

Warum nur hätte Aeron diesen Mann auf einmal am liebsten mit dem Kopf voran gegen die Wand gerammt, um sein hübsches Gesicht zu zerschmettern? Etwas Derartiges hatte er noch nie tun wollen – wenn Zorn auch ständig das intensive Bedürfnis verspürte, den Mann zu bestrafen, indem er sein Herz in Stücke zerfetzte, so wie er es bei Hunderten von Frauen getan hatte. Nur dass Zorn es am liebsten gesehen hätte, wenn Aeron dafür ein Messer benutzte.

Aeron hatte diesem Drang immer widerstanden, weil er William mochte. Zwar war er kein wahrer Herr der Unterwelt wie sie, in der Schlacht konnte man sich aber stets auf ihn verlassen. Wenn es ums Töten ging, war der Mann erstklassig.

Ohne Legions beruhigenden Einfluss bist du nur auf der Suche nach einem Kampf. Das ist alles. Ja. Er war eindeutig kurz davor, durchzudrehen.

„Danke für die Warnung vor William, Torin“, sagte er und hoffte, den richtigen ironischen Tonfall zu treffen. „Auch wenn Olivia nicht lange genug hier sein wird, um dem Charme von irgendwem zu erliegen.“

„William würde dir mit Sicherheit sagen, dass er dafür nur ein paar Sekunden braucht.“

Nicht drauf eingehen. Trotzdem, wenn William auftauchte, würde Aeron vielleicht „versehentlich“ die Kontrolle über Zorn verlieren und ihm erlauben, den Unsterblichen endlich anzugreifen.

Zorn schnurrte zufrieden.

„Ach so“, riss Torin ihn aus seinen düsteren Gedanken, „um von einem Sexsüchtigen zum nächsten zu kommen: Ich soll dir von Paris ausrichten, dass Lucien ihn in die Stadt gebeamt hat, um eine Frau für ihn zu suchen. Lucien hatte vor, ihn dort zu lassen. Er wird also nicht vor morgen früh zurück sein.“

„Gut.“ Seine Erleichterung hatte rein gar nichts damit zu tun, dass Paris weit weg von Olivia war. „Hat Lucien irgendwelche Hinweise auf Jäger gesehen, als er draußen war?“

„Nein. Weder auf dem Hügel noch in Buda.“

„Gut“, wiederholte Aeron und setzte sich wieder in Bewegung. Er schritt von einer Ecke zur anderen. „Irgendein Hinweis auf die dunkelhaarige Frau?“

„Nein, aber Paris hat versprochen, weiterhin nach ihr Ausschau zu halten. Natürlich erst, wenn er wieder bei Kräften ist. Apropos verlorene Kraft: Paris hat erwähnt, dass der Engel verletzt ist. Soll ich dafür sorgen, dass jemand einen Arzt holt?“

„Holen“ hieß in diesem Haushalt „entführen“. „Nein. Sie wird sich von allein erholen.“ Schon seit einiger Zeit waren sie auf der Suche nach einem Arzt, den sie dauerhaft bei sich beschäftigen könnten, allerdings ohne Erfolg. Jetzt, da Ashlyn schwanger war, wurde es dringend. Aber niemand wusste, ob das Baby sterblich sein würde oder ein Dämon, also mussten sie bei ihrer Wahl vorsichtig sein.

Erst vor Kurzem hatten sie erfahren, dass die Jäger schon seit Jahren Unsterbliche mit Sterblichen „paarten“ und dadurch Halbling-Kinder heranzüchteten, mit denen sie eine unaufhaltbare Armee aufbauen wollten. Der Dämon des Babys von Gewalt wäre das Glanzstück in dieser Sammlung. Dieses Baby wäre etwas, das jeder Jäger liebend gern würde benutzen wollen. Und in den Händen des falschen Arztes wären die Geheimnisse der Herren alles andere als sicher.

Torin schüttelte mitfühlend den Kopf, als wäre Aeron zu dämlich, um vernünftig nachzudenken. „Bist du sicher, dass sie von selbst gesund wird? Immerhin hat man sie aus dem Himmel verstoßen.“

„Uns hat man auch aus dem Himmel verstoßen, und trotzdem heilen wir so schnell wie eh und je. Wir können sogar ganze Gliedmaßen nachwachsen lassen.“ Was Gideon, Hüter der Lügen, gerade tat. Während ihrer letzten Schlacht hatten die Jäger ihn gefangen genommen und gefoltert, um Informationen aus ihm herauszuholen – Informationen, die er nicht preisgegeben hatte. Zur Strafe hatten die Jäger ihm beide Hände abgehackt.

Gideon war noch immer ans Bett gefesselt und eine riesengroße Nervensäge.

„Guter Einwand“, meinte Torin.

Auf einmal ertönte der Schrei einer Frau aus Aerons Schlafzimmer.

Er hörte auf herumzutigern, und Torin straffte die Schultern. Als der zweite Schrei ertönte, waren die Männer bereits auf dem Weg, wobei Torin ausreichend Sicherheitsabstand hielt. Aeron riss die Tür auf und war als Erster im Zimmer.

Olivia lag immer noch bäuchlings auf dem Bett, nur dass sie sich jetzt unruhig hin und her warf. Ihre Augen waren geschlossen, und trotz der Schatten, die ihre langen Wimpern warfen, konnte Aeron sehen, dass nun dunkle Ringe unter ihren Augen lagen. Die braunen Haare fielen wirr um ihre zitternden Schultern.

Ihre Robe hatte sich offensichtlich selbst gereinigt. Fast das gesamte Blut war verschwunden. Doch an den Stellen, wo ihr eigentlich bereits neue Flügel hätten wachsen müssen, waren zwei frische blutrote Streifen zu erkennen.

Die Dämonen zerrten an ihr.

Olivia spürte brennend ihre Krallen, die sich tief in ihre Haut bohrten. Überall fühlte sie den klebrigen Schleim, der ihre Schuppen überzog, und ihr fauliger Atem stieg ihr stechend in die Nase. Sie hörte die Schadenfreude in ihrem Gelächter und hätte sich am liebsten übergeben.

„Uiuiui, seht nur, was ich gefunden habe“, krächzte einer von ihnen.

„Einen hübschen kleinen Engel, der uns direkt in die Arme gefallen ist“, gluckste ein anderer.

Schwefelfahnen und der Dunst von Fäulnis machten die Luft dick und schwer, und als sie nach Atem rang, fuhr ihr der Gestank durch die Nase. Sie war soeben gefallen. Die Wolken hatten sich unter ihren Füßen geöffnet, und sie war aus dem Himmel herabgestürzt … tiefer und tiefer, kein Ende in Sicht, während sie verzweifelt nach irgendetwas suchte, woran sie sich festklammern könnte … und als sie das Ende dann doch endlich sah, hatte sich auch der Boden aufgetan, und die Flammen der Hölle hatten sie mit Haut und Haaren verschluckt.

„Und auch noch ein Kriegerengel. Sie hat Gold in den Flügehi.

„Nicht mehr lange.“

Das Zerren wurde fester und brutaler. Sie trat, schlug und biss um sich. Sie versuchte, sich irgendwie zu befreien, um wegzulaufen und sich zu verstecken. Doch zu viele Dämonen umzingelten sie, und die zerklüftete Felslandschaft war ihr fremd. Ihre Anstrengungen blieben wirkungslos. Die Sehnen ihrer Flügel begannen zu reißen; der weiß glühende Schmerz breitete sich aus und umschloss sie vollkommen, bis all ihre Gedanken nur noch um die einzige Möglichkeit kreisten, dieser Pein zu entkommen: sterben.

Bitte. Lasst mich sterben.

Und dann sah sie nur noch Sterne. Alles andere war schwarz geworden. Aber Schwarz war gut, Schwarz war willkommen. Trotzdem gingen das Gelächter und das Gezerre immer weiter. Bald überkam sie ein unsägliches Schwindelgefühl, und ihr Magen brannte vor Übelkeit.

Warum war sie nicht tot? Dann riss einer ihrer Flügel ab, und sie schrie. Der weiß glühende Schmerz verwandelte sich in etwas, das sie erst in diesem Augenblick verstand: echte Qual. Selbst der Tod könnte dieses Leid nicht beenden. Nein, das hier würde sie auch noch in ihrem Leben nach dem Tod verfolgen.

Der andere Flügel folgte im Nu, und sie schrie wieder und wieder und wieder. Immer noch krallten sich Klauen in ihre Kleidung, zerkratzten ihre Haut weiter und versenkten sich in die frischen Wunden auf ihrem Rücken. Dann endlich übergab sie sich, spie die himmlischen Früchte aus, die sie erst am selben Morgen zu sich genommen hatte.

„Jetzt bist du nicht mehr so hübsch, was, Kriegerin?“

Hände betatschten ihren Körper und berührten sie an Stellen, an denen sie noch nie berührt worden war. Mit tränenüberströmtem Gesicht lag sie hilflos da. Das war es. Das Ende. Endlich. Nur dass in dem schwarzen Meer, das sie umgab, noch ein letzter Gedanke glühte: Hatte sie ihr schönes Leben aufgegeben, um in der Hölle zu sterben? Ohne jemals Freude zu erfahren, ohne Zeit mit Aeron verbracht zu haben? Nein. Nein!

Du bist stärker. Kämpfe! Ja. Ja! Sie war stärker. Und sie würde kämpfen. Sie würde …

„Olivia.“

Die harte, vertraute Stimme kroch in ihr Bewusstsein und vertrieb augenblicklich die verhassten Bilder, den Schmerz und den Kummer. Die Entschlossenheit.

„Olivia. Wach auf.“

Ein Albtraum, dachte sie und war ein wenig erleichtert. Nur ein Albtraum. Das hatten Menschen oft. Aber sie wusste, für sie war das Erlebte weitaus mehr gewesen. Nämlich eine Erinnerung. Sie hatte ihre Zeit in der Hölle noch einmal durchlebt.

Ihr Rücken brannte selbst jetzt noch, und der Rest ihres Körpers war von Blutergüssen übersät und verspannt. Während sie sich zur Ruhe zwang, öffnete sie die Augen. Sie war immer noch außer Atem, ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, die Luft brannte in ihrer Nase, und ihre Kehle fühlte sich an, als inhalierte sie Säure. Sie war schweißgebadet, und ihre Robe klebte an ihrer Haut. Das gesegnete Taubheitsgefühl von zuvor war vollständig verflogen. Nun spürte sie alles.

Vielleicht wäre der Tod doch vorzuziehen gewesen.

Erneut hockte sich Aeron neben das Bett und sah sie an. Ein Mann – er hieß Torin, erinnerte sie sich – stand neben ihm und beobachtete sie mit rastlosen grünen Augen.

Ein Dämon, dachte Olivia. Torin war ein Dämon. Genau wie die, die ihr die Flügel ausgerissen hatten. Die sie begrapscht und verhöhnt hatten.

Aus ihrer rauen Kehle drang ein greller Schrei. Sie wollte Aeron, nur Aeron; niemandem sonst vertraute sie. Sie wollte nicht, dass irgendjemand außer ihm für sie sorgte. Und schon gar kein Dämon. Dass auch Aeron besessen war, spielte dabei keine Rolle. Für sie war Aeron einfach nur Aeron. Doch wenn sie Torin ansah, konnte sie an nichts anderes denken als an die geschuppten Hände, die ihr in die Brustwarzen gekniffen und sich zwischen ihre Beine gewühlt hatten. Daran, dass die Besitzer dieser Hände noch viel mehr getan hätten, wenn sie nicht angefangen hätte zu kämpfen.

Kämpfen. Ja. Sie versuchte, nach Torin zu treten, doch ihr dämliches Bein versagte. Ihre Muskeln waren viel zu verkrampft, um ihr zu gehorchen. Hilflos. Schon wieder. In ihren Schrei mischte sich ein Schluchzen. Dann erstickte beides, als sie versuchte, sich aufzurappeln und in Aerons Arme zu werfen. Doch wieder ließ sie ihr kraftloser Körper im Stich.

„Er soll gehen, er soll gehen, er soll gehen“, schrie sie und barg ihr Gesicht im Kissen. Allein der Anblick des anderen Mannes war schmerzhaft für sie. Vom Sehen mochte sie Torin kennen, doch sie kannte ihn nicht so, wie sie Aeron kannte. Sie begehrte ihn nicht so, wie sie Aeron begehrte.

Aeron, der alles besser machen könnte, wie er es Nacht für Nacht für seinen Freund Paris tat. Aeron, der sie genauso beschützen könnte wie seine kleine Legion. Aeron, der so furchteinflößend war, dass er ihre Albträume verscheucht hatte.

Sie spürte, wie sich starke Hände auf ihre Schultern legten und sie sanft in die Matratze drückten, um sie davon abzuhalten, sich weiter zu winden. „Schhh. Ist ja gut. Du musst dich beruhigen, bevor du dir noch mehr wehtust.“

„Was ist los?“, fragte Torin. „Wie kann ich helfen?“

Nein. Nein, nein, nein. Der Dämon war immer noch hier. „Er soll gehen! Mach, dass er weggeht! Jetzt! Sofort!“

„Ich werde dir nicht wehtun, Engel“, sagte Torin sanft. „Ich bin hier, um …“

Hysterie stieg in ihr auf und war kurz davor, sie zu verschlingen. „Er soll gehen. Bitte, Aeron, mach, dass er geht. Bitte.“

Aeron knurrte tief in der Kehle. „Torin, verflucht. Verschwinde endlich. Vorher wird sie sich nicht beruhigen.“

Ein schwerer Seufzer, in dem Trauer mitschwang, und dann, zum Glück, Schritte.

„Warte“, rief Aeron, und Olivia hätte am liebsten geschrien. „Hat sich Lucien neulich wie geplant in die Staaten gebeamt, um für die Frauen Paracetamol zu besorgen?“

„Soweit ich weiß, ja“, erwiderte Torin.

Sie machten Small Talk? Jetzt? „Er soll gehen!“, schrie Olivia.

„Bring mir was davon“, sagte Aeron über sie hinweg.

Die Tür quietschte. Endlich, der Dämon ging – aber er würde wiederkommen, mit dieser Menschenmedizin. Olivia wimmerte. Das konnte sie nicht noch einmal durchstehen. Sie würde aus purer Angst sterben.

„Wirf es einfach ins Zimmer“, fügte Aeron noch hinzu, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

Ich danke dir, du gnadenvolle Gottheit im Himmel. Als Olivia auf die Matratze sank, fiel die Tür ins Schloss.

„Er ist weg“, meinte Aeron leise. „Jetzt sind es nur noch wir zwei.“

Das Bett wackelte unter ihrem heftigen Zittern. „Lass mich nicht alleine. Bitte lass mich nicht alleine.“ Ihr Flehen führte ihr vor Augen, wie schwach sie in diesem Moment wirklich war, doch das kümmerte sie nicht. Sie brauchte ihn.

Aeron strich ihr das schweißnasse Haar aus dem Gesicht, und seine Berührung war genauso sanft wie seine Stimme. Das konnte nicht ihr Aeron sein, der so liebevoll zu ihr sprach und sie so zärtlich berührte. Die Verwandlung war fast zu groß, um es fassen zu können. Warum hatte er sich verändert? Warum behandelte er sie, quasi eine Fremde, so, wie er sonst nur seine Freunde behandelte?

„Vorhin wolltest du, dass ich dich festhalte“, sagte er. „Möchtest du das immer noch?“

„Ja.“ Oh ja. Eigentlich spielte der Grund für seine Veränderung auch gar keine Rolle. Er war hier, und er gab ihr, wonach sie sich schon so lange gesehnt hatte.

Ganz langsam legte er sich neben sie, sorgfältig darauf bedacht, ihr nicht durch eine ungeschickte Bewegung wehzutun.

Als er sich ausgestreckt hatte, rutschte sie langsam an ihn heran, bis ihr Kopf in der Kuhle seiner starken, warmen Schulter lag. Bei der Bewegung zuckten wieder lähmende Schmerzen durch ihren Körper, aber dass sie ihm jetzt so nah war und ihn endlich berührte, war jeden Funken davon wert. Deshalb war sie hergekommen.

Behutsam schlang er einen Arm um ihren unteren Rücken, dort, wo sie unverletzt war, und sein warmer Atem strich an ihrer Stirn entlang. „Warum heilen deine Wunden nicht, Olivia?

Sie liebte es, wenn er ihren Namen sagte. Wie ein Gebet und gleichzeitig ein Flehen, verpackt in dasselbe hübsche Päckchen. „Das habe ich dir schon gesagt. Ich bin gefallen. Ich bin jetzt durch und durch Mensch.“

„Durch und durch Mensch“, wiederholte er, und sie spürte, wie er sich verkrampfte. „Nein, das hast du mir so nicht gesagt. Ich hätte dir schon viel eher Medizin bringen können.“

In seiner Stimme schwang Schuldbewusstsein mit. Schuldbewusstsein und Furcht. Die Furcht verstand sie nicht, war jedoch zu erschöpft, um nachzuhaken. Und dann vergaß sie es. In der Mitte des Zimmers leuchtete ein bernsteinfarbenes Licht auf. Es wurde heller … und heller … so hell, dass sie blinzeln musste.

Ein Körper nahm Gestalt an. Ein großer, muskulöser Körper, der in eine weiße Robe gehüllt war, die ganz ähnlich aussah wie ihre. Als Nächstes erschienen helle Haare, die sich über breiten Schultern wellten. Sie sah Augen, schwarz wie flüssiger Onyx, und blasse, von einem feinen Goldschimmer überzogene Haut.

Sie wollte winken, brachte jedoch nur ein schwaches Lächeln zustande. Der liebe Lysander war endlich hier, um sie zu trösten – wenn auch nur als Produkt ihrer Einbildung. „Ich träume schon wieder. Aber diesmal ist es ein schöner Traum.“

„Schh, schh“, flüsterte Aeron. „Ich bin hier.“

„Genau wie ich.“ Lysander sah sich im Raum um und verzog angewidert die Lippen. „Leider ist das kein Traum.“ Wie immer sagte er die Wahrheit, und aus seiner Stimme klang dieselbe Aufrichtigkeit wie aus ihrer.

