Sein Dämon summte bereits aufgeregt vor sich hin. Gewinnen … gewinnen … muss gewinnen … kann nicht verlieren.

Ich weiß, knurrte er. Und das werde ich auch.

Er drehte sich um die eigene Achse und suchte die Umgebung mit Blicken ab. Endlich erspähte er seinen Gegner. Einen hünenhaften Mann – nein, dieses Ding konnte man nicht als Mann bezeichnen. Zwischen zwei Säulen hatte eine riesige Bestie Gestalt angenommen.

Obwohl Striders Magen sich vor Entsetzen zusammenzog, schätzte er seinen Gegner ab. Die Bestie trug keine Kleidung, aber das brauchte sie auch nicht. Die Haut des Riesen war behaart wie die eines Pferdes. Auf seinem Kopf erhoben sich zischelnde, tanzende Schlangen, deren dünne Körper seine Haare bildeten. Zwei lange Fangzähne ragten über seine Unterlippe.

An seinem Oberkörper reihte sich Muskelstrang an Muskelstrang, und seine Brustwarzen waren von zwei großen silbernen Ringen durchbohrt. Ketten um seinen Hals, seine Handgelenke und seine Fußknöchel fesselten ihn an die Säulen. Er hatte Menschenhände, aber seine Füße waren Hufe.

„Wer bist du?“, fragte Strider fordernd. Er brauchte nicht zu fragen, was das Ding war. „Hässlich wie Scheiße“ reichte als Beschreibung völlig aus.

Er hatte zwar keine Antwort erwartet, doch trotzdem verunsicherte ihn die Stille, die auf seine Frage folgte, zutiefst.

Dann erschien neben der Bestie zwischen zwei anderen Säulen ein weiteres Ungeheuer, und Strider blinzelte fassungslos. Der zweite Riese war ebenfalls männlich, doch war bei ihm nur der Unterkörper von Tierhaaren bedeckt. Seine Brust war überzogen von einem grausamen Netz aus Narben, und auch er war festgekettet.

Trotzdem. Die Ketten schmälerten nicht die drohende Gefahr, die beide ausstrahlten.

„Bei den Göttern. Seht nur“, keuchte Kane und zeigte mit dem Finger auf die Kreaturen.

Eine dritte Bestie nahm Gestalt an, und diese war weiblich. Genau wie bei den Männern war auch ihr Oberkörper nackt. Ihre Brüste waren groß und ihre Brustwarzen ebenfalls gepierct – wenn auch nicht mit Silberringen, sondern mit Diamanten. Um Hüfte und Oberschenkel trug sie einen Lederrock. Da sie seitlich zu Strider stand, konnte er die kleinen Hörner sehen, die aus ihrer Wirbelsäule hervorragten. Während er die Hörner mochte – da konnte ein Mann sich festhalten, wenn es mal etwas heftiger zur Sache ging –, konnte er an ihrem Gesicht so gar keinen Gefallen finden. Sie hatte einen Schnabel wie ein Vogel. Mit der ins Bett gehen? Nein, danke. Auch das weibliche Monster war behaart und angekettet.

In schneller Folge tauchten nun noch Nummer vier und fünf auf, beide so groß und breit wie lebende Berge. Allerdings hatten diese Ungeheuer kein Schlangenhaar. Ihre persönlichen Extras waren schlimmer. Der eine Riese hatte eine Glatze, und aus seinem nackten Schädel schienen Schatten zu triefen. Dicke schwarze, faulige Schatten. Aus dem Kopf des anderen ragten kleine scharfe Klingen hervor, die alle von einer klaren Flüssigkeit überzogen waren und gefährlich glänzten.

Die Unaussprechlichen.

Ohne Zweifel. Strider atmete schwer aus. Sie hätten ruhig auch die Ungesehenen bleiben können, verdammt noch mal.

Gewinnen.