Geschah das wirklich? „Aber ich bin doch jetzt ein Mensch. Eigentlich sollte ich dich nicht sehen können.“ Im Prinzip verstieß es jetzt gegen die Regeln, wenn sie ihn sah. Außer ihre Gottheit wollte sie belohnen. Doch in Anbetracht dessen, dass sie gerade ihrem Geburtsrecht den Rücken gekehrt hatte, war das wenig wahrscheinlich.

Jetzt sah er ihr direkt in die Augen – geradewegs, so schien es, bis in ihre Seele. „Ich habe in deinem Namen den Rat angerufen. Sie haben einstimmig beschlossen, dir noch eine letzte Chance zu geben. Deshalb bist du im Augenblick zum Teil immer noch ein Engel und wirst es für die nächsten vierzehn Tage auch bleiben. Vierzehn Tage, in denen du vielleicht deine Meinung änderst und deinen rechtmäßigen Platz wieder einnimmst.“

Glühend heiß durchfuhr sie der Schreck. „Ich verstehe nicht.“ Noch nie zuvor hatte der Rat einem gefallenen Engel eine zweite Chance gegeben.

„Es gibt nichts zu verstehen“, meinte Aeron, der immer noch versuchte, sie zu beruhigen. „Ich passe auf dich auf.“

„Ich bin einer der Sieben, Olivia. Ich wollte vierzehn Tage für dich, also gewährte man dir vierzehn Tage. Um hier zu leben, um zu … genießen. Und um danach zurückzukehren.“ Aus Lysanders brüskiertem Tonfall war herauszuhören, dass sein Status ja wohl alles erklären sollte.

Auch wenn dem nicht so war, machte der hoffnungsvolle Klang in seiner Stimme sie traurig. Das Einzige, was sie an ihrer Entscheidung bereute, war, diesen wundervollen Krieger zu verletzen. Er liebte sie und wollte nur das Beste für sie.

„Es tut mir leid, lieber Lysander, aber ich werde meine Meinung nicht ändern.“

Er schien vor den Kopf gestoßen zu sein. „Auch nicht, wenn man dir diesen Unsterblichen nimmt?“

Sie schaffte es nur knapp, einen entsetzten Schrei zu unterdrücken. Ich bin nicht bereit, ihn aufzugeben. Doch schwach, wie sie jetzt war, gab es nichts, was sie hätte tun können, um ihn zu retten. Das wusste sie genau. „Bist du deshalb …?“

„Nein, nein. Beruhig dich. Ich bin nicht hier, um ihn zu töten.“ Das Wort „noch“ hing unausgesprochen in der Luft. „Wenn du dich zum Bleiben entschließt, wird man seinen neuen Henker erst bestimmen, wenn deine vierzehn Tage um sind.“

Aha. Sie hatte also zwei Wochen mit Aeron sicher. Nicht mehr und nicht weniger. Das müsste reichen. Sie würde sich so viele Erinnerungen schaffen, dass sie davon ein Leben lang zehren könnte. Vorausgesetzt, sie konnte Aeron davon überzeugen, sie hierzubehalten. Und so stur, wie er war …

Sie seufzte. „Danke“, sagte sie zu Lysander. „Für alles. Das hättest du nicht für mich tun müssen.“ Vermutlich hatte er mit dem Rat für dieses Entgegenkommen knallhart verhandeln müssen, ob er nun den Sieben angehörte oder nicht. Doch er hatte es, ohne zu zögern, getan, nur damit sie die Freude und Leidenschaft erleben könnte, nach der sie sich so sehnte, bevor sie sich wieder auf ihren Platz im Himmel begäbe. Sie würde ihm nicht sagen, dass sie nicht zurückgehen konnte, ganz gleich, was geschähe.

Wenn sie nach vierzehn Tagen zurückginge, würde man von ihr erwarten, dass sie Aeron tötete – und sie wäre immer noch nicht fähig dazu. „Ich liebe dich. Ich hoffe, du weißt das. Egal, was passiert.“

„Olivia“, sagte Aeron, offensichtlich irritiert.

„Er kann mich weder sehen, hören noch spüren“, erinnerte Lysander sie. „Jetzt wird ihm gerade klar, dass du nicht mit ihm sprichst, und er denkt, dass du vor Schmerzen halluzinierst.“ Ihr Mentor trat auf das Bett zu. „Ich muss dich daran erinnern, dass der Mann ein Dämon ist, Liv. Er verkörpert alles, wogegen wir kämpfen.“

„Genau wie deine Frau.“

Er baute sich vor ihr auf und hob das Kinn. Immer der starrköpfige Krieger, ihr Lysander. Genau wie Aeron. „Bianka hat keines unserer Gesetze gebrochen.“

„Aber wenn sie es getan hätte, hättest du trotzdem mit ihr zusammen sein wollen. Du hättest schon einen Weg gefunden.“

„Olivia?“, wiederholte Aeron.

Lysander beachtete ihn nicht. „Warum solltest du dich entscheiden, als Mensch mit ihm zusammenzuleben, Olivia? Nur um ein paar Minuten in seinen Armen zu liegen? Das bringt dir nichts als ein gebrochenes Herz und Enttäuschung.“

Wieder lag die reine Wahrheit in seiner Stimme. Lügen war in ihrer Welt – nein, in seiner, dachte sie traurig – nicht erlaubt. Dennoch weigerte sie sich, ihm zu glauben. Hier würde sie Dinge tun, nach denen sie sich verzweifelt sehnte. Sie würde nicht nur wie ein Mensch leben, sondern auch wie einer fühlen.

Die Schlafzimmertür ging auf und rettete sie vor einer Antwort. Ein kleines Plastikfläschchen wurde hereingeworfen. Es landete auf dem Boden, nur wenige Zentimeter von Lysanders ledernen Sandalen entfernt.

„Hier ist die Medizin“, rief Torin. Und schon schloss sich die Tür, bevor Olivia wieder anfangen konnte zu schreien.

Aeron wollte aufstehen, doch Olivia schmiegte sich fester an ihn. „Nein“, sagte sie und verzog vor Schmerzen das Gesicht. „Bleib liegen.“

Er hätte sie zur Seite stoßen können, unterließ es jedoch. „Ich muss die Tabletten holen. Sie werden deine Schmerzen lindern.“

„Später“, sagte sie. Jetzt, da sie einander berührten und sie die Wärme seines Körpers spürte, die sie wohlig einhüllte und beruhigte, wollte sie dieses Gefühl nicht mehr missen. Nicht einen Augenblick.

Zuerst dachte sie, er würde ihr die Bitte abschlagen, doch dann entspannte er sich und hielt sie fester. Olivia seufzte zufrieden und begegnete wieder einmal Lysanders hartem Blick. Finster starrte er sie an.

„Darum“, war ihre verspätete Antwort. Kuscheln gehörte nicht zu den Dingen, die Engel taten. Natürlich hätten sie es tun können, wenn sie gewollt hätten, aber keiner hatte es je getan. Warum auch? Sie waren alle wie Brüder und Schwestern, und körperliches Verlangen war kein Teil ihres Wesens.

„Darum was?“, fragte Aeron, immer noch irritiert.

„Darum mag ich dich“, erwiderte sie aufrichtig.

Er spannte sich an, sagte aber nichts.

Lysander kniff die Augen zusammen und breitete seine Flügel in einer fließenden Bewegung aus, im Mondlicht schimmerten sie golden. Eine einzelne Feder fiel zu Boden. „Ich lasse dich jetzt erst einmal in Ruhe gesund werden, Liebes, aber ich werde wiederkommen. Du gehörst nicht hierher. Und ich habe das Gefühl, das wirst du mit der Zeit auch merken.“

5. KAPITEL

In dieser ersten Nacht, nach ihrem merkwürdigen Selbstgespräch, schlief Olivia irgendwann endlich ein. Im Schlaf stöhnte sie wieder vor Schmerzen und wälzte sich im Bett umher, wobei sie ihre Wunden von Neuem aufriss. In der zweiten Nacht begann das Gemurmel über Dämonen. Fass mich nicht an, du widerliche Bestie. Wimmern, Würgen. Bitte, fass mich nicht an. In der dritten Nacht herrschte eine tödliche Stille.

Aeron war das Flehen fast lieber gewesen.

Die ganze Zeit über tupfte er ihr den Schweiß von der Stirn, leistete ihr Gesellschaft – er las ihr sogar einen von Paris’ Liebesromanen vor, auch wenn sie davon nichts mitbekam – und zwang sie, zerkleinerte Tabletten mit etwas Flüssigkeit herunterzuspülen. Er wollte nicht ihr Leben auf dem Gewissen haben.

Aber noch viel mehr wollte er, dass sie aus seinem Leben verschwand – ganz gleich, wie stark sein Köper auf ihre Nähe reagierte. Oder beim Gedanken an sie. Er hatte nicht gelogen. Sobald es ihr wieder gut ginge, würde sie gehen. Eben weil sein Körper so auf sie reagierte.

Doch noch schlimmer war die Reaktion seines Dämons. Er setzte sich allen Ernstes für sie ein.

Bestraf sie, verlangte der Dämon zum … wievielten Mal? Zum hundertsten? Bestraf diejenigen, die ihr wehgetan haben. Während Aerons Blutrausch hatte der Dämon auch oft mit ihm gesprochen – in Ein-Wort-Kommandos – und zusätzlich grauenvolle Bilder durch seinen Kopf geschickt. Aber während der vergangenen drei Tage bestand die bevorzugte Kommunikationsmethode von Zorn aus ganzen Sätzen, was für Aeron extrem ungewohnt war. Wo war die friedliche Stille geblieben, die Olivia ausgelöst hatte?

Außerdem war er sich nicht sicher, was Olivia nach ihrem Fall hatte erleiden müssen, und konnte sich nicht gestatten, es herauszufinden. Denn vielleicht wäre er dann nicht mehr in der Lage, seinen Dämon aufzuhalten. Er konnte ihn ja jetzt schon kaum noch kontrollieren. Und wenn er die Wahrheit erst kannte, wollte er seinen Dämon womöglich gar nicht mehr aufhalten – sondern würde zum ersten Mal genießen, wozu er fähig war …

Hör auf, so zu denken. Aeron wollte gegenüber Olivia nicht noch sanftere Gefühle entwickeln, als er es bereits getan hatte, und genauso wenig wollte er, dass sie eine noch größere Rolle in seinen Gedanken und Entscheidungen spielte. Sein Leben war kompliziert genug. Und schon jetzt hatte sie es noch komplizierter gemacht.

Sie wollte Spaß haben. Wie er ihr versichert hatte, war Spaß nicht gerade ein Begriff, mit dem er viel anfangen konnte – und er hatte auch keine Zeit, es zu lernen. Aber darüber war er keineswegs enttäuscht. Ehrlich nicht.

Sie wollte lieben. Dafür war er in keinster Weise die richtige Adresse. Nie und nimmer brächte er eine romantische Beziehung zustande. Schon gar nicht mit jemandem, der so zerbrechlich war wie Olivia. Doch auch darüber war er nicht enttäuscht. Ehrlich nicht.

Sie wollte Freiheit. Die konnte er ihr geben. In der Stadt. Wenn sie sich nur endlich erholen würde, verdammt!

Aber sie würde schon noch gesund, sonst würde er – bei den Göttern! – irgendwann seinen Dämon von der Leine lassen.

Bestraf sie. Bestraf diejenigen, die ihr wehgetan haben.

Warum nur mochte sein Dämon sie? Und Zorn musste sie mögen. Das war die einzig mögliche Erklärung dafür, dass er den Drang verspürte, Wesen anzugreifen, die ihnen nie persönlich begegnet waren. Er hatte Zeit gehabt, darüber nachzudenken – viel zu viel Zeit –, und dennoch hatte er keine Antworten gefunden.

Aeron rieb sich übers Gesicht. Weil er nicht von Olivias Seite weichen wollte, hatte Lucien sich weiter um Paris kümmern und dafür sorgen müssen, dass der Krieger seinen Dämon anständig befriedigte. Torin wiederum hatte sich um Mahlzeiten für Aeron kümmern und ihm den lieben langen Tag Tabletts mit Essen bringen müssen, ohne jedoch auf ein Schwätzchen bleiben zu dürfen. Falls Olivia aufwachte und den Mann sähe … Er war nicht unbedingt wild darauf, sie noch einmal so entsetzt schreien zu hören.

Zu allem Überfluss hatten die Frauen in der Burg von der Anwesenheit des Engels Wind bekommen und waren alle zusammen vor seiner Tür aufgetaucht, um Olivia willkommen zu heißen. Natürlich hatte er nicht eine von ihnen hereingelassen. Schließlich wusste er nicht, wie Olivia auf sie reagieren würde. Außerdem hatte keine der Frauen gewusst, wie man dem Engel helfen konnte. Er hatte gefragt. Na ja, gut, er hatte sie angeknurrt.

Doch mittlerweile hätte er ohne Murren weitere Angstattacken von ihr ertragen, wenn das bedeutet hätte, dass sie das Bewusstsein wiedererlangte. Warum, zum Teufel, wachte sie nicht auf? Er drehte sich vorsichtig auf die Seite, um sie nicht schmerzhaft anzustoßen, und blickte auf sie hinab. Zum ersten Mal kuschelte sie sich nicht an ihn, sondern blieb reglos liegen. Ihre Haut war geisterhaft blass, und tiefblau schimmerten ihre Venen hindurch. Wie ein verfilztes Nest lagen ihre Haare um ihren Kopf. Ihre Wangen waren eingefallen, und dort, wo sie darauf herumgekaut hatte, waren ihre Lippen verschorft.

Dennoch war sie unbeschreiblich schön. Sogar entzückend, auf eine Beschütz-mich-auf-ewig-Art. So sehr, dass sich seine Brust bei ihrem Anblick zusammenzog. Aber nicht vor Schuld, sondern in einem besitzergreifenden Drang, selbst derjenige zu sein, der sie beschützte. Ein Drang, der ihn bis ins Mark durchzog.

Sie musste gesund werden, und er musste sie loswerden. Und zwar schnell.

„Wenn es so weitergeht, wird sie sterben“, knurrte er die Decke an. Ob er zu ihrer einen wahren Gottheit sprach oder zu seinen Göttern, wusste er nicht genau. „Ist es das, was ihr wollt? Dass eine von euch unvorstellbar leidet, bevor sie elendig zugrunde geht? Ihr könnt sie retten.“

Sieh dich nur an, dachte er angewidert, wie du um ein Leben bettelst. Das machen nicht mal die Menschen.

Doch das hielt ihn nicht davon ab. „Warum tut ihr es nicht?“

Ein kaum hörbares … Grollen? … traf auf seine Ohren. Aeron erstarrte. Während er einen der Dolche ergriff, die er auf den Nachtschrank gelegt hatte, raste sein Blick durchs Zimmer. Er und Olivia waren alleine. Kein göttliches Wesen war erschienen, um ihn für seinen anmaßenden Tonfall zu bestrafen.

Langsam entspannte er sich wieder. Vermutlich machte sich allmählich der Schlafmangel bemerkbar.

Die Dunkelheit war schon längst hereingebrochen, und das Mondlicht fiel durch die Glastüren, die auf den Balkon führten. Der Anblick war so friedlich und sein Körper so erschöpft, dass er eigentlich endlich hätte einschlummern sollen. Doch er tat es nicht. Er konnte nicht.

Was würde er tun, wenn Olivia stürbe? Würde er sie so betrauern wie Paris seine Sienna? Mit Sicherheit nicht. Er kannte sie ja gar nicht. Wahrscheinlich würde er sich schuldig fühlen. Sehr, sehr schuldig. Sie hatte ihn gerettet, und er hätte bei ihrer Rettung versagt.

Du verdienst sie nicht.

Als der Gedanke durch seinen Kopf schlich, blinzelte er. Die Stimme gehörte nicht zu Zorn, dazu war die Klangfarbe zu tief und zu rau, und dennoch kam sie ihm bekannt vor. War Sabin, der Hüter von Zweifel, aus Rom zurückgekehrt und griff gerade aus alter Gewohnheit Aerons Selbstvertrauen an?

„Sabin“, zischte er – sicherheitshalber.

Keine Antwort.

Sie ist zu gut für dich.

Diesmal rumorte Zorn in seinem Kopf. Unruhig pirschte der Dämon durch seinen Schädel, aufgescheucht von dieser Stimme.

Also nicht Sabin. Erstens hätte Aeron die Ankunft seines Kriegertrupps in der Burg gehört, und zweitens wusste er, dass ihre Rückkehr erst in ein paar Wochen geplant war. Außerdem schwang in diesen Zweifeln kein schadenfroher Unterton mit, und Sabins Dämon hatte immer einen Heidenspaß dabei, sein Gift zu versprühen.

Wer also trieb seine Spielchen mit ihm? Wer besaß die Macht, in seinem Kopf zu sprechen?

„Wer ist da?“, fragte er herausfordernd.

Das spielt keine Rolle. Ich bin hier, um sie zu heilen.

Sie heilen? Aeron entspannte sich ein wenig. In der Stimme schwang Wahrheit mit, so wie in Olivias. War das ein Engel? „Danke.“

Spar dir deinen Dank, Dämon.

Solche Wut von einem Engel? Unwahrscheinlich. Oder war es vielleicht ein Gott, der seine Gebete erhört hatte? Nein, unmöglich, entschied Aeron. Die Götter liebten den großen Auftritt und hätten die Gelegenheit genutzt, um sich zu zeigen und Dankbarkeit einzufordern. Und wenn es sich um Olivias Gottheit gehandelt hätte, wäre zumindest die Anwesenheit einer großen Macht spürbar gewesen. Doch da war … nichts. Aeron spürte, roch und sah nichts.

Ich glaube fest daran, dass sie kurz nach dem Aufwachen anfangen wird, dich so zu sehen, wie du in Wahrheit bist.

Weil sich das Wesen so sicher war, dass sie aufwachen würde, kümmerte Aeron sich nicht weiter um die versuchte Beleidigung. Er war viel zu erleichtert. „Und wie bin ich?“ Nicht, dass es ihn interessierte … Doch anhand der Antwort könnte er womöglich den unsichtbaren Sprecher identifizieren.

Wertlos, bösartig, hinterhältig, dämlich, starrsinnig, verdorben, unwürdig und verdammt.

„Warum so zurückhaltend?“, fragte er trocken. Er hoffte, seine Ironie würde davon ablenken, dass er langsam näher zu Olivia rückte, um ihren Körper durch seinen abzuschirmen. Bösartig und hinterhältig – das waren die Lieblingsadjektive der Jäger. Doch ein Jäger hätte Aeron angegriffen, bevor er irgendwer]! half. Selbst wenn es einer ihrer Köder war.

Er fragte sich erneut, ob die Stimme in seinem Kopf einem Engel gehörte. Trotz der Wut und des offensichtlichen Hasses.

Wieder ertönte ein Grollen. Deine Dreistigkeit untermauert meinen Standpunkt nur noch. Weshalb ich ihr erlauben werde, dich kennenzulernen, wie sie es sich gewünscht hat. Ich habe nämlich das Gefühl, dass ihr das, was sie erfahren wird, nicht gefallen wird. Aber sieh bloß zu, dass du sie nicht… beschmutzt. Falls du es doch tust, werde ich dich und alle, die du liebst, unter die Erde bringen.

„Sie beschmutzen? Das würde ich niemals …“

Ruhe. Sie wacht jetzt auf.

Und tatsächlich, Olivia stöhnte. Die Erleichterung, die ihn in diesem Moment durchflutete, war mehr als unvernünftig. Dafür, dass er diese Frau weder kannte noch betrauern würde, war das Gefühl viel zu stark. Eines wusste er genau: Wer auch immer der Sprecher war, er war mächtig. Sonst hätte er Olivia niemals so schnell aus diesem todesähnlichen Schlaf wecken können.

„Danke“, wiederholte er. „Sie hat zu Unrecht gelitten, und …“

Ich habe dir doch gesagt, du sollst still sein! Wenn du es wagst, ihren Heilungsprozess zu stören, Dämon … Ach, weißt du was? Für heute habe ich wirklich genug von dir. Schlaf.

Obwohl er sich dagegen wehrte, schien sein Körper unfähig zu sein, dem Befehl zu widerstehen, und nur wenige Zentimeter neben Olivia sank er auf die Matratze. Bleischwer fielen seine Lider zu, und eine unbezwingbare Lethargie ergriff von ihm Besitz und zerrte ihn wild um sich tretend und schreiend in eine Dunkelheit, die er noch kurz zuvor dankend begrüßt hätte. Doch die Dunkelheit konnte ihn nicht davon abhalten, einen Arm nach Olivia auszustrecken und sie eng an seine Seite zu ziehen. Wohin sie gehörte.

Ihre Lider waren noch viel zu schwer, um sie zu öffnen. Olivia streckte die Arme über den Kopf und drückte ihren Rücken durch, wobei sich die Verspannungen in ihren Muskeln lösten. Ahhh, tat das gut. Lächelnd tat sie einen tiefen Atemzug, der eine Mischung aus exotischen Gewürzen und verbotenen Fantasien mit sich brachte. Ihre Wolke hatte noch nie so … sexy gerochen. Und sie war auch nie so warm gewesen. Fast schon unverschämt warm.

Am liebsten wäre sie für immer so liegen geblieben, aber Trägheit war nichts für Engel. Heute werde ich Lysander besuchen, beschloss sie. Falls er nicht mal wieder für irgendeine geheime Mission unterwegs war und falls er sich nicht mit Bianka zurückgezogen hatte. Danach würde sie sich in die Burg nach Budapest begeben. Was Aeron heute wohl vorhatte? Ob seine Gegensätze sie wieder so faszinieren würden? Würde er wieder ihre Anwesenheit spüren, wozu er eigentlich gar nicht in der Lage sein sollte, und dann von ihr verlangen, sich zu zeigen, damit er sie umbringen könnte?

Auch wenn sie ihm seine Wut nicht übel nehmen konnte, verletzte diese Forderung ihre Gefühle jedes Mal wieder. Weder wusste er, wer sie war, noch, was sie für Absichten hatte. Ich will, dass er mich kennt, dachte sie. Sie war liebenswert; ja, wirklich. Na ja, jedenfalls für die anderen Engel. Sie war sich nicht sicher, was ein dämonenbessener Krieger von ihrem wahren Ich halten würde, das vermutlich sein genaues Gegenteil war.

Nur dass Aeron ihr nicht wie ein Dämon vorkam. In keiner Weise. Er nannte Legion sein „geliebtes Baby“, kaufte ihr Diademe und dekorierte sein Zimmer nach ihrem Geschmack. Er hatte sogar seinen Freund Maddox damit beauftragt, ein Sofa für sie zu bauen. Ein Sofa, das neben seinem Bett stand und auf dem pinkfarbene Spitze drapiert war.

Olivia wollte auch einen eigenen Platz in seinem Schlafzimmer.

Neid steht dir nicht besonders gut, erinnerte sie sich selbst. Du hast vielleicht kein spitzengeschmücktes Sofa, aber dafür hast du unzähligen Menschen dabei geholfen, zu lachen, sich zu freuen und ihr Leben zu lieben. Ja, daraus zog sie viel Befriedigung. Aber … jetzt wollte sie mehr. Vielleicht hatte sie schon immer mehr gewollt und es bis zu ihrer „Beförderung“ nur nicht erkannt.

Ich bin ja so gierig, dachte sie seufzend.

Die granitharte und zugleich samtige Matratze unter ihr bewegte sich und stöhnte.

Moment. Granithart? Bewegte sich? Stöhnte? Plötzlich hatte Olivia keine Probleme mehr, ihre Augen zu öffnen. Bei dem Anblick, der sich ihr bot – oder nicht bot –, setzte sie sich ruckartig auf. Der indigoblaue Schimmer kurz vor der aufgehenden Sonne und ihre dicke, weiche Wolke waren nirgendwo in Sicht. Stattdessen sah sie ein Zimmer mit rauen Steinwänden, einem Holzfußboden und polierten Kirschholzmöbeln.

Außerdem ein Miniatursofa mit pinkfarbener Spitze.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Gefallen. Ich bin gefallen. Sie war in die Hölle hinabgestoßen worden, und die Dämonen … Denk nicht an sie. Selbst bei dieser kurzen Erinnerung hatte sie angefangen zu zittern. Ich bin jetzt bei Aeron. Ich bin in Sicherheit. Doch wenn sie wirklich sterblich war, warum fühlte sie sich dann so … fit?

Die nächste Erkenntnis: weil sie kein richtiger Mensch war.

Ihr blieben vierzehn Tage, rief sie sich Lysanders Worte ins Gedächtnis, bevor sie ihre engelhaften Eigenschaften allesamt und endgültig verlöre. Bedeutete das … War es möglich, dass ihre Flügel …

Sie biss sich auf die Lippe und wagte kaum zu hoffen, als sie nach hinten fasste und ihren Rücken befühlte. Bei dem, was sie ertastete, sackten ihre Schultern sowohl aus Erleichterung als auch aus Enttäuschung nach unten. Keine Verletzungen mehr, aber ihre Flügel waren auch nicht nachgewachsen.

Deine Wahl, deine Konsequenzen. Ja. Sie akzeptierte es. Aber es war trotzdem seltsam. Dieser flügellose Körper gehörte ihr? Ein Körper, der nicht für immer und ewig leben würde? Ein Körper, der neben dem Guten auch das Schlechte spürte?

Ja, und das ist auch in Ordnung, versicherte sie sich schnell. Sie war in der Burg der Herren, und sie war bei Aeron. Bei Aeron, der unter ihr lag. Wie lustig. Bislang hatte dieser Körper nur Schlechtes erfahren, und sie war mehr als bereit für das Gute.

Olivia rutschte von ihm herunter und drehte sich auf die Seite, um ihn zu mustern. Er schlief immer noch, seine Gesichtszüge waren entspannt, ein Arm lag hinter seinem Kopf und der andere an seiner Seite, wo bis eben gerade sie gelegen hatte. Er hatte sie festgehalten. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem verträumten Lächeln, und ihr Herz flatterte wild.

Er trug kein T-Shirt, und das beschleunigte das wilde Flattern ihres Herzens nur noch. Sie war auf seiner bunten, breiten Brust ausgestreckt gewesen und auf diesen kleinen braunen Brustwarzen, hatte auf diesen definierten Muskeln und dem faszinierenden Nabel gelegen.

Leider trug er Jeans. Aber dafür waren seine Füße nackt, und sie sah, dass sogar seine Zehen tätowiert waren. Sie sahen einfach hinreißend aus.

Hinreißend? Wirklich? Wer bist du? Auf diesen Zehen wurden Menschen ermordet. Und trotzdem hätte sie sie am liebsten berührt. Stattdessen fuhr sie mit der Fingerkuppe über den Schmetterling auf seinen Rippen. Die Flügel bogen sich am Ende zu scharfen Spitzen und machten dadurch jegliche Illusion von Romantik zunichte.

Bei ihrer Berührung atmete er kräftiger aus als zuvor, und sie zuckte zurück. Auf keinen Fall wollte sie dabei erwischt werden, wie sie ihn betatschte. Zumindest nicht ohne seine Erlaubnis. Da die Bewegung heftiger ausfiel als geplant, verlor sie das Gleichgewicht, fiel aus dem Bett und plumpste mit einem schmerzhaften Klonk auf den Boden. Die Haare fielen ihr übers Gesicht, und als sie die Strähnen wegstrich, sah sie, dass sie Aeron geweckt hatte.

Er setzte sich auf und blickte scharf zu ihr hinunter.

Olivia schluckte und winkte ihm schüchtern zu. „Ah, guten Morgen.“

Er ließ seinen Blick über sie schweifen und kniff leicht die Augen zusammen. „Du siehst besser aus. Viel besser.“ Seine Stimme klang rau. Vermutlich vom Schlafen und nicht von dem Verlangen, nach dem sich ihr ganzer Körper sehnte. „Bist du geheilt?“

„Ja, danke.“ Zumindest glaubte sie, geheilt zu sein. Nur ihr Herz musste sich noch beruhigen – dieser ungleichmäßige Schlag war ihr vollkommen fremd. Und sie spürte einen Schmerz in der Brust. Zwar nicht zu vergleichen mit dem Schmerz, den sie im Rücken verspürt hatte, aber dennoch seltsam. Sogar ihr Bauch schien zu zittern.

„Du hast drei Tage lang gelitten. Ist wirklich alles wieder gut? Oder hast du noch irgendwo Schmerzen?“

„Drei Tage?“ Sie hatte gar nicht bemerkt, dass so viel Zeit vergangen war. Doch zugleich schienen drei Tage kaum genug zu sein, um sich von solch schweren Verletzungen zu erholen. „Wie kommt es, dass ich mich heute so gut fühle?“

Er blickte finster drein. „Wir hatten letzte Nacht Besuch. Der Besucher wollte mir zwar nicht seinen Namen verraten, aber er sagte, er würde dich heilen, und ich schätze, er hat sein Wort gehalten. Er mochte mich übrigens nicht.“

„Mein Mentor.“ Natürlich. Sie zu heilen bedeutete zwar, die Regeln zu beugen, aber Lysander hatte schließlich dabei geholfen, diese Regeln überhaupt erst aufzustellen. Wenn also jemand wusste, wie er sie umgehen konnte, dann er. Und ein Engel, der Aeron nicht mochte? Das konnte eigentlich nur Lysander sein.

Wieder musterte Aeron sie eindringlich, als suchte er trotz der unwiderlegbaren Wahrheit in ihrer Stimme immer noch nach Verletzungen. Seine Pupillen weiteten sich und löschten das fantastische Violett seiner Iris aus. Allerdings nicht vor Freude, sondern vor … Wut? Schon wieder? Sie hatte nichts getan, das seine vorherige Zärtlichkeit hätte zunichtemachen können. Hatte also Lysander etwas gesagt, das ihn verärgerte?

„Deine Robe …“, krächzte er und wandte ihr dann blitzschnell den Rücken zu. Sein zweites Schmetterlingstattoo leuchtete ihr entgegen, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Wie diese scharfkantigen Flügel wohl schmeckten? „Richte sie.“

Sie zog die Augenbrauen hoch und sah an sich herunter. Ihre Beine waren entblößt, und die Robe bauschte sich um ihre Taille und enthüllte den knappen weißen Slip, den sie trug. Das konnte ihn unmöglich so verärgern. Anya, die Frau von Lucien und niedere Göttin der Anarchie, trug an manchen Tagen wesentlich weniger. Dennoch zog Olivia den weichen, fließenden Stoff bis zu ihren Knöcheln herunter. Sie hätte aufstehen und sich wieder zu ihm ins Bett legen können, aber sie beschloss, weder einen Sturz noch Zurückweisung zu riskieren.

„Ich bin jetzt bedeckt“, sagte sie.

Als er sich wieder umgedreht hatte und sie mit immer noch geweiteten Pupillen ansah, neigte er den Kopf zur Seite, als ginge er ihr Gespräch noch einmal durch. „Warum hast du einen Mentor?“

Diese Frage war leicht zu beantworten. „Genau wie die Menschen müssen auch Engel zu überleben lernen. Sie müssen lernen, wie man den Bedürftigen hilft und wie man Dämonen bekämpft. Mein Mentor war – ist – unter seinesgleichen der großartigste, und ich hatte großes Glück, dass ich mit ihm arbeiten durfte.“

„Sein Name.“ Die zwei Worte knallten wie Peitschenhiebe.

Warum reagierte er so wütend? „Ich glaube, er ist ein Bekannter von dir. Du kennst doch Lysander, nicht wahr?“

Endlich schrumpften Aerons Pupillen und gaben die violetten Iris wieder frei, die Olivia sogleich in ihre unwiderstehlichen Tiefen zogen. „Biankas Lysander?“

Bei der Beschreibung musste sie lächeln. „Ja. Er hat mich übrigens auch besucht.“

„In der Nacht, als ich dachte, du würdest Selbstgespräche führen“, sinnierte er nickend.

„Ja.“ Und er hatte vor wiederzukommen. Das erwähnte sie jedoch lieber nicht. Lysander liebte sie und würde Aeron – noch – nicht verletzen, weil das auch sie verletzen würde. Wenigstens war das die Hoffnung, an die sie sich klammerte.

Aeron starrte sie düster an. „Die Engelsbesuche müssen aufhören, Olivia. Mit den Jägern und unseren Dämonen gibt es schon genug, worum wir uns kümmern müssen. Auch wenn Lysander dir geholfen hat und auch wenn ich dankbar dafür bin, kann ich noch mehr Einmischung nicht dulden.“

Sie lachte. Sie konnte einfach nicht anders. „Viel Glück dabei.“ Einen Engel aufzuhalten war genauso, wie den Wind zu fangen. In einem Wort: unmöglich.

Sein finsterer Blick wurde noch intensiver. „Hast du Hunger?

Der Themenwechsel störte sie nicht. Im Gegenteil, er freute sie. Mit seinen Freunden machte er oft dasselbe. Ohne Vorwarnung sprang er von einem Thema zum nächsten. „Und wie.

„Dann werde ich dir was zu essen holen, bevor ich dich in die Stadt bringe“, erklärte er, wobei er die Beine aus dem Bett schwang und aufstand.

Olivia rührte sich noch immer nicht vom Fleck, doch diesmal, weil ihre Gliedmaßen sich anfühlten, als wären sie an riesige Steine gekettet. Erstens: Er war umwerfend. Er bestand durch und durch aus Muskeln, Gefahr und köstlich bunter Haut. Zweitens … „Du willst mich immer noch rauswerfen?“

„Sicher.“

Wag es ja nicht, zu weinen. „Aber warum?“ Hatte Lysander etwa irgendetwas gesagt?

„Die bessere Frage ist: Wann habe ich dir Anlass gegeben, etwas anderes zu denken?“ Er ging langsam in sein Badezimmer und entschwand aus ihrem Sichtfeld. Sie hörte Kleidung rascheln und als nächstes Wasser auf Porzellan prasseln.

„Aber du hast mich die ganze Nacht im Arm gehalten“, rief sie. „Du hast dich drei Tage lang um mich gekümmert.“ Das musste doch etwas bedeuten. Oder? Männer taten so etwas nicht, wenn sie nicht bis über beide Ohren verliebt waren. Oder? In ihrer gesamten Zeit mit Aeron hatte sie ihn nie zusammen mit einer Frau gesehen. Außer mit Legion, aber die kleine Dämonin zählte nicht. Sie hatte er niemals die ganze Nacht im Arm gehalten. Seine Zuwendung Olivia gegenüber war also etwas Besonderes. Oder?

Keine Antwort. Dafür zogen schon bald Wasserdampf und der Duft von Sandelholzseife durchs Zimmer. Als ihr klar wurde, dass er duschte, setzte ihr Herz einen Schlag aus, nur um dann wieder zu rasen. In den Wochen, in denen sie ihn beobachtet hatte, hatte er nie in ihrer Anwesenheit geduscht, sondern immer gewartet, bis sie gegangen war.

Endlich seinen nackten Körper zu sehen war zu einer Obsession geworden.

War er da auch tätowiert? Zwischen den Beinen? Falls ja, welches Motiv hatte er wohl gewählt?

Und warum will ich genauso über dieses Motiv lecken wie über die Schmetterlinge? Vor Olivias Augen tauchten erotische Bilder von sich und Aeron auf, und sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, bevor sie überrascht erstarrte. Schlimmes, ungezogenes Mädchen. Was für ein unbändiges Verlangen …

Na ja, ich bin eben nicht mehr zu hundert Prozent ein Engel, rief sie sich in Erinnerung. Und jetzt wollte sie ihn sehen – und schmecken. Also würde sie ihn sehen – und hoffentlich auch schmecken. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, verdiente sie eine kleine Belohnung. Oder vielleicht sogar eine große? So oder so, sie würde die Burg nicht verlassen, bevor sie nicht wenigstens einen kurzen Blick auf ihn erhascht hätte.