Bis jetzt gibt es noch keine Herausforderung, du Idiot. Den Göttern sei Dank, fügte er im Stillen hinzu. Wäre er überhaupt in der Lage, diese Dinger zu besiegen?

Das weibliche Ungeheuer machte einen Schritt nach vorn, was ihre Ketten laut scheppern ließ. Die Herren wichen nicht einen Millimeter zurück, und das schien sie zu freuen, denn sie grinste und zeigte dabei ihre blendend weißen, rasierklingenscharfen Zähne. Zum Glück hinderten ihre Fesseln sie daran, ihnen allzu nahe zu kommen.

„Schon wieder habt ihr uns ungefragt belästigt.“ Aus ihrer Stimme klangen die Schreie Tausender Seelen, die in der Hölle gefangen waren und verzweifelt zu entkommen versuchten. Ihre Schreie hallten durch den Tempel, und ihre Tränen schienen Striders Kleider zu durchnässen. „Und wieder erweisen wir euch die Ehre unserer Anwesenheit. Aber glaubt nicht – nicht einen Moment lang –, dass eure Drohungen uns dazu bewogen haben. Du willst unseren Tempel entweihen? Na los! Aber ich schlage vor, du verabschiedest dich vorher von deinem Schwanz.“

Gewinnen!

Keine Herausforderung, keine Herausforderung, keine verdammte Herausforderung. Bitte lass das jetzt keine Herausforderung sein. Er hatte das ungute Gefühl, dass die Frau meinte, was sie sagte. Wenn er Stridy Monster rausholte, um sich zu erleichtern, würde er Stridy Monster verlieren. Und es gäbe keine größere Tragödie als das. Da konnte man jede fragen, die schon einmal in den Genuss von Stridy Monster gekommen war.

„Äh, wir bitten um Verzeihung“, sagte Sabin in einem Versuch, die Situation zu beruhigen.

„Entschuldigung angenommen“, erwiderte sie leichthin.

Die Leichtigkeit schien unangemessen und falsch zu sein.

Verdammt. Wo war Gideon, wenn man ihn mal brauchte? Als Hüter der Lügen wusste der Junge genau, wann jemand die Wahrheit sagte – und wann nicht. Schon seit dem Auftauchen der Bestien hatte Strider ein mulmiges Gefühl gehabt. Als er sich nun fragte, was sie eigentlich mit den Kriegern vorhatten, verwandelte sich dieses Gefühl in pure Angst.

„Nun zu den Gründen für unser Erscheinen“, fuhr sie fort. „Eure Entschlossenheit, euren Feind zu besiegen, ist bewundernswert, und wir haben uns entschieden, euch dafür zu belohnen.“

Eine Belohnung? Von diesen Kreaturen? Sein bis eben noch verkrampfter Magen vollführte jetzt ein kleines Tänzchen: Drehung, Drehung, Knoten, Drehung, Drehung, Knoten. Falsch, dachte er wieder.

„Dann werdet ihr uns also helfen?“, fragte Reyes. Naiver Idiot. „Uns helfen, die Jäger endlich und für immer zu besiegen?

Ein Lachen. „Wie ihr vorhin selbst gesagt habt, haben wir euch bereits geholfen – und zwar ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen.“ Ihr Blick, der ihn so stark an ein schwarzes Loch erinnerte, dass er bereits das Gefühl hatte zu fallen, wanderte weiter, landete auf ihm und nagelte ihn fest. „Oder etwa nicht?“

Und auf einmal dämmerte es ihm. Wenn man jemanden von einer Droge abhängig machen wollte, gab man ihm die erste Dosis gratis. Die Hilfe der Unaussprechlichen war die Droge gewesen, und die Herren waren jetzt die Abhängigen.

Für jede weitere Unterstützung werden wir bezahlen müssen, wurde Strider plötzlich klar. Und zwar ordentlich. Dingdingding! Endlich richtig.

„Vielleicht können wir uns ja gegenseitig helfen“, schlug Kane vor, als der Boden unter seinen Füßen zu knacken begann. Schnell sprang er zur Seite, um nicht selbst in ein schwarzes Loch zu fallen.