Entschlossen stand Olivia auf. Doch ohne die Flügel hatte sie kein Gefühl mehr fürs Gleichgewicht, und so fiel sie vornüber. Ein scharfer Schmerz pochte in ihren Knien, und sie wimmerte kurz auf. Aber dieser Schmerz war zu ertragen. Nachdem sie ihr die Flügel ausgerissen hatten, war vermutlich alles zu ertragen.

Wieder stand sie auf. Wieder fiel sie hin. Grrr! Viel zu früh ging das Wasser aus. Sie hörte nasse, nackte Füße über Marmor tapsen und dann Baumwolle von Metall gleiten.

Beeil dich! Bevor es zu spät wäre.

Um die Balance zu halten, setzte sie einen Fuß nach vorne, den anderen nach hinten und breitete die Arme weit aus. Langsam richtete sie sich wieder auf. Wieder schwankte sie nach links, dann nach rechts, schaffte es diesmal jedoch, auf den Beinen zu bleiben. Los, Mädchen!

In dem Augenblick kam Aeron aus dem Badezimmer, und in ihr machte sich Enttäuschung breit. Er hatte sich ein Handtuch um die Hüfte geschlungen und ein anderes um den Hals gelegt. Zu spät. Doppel-Grrr!

„Du hast so schnell geduscht, da hast du bestimmt eine Stelle übersehen“, sagte sie.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu, aber ohne seine Aufmerksamkeit wirklich von der Kommode vor sich abzuwenden. „Nein, habe ich nicht.“

Ach so.

„Jetzt bist du dran“, sagte er, nachdem er ein schwarzes T-Shirt herausgenommen hatte. Mit dem zweiten Handtuch rubbelte er sich über das raspelkurze Haar.

Hatte sie ihn vorher umwerfend genannt? Sie hätte atemberaubend sagen sollen. „Meine Robe macht mich sauber.“ Ob sie in seinen Ohren genauso atemlos klang wie in ihren eigenen?

Er runzelte die Stirn, sah sie jedoch noch immer nicht an. „Auch deine Haare?“

„Ja.“ Mit zitternden Händen setzte sie sich die Kapuze auf, wartete eine Weile, damit ihr Zauber wirken konnte, und nahm sie dann wieder ab. Als der Stoff gefallen war, fuhr sie sich mit der Hand durch ihre jetzt seidig weichen Locken. „Siehst du? Alles an mir.“

Endlich sah er zu ihr hinüber und ließ seinen Blick über ihren Körper schweifen, wobei er an gewissen Stellen länger hängen blieb, was ihr Blut heiß werden und ihre Haut kribbeln ließ. Als sich ihre Blicke trafen, waren seine Pupillen wieder einmal so stark geweitet, dass ihr Schwarz das Violett seiner Iris vollständig verschlungen hatte.

Was tat sie denn eigentlich, dass sie eine derartige Wut in ihm auslöste?

„Kann man wohl sagen“, knurrte er. Abrupt drehte er sich um und verschwand in seinem begehbaren Kleiderschrank – und damit erneut aus ihrem Sichtfeld. Das Handtuch kam herausgeflogen und landete auf dem Boden.

Er ist wieder nackt, dachte sie, und seine Wut war vergessen. Das ist deine Chance. Grinsend setzte sich Olivia in Bewegung. Sie schaffte ganze zwei Schritte, ehe sie wieder stürzte und auf den Knien landete – und der Rest ihres Körpers der Länge nach folgte, sodass es ihr beim Aufprall die Luft aus den Lungen presste.

„Was machst du denn da?“

Als sie aufblickte, sah sie Aeron in der Tür zu seinem Schrank stehen. Er trug das schwarze T-Shirt und dazu eine Jeans. Außerdem hatte er sich Stiefel angezogen, und wahrscheinlich waren Waffen überall an seinem muskulösen Körper befestigt. Seine Augen waren nicht mehr als zwei schmale Schlitze, und seine Lippen bildeten eine dünne Linie.

Wieder nicht geschafft. Sie seufzte schwermütig.

„Ist ja auch egal“, murmelte er, als ihm das Warten auf ihre Antwort offensichtlich zu lange dauerte. „Wir müssen los.“

Jetzt? „Du kannst mich nicht in die Stadt bringen“, platzte sie heraus. „Du brauchst mich nämlich.“

„Wohl kaum. Ich brauche niemanden“, erwiderte er kurz angebunden.

Ach ja? „Sie werden jemand anderen schicken, um den Job zu Ende zu bringen, den ich angefangen habe, erinnerst du dich? Lysander hast du nicht gespürt, als er mich besucht hat, und genauso wenig wirst du einen anderen Engel spüren.“

Aeron verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust – der Inbegriff männlicher Sturheit. „Dich habe ich doch auch gespürt, oder etwa nicht?“

Ja, das stimmte, und sie hatte noch immer nicht herausgefunden, wie er das geschafft hatte. „Na ja, wie gesagt, Lysander hast du nicht gespürt. Ich hingegen kann Engel sehen. Ich könnte dich warnen, wenn sich noch einer nähert.“ Nur dass ihn wohl vor Ablauf ihrer vierzehntägigen Galgenfrist – Moment, jetzt waren es nur noch elf Tage – niemand holen käme, aber das brauchte er ja nicht zu wissen.

Er ließ seinen Kiefer knacken, was die Bilder in Bewegung brachte, die sein Gesicht dort verzierten. „Du hast doch gesagt, du hättest Hunger. Lass uns dir was zu essen besorgen.“

Schon wieder ein Themenwechsel. Diesmal störte es sie, doch da sie spürte, dass weitere Diskussionen vergebens wären, sagte sie nichts. Außerdem hatte sie tatsächlich Hunger. Sie erhob sich auf die Knie und stand schließlich auf. Ein Schritt, zwei Schritte … drei … Kurz darauf stand sie vor Aeron und lächelte stolz.

„Was war das?“, fragte er.

„Gehen.“

„Und in der Zwischenzeit bin ich um mindestens fünfzig Jahre gealtert.“

Sie hob das Kinn. Seine Worte konnten ihren Stolz nicht schmälern. „Na, immerhin bin ich nicht hingefallen.“

Er schüttelte – verzweifelt? – den Kopf und nahm ihre Hand. „Komm, Engel.“

„Gefallen“, korrigierte sie ihn automatisch. Als sie spürte, wie sich seine Finger um ihre legten, warm und fest, überlief sie ein wohliger Schauer. Leider war es ihr nicht vergönnt, dieses Gefühl zu genießen.

Als er sie vorwärtszog, stolperte sie über ihre eigenen Füße. Doch bevor sie erneut den Boden küsste, riss er sie hoch und hielt sie fest an seine Seite gedrückt.

„Danke“, murmelte sie.

So fühlte es sich also an zu leben. Sie schmiegte sich so eng wie möglich an ihn. Während all der Jahrhunderte hatte sie unzählige Menschen dabei beobachtet, wie sie ihren niederen Gelüsten erlegen waren, doch erst als die ersten goldenen Daunen in ihren Flügeln aufgetaucht waren, hatte sie sich gefragt, warum sie es taten. Jetzt wusste sie es: Jede Berührung war so köstlich, wie Evas Apfel es gewesen sein musste.

Sie wollte mehr.

„Du bist ein Quälgeist“, murmelte Aeron.

„Ein hilfreicher Quälgeist.“ Wenn sie ihn nur oft genug daran erinnerte, würde er vielleicht endlich anfangen zu begreifen, dass er sie tatsächlich brauchte.

Er antwortete zwar nicht, führte sie aber einen Flur entlang, ohne sie auch nur eine Sekunde lang loszulassen. Er musste sie sogar eine kleine Treppe hinuntertragen, und wäre sie nicht so abgelenkt gewesen, hätte sie es in vollen Zügen genossen. Die Wände waren mit Porträts geschmückt, die sowohl Wesen aus dem Himmel zeigten – Engel, die zwischen den Wolken umherflogen – als auch Geschöpfe aus der Hölle. Letztere anzusehen, vermied sie geflissentlich. Sie wollte nicht an ihre Zeit dort erinnert werden.

Auch Bilder von nackten Männern, von denen sich die meisten auf seidener Bettwäsche räkelten, zierten die Wände. An diesen Bildern blieben ihre Blicke hängen. Und das war ihr kein bisschen peinlich. Wirklich nicht. Auch dann nicht, als sie zu sabbern anfing. Diese nackte Haut … diese Muskeln … Zu schade, dass sie nicht von Kopf bis Fuß tätowiert waren.

„Anya hat unser Zuhause ein wenig dekoriert. Du solltest dir besser die Augen zuhalten“, riet Aeron. Seine tiefe Stimme unterbrach ihre gierigen Blicke.

„Warum?“ Sich die Augen zuzuhalten wäre ein Verbrechen gewesen. Und zwar eines, das mit Sicherheit ihre Gottheit beleidigt hätte. Denn war es nicht ihre Pflicht, seine Schöpfungen zu bewundern?

„Du bist ein Engel, bei allen Göttern! Du darfst dir solche Bilder nicht ansehen.“

„Ich bin gefallen“, erinnerte sie ihn. Mal wieder. „Und woher willst du eigentlich wissen, was ich darf und was nicht?“

„Mach einfach nur … die Augen zu.“ Er ließ ihre Beine herunter, zwang sie zu stehen und schob sie um eine Ecke.

Plötzlich drang Stimmengewirr an ihre Ohren, und sie verkrampfte sich und stolperte. Sie war schlichtweg nicht darauf vorbereitet, sich mit irgendwem außer Aeron zu befassen.

„Vorsicht“, sagte er.

Sie verlangsamte ihre Schritte. Leute waren unvorhersehbar, und seine unsterblichen Freunde noch mehr als die meisten anderen. Aber noch schlimmer war, dass ihr Körper jetzt auf vielerlei Weise verletzlich war. Sie könnten sie körperlich, geistig und emotional foltern, und sie wäre nicht in der Lage wegzufliegen.

Im Himmel liebte jeder jeden. Dort gab es weder Hass noch Grausamkeit. Hier war Güte oftmals nicht mehr als ein nachträglicher Einfall. Die Menschen beleidigten einander häufig und auf grausamste Weise, zertrümmerten gegenseitig ihr Selbstvertrauen und brachen absichtlich den Stolz des anderen.

Olivia wäre überglücklich gewesen, hätte sie jede Minute ihres Menschseins allein mit Aeron verbringen können.

Du hast das Gute gegen das Schlechte abgewogen, weißt du noch? Die Möglichkeit, Freude zu empfinden, war dir jeden Preis wert. Du kannst mit der Situation umgehen. Du musst!

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

„Ja.“ Sie war fest entschlossen.

Sie bogen um die nächste Ecke und betraten das Esszimmer. Dann blieb Aeron stehen. Augenblicklich verstummten die Stimmen. Olivia sah sich blitzschnell in dem Zimmer um und erblickte vier Gestalten an einem Tisch, auf dem sich das Essen türmte. Vier potenzielle Folterknechte.

In ihrer Brust entzündete sich ein Funke der Angst, und sie hatte Schwierigkeiten weiterzuatmen. Noch ehe ihr bewusst wurde, was sie tat, hatte sie sich aus Aerons stützendem Griff befreit und hinter ihm versteckt. Um nicht wieder hinzufallen, musste sie ihre Hände flach an seinen Rücken legen.

„Endlich. Frisches Engelsfleisch“, sagte eine Frau mit heiserem Lachen. „Wir dachten schon, Aeron würde dich für immer versteckt halten. Aber das hätte ich natürlich niemals erlaubt, wenn du verstehst, was ich meine. Ich hatte schon meinen guten alten Dietrich ausgegraben und ein mitternächtliches Rendezvous geplant.“

Ein Schön-dich-kennenzulernen-Rendezvous oder ein Wie-fühlt-sich-die-Spitze-meines-Messers-an-Rendezvous? Vermutlich Letzteres. Olivia erkannte die heisere Stimme als die von Kaia Skyhawk, Biankas Zwilling und große Schwester von Gwen. Sie war eine diebische, lügnerische Harpyie und die Brut Luzifers. Außerdem half sie den Herren bei ihrer Suche nach der Büchse der Pandora und würde alles zerstören, was sie als Bedrohung betrachtete. Wie zum Beispiel einen Engel.

Gwen, die jüngste Skyhawk, lebte hier mit Sabin. Allerdings befand sich das Paar momentan zusammen mit einigen anderen in Rom, wo sie in einem kürzlich aus dem Meer aufgestiegenen Tempel der Titanen nach Artefakten suchten, die einst Cronus gehört hatten.

Dem törichten Cronus, den die Herren für allmächtig hielten. Wenn sie nur wüssten …

„An deiner Stelle würde ich den Schnabel halten“, ermahnte der Krieger namens Paris die Harpyie.

Olivia lugte hinter Aerons Schulter hervor.

„Warum?“, fragte Kaia unbekümmert. „Meinst du, Aeron könnte mich angreifen? Du solltest inzwischen wissen, dass ich es liebe zu catchen. In Öl.“

Bei dieser unerfreulichen Erinnerung an seine eigene Erfahrung mit dem Öl-Catchen schürzte Paris die Lippen. Er hatte mit Lysander gerungen. Das hätte Olivia nur zu gern gesehen. „Nein, ich sage nicht wegen Aeron, dass du still sein sollst. Ich denke, du solltest still sein, weil du dann hübscher bist.“

Olivia hörte, wie die Frau verächtlich schnaubte, und musste lächeln. Nun, da sie nicht mehr unter Schmerzen litt und ihre schrecklichen Erinnerungen etwas verblassten, stellte sie zu ihrer eigenen Überraschung fest, dass ihre Angst vor dem Dämonen abnahm. Vielleicht konnte sie das hier tatsächlich durchstehen.

„Nun, Olivia“, wandte Paris sich an sie, „wie geht es dir? Fühlst du dich besser?“

Ohne aus ihrer Deckung hervorzukommen, antwortete sie: „Ja, danke.“

„Mmmh. Ich würde dir so gerne etwas geben, wofür du wirklich dankbar sein könntest.“ Die Worte kamen von William. Er sah unverschämt gut aus mit seinen schwarzen Haaren und den blauen Augen. Aber er war auch ein unbezähmbarer Schelm mit einem seltsamen Sinn für Humor, den Olivia nicht immer verstand.

„Irgendjemand sollte dein Etwas zum Wohle der Frauenwelt abschneiden.“ Das kam von Cameo, der einzigen weiblichen Herrin der Unterwelt. Zumindest der einzigen, von der die Herren wussten. Sie war besessen von Elend, und aus ihrer Stimme sickerte der Kummer der gesamten Welt.

Olivia hätte die Frau am liebsten auf der Stelle umarmt. Denn – was niemand hier wusste – Cameo weinte sich jeden Abend in den Schlaf. Und das war einfach herzzerreißend. Vielleicht … vielleicht können wir jetzt ja Freundinnen werden, dachte sie, wieder einmal überrascht von der immer schwächer werdenden Angst.

„Dann wäre das ja geklärt“, meinte Aeron, nahm wieder Olivias Hand und zog sie mit sich nach vorn. Als er den Tisch erreichte, zog er einen Stuhl für sie hervor.

Mit gesenktem Blick schüttelte sie den Kopf. „Nein, danke.“

„Warum nicht?“

„Ich möchte nicht alleine sitzen.“ Nicht nachdem sie in den Genuss gekommen war, ihn zuerst als Matratze und dann als Gehstock benutzen zu dürfen.

Seufzend ließ er sich selbst auf den Stuhl fallen. Olivia verkniff sich mit aller Mühe ein triumphierendes Grinsen, als sie sich auf seinen Schoß setzte – oder besser gesagt: ungeschickt auf seinen Schoß plumpste. Da sie ihn nicht länger als Krückstock benutzen konnte, fehlte ihr der Halt. Er versteifte sich zwar, erteilte ihr jedoch keinen Rüffel.

Olivia hatte keine Ahnung, wie die anderen auf ihren Auftritt reagierten, da sie unverwandt auf den Boden starrte. Für den Moment war sie ruhig, und das wollte sie auch bleiben.

„Wo sind die anderen?“, erkundigte Aeron sich, als wäre das Gespräch nie abgerissen.

„Luden und Anya sind in der Stadt und suchen immer noch nach dem Schattenmädchen“, erwiderte Paris. „Torin ist natürlich in seinem Zimmer, beobachtet die Welt und sorgt für unsere Sicherheit. Danika …“ Aeron zuckte bei der Erwähnung des Namens zusammen, und Olivia tätschelte tröstend seine Hand. Offensichtlich fühlte er sich immer noch schuldig, weil er sie um ein Haar ermordet hätte. „Danika malt irgendwas, aber sie verrät noch nicht, was. Und Ashlyn sieht sich die Schriftrollen an, die Cronus uns gegeben hat, und versucht sich zu erinnern, ob sie je ein Gespräch über irgendjemanden mit angehört hat, der dort aufgelistet ist.“

Olivia wusste, dass in den betreffenden Schriftrollen fast jeder dokumentiert war, in dessen Körper einer der Dämonen lebte, die aus der Büchse der Pandora entkommen waren. Da die Engel diese Personen über all die Jahrhunderte beobachtet hatten, wusste sie außerdem, wo einige von ihnen lebten. Würden ihre ehemaligen Brüder und Schwestern sie zum Tode verurteilen, wenn sie es verriete? Bräche das auch irgendein uraltes Gesetz?

„Bei den Göttern, Sex. Wir sollten dich in Langeweile umtaufen. Lasst uns über etwas Angenehmeres sprechen. Ich finde, wir sollten uns erst mal vorstellen“, brach es aus William heraus. „Das wäre nur höflich.“

„Seit wann scherst du dich denn plötzlich um Höflichkeit?“, knurrte Aeron ihn an.

„Seit jetzt.“

Hinter sich hörte sie die Zähne des Kriegers knirschen. „Das ist Olivia. Sie ist ein Engel“, sagte er zu niemand Bestimmtem, und sein harscher Ton lud nicht gerade zu weiteren Nachfragen ein.

„Ein gefallener Engel“, verbesserte sie ihn dennoch. Sie erspähte eine Schüssel Weintrauben und konnte ein freudiges Quieken nicht unterdrücken. Die drei Tage ohne Nahrung machten sich allmählich bemerkbar.

Teilen und Maßhalten, Prinzipien, die sie ihr gesamtes Leben lang gewahrt hatte, waren vergessen, als sie sich die Schüssel schnappte und an ihre Brust drückte. Eine (Handvoll) nach der anderen warf sie sich die köstlichen Früchte in den Rachen und stöhnte genüsslich. Doch viel zu schnell war die Schale leer, und sie runzelte die Stirn – bis sie einen Teller mit Apfelspalten entdeckte.

„Lecker.“ Olivia beugte sich vor und wäre fast zur Seite gefallen, hätte Aeron sie nicht an der Hüfte festgehalten. Ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. „Danke.“

„Keine Ursache“, sagte er heiser.

Lächelnd nahm sie sich den Teller und setzte sich wieder auf seinen Schoß. Die Erektion, die er dabei bekam, drückte ein wenig gegen ihren unteren Rücken, doch sie bemerkte es kaum. Auch die Apfelstücke verschwanden unter glücklichem Seufzen. Essen schmeckte ja als Mensch noch besser. Süßer. Aromatischer. Unverzichtbar.

Als sie endlich satt war, blickte sie auf, um irgendwem das einzige verbliebene Stück anzubieten. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, und plötzlich lag das Essen in ihrem Bauch wie Blei. „Tut mir leid“, stammelte sie automatisch. Was hatte sie falsch gemacht?

„Wofür entschuldigst du dich denn?“, fragte Kaia. In ihrem Ton schwang keine Boshaftigkeit mit, sondern einfach nur Neugier.

„Alle starren mich an, und deshalb dachte ich …“ Außerdem war Aerons Erektion jetzt noch härter.

„Ich stimme der Harpyie zu“, fiel William ein und wackelte dabei mit den Augenbrauen. „Ich liebe Frauen, die es ihrem Frühstück so richtig geben.“

Aber das hatte sie doch gar nicht getan. Oder?

Kaia gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Klappe, Playboy. Deine Meinung interessiert hier niemanden.“ An Olivia gewandt, fügte sie hinzu: „Falls du Schwierigkeiten hattest, meinen Blick zu interpretieren: Ich starre dich nur an, weil ich neugierig bin.“

Das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Harpyien konnten nur essen, was sie stahlen, logen ungeniert und töteten hemmungslos. Kurz gesagt: Sie waren das absolute Gegenteil von Engeln, und trotzdem genossen sie ihr Leben in vollen Zügen – was der Grund dafür war, dass Lysander sich für ein Leben mit einer Harpyie entschieden hatte.

Schon bald werde auch ich das Leben in vollen Zügen genießen.

„Kennst du Lysander, den Gemahl meiner Zwillingsschwester?“, fragte Kaia.

„Ja. Sehr gut sogar.“

Die Harpyie stützte die Ellbogen auf den Tisch, sodass das Geschirr klapperte. „Steckt sein Stock im Arsch so tief, wie ich denke?“ Abscheu schwang in ihrer Stimme mit.

„Vermutlich noch tiefer.“

„Ich wusste es! Arme B.“ Mitleid verdunkelte ihre Gesichtszüge. Aber nur für einen kurzen Moment. „Ich hab eine Idee. Du und ich könnten uns zusammentun, zwei hübsche Köpfe sind immer besser als einer, und einen Plan schmieden, wie wir ihn ein bisschen lockerer machen. Dabei könnten wir uns auch besser kennenlernen. Die Mädels in diesem Haus müssen schließlich zusammenhalten.“

„Das geht nicht. Ich werde Olivia in die Stadt bringen.“

Aeron, der sie die ganze Zeit nicht losgelassen hatte, hielt sie jetzt noch fester. „Kein Pläneschmieden, kein Lockermachen, und ganz bestimmt kein Kennenlernen.“

Olivia ließ die Schultern fallen. War Aeron schon immer so barsch gewesen, und es war ihr nur nie aufgefallen? Oder war das eine Sonderbehandlung für sie? „Bist du sicher, dass du mich loswerden willst?“, fragte sie ihn. „Ich bin gut für dich. Das verspreche ich dir!“

„Weil du mir helfen kannst?“ Diese Frage hätte eigentlich eine Feststellung sein müssen.

Am liebsten hätte sie diesen starrsinnigen Mann kräftig geschüttelt. „Ja.“

„Tja, wir haben schon genug helfende Hände hier. Also: Ja, ich bin sicher.“

„Ich kann dich auch zum Lächeln bringen. Das war mal mein Job.“ Ihr alter Job, und sie vermisste ihn. „Würdest du gern lächeln?“

Er zögerte nicht eine Sekunde. „Nein.“

„Aber ich.“ William klatschte. „Ich lächle gerne, während ich nackt im Bett liege, also plädiere ich dafür, sie hierzubehalten.

Aerons Nägel bohrten sich durch ihre Robe in ihre Haut, doch sie protestierte nicht. Sonst hätte er nämlich seine Hände weggenommen, und sie mochte es, wenn er sie so hielt. „Wie Kaia schon gesagt hat: Deine Meinung interessiert hier niemanden.“

„Außerdem“, fügte Kaia hinzu, „bezweifle ich, dass unser Großer hier überhaupt weiß, wie man lächelt.“

„Das weiß ich sehr wohl“, blaffte Aeron, was die anderen zum Lachen brachte.

„Na klar, du Muffel.“ Kaia warf ihre tiefroten Haare über die Schulter. „Hör zu, es besteht kein Anlass, sie in die Stadt zu bringen. Nur zu deiner Information: Ich nehme mich selbst beim Wort und werde sie kennenlernen. Sie hat es tatsächlich geschafft, sich aus dem Himmel werfen zu lassen, was mich echt total beeindruckt. Und jetzt muss ich unbedingt alle pikanten Details erfahren.“

„Genau wie ich.“ Cameo nickte, um ihrer Entschlossenheit Nachdruck zu verleihen. „Ich will sie auch kennenlernen, meine ich.“

„Das gilt auch für mich.“ William warf Olivia eine Kusshand zu, und ihre Wangen erröteten. „Du brauchst nichts zu sagen. Ich weiß, welche Worte dir auf der Zunge liegen. Unterbrich mich, wenn ich mich irre, aber es wird dir ein Vergnügen sein, mich kennenzulernen.“

Aus Aerons Kehle stieg ein Knurren auf. „Sie bleibt nicht, und es wird auch kein Vergnügen geben. Wie gesagt, ich bringe sie in die Stadt und lasse sie dort. Heute noch.“

„Aber warum?“, fragte Olivia. Sie mochte ihre Pflichten als Kriegerengel gehasst und noch nie jemanden getötet haben, aber das machte sie noch lange nicht zu einem Schwächling. „Du behauptest, du brauchst nicht noch mehr helfende Hände, aber ich verspreche dir: Deine Helfer werden nutzlos sein bei dem nächsten Engel, den man schicken wird, um dich zu töten.“

Sie wartete darauf, dass jemand das Wort ergriff und ihr zustimmte, doch es schien niemanden zu kümmern, dass ein himmlischer Mörder käme, um ihren Freund kaltzumachen. Jeder am Tisch, Aeron eingeschlossen, nahm offenbar an, dass er als Herr der Unterwelt unbesiegbar war.

Und so blieb er natürlich stur. „Ist mir egal.“

Sie knallte den Apfelteller zurück auf den Tisch, wobei das Geschirr noch lauter schepperte als zuvor bei Kaia. „Ich kann dir auch helfen, die Jäger zu besiegen.“ Das war die Wahrheit.

„Olivia“, begann er, und sie brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er an die Decke blickte und um Geduld bat. Nur dass er – falls sie richtig hörte – in dem Gebet, das er tatsächlich vor sich hin murmelte, um Stärke bat. „Wir sind Dämonen, und Dämonen und Engel halten sich fern voneinander. Außerdem kann Legion erst zurückkommen, wenn du weg bist.“

Das einzige Argument, das sie nicht einfach so abtun konnte. „Aber … aber … ich werde versuchen, mit ihr auszukommen.“ Falls er ihre Panik hörte, ließ er es sich nicht anmerken. „Und ich werde auch nett zu deinen anderen Freunden sein. Wie könnte ich auch anders? Immerhin habe ich alles aufgegeben, um dich zu retten.“

„Ich weiß.“ Die Worte waren ein einziges Grollen.

„Das Mindeste, was du tun kannst, ist …“

„Ich habe dich nicht gebeten, irgendetwas aufzugeben“, fiel er ihr wütend ins Wort. „Also, nein. Es gibt nichts, was ich mindestens tun könnte. Deine Wunden sind verheilt. Wir sind quitt. Ich schulde dir nichts.“

Cameo ignorierte ihn, stützte die Ellbogen auf den Tisch und lehnte sich zu Olivia hinüber. „Vergiss ihn einfach. Er hat heute noch nicht genug Koffein intus. Lass uns mal ein Stück zurückspulen. Wie kannst du uns bei den Jägern helfen?“

Endlich. Interesse! Auch wenn Cameos Ton eher verdrießlich als ermutigend klang. Olivia hob ihr Kinn noch ein Stückchen höher. „Ich weiß zum Beispiel, wo sich andere dämonbesessene Unsterbliche aufhalten.“ Zum Glück wurde sie bei diesen Worten weder vom Blitz getroffen, noch tauchten Engel mit flammenden Schwertern auf. „Ich glaube, ihr habt gesagt, dass ihr nach ihnen sucht.“

Ein Augenblick verstrich in verblüfftem Schweigen, und alle Blicke richteten sich auf sie – und verweilten dort.

„Aeron“, sagte Cameo.

„Nein. Das ist egal“, erklang seine harte Stimme. „Dafür haben wir die Schriftrollen.“

„Ja, aber die liefern uns nur die Namen und keine Aufenthaltsorte.“ Der Blick der Kriegerin wurde stechend. „Sabin wird mit ihr reden wollen, wenn er zurückkommt.“

„Pech gehabt.“

„Wenn dieser Trottel Sabin mit ihr reden will, wird Gwennie das auch wollen.“ Kaia trommelte mit den Fingernägeln auf die Tischplatte. „Und wie du ja weißt, Spätzchen, sorge ich stets dafür, dass meine Schwester bekommt, was sie will. Außerdem sterbe ich bald vor Langeweile, weil der versprochene Angriff auf die Burg noch immer aussteht.“

„Harpyie“, fauchte Aeron. „Strapazier nicht meine Geduld. Du wirst mir gehorchen und den Engel gehen lassen.“

„Krieger sind ja so hinreißend, wenn sie sich für stark und gebieterisch halten.“ Kaias Arm schoss nach vorn, wobei abermals das Geschirr klapperte, und sie griff sich eine Handvoll Eier – die im nächsten Augenblick auf Aeron zuflog.

Olivia duckte sich rasch, und die Eier landeten in Aerons Gesicht. Er verzog den Mund, als er sich die gelbe Masse abwischte. Und statt seine Hände wieder auf ihren Körper zu legen, platzierte er sie mit den Handflächen nach unten auf den Armlehnen seines Stuhls.

Kaia kicherte wie ein Schulmädchen. „Tu nicht so, als wärst du überrascht, dass wir darauf bestehen, sie hierzubehalten. Paris hat mir erzählt, was du neulich Nacht auf dem Dach zu Cronus gesagt hast. ,Schick mir eine Frau, die mich zurückweist’“, spöttelte sie.

„Ach, wirklich? Wann hattet du und Paris denn Zeit für ein vertrauliches Gespräch?“, fragte William, während er einen Blaubeer-Muffln mit Butter bestrich.

Kaia zuckte mit den Schultern, ohne den Blick von Aeron abzuwenden. „Vor ein paar Nächten war ich auf der Suche nach etwas Spaß, und er sah ein wenig schwächlich aus.“ Noch ein Schulterzucken. „Und danach war er irgendwie in Plauderlaune.“

Paris nickte nur bestätigend. Jedes Mal, wenn Olivia den Hüter der Promiskuität gesehen hatte, war er ihr traurig vorgekommen. Doch in diesem Augenblick wirkte er beinahe … glücklich, wenn auch etwas müde. Na, das musste ja wirklich ein gutes Gespräch gewesen sein.

„Aber ich habe dir doch einen Platz in meinem Bett angeboten“, jammerte William.

Bett? Oh. Oh. Kaia und Paris hatten während ihres vertraulichen Gesprächs offensichtlich mehr getan, als nur zu reden.

„Bei ,Guitar Hero’ bist du beschissen, also vermute ich, deine Fingerfertigkeit lässt zu wünschen übrig. Außerdem hat jemand, den wir alle kennen und lieben, schon vorher Anspruch auf dich erhoben.“

„Wer denn?“, fragte Olivia, bevor sie sich bremsen konnte. Kaia ignorierte sie und fuhr fort: „Deshalb habe ich mir in jener Nacht Paris ausgesucht, um mein Bett zu wärmen. Und ich kann es kaum erwarten, Bianka alle schmutzigen Details zu erzählen.“

„Oh nein. Nein, nein, nein. Das ist unfair, du darfst nichts verraten“, platzte es aus Paris heraus.

Die Harpyie lächelte frech und böse. „Wirst schon sehen. Wie auch immer. Wenn du willst, dass deine kleine Dämonin wiederkommt, Aeron-Po-Parren, musst du in die Stadt gehen und da mit ihr spielen. Der Engel bleibt nämlich.“

Aerons heißer Atem war wie Feuer auf Olivias Nacken. „Das … ist … mein … Zuhause.“

„Nicht mehr.“

Kaia und William hatten unisono gesprochen. Sie lächelten einander zu, wenn William auch immer noch beleidigt zu sein schien, dass Kaia sich einen anderen Bettgefährten ausgesucht hatte.

„Genau“, stimmte Olivia ihnen zu und reckte dabei das Kinn noch ein winziges Stückchen höher. „Nicht mehr.“ Ja, sie wollte Aeron hier bei sich haben, aber er brauchte ja offensichtlich Zeit für sich allein, um sich darüber klar zu werden, wie glücklich er sich schätzen konnte, sie zu haben.

Das ist nicht egoistisch von mir, sagte sie sich selbst. Die Wahrheit war nie egoistisch. Außerdem sollten ein paar Stunden reichen, damit er erkannte, wie sehr er sie brauchte und bei ihr sein wollte. Er war schließlich klug. Meistens jedenfalls.

Bitte, mach, dass er bei mir sein will.

Aeron legte seine Hände wieder um ihre Taille. Dieses Mal drückte er so fest zu, dass sie nach Luft schnappte. „Weißt du, wo die Büchse der Pandora ist, Olivia?“

Natürlich stellte er die eine Frage, auf die sie keine Antwort hatte. „Na ja … äh … nein.“

„Weißt du, wo der Tarnumhang und die Rute versteckt sein könnten?“

Also gut: zwei Fragen, die sie nicht beantworten konnte. „Nein“, erwiderte sie sanft. Sie wusste nur, dass die Herren zwei von Cronus’ Artefakten gefunden hatten: den Zwangskäfig und das allsehende Auge. Was ihnen – wie Aeron erwähnt hatte – noch fehlte, waren der Tarnumhang und die Rute. Da die eine wahre Gottheit für derlei Reliquien nichts übrighatte, hatten sie und ihre Brüder und Schwestern nie danach gesucht.

Aeron stellte sie auf die Füße und ließ sie los. Olivia musste sich am Tisch festhalten, um nicht umzukippen. Und sie musste ihre Lippen aufeinanderpressen, um nicht vor Enttäuschung aufzustöhnen. Berühr mich.

„Wollt ihr sie immer noch hierbehalten?“, wandte er sich emotionslos an die anderen. „Lieber sie als mich?“

Einer nach dem anderen nickten sie, ohne eine Spur von schlechtem Gewissen.

„Na schön.“ Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Sie gehört euch. Holt euch an Informationen, was ihr eben aus ihr herausbekommt. Ich werde mich – wie vorgeschlagen – in die Stadt zurückziehen. Schickt mir eine Nachricht, wenn sie weg ist. Erst dann werde ich wiederkommen.“

6. KAPITEL

Aeron war sich sicher: Das war alles eine riesige Verschwörung, nur um ihn in den Wahnsinn zu treiben. Erstens hatten seine Freunde ihn rausgeworfen. Zweitens hatte sein Dämon ihn angeschrien, er solle bleiben. Bleiben. Bei Olivia. Einem Wesen, das Zorn eigentlich verachten sollte. Einem Wesen, das Aeron selbst eigentlich verachten sollte. Aber stattdessen konnte er das Dilemma seines Dämons genau nachfühlen.

Sie war bezaubernd.

Als er an diesem Morgen aufgewacht war und gesehen hatte, dass sie sich vollständig von ihren Verletzungen erholt hatte, war sein Verlangen entflammt. Genau das Verlangen, das er nur wenige Tage zuvor geleugnet hatte überhaupt je zu empfinden. Und seitdem weigerte es sich hartnäckig, wieder abzuflauen. Sie war hingefallen, ihre Robe hatte sich bis zur Taille hochgeschoben, und ihr Höschen … Verdammt, ihr Höschen! Es war viel zu weiß, viel zu rein. Es weckte in einem Mann das Verlangen, es mit den Zähnen zu zerreißen und seine Trägerin ein wenig zu beschmutzen. Auch die Robe hätte er ihr am liebsten vom Leib gerissen und Olivia verschlungen.

Doch irgendwie war es ihm gelungen, sich zurückzuhalten.

Vielleicht weil ihm wieder eingefallen war – und er es sich unaufhörlich in Erinnerung rief –, dass die Stimme, die er am Vortag vernommen hatte, Lysander gehörte. Dass Lysander Olivia geheilt hatte. Dass er derjenige war, der sie glücklich und unversehrt sehen wollte.

„Unbefleckt“, murmelte er.

Und Lysander wäre ein schrecklicher Feind.

Ja, die Herren konnten die Jäger besiegen. Aber die Jäger und eine Armee von Engeln? Wohl kaum.