Hochmütig und verächtlich hob sie das Kinn. „Wir brauchen nichts von euch.“

„Das werden wir noch sehen“, meinte Sabin scheinbar unbekümmert. Doch Strider konnte sehen, wie die Zahnräder im Kopf seines Freundes arbeiteten. „Wisst ihr, wo der Tarnumhang ist? Und die Rute?“

„Ja.“ Sie schenkte ihm noch ein Grinsen, das dieses Mal wie ein durchgeladenes und entsichertes Gewehr wirkte. „Allerdings.“

Ja, ich bin süchtig.

Gewinnen! wiederholte Niederlage.

Strider leckte sich erwartungsvoll über die Lippen. Es summte schon in seinen Knochen bei dem Gedanken an den Sieg über die Jäger. Endlich, der Super Bowl der Siege. Hier lag er, direkt vor ihnen. Wenn sie erst die Artefakte hätten, könnten sie die Büchse der Pandora ausfindig machen und zerstören. Damit würden sie die Jäger natürlich nicht vernichten, aber sie würden ihren Masterplan ruinieren, der da lautete: Benutze die Büchse, um die Dämonen aus den Herren zu reißen, und töte danach die Herren.

Die Krieger konnten ohne die Dämonen nicht mehr leben. Sie waren zwei Hälften, die zusammen ein Ganzes bildeten und für immer aneinander gebunden waren. Niederlage gehörte genauso zu ihm wie Stridy Monster.

Die Dämonen waren genauso gebunden, auch wenn sie nicht sterben würden bei der Trennung von den Kriegern. Doch sie würden wahnsinnig werden und bis in alle Ewigkeit versuchen, ihre verderbten Bedürfnisse zu befriedigen, ohne jedoch dazu in der Lage zu sein.

Nachdem die Jäger Baden getötet hatten, war Misstrauen qualvoll schreiend aus seinem Körper gefahren und hatte jeden umgebracht, der ihm begegnet war. Und Strider hatte hilflos zusehen müssen.

Doch was noch viel schlimmer war: Der Dämon war immer noch irgendwo da draußen und richtete verheerenden Schaden an.

Deshalb wollten die Jäger ihn und seine Freunde auch nicht mehr töten. Die Dämonen sollten nicht wahnsinnig und unberechenbar frei umherirren. Mit der Büchse jedoch könnten sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Dank Danika wussten die Krieger inzwischen allerdings, dass die Jäger eine neue Strategie verfolgten. Irgendwie war es ihnen gelungen, den Dämon Misstrauen zu finden. Sie hatten es geschafft, ihn einzufangen, und versuchten jetzt, ihn dazu zu zwingen, von einem anderen Körper Besitz zu ergreifen. Wenn sie erfolgreich wären … Strider lief ein Schauder über den Rücken. Dann brauchten sie nicht mehr auf die Büchse zu warten. Sie könnten die Herren umbringen, ihre Dämonen in Körper ihrer Wahl verfrachten und alles tun, wozu sie Lust hatten.

Sie behaupteten, eine Welt ohne das Böse zu wollen. Doch würden sie dasselbe sagen, wenn sie die Kontrolle über all dieses Böse hätten? Zur Hölle, nein. Macht abzugeben war nicht leicht. Das wusste er selbst nur zu gut. Unter keinen Umständen wäre er je fähig, seine Macht abzugeben. Zu gewinnen gefiel ihm – und zwar nicht nur wegen seines Dämons.

„Also? Was wollt ihr von uns?“, fragte Sabin jetzt deutlich verhaltener. „Im Tausch gegen die Artefakte?“

Strider musste fast grinsen. Sabin konnte Missverständnisse nicht ausstehen. Er sorgte immer dafür, dass die Fakten klar auf dem Tisch lagen, damit jeder wusste, worauf er sich einließ.