Deshalb hatte Aeron schließlich die Selbstkontrolle und Kraft aufgebracht, das Bett zu verlassen, ohne über Olivia herzufallen. Ohne sie zu berühren und zu schmecken. Am Ende hatte er sich selbst davon überzeugt, dass er sie loswerden müsste. Er hatte es sogar geschafft zu vergessen, dass zwischen seinen Beinen eine Erektion pochte, während sie auf seinem Schoß herumgerutscht und mit ihrem Essen auf Tuchfühlung gegangen war.

Und was tat Zorn} Er geiferte nach mehr.

„Ich mochte dich entschieden lieber, als du nicht mehr warst als ein Drang nach Bestrafung“, ließ er seinen Dämon wissen.

Die Antwort war ein kurzes Schnauben. Wenigstens bettelte der Dämon nicht mehr. Vor wenigen Minuten, als Zorn Aerons Pläne verstanden hatte, war er still geworden.

Aeron rieb sich so fest über das Gesicht, dass die raue Haut seiner Hände auf den Wangen schmerzte. Er befand sich in der Stadt in Gillys Appartement, einer geräumigen Dreizimmerwohnung in einer eher noblen Wohngegend. Gilly war eine Freundin von Danika und lebte in Budapest. Torin, der Sicherheitschef der Burg, hatte ihr Appartement mit hochmoderner Technik ausgerüstet – für den Fall, dass die Jäger von ihrer Verbindung zu den Herren Wind bekämen. Obgleich sie zu hundert Prozent ein Mensch war und so unschuldig, wie man nur sein konnte – was nach allem, das Danika den Herren über Gillys schlimme Kindheit erzählt hatte, an ein Wunder grenzte –, würden diese Dreckschweine keinen Moment lang zögern, ihr wehzutun.

Momentan war sie in der Highschool und zweifelsohne glücklich über den Abstand zu den Herren. Sie fühlte sich in ihrer Gegenwart noch immer nicht wohl. Verständlich. Trotz ihrer jungen siebzehn Jahre hatte Gilly das Böse im Menschen bereits kennenlernen müssen und war seit Jahren unabhängig. Sie hatten ihr ein Zimmer in der Burg angeboten, doch Gilly hatte sich eine eigene Wohnung gewünscht. Zum Glück. Denn jetzt brauchte Aeron nicht ziellos bis zum Einbruch der Dunkelheit umherzustreifen; und er konnte endlich Legion herbeirufen.

Er stand in der Mitte des Wohnzimmers. Das Sofa und die Sessel hatte er an die Wand geschoben, um Platz für den Kreis aus Salz und Zucker zu schaffen, den er soeben auf den Boden gestreut hatte. Er würde sie auf eine Weise herbeirufen, die sie nicht ignorieren konnte.

Er breitete die Arme aus und sagte: „Legion, Quinientos Dieciseis der Croise Sombres des Envy und Notpeöhocil“, so wie Legion es ihm beigebracht hatte. Das waren ihr Name, ihre Nummer und ein Titel in einem Kauderwelsch aus verschiedenen Sprachen. Legion, Nummer fünfhundertsechzehn der dunklen Kreuzritter des Neides und der Not. Wenn er nicht alles sagte, könnte er versehentlich jemand anderen herbeirufen. „Ich befehle dir, vor mir zu erscheinen. Jetzt.“

Weder flackerte ein helles Licht auf, wie Cronus es so gern benutzte, wenn er in menschlicher Gestalt erschien, noch blieb die Zeit stehen, sondern die Sache lief völlig unspektakulär ab. In einer Sekunde war Aeron noch alleine, in der nächsten befand sich Legion mit ihm im Kreis. Das war’s.

Keuchend brach sie auf dem Boden zusammen, und auf ihren Schuppen glänzte der Schweiß.

„Legion.“ Er beugte sich zu ihr hinab und nahm sie auf den Arm, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass kein Salzoder Zuckerkristall sie berührte. Das würde ihre Haut verbrennen, hatte sie ihm gesagt.

Zorn schnurrte glücklich.

Sogleich schmiegte sich Legion in seine Arme. „Aeron. Mein Aeron.“

Ihr Verhalten erinnerte ihn an Olivia. Die süße, hübsche Olivia, die jetzt bei Kaia war, einer verrückten Harpyie mit einem schrägen Sinn für Humor, und Cameo, einer unbarmherzigen Mörderin mit tragischer Stimme. William und Paris, zwei schamlose Sexsüchtige, würde er gar nicht erst mit in die Gleichung aufnehmen, denn sonst würde er Gillys Wohnung in einem Wutanfall in ein Trümmerfeld verwandeln. Aus Wut, nicht aus Eifersucht, um das noch mal zu betonen … Wenn sie mit dem Engel rummachten, würden sie Lysanders Zorn auf sich ziehen – und allein diese Aussicht war es, die ihn wütend machte. Und nicht etwa der Gedanke daran, dass Olivia sich womöglich zu einem seiner Freunde hingezogen fühlte. Natürlich nicht.

Eigentlich würde Gillys Wand mit ein paar Löchern viel hübscher aussehen, dachte er dann. Er täte dem Mädchen in Wahrheit sogar einen Gefallen, wenn er ihr beim Dekorieren hülfe.

Außerdem ging es Olivia womöglich gar nicht gut. Immerhin war sie äußerst misstrauisch – jedem außer ihm gegenüber. Aber nicht, dass er darauf irgendwie stolz gewesen wäre … Vielleicht verkroch sie sich genau in diesem Moment in irgendeiner Ecke und betete weinend, dass er zurückkommen möge.

Gillys Sofa wäre bestimmt viel bequemer, wenn er es in zwei Hälften zerschmetterte.

Stähle dein Herz, so wie du Paris gegenüber behauptet hast, es tun zu können. Olivias Verfassung spielte keine Rolle. Ihre Tränen spielten keine Rolle. Sie durften es nicht. Im Grunde würden sie ihr am Ende sogar helfen. Sie würden dafür sorgen, dass sie die Burg umso schneller verließ.

Legion war das Wichtigste für ihn. Sie war das Kind, das er sich insgeheim gewünscht, aber nie bekommen hatte. Nicht nur, weil er sich nie an eine Frau gebunden hatte, sondern weil er wusste, wie schwach Babys waren. Vater zu werden, etwas, das er selbst nie gehabt hatte, war ihm nicht die Qual wert gewesen, sein eigenes Kind dahinwelken und sterben zu sehen.

Bei Legion brauchte er sich darum nicht zu sorgen. Sie würde für immer und ewig leben.

„Was ist los, mein Baby?“, fragte er, während er sie zum Sofa trug und sich in die Kissen plumpsen ließ. Bei dem Geruch von Schwefel, der an ihr klebte, seufzte Zorn in einem Anflug von Heimweh auf. Einst hatte sein Dämon den Geruch gehasst. Doch nachdem er das Grauen in der Büchse der Pandora erlebt hatte, erschien ihm die Hölle wie das Paradies.

„Sssie jagten mich.“ Sie rieb ihre Wange an seiner Brust, schürfte ihm dabei die Haut auf und schnurrte. „Diesssmal hätten sssie mich fassst erwischt.“

Ihre gespaltene Zunge verhaspelte sich immer ein wenig, sodass ihre S-Laute beim Sprechen in die Länge gezogen wurden. Aeron fand das liebenswert. Als er ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte sie noch wie ein Kleinkind gesprochen und die falschen Zeiten und Pronomen benutzt. Auf ihren Wunsch hin hatten sie an ihrer Grammatik gefeilt, und er war sehr stolz auf ihre Fortschritte.

„Jetzt bist du hier, in Sicherheit.“ Er rieb über die zwei kleinen Hörner auf ihrem Kopf. Sie waren sehr empfindsam, und er wusste, wie sehr sie es mochte. „Du brauchst nicht mehr zurückzugehen.“

„Engel tot?“

„Kann man so nicht sagen“, erwiderte er und wich der Frage vorerst aus.

Mehrere Minuten saßen sie schweigend da, während sie sich bemühte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. Endlich beruhigte sie sich, und die sengende Hitze ihrer Schuppen nahm ab. Sie setzte sich auf und ließ den Blick ihrer roten Augen im Zimmer umherwandern.

„Dasss issst nicht unssser Zzzuhaussse“, zischelte sie verwirrt.

Aeron musterte die Umgebung und versuchte, sie mit ihren Augen zu sehen. Möbelstücke in Regenbogenfarben: rot, blau, grün, lila und rosa. Ein Holzfußboden, der von einem Teppich mit Blümchenmuster geziert wurde. Wände, die mit unterschiedlich großen Bildern von Himmelsmotiven – eindeutig Geschenke von Danika – vollgehängt waren.

„Wir sind in Gillys Wohnung.“

„Hübsch“, sagte sie, und die Ehrfurcht in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Ihr Sinn für Weiblichkeit überraschte ihn schon seit Längerem nicht mehr. Wenn sie zurück in die Burg zögen, würde er ihr ein eigenes Zimmer geben. Ein Zimmer, das sie ganz nach ihren Wünschen dekorieren könnte. Er war sich nämlich nicht sicher, wie viel Rosa er in seinem eigenen noch ertragen könnte.

„Ich bin froh, dass es dir gefällt, denn vielleicht werden wir eine Weile hierbleiben.“

„Wasss?“ Als sie ihn ansah, wurde ihre Ehrfurcht augenblicklich von Wut überschattet. „Du lebst jetzt mit Gilly zzzusssammen? Issst sssie … Liebt sssie dich?“

„Nein.“

Langsam entspannte sie sich. „Aissso gut, aber ich will jetzzzt nach Haussse. Ich vermissse esss.“

Ich auch. „Das geht nicht. Der Engel ist noch dort.“

Legion spannte sich an, und die Wut kehrte zurück. „Warum issst sssie dort und wir nicht?“

Ausgezeichnete Frage. „Sie wird den anderen gegen die Jäger helfen.“

„Nein. Nein. Ich helfe gegen Jäger.“

„Ich weiß, ich weiß.“ Sie mochte klein sein, aber sie war auch hitzköpfig. Und Töten war ein Spiel für sie. Doch sie hatte in ihrem Leben schon so viele Kämpfe ertragen müssen, dass Aeron ihr jetzt nur noch Frieden wünschte. Er wollte sie nicht sofort in die nächste Schlacht zerren, und er würde es auch nicht tun.

Dafür bedeutete sie ihm viel zu viel.

„Hier sind wir ungestört“, sagte er.

„Na gut.“ Sie entspannte sich wieder. „Wir bleiben, aber ich werde euch mehr helfen alsss sssie.“

Sonst würde sie Olivia einen Kopf kürzer machen. Die Warnung war angekommen. Es war an der Zeit, seinen kleinen Liebling abzulenken. „Hast du Lust auf ein kleines Spiel?“

Sie sprang auf, grinste und legte sich wie eine Schlange um seinen Hals. „Ja, ja, ja.“

Seine Legion – immer bereit für ein Spiel. Auch wenn sich ihre Sprache verbessert hatte, ihre kindlichen Bedürfnisse hatte sie deshalb noch lange nicht verloren. „Such dir was aus. Egal was.“ Er fasste hoch, um sie zu streicheln, wobei sein Blick auf seinen Arm fiel. An seinem Handgelenk war ein letzter Fleck nicht tätowierter Haut. Er sollte sich eine Schlange tätowieren lassen, die ihn an Legion erinnerte. Eine Tätowierung, die ihm nicht das Schlechte in seinem Leben vor Augen führte, sondern das Gute.

Ja, die Idee gefiel ihm.

„Ich möchte spielen … Kleidung nach Geschmack.“

Auch bekannt als „Zerfetze alles, was Aeron trägt“. „Such dir doch vielleicht etwas anderes aus. Wie wäre es mit Schönheitssalon, so wie letzte Woche? Du darfst mir auch die Nägel lackieren.“

„Au ja!“ Legion klatschte aufgeregt in die Hände. „Ich hole schnell Gillysss Nagellack.“ Und schon flitzte sie los und verschwand um die Ecke.

„Das Schlafzimmer ist das letzte Zimmer auf der rechten Seite“, rief er ihr nach. Ein, zwei Stunden lang würde er Legion verhätscheln und dann die Stadt nach irgendwelchen Anzeichen für Jäger sowie nach dem Schattenmädchen absuchen. Nach allem, was Legion in der Hölle erlitten hatte, schuldete er ihr ein wenig Entspannung, Pflichten hin oder her.

Schuldete. Das Wort dröhnte durch seinen Kopf, und er fluchte. Er war auch Paris etwas schuldig.

Obwohl er verkündet hatte, erst in die Burg zurückzukehren, wenn Olivia fort wäre, musste er sich um Paris kümmern. Das war eine Verpflichtung, die er für keinen Grund der Welt vernachlässigen würde, auch wenn Lucien diese Aufgabe während der vergangenen drei Tage übernommen hatte. Er war enttäuscht von sich selbst und seufzte schwer. Nur weil Lucien den Krieger in die Stadt gebracht hatte, bedeutete das nicht, dass Paris sich auch jemanden ausgesucht hatte.

Selbst wenn er neulich Nacht mit Kaia geschlafen hatte, würde die Kraft, die er daraus zog, nicht lange währen. Beim Frühstück hatte er trotz seines Lächelns müde gewirkt. Und wie Aeron gelernt hatte, war Müdigkeit der erste Hinweis auf Ärger.

Aeron ging davon aus, dass der Krieger seit Kaia mit niemandem mehr geschlafen hatte. Und das würde einfach nicht reichen.

Legion schlüpfte zurück ins Wohnzimmer. Sie hielt eine violette Plastikbox in der Hand und grinste breit. „Deine Nägel werden wie ein Regenbogen aussssehen, wenn ich fertig bin.“

Regenbogen. Das war bestimmt besser als die knallrosa Leuchtfeuer, die sie beim letzten Mal daraus gemacht hatte. „Es tut mir leid, Baby, aber unser Spiel wird warten müssen. Ich habe in der Burg noch etwas zu erledigen, und das bedeutet, dass du hierbleiben musst.“

Krachend fiel die Box zu Boden. „Nein!“

„Ich werde nicht lange fort sein.“

„Nein! Du hassst mich gerufen. Du hassst gesssagt, du würdessst mit mir spielen.“

„Aber falls Gilly vor mir wiederkommt“, fuhr er fort, als hätte sie nichts gesagt, „versuch bitte, bitte, bitte nicht, mit ihr zu spielen. Okay?“ Das würde nämlich kein Mensch überleben. „Ich muss nur etwas holen.“ Oder besser: jemanden. „Sei ein braves Mädchen und warte auf mich.“

Legion sprang zu ihm aufs Sofa und legte ihm die flachen Hände auf die Brust, wobei ihre Krallen in seine Haut schnitten und blutige Furchen hinterließen. „Ich komme mit.“

„Das geht nicht, Baby. Weißt du nicht mehr?“ Er kraulte sie hinter den Ohren. „Der Engel ist da. Sie hat ihre Flügel verloren und ist jetzt sichtbar, aber das macht sie für dich nicht weniger gefährlich. Sie …“

Die kleine Dämonin setzte sich auf seinen Schoß und sah ihn an. Ihre ohnehin schon großen Augen wurden noch größer. „Sssie hat keine Flügel mehr?“

„Nein.“

„Dann issst sssie alssso gefallen?“

„Ja.“

Wieder klatschte Legion fröhlich in die Hände. „Ich habe gehört, dasss ein Engel gefallen issst, aber ich wussste nicht, dasss sssie esss war. Ich hätte ihnen helfen können, ihr wehzzzutun! Aber dasss kann ich wiedergutmachen. Ich kann ihr ihr Zzzuhaussse wegnehmen. Ich kann sssie töten.“

„Nein“, blaffte er barscher als beabsichtigt.

Selbst Zorn reagierte heftig. Er knurrte in Aerons Kopf und schnappte zum ersten Mal nach Legion.

Weil sein Dämon derjenige sein wollte, der den Engel vernichtete? Nein. Aeron schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Immerhin hatte Zorn zuvor nach „mehr“ verlangt. Vielleicht wollte der Dämon nicht, dass sie überhaupt vernichtet wurde. Dieser Verdacht ergab genauso wenig Sinn, aber er kam der Lösung schon näher.

Warum mochte der Dämon sie so?

Später. Aeron nahm Legions Kinn zwischen die Hände und zwang sie, ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu richten, um sicherzugehen, dass sie nicht bereits in Mordfantasien schwelgte. „Konzentrier dich auf mich, Baby. Gut so. Und jetzt hör mir zu. Du kannst dem Engel nicht wehtun.“

Legion blinzelte ihn an. „Kann ich wohl! Ich bin stark genug, versprochen.“

„Ich weiß, dass du es kannst, aber ich möchte nicht, dass du es tust. Eigentlich sollte sie mir wehtun, aber sie hat es nicht getan.“ Stattdessen hatte sie alles für ihn aufgegeben.

Warum nur, fragte er sich zum tausendsten Mal. Was für eine Person tat so etwas? Erst vor Kurzem hatte er sie verspottet, als sie ihn an ihr Opfer erinnert hatte, aber in Wahrheit war er fasziniert und verwirrt. Und demütig.

Sie kannte ihn nicht. Oder vielleicht schon, nachdem sie ihm wochenlang gefolgt war – doch das ließ ihre Entscheidung umso bizarrer erscheinen. Denn er war es nicht wert, gerettet zu werden. Jedenfalls nicht für einen guten, gerechten und perfekten Engel. Und gewiss nicht für eine Frau, die zu besitzen er sich nie erlauben würde.

„Und?“, hakte Legion nach.

„Deshalb werden wir im Gegenzug freundlich zu ihr sein.“

„Wasss? Nein! Nein, nein, nein.“ Hätte sie gestanden, sie hätte mit den Füßen gestampft. „Ich kann ihr wehtun, wenn ich will.“

„Legion“, ermahnte er sie streng. „Das hier ist keine Verhandlung. Du wirst sie in Ruhe lassen. Versprich mir das.“

Mit finsterem Blick sprang sie von seinem Schoß und schritt über den Teppich, der vor ihm lag. „Nur bei deinen Freunden willssst du, dasss ich nett zzzu ihnen bin. Aissso musss sssie deine Freundin sssein. Aber du kannssst nicht mit einem ekelhaften Engel befreundet sssein.“

Die Worte schienen nicht an ihn gerichtet zu sein, und so antwortete er auch nicht, sondern ließ sie weiter vor sich hin schimpfen.

„Issst sssie hübsch? Ich wette, sssie issst hübsch.“

Wieder schwieg Aeron. Er wusste, dass Legion ihn beschützen wollte und dass sie gern der Mittelpunkt seiner Welt war. Sie mochte es nicht, wenn er seine Aufmerksamkeit auf jemand anderen richtete – ein Verhalten, das unter Kindern alleinstehender Väter weit verbreitet war.

„Du magssst sssie“, warf sie ihm vor.

Endlich sagte er etwas. „Nein. Tue ich nicht.“ Doch selbst er konnte die Unsicherheit in seiner Stimme hören. Es hatte ihm – viel zu sehr – gefallen, Olivia in den vergangenen Nächten im Arm zu halten. Es hatte ihm gefallen, dass sie beim Frühstück auf seinem Schoß gesessen hatte – ihren wilden Himmelsduft in der Nase zu haben. Es hatte ihm gefallen, ihre weiche Haut zu spüren und in ihre reinen Augen zu schauen. Es hatte ihm gefallen, wie sanftmütig und entschlossen sie war.

Und es hatte ihm gefallen, wie sie ihn angesehen hatte – als wäre er teils Retter, teils Versuchung.

„Du magssst sssie“, wiederholte Legion, und dieses Mal lag so viel Wut in ihren Worten, dass es ihn schier versengte.

„Legion“, begann er. „Selbst wenn ich eine andere Frau mag, heißt das nicht, dass ich dich weniger liebe. Du bist mein Baby, und daran wird sich niemals etwas ändern.“

Von ihren viel zu scharfen Zähnen – Zähne, die sie jetzt knurrend bleckte – tropfte das Gift. „Ich bin kein Baby! Und Du kannssst sssie nicht mögen. Dasss geht einfach nicht. Ich werde sssie umbringen. Ich werde sssie sssofort umbringen!“ Und mit diesen Worten verschwand sie.

„Was denkst du?“

Olivia drehte sich vor dem bodentiefen Spiegel ungeschickt um ihre eigene Achse und betrachtete die kniehohen schwarzen Stiefel, den Rock, der kaum den Po bedeckte, und das himmelblaue Trägertop an ihrem Körper. Den passenden blauen Stringtanga hatte sie so zurechtgezupft, dass er unter dem Taillenbund des Rocks hervorblitzte. So viel zum Thema „ungezogen“. Noch nie hatte sie so viel Haut gezeigt. Nicht mal vor sich selbst. Das war nie notwendig gewesen.

Trotzdem, sie hatte Kaia darum gebeten. „Mach mich schön“, hatte sie in dem Moment gesagt, als Aeron aus der Burg gestapft war.

„Oh, supi! Ein Umstyling zur sexy Bitch“, hatte die Harpyie frohlockt.

Die anderen zwei Krieger, William und Paris, hatten genervt aufgestöhnt. Paris hatte sogar „Laaangweilig“ gemurmelt, bevor er gegangen war. William hatte versucht, noch ein wenig bei ihnen herumzulungern und zu „helfen“, aber dann hatte Kaia ihm gedroht, seine Eier als Ohrringe zu verwenden.

Anschließend hatte die Harpyie Olivia amüsiert gemustert. „Du willst, dass Aeron seinen Fehler einsieht, hm?“

„Ja, bitte.“ Aber vor allem hatte sie ihr engelhaftes Aussehen ablegen wollen, und zwar ein und für alle Mal. Sie hatte geglaubt, zusammen mit ihrer Robe auch ihre Angst und ihre Unsicherheit ablegen zu können. Dass sie sich in Selbstvertrauen und Wut einhüllen könnte, wenn sie das „Schlampen-Outfit“ anlegte.

Und als sie sich zum zweiten Mal umdrehte, um sich von hinten zu betrachten, wurde ihr klar, dass sie richtiggelegen hatte. Jedenfalls wurde ihr das klar, als der Schwindel sich wieder gelegt hatte. Zum Glück gewöhnte sie sich allmählich – irgendwie – an ihre Beine und schaffte es, stehen zu bleiben.

„Ich liebe es“, sagte sie grinsend. Sie sah aus wie eine ganz neue Person. Sogar wie ein Mensch. Aber vor allem strahlte sie, und diesen Glanz zu sehen war, wie in einem Meer der Macht zu baden.

Ich bin stark. Ich bin schön.

Was würde Aeron nur denken? In all der Zeit, die sie ihn beobachtet hatte, hatte sie nie gesehen, dass er irgendeiner bestimmten Frau seine Aufmerksamkeit geschenkt hätte – außer ihr, nämlich während der vergangenen Nächte und an diesem Morgen. Sie wusste also nicht, auf welche Art Frauen er stand.

Und vermutlich war es auch besser so. Sie könnte nicht vorgeben, jemand zu sein, der sie gar nicht war. Sonst wäre sie noch im Himmel. Also würde er sie um ihrer selbst willen mögen müssen. Ja, das wünschte sie sich am meisten. Und falls ihm das nicht gelänge, tja, dann wäre er es ohnehin nicht wert, dass sie ihre Zeit für ihn opferte.

Er wird dich mögen. Wie könnte er auch anders?

Selbstvertrauen war etwas Schönes.

„Mit diesen Klamotten wird dir jeder Mann bettelnd zu Füßen liegen“, erwiderte Kaia. Der Rotschopf hatte die letzte Stunde damit verbracht, in seinem Kleiderschrank nach dem richtigen Outfit für Olivia zu stöbern. „Ich hab sie in einem kleinen Laden in der Stadt geklaut.“

Moment. „Du hast diese Sachen nicht bezahlt?“

„Genau.“

„Ehrlich?“ Warum nur fühlte sie sich plötzlich noch attraktiver? Wurde sie schon genauso verdorben wie die Dämonen? Vielleicht würde sie dem Lädchen etwas Geld schicken. Du hast doch gar kein Geld. Vielleicht würde sie dem Lädchen etwas von Aerons Geld schicken.

„Jetzt setz dich hin“, befahl Kaia und wies mit dem Kinn auf den Stuhl, der vor dem Schminktisch stand.

Cameo stöhnte. „Bist du immer noch nicht fertig?“ Sie setzte sich aufs Bett und wartete (un)geduldig auf das Ende der Mach-mich-zur-Schlampe-Session. „Ich habe so viele Fragen.“

Kaia zuckte die Achseln. „Dann frag doch, während ich das Make-up mache.“

Olivia setzte sich wie befohlen auf den plüschigen Stuhl, und Kaia hockte sich vor sie. Die Harpyie hatte sich schon mit einem Lidschattenpinsel und einem Döschen mit azurblauem Puder bewaffnet. Da Olivia sich noch nie in ihrem Leben geschminkt hatte, war sie sich nicht sicher, ob ihr so viel Farbe im Gesicht gefiele, doch sie beschwerte sich nicht. Schließlich war das einer der Gründe, weshalb sie hier war: um alles zu erleben, was die Welt zu bieten hatte.

„Mach die Augen zu“, sagte Kaia. Einen Moment später begann der Pinsel auch schon sanft über ihre Lider zu tänzeln. „Schieß los, Cameo.“

Eine weitere Aufforderung war nicht nötig. „Du hast gesagt, du kennst die Aufenthaltsorte einiger anderer dämonbesessener Unsterblicher“, begann Cameo ohne Umschweife.

„Ja.“ Wieder kein Blitz und keine Engelsarmee.

„Aeron ist in der Nacht, in der er dich gerettet hat, einem Mädchen begegnet. Es war von schreienden Schatten umgeben, was auch immer das bedeutet. Kennst du es?“

Unwillkürlich nickte Olivia.

„Halt still“, meinte Kaia. „Jetzt muss ich das Auge noch mal machen. Es sieht aus, als hätte ich dich geschlagen. Mir gefällt der Look ja, aber ich bezweifle stark, dass Aeron darauf steht.“

„Tut mir leid.“ Sie setzte sich gerade hin und hielt ihr Kinn still. „Das war Scarlet, die Tochter von Rhea. Ach, und falls ihr es nicht wisst: Rhea ist die selbst ernannte Mutter der Erde und verbitterte Gattin von Cronus.“

„Was?“, fragte Cameo entsetzt. „Das Schattenmädchen ist eine Tochter der Götter? Und zwar nicht irgendwelcher Götter, sondern des Königs und der Königin der Titanen?“

„Nun ja, einer Göttin. Cronus ist nicht ihr Vater. Rhea verbrachte verbotene Zeit mit einem Krieger der Myrmidonen, als sie und Cronus anfingen, gegeneinander Krieg zu führen.“

„Warum führten sie denn Krieg?“, fragte Kaia. „Ich schätze, ich sollte die Antwort kennen, aber ich habe die Machtspielchen des Himmels nie verfolgt.“

Die Erklärung war einfach. „Cronus hatte vor, ihre Kinder, die Griechen, in den Tartarus zu sperren, weil sein altes allsehendes Auge vorhergesagt hatte, dass sie die Macht an sich reißen würden. Rhea wollte sie nur auf die Erde verbannen. Aber er sperrte sie trotzdem weg.“

Cameo murmelte kurz „Hmm“, ehe sie sagte: „Und wann wurde diese Scarlet gezeugt?“

Was für eine traurige Stimme … Olivias Herz blutete regelrecht, und mit jedem Wort, das die Kriegerin sprach, schmerzte es stärker. „Rhea hatte ihre Affäre zu einer Zeit, als sie nach Möglichkeiten suchte, wie man den Griechen zur Flucht aus dem Tartarus verhelfen und Cronus stürzen könnte. Ihr Liebhaber half ihr sogar bei der Ausführung des finalen Plans und starb für seine Mühen. Am Ende wurden die Griechen befreit. Rhea war davon ausgegangen, weiter herrschen zu können, doch Zeus hatte Sorge, sie würde sich später auf Cronus’ Seite stellen, und sperrte sie deshalb genau wie seinen Vater weg. Scarlet wurde im Gefängnis geboren und großgezogen.“

Während sie gesprochen hatte, waren nacheinander Pinsel, Schwämmchen und Stift über ihr Gesicht getanzt. In ihrem Magen regte sich die Nervosität. Sie betete, dass sie nicht wie ein Clown aussähe, wenn Kaia fertig wäre.

„Dann ist diese Scarlet also besessen von … Schatten?“, fragte Cameo. „Von der Dunkelheit? Wenn dem so sein sollte, wüsste ich nicht, wie eins von beidem als böse bezeichnet werden kann. Sie scheinen eher Geschenke zu sein als Flüche. Sich immer verstecken zu können … seinem Feind eins zu verpassen, ohne gesehen zu werden …“

„Du denkst zu absolut“, erklärte Olivia. „Dein Dämon Elend ist auch nicht notwendigerweise ein Fluch, denn ohne Schmerz gäbe es kein Glück. Denk mal darüber nach. Jeder muss in einem bestimmten Ausmaß dunkle Gefühle erleben, um sich über das freuen zu können, was er hat. Dein Dämon ist einfach nur das Extrem dieser Gefühle. Genauso verhält es sich bei den anderen Herren. Und bei Scarlet. Aber ihr Dämon heißt weder Schatten noch Dunkelheit, sondern Albtraum.“

„Wow“, meinte Kaia. „Und ich dachte, die Jungs hier wären gut dran. Das muss doch der coolste Dämon überhaupt sein.“

Albtraum? Cool? Wohl kaum. „In der Dunkelheit, die Scarlet heraufbeschwört, gibt es nicht ein Fünkchen Licht. Diese Dunkelheit, die in ihr wohnt, ist abgrundtief, eine endlose Wüste der Finsternis. Und in dieser Finsternis lauern genau die Dinge, vor denen sich die Menschen am meisten fürchten.

Olivia hörte Klamotten rascheln und stellte sich vor, wie Cameo sich auf dem Bett anders hinsetzte und sich näher zu ihr beugte. „Wieso weißt du so viel darüber?“

„Ich bin in all den Jahrhunderten vielen Dämonen begegnet. Und als Glücksbotin sah ich, wie und warum dämonische Einflüsse ganze Menschenleben ruinieren.“

„Oooh, cool. Und was hast du mit diesen Dämonen gemacht?“, hakte Kaia nach. „Ich will alles wissen: vom In-den-Hintern-treten bis zum Blutaufwischen.“

Bezaubernde Harpyie – dass sie sie für so stark hielt. „Ich habe sie nicht selbst bekämpft. Wenn meine Anwesenheit nicht ausreichte, sie in die Flucht zu schlagen, musste ich einen Kriegerengel rufen, der sie erledigte.“

„Moment mal“, hakte Cameo nach. „Solche Erlebnisse können dir aber nicht verraten haben, wo Scarlet sich aufhält und was ihre Fähigkeiten sind.“

Erwischt. Olivia stieg die Hitze ins Gesicht. „Ich habe Aeron eine Zeit lang beobachtet und wusste daher, dass er gern andere seiner Art treffen wollte. Ich habe mich umgesehen, welche sich in seiner Nähe aufhielten, und zufällig war die nächste Scarlet. Es gibt noch ein paar andere, die nicht allzu weit weg leben, aber die meisten sind quer über den Globus verteilt.“

„Interessant. Und sie …“

„Nein. Jetzt bin ich mit Fragen dran“, unterbrach Kaia sie. „Ist diese Scarlet gut oder böse?“

Olivia wägte ihre Antwort sorgfältig ab. „Ich schätze, das hängt davon ab, wie du ,gut’ und ,böse’ definierst. Sie wuchs in einem Gefängnis auf, umgeben von Kriminellen. Das war alles, was sie kannte, bevor sie mit ihrem Dämon vereint und später auf die Erde losgelassen wurde. Alles, was sie je getan hat, tat sie, um zu überleben.“

„Genau wie wir“, murmelte Cameo.

Was nicht für Olivia galt. Alles, was sie in letzter Zeit getan hatte, war nur geschehen, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Eigentlich sollte sie sich deswegen schuldig fühlen, aber … das tat sie nicht. Wenn sie den Weg zu ihrem Glück entdeckte, fand sie vielleicht auch den zu Aerons Glück.

Mit „vielleicht“ ist es jetzt vorbei, meldete sich ihr neues Selbstvertrauen zu Wort.

Endlich machte Kaia den letzten Pinselstrich. Das Makeup war fertig. Die Harpyie klatschte in die Hände und pfiff. „Fertig. Mann oh Mann, bin ich gut.“

Ganz langsam öffnete Olivia die Augen. Als sie sich im Spiegel erblickte, stockte ihr der Atem. Der blaue Lidschatten unterstrich den Farbton ihrer Augen und ließ sie magisch funkeln. Die schwarze Mascara verlängerte ihre Wimpern so sehr, dass die beinahe bis an die perfekt gezupften Brauen reichten. Das rosafarbene Rouge auf den Wangen verlieh ihr eine Ausstrahlung, als sei sie eben erst aus dem Bett gekrochen, und der blutrote Lippenstift machte aus ihren Lippen den perfekten Kussmund.

„Du brauchst mir übrigens nicht dein Erstgeborenes als Dankeschön zu versprechen“, meinte Kaia. „Ich nehme nur Cash. Und wenn du Lust hast, können wir jetzt in die Stadt gehen, Anya suchen – ich glaube sie ist immer noch dort –, uns ein Bier und einen Mann schnappen und mit deiner Ausbildung zum unartigen Mädchen fortfahren.“

Immer noch in Trance, fuhr Olivia mit der Fingerspitze über den mandelförmigen schwarzen Schatten an ihrem Wimpernkranz. Smoky Eyes wie aus einem Hochglanzmagazin. Perfekt.

Versuch nur, mir jetzt noch zu widerstehen, Aeron. Das schaffst du nie.

Selbstvertrauen war mehr als nett. Selbstvertrauen war Balsam für die Seele.

„Ihr könnt nicht gehen“, protestierte Cameo. „Ich bin noch nicht mit meinen Fragen durch.“

Kaia verdrehte die Augen. „Dann stell sie doch in der Stadt, während wir uns ins Koma saufen. Ich hab Durst, und Anya wird uns die Köpfe abreißen, wenn wir sie nicht mitnehmen.“

„Du hast echt auf alles eine Antwort“, grummelte die Kriegerin.

„Ja, ist das nicht fantastisch?“

„Weniger.“

Während die zwei anderen Frauen sich foppten, betastete Olivia ihre Lippen. Nicht mehr lange, und sie wüsste, wie Aerons sich anfühlten. Und wieder kein „Vielleicht“. Er wäre unfähig, ihr zu widerstehen. Sie konnte sich ja selbst kaum widerstehen. Ob seine Lippen wohl hart oder weich waren? Ob er wild oder sanft küsste? Eigentlich spielte das gar keine Rolle. Sie würde ihn endlich schmecken, und danach sehnte sie sich am meisten.

„Issst sssie dasss? Issst dasss die Frau? Weissst du wasss, Engel? Du wirssst sterben“, ertönte plötzlich eine neue Stimme. Eine Stimme, in der genug Hass mitschwang, um eine ganze Armee zu töten.

Olivia zuckte zusammen und wirbelte herum, wobei sie sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Auf der anderen Seite des Zimmers stand ein winziger Dämon mit bösen, rot leuchtenden Augen. Die Krallen hatte das Wesen zum Angriff erhoben und die scharfen Zähne gebleckt. Sogar die grünen Schuppen wirkten wie geschärft und standen an den Enden wie Glassplitter ab.

Dieses Mal war sie nicht in die Hölle gestoßen worden. Die Hölle war zu ihr gekommen.

Nein! In ihrer Lunge bildete sich ein Schrei, doch bevor er aus ihr herausbrechen konnte, blieb er in ihrer plötzlich eng gewordenen Kehle stecken, sodass nicht mehr als ein Würgen herauskam.

Ruhig bleiben. Sie hatte dieses Geschöpf schon einige Male gesehen, während sie Aeron gefolgt war, und wusste, wer das war. Legion. Du brauchst keine Angst zu haben.

Sie straffte die Schultern und versuchte, ihre Flügel auszubreiten, um einen sichereren Stand zu bekommen – nur um daran erinnert zu werden, dass sie keine mehr hatte. Sie schluckte. „Hallo, Legion. Ich bin Olivia. Ich … ich will dir nichts Böses.“

„Tut mir leid, aber dasss kann ich von mir nicht behaupten.

„Hey, hey.“ Cameo sprang wie ein Schild vor Olivia. „Hört auf damit. Wir sind hier alle Freunde.“

„Dich werde ich auch töten, wenn du dich mir in den Weg stellssst“, knurrte Legion. „Zzzur Ssseite! Der Engel gehört mir.

Kaia stellte sich dicht neben Cameo. Zusammen waren sie mehr als nur ein Schild. Sie waren eine Wand. „Ich schätze, dann musst du mich auch töten.“

Sie … beschützten sie? Trotz ihrer Angst verspürte Olivia Freude. Obwohl die Frauen sie nicht kannten, behandelten sie sie wie eine von ihnen. Als ob sie bereits dazugehörte.

„Also?“, fragte Kaia eindringlich. „Wie sieht’s aus, Dämonenmädchen?“

„Ich nehme dein Angebot an. Dich werde ich auch töten.“ Dann … verschwand Legion.

O…kay. Nach dieser Drohung war ihr Verschwinden eine Erleichterung. Aber warum sollte sie …

Genau zwischen den Kriegerinnen tauchte sie wieder auf. Noch ehe eine von ihnen Zeit hatte, auszuweichen oder sich irgendwie vorzubereiten, hatte sie beiden in den Hals gebissen. Die Frauen brachen zusammen und wanden sich stöhnend vor Schmerzen auf dem Boden.

Olivia hatte kaum Zeit zu verarbeiten, was sie soeben gesehen hatte. „Wie konntest du nur so etwas tun? Ich dachte, das sind deine Freunde. Sie haben dir doch gar nichts getan, sie wollten mich nur beschützen!“

Die roten Augen fixierten sie, und der Hass, der darin loderte, wurde noch intensiver. „Aeron gehört mir. Du wirssst ihn dir nicht nehmen.“

„Ich fürchte, da kann ich dir nicht zustimmen.“ Obwohl Olivia am ganzen Körper zitterte – sie war alleine, unbewaffnet, wehrlos und verdammt wacklig auf den Beinen –, behauptete sie ihre Stellung. „Aeron wird schon bald mir gehören.“ So oder so. Das würde sie nicht leugnen, auch nicht vor sich selbst.

Legion leckte sich mit ihrer gespaltenen Zunge über die Zähne. „Dafür wirssst du bezzzahlen, Engel. Mit deinem Leben.“

Dann machte Legion einen Satz auf sie zu.

7. KAPITEL

Sieben Tage. Sieben verdammte Tage und nicht der geringste Erfolg. Strider, Hüter der Niederlage, wischte sich sein schweißgebadetes Gesicht mit einem Handtuch ab. Er lehnte sich an einen Felsen und ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Hier schien die Sonne heller und heißer als in Buda. Glasklares Wasser umspülte diese Insel bei Rom, und das leise Rauschen war wie Balsam für seine Ohren.

Alles, was vom Tempel der Unaussprechlichen noch übrig war, waren seine ramponierten Säulen, einige komplett umgestürzt und andere noch aufrecht, sowie ein Altar, auf dem noch immer große rostrote Flecken zu sehen waren. Die Luft summte vor Energie, so sehr, dass die feinen Härchen auf seinen Armen abstanden. Doch trotz des grausigen Altars und der seltsamen Energie verspürte Strider ein eigenartiges Gefühl der Seelenverwandtschaft mit dem Ort. Immerhin sahen viele Leute auch in ihm einen Unaussprechlichen. Böse und überflüssig.

Nicht, dass er mit ihnen übereinstimmte. Er war mit Niederlage verbunden und konnte keine Herausforderung verlieren, ohne fürchterlich zu leiden. Wo lag darin das Böse? Es war ja nicht so, als ob er wahllos tötete, nur um ein Spiel auf der Xbox zu gewinnen oder so.

Egal. Bei seinem letzten Besuch hatten Archäologen hier jeden Winkel untersucht. Unter ihnen waren auch Jäger gewesen, die gehofft hatten, eins von Cronus’ mächtigen Artefakten zu finden oder sogar die Büchse der Pandora selbst. Nun war niemand mehr hier. Warum nicht?

Obwohl sich der Tempel erst vor wenigen Monaten aus dem Meer erhoben hatte, waren bereits große, üppige Bäume gewachsen. Sie umschlossen das Gebiet, auf dem der Tempel einst stolz gethront hatte, ohne das Gebäude selbst jedoch zu berühren. Sie bogen sich sogar davon weg, als hätten sie Angst, ihm zu nah zu kommen.

Das Einzige, das bei seinem letzten Besuch noch nicht hier gewesen war, waren die Knochen. Menschliche Knochen. Höchstwahrscheinlich waren es die Überreste der Archäologen. Was sie getötet hatte, konnte er bloß raten. Er sah weder Spuren von Fleisch noch von Blut. Sicher, ein Tier hätte es geschafft, in den Monaten seiner Abwesenheit so viele Menschen zu fressen, aber hätte dieses Festmahl nicht Spuren hinterlassen? Also, abgesehen von den Knochen. Eine Blutspur hier, ein Stück verrottetes Fleisch da. Kratzspuren an den Stellen, wo die Menschen um ihr Leben gekämpft hatten. Fußspuren, wo sie versucht hatten wegzurennen.

Doch es gab nichts dergleichen.

Was also konnte so restlos Menschen verzehren? Eine göttliche Kreatur.

Anya, die (unbedeutende) Göttin der Anarchie und Luciens Freundin/Verlobte – die Krönung allen Horrors war, dass das ungezogene kleine Weibsbild beschlossen hatte, seine Hochzeit selbst zu planen – wusste nicht viel über diese Unaussprechlichen und wollte Striders Vermutung, dass sie die Menschen als Snack genossen hatten, weder bestätigen noch dementieren. Die Götter hätten niemals von ihnen, nun ja, gesprochen, hatte sie gesagt, weshalb sie sich nicht sicher sei, wozu sie fähig waren. Aber die Götter hatten tatsächlich Angst vor ihnen gehabt.

Dennoch blieb Strider. Er musste diese Artefakte finden. Er musste die Büchse der Pandora finden. Er musste die Jäger vernichten. Endlich. Sein Leben hing davon ab. Zum Teufel, sein Seelenfrieden hing davon ab. Jeden Tag wurden die Forderungen von Niederlage lauter in seinem Kopf, jeder Tag erinnerte ihn mehr und mehr an die erste Zeit seiner Besessenheit. Eine Zeit, die er vergessen wollte.

Sein Dämon hatte gebrüllt, hatte ununterbrochen geschrien, war getrieben worden von dem verzehrenden Drang, jeden herauszufordern, dem er begegnete. Die Konsequenzen waren ihm egal gewesen. Einen Freund umbringen? Sei’s drum. Hauptsache, er gewann.

Damals hatte er sich gehasst. Seine Freunde hatten ihn vermutlich auch gehasst. Na ja, das stimmte nicht ganz, denn ihre Dämonen hatten sie genauso unkontrollierbar gemacht. Es hatte Jahrhunderte gedauert, bis die Herren gelernt hatten, sie zu bändigen. Doch während sie nun ihre dunkleren Hälften unter Kontrolle hatten, näherte Strider sich immer weiter dem Kontrollverlust.

„Sieht aus, als hätte da jemand beschlossen, seine Pause vorzuziehen“, neckte ihn eine heisere Stimme von hinten.

Strider drehte sich um. Gwen, eine rothaarige Schönheit, die stärker und tödlicher war als irgendwer unter den Herren, kam auf ihn zu. In der Hand hielt sie eine im Sonnenlicht funkelnde Flasche Wasser. Sie warf sie ihm zu, und er fing sie spielend auf. Innerhalb weniger Sekunden hatte er sie bis auf den letzten Tropfen geleert. Oh Götter, wie gut es sich anfühlte, als die kühle Flüssigkeit seine trockene Kehle benetzte.

„Danke.“

„Keine Ursache.“ Ihr Mund verzog sich langsam zu einem Grinsen, und er wusste genau, warum Sabin sich in sie verliebt hatte. Ungezogene Frauen waren einfach umwerfend. „Ich hab sie Sabin geklaut.“

„Das habe ich gehört, Frau“, sagte Sabin, der hinter dem nächsten Felsblock hervorkam. Er beschleunigte seinen Schritt, bis er neben Gwen stand, und legte ihr den Arm um die Schultern.

Augenblicklich hob sie ihre Hand, verschränkte ihre Finger mit seinen und lehnte vertrauensvoll den Kopf an seine Seite. Sie mochten ihren Spaß daran haben, einander zu übertrumpfen, aber sie waren eins. Daran gab es keinen Zweifel.

Anfangs hatte es Strider schockiert, dass sie ein Paar waren. Immerhin war Gwen die Tochter von Galen, dem Anführer ihrer schlimmsten Feinde. Außerdem war Sabin der Hüter des Dämons Zweifel, und Gwen war zu Zeiten ihres Kennenlernen eine schüchterne kleine Maus gewesen. Der Dämon hatte sie praktisch bei lebendigem Leib verspeist.

Inzwischen kannte Strider keine selbstbewusstere Frau als Gwen. Wie die beiden diesen Punkt erreicht und es geschafft hatten, dass die Sache funktionierte, wusste er nicht genau. Er war einfach nur froh, dass er nicht in einer festen Beziehung steckte. Er mochte Frauen – auch die nicht ungezogenen. Oh ja, und wie er Frauen mochte. Aber Beziehungen? Nicht sein Ding.

Über die Jahre hatte er ein paar Freundinnen gehabt, und anfangs hatte er sie auch geliebt. Er hatte die Verbindlichkeit geliebt, hatte es geliebt, dass seine Frau nur ihm gehörte und andersherum. Aber kaum hatten die Frauen seine Vorliebe fürs Gewinnen entdeckt, hatten die meisten versucht, sie zu ihrem Vorteil auszunutzen.

„Ich wette, du schaffst es nicht, dass ich mich in dich verliebe.“

„Ich glaube nicht, dass du mich davon überzeugen kannst, dass unsere Liebe für die Ewigkeit bestimmt ist.“

Er hatte das Spiel schon viel zu oft gespielt und Herzen gewonnen, die zu gewinnen ihn gar nicht mehr interessiert hatte. Jetzt hatte er einfach einmal seinen Spaß mit ihnen – vielleicht auch zweimal… okay, vielleicht sogar dreimal –, und dann hieß es: Auf Wiedersehen, alte Freundin, hallo, neues Kätzchen.

„Was soll die frühe Pause?“ Sabin führte Gwen zum Altar und lehnte sich mit der Hüfte gegen den Stein. Er zog sie vor sich, schlang die Arme um sie und legte vorsichtig das Kinn auf ihren Kopf.

Strider zuckte die Achseln. „Ich habe nachgedacht.“ Statt die Steine auf Symbole oder Nachrichten zu untersuchen, wie man es ihm aufgetragen hatte.

Sabin war Zeit seines Lebens Striders Anführer gewesen. Zwar hatte Lucien an der Spitze der Elitearmee gestanden, während sie noch im Himmel gelebt hatten, aber Sabin war es gewesen, den Strider um Rat gefragt und an dem er sich orientiert hatte. Und das hatte sich bis zu diesem Tag nicht geändert. Der Mann hätte seine eigene Mutter enthauptet, wenn er dadurch eine Schlacht gewonnen hätte. Nicht, dass irgendwer von ihnen eine Mutter hatte. Die Krieger waren als erwachsene Männer erschaffen worden. Doch Strider schätzte diese Art der Verbindlichkeit.

„Habe ich jemanden ,Pause’ sagen hören?“, fragte Kane, Hüter der Katastrophe, der mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen um die Ecke bog. Seine Haare, die eine Mischung aus Braun, Schwarz und Gold waren, und auch seine Augen, in denen sich Braun und Grün mischten, glänzten in dem warmen Sonnenlicht.

War er schon immer so farbenfroh? fragte Strider sich. Sie kannten sich schon seit Ewigkeiten, aber Strider war sich fast sicher, den Mann noch nie so … glücklich gesehen zu haben. Er glühte ja schier vor Glück. Vielleicht tat ihm der Tempel gut.

Unvermittelt fuhr ein Windstoß durch die Baumkronen. Ein Zweig brach ab und flog auf die Männer zu. Natürlich traf er Kane am Hinterkopf. Da er an solche Katastrophen gewöhnt war, verlangsamte er nicht einmal seinen Schritt. Vielleicht tat ihm der Tempel doch nicht so gut.

Strider kicherte. Das wäre bestimmt nicht Kanes letzter Unfall. Wo immer der Krieger auftauchte, fiel von irgendwo ein Felsen herab, oder der Boden brach auf.

Als Strider hinter sich das Knirschen von Kies vernahm, drehte er sich um. Amun, Reyes und Maddox, der Rest ihrer Gruppe, kamen näher.

„Pause?“, fragte Amun, dessen tiefe Stimme ganz rau klang, weil er sie so selten benutzte. Er war von Kopf bis Fuß dunkel, und als Hüter der Geheimnisse sprach er nur selten. Viel zu groß war seine Angst, er könnte verheerende Wahrheiten verraten, von denen sich die Krieger nicht mehr erholen würden. Doch nachdem er vor Kurzem doch einmal viele Geheimnisse ausgeplaudert hatte, um Gideon vor einer rasenden Wut zu retten, war er etwas mitteilsamer geworden.

Dieser Wandel wärmte Strider das Herz.

„Sieht so aus“, erwiderte er.

Sabin verdrehte die Augen. „Sieh nur, was du angerichtet hast.“

„Was ist falsch an einer Pause? Ich bin müde. Und die Götter wissen, dass wir keinerlei Fortschritte machen.“ Maddox war ihr wohl gefährlichstes Mitglied. Oder vielmehr: Er war es einmal gewesen. Bevor er seine Ashlyn gefunden hatte. Nun lag in seinen violetten Augen eine Sanftheit, die unter den Herren sonst niemand besaß.

Zu schade, dass allein Ashlyn in den Genuss dieser Sanftheit kam. Maddox war der Hüter des Dämons Gewalt, und wenn der Bursche aus ihm herausbrach … Autsch. Strider hatte den Drang des Mannes, andere zu verletzen und zu verstümmeln, schon ein-oder zweimal zu spüren bekommen. Und ja, Strider hatte immer gewonnen, indem er mehr Schläge und Stiche ausgeteilt als eingesteckt hatte. Er konnte einfach nicht anders.

„Wir haben das Gelände abgesucht, die Steine mit Röntgenstrahlen durchleuchtet und unser eigenes Blut vergossen, um die Unaussprechlichen mit einem Opfer hervorzulocken.“ Reyes, der genauso dunkel war wie Amun, jedoch viel angespannter, breitete die Arme aus. Sie waren übersät von blutigen Schnitten – Spuren seines letzten Opfers. Oder seiner Selbstverstümmelung. Bei Reyes konnte man sich nie sicher sein. „Was können wir noch tun?“

Alle Blicke richteten sich auf Sabin.

„Sie waren es, die uns gesagt haben, dass Danika das allsehende Auge ist. Ich verstehe nicht, warum sie uns nicht noch einmal helfen wollen“, schimpfte der Krieger, offensichtlich frustriert.

Das allsehende Auge konnte sowohl in den Himmel als auch in die Hölle blicken. Danika wusste, was die Götter vorhatten, was die Dämonen vorhatten und wie die Ergebnisse all dieser Vorhaben aussahen. Allerdings kamen die Visionen nicht unbedingt auf Abruf, sondern meist in ungeordneten Schüben.

Sabin drehte sich im Kreis und rief: „Wir wollen nur wissen, wo wir die anderen beiden Artefakte finden. Ist das wirklich zu viel verlangt?“

„Helft uns einfach, verflucht noch mal“, schrie Kane, der sich von Sabins Stimmung anstecken ließ.

„Sonst reiße ich jeden Stein auf dieser Insel nieder und werfe sie alle ins Meer!“, fügte Maddox hinzu.

„Und ich werde ihm dabei helfen“, schwor Strider. „Nur dass ich zuerst noch draufpinkeln werde!“

Als ihre Stimmen von den Felsen widerhallten, schien die Luft vor lauter Herausforderungen ganz stickig zu werden. Die Insekten in den Bäumen verstummten.

„Hoppla … vielleicht hättest du ihnen nicht mit der Schändung ihres Eigentums drohen sollen“, murmelte Reyes.

Uuups.

Und dann verblasste die Welt um sie herum. Nur die Säulen und der Altar blieben – nur dass plötzlich alle Säulen wieder aufrecht standen und der Altar jetzt aus glänzend weißem Marmor und frei von jeglichen Blutspuren war.

Unsicher, was als Nächstes geschähe, strafften die Krieger die Schultern und griffen nach ihren Waffen.

Strider war sowohl im Umgang mit Schusswaffen als auch mit Messern geübt, wenn er normalerweise auch die leisere Waffe bevorzugte. Heute würde er sich allerdings auf seine Sig Sauer verlassen. Er hielt die Mündung nach unten, was jedoch nicht hieß, dass sie so weniger gefährlich war. Im Bruchteil einer Sekunde könnte er zielen und feuern.

„Was geschieht hier?“, flüsterte Gwen.

„Ich habe keine Ahnung, aber sei besser auf alles vorbereitet“, warnte Sabin sie.

Jeder andere Krieger hätte sich schützend vor die Frau gestellt. Nicht so Sabin. Er hatte Männer und Frauen schon immer gleich behandelt, und wenn er Gwen auch mehr als sein eigenes Leben liebte und obwohl sie zu beschützen ihm wichtiger war, als zu siegen, so wusste jeder hier, dass Gwen die Stärkste unter ihnen war. Sie hatte schon mehr als einem Herrn das Leben gerettet.

Dafür stellte sich Strider vor … sie und alle anderen. Die Herausforderung … Er musste derjenige sein, der diese Sache gewann.