Die Unaussprechliche lachte, und diesmal klang es weitaus grausamer als zuvor. Möglicherweise weil sich dieses Mal Spott darunter mischte: „Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist? Ihr gebt uns ein Versprechen, und im Gegenzug bekommt ihr von uns, wonach ihr euch am meisten sehnt? Wenn du auch nur eine Ahnung hättest, wie falsch du liegst, Dämon. Ihr seid nicht die Einzigen, die nach dem suchen, was wir zu bieten haben. Seht!“

Über dem Altar verdichtete sich die Luft. Farben leuchteten auf, flössen ineinander und schienen zu einer Art Film zu werden. Strider strengte sich an, etwas in den Bildern zu erkennen, und erstarrte schließlich, als er Galen erblickte. Seine blonden Haare, seine schönen Gesichtszüge, seine weiß gefiederten Flügel. Wie gewöhnlich trug er eine weiße Robe, als wäre er tatsächlich ein Engel und kein dämonbesessener Krieger.

An seiner Seite war eine große, schlanke Frau zu sehen. Sie war auf derbe Art hübsch mit ihren scharfen Gesichtszügen, den dunklen Haaren und der blassen Haut. Irgendwo habe ich sie schon mal gesehen, dachte er und durchforstete im Zeitraffer seine mentalen Akten zum antiken Griechenland, zum antiken Rom und zu allen anderen Orten, an denen er in seinem langen Leben schon gewesen war. Ohne Erfolg. Er stöberte durch jüngere Zeiten, doch wieder … Oh, verdammt, da. Danika, ging es ihm auf. Danika hatte sie gemalt. Sie gehörte zum Feind.

Verdammt, dachte er noch mal. Danika hatte diese Frau in einer Szene gemalt, die sich vor über zwanzig Jahren ereignet hatte, und trotzdem hatte sie sich nicht verändert. Auf ihrem Gesicht war nicht eine Falte zu erkennen.

Dann war sie also kein Mensch.

Heute trug sie schwarze Lederkleidung und war auf einem Tisch festgebunden, doch sie wehrte sich nicht gegen die Fesseln. In ihrem Gesicht spiegelte sich Entschlossenheit, und mit dem Blick folgte sie … Nein. Mit Sicherheit nicht. Das war unmöglich. Doch während Strider weiter hinsah, erblickte er ein gespenstisches Wesen, das von einer Zimmerecke zur anderen sprang. Seine Augen waren rot, sein Gesicht wie ein Totenschädel, seine Zähne lang und scharf.

Keine Frage: Das war ein Dämon. Ein hoher Herr. Ein Wesen von derselben Art wie das, von dem Strider besessen war.

Strider stockte der Atem, und jeder Muskel seines Körpers schien sich fest an seine Knochen zu klammern.

„Baden“, krächzte Amun mit seiner ungeölten Stimme. In seinem Ton lag so viel Sehnsucht, dass es beinahe wehtat. Baden hatte irgendetwas an sich gehabt, das jeden Einzelnen von ihnen angezogen hatte. Etwas, das sie alle gebraucht hatten. Sie hatten Baden mehr geliebt als sich selbst. Mehr als sie einander liebten.

Und das taten sie noch – obwohl er tot war.

„Auf gar keinen Fall. Verflucht!“ Kane schüttelte vehement den Kopf.

Strider stimmte ihm zu. Auf gar keinen Fall, verflucht. Dieser Dämon trug nicht das Wesen ihres Freundes in sich. Das konnte gar nicht gehen. Und doch hatte dieses gespenstische Ding irgendetwas Vertrautes an sich … etwas, wobei sich einem der Magen umdrehte.

„Fahr in sie hinein“, befahl Galen. „Fahr in sie hinein, und deine Qual wird ein Ende haben. Du wirst endlich einen Wirt haben. Du wirst endlich fühlen, riechen und schmecken können. Erinnerst du dich nicht mehr, wie wunderbar das ist? Endlich wirst du in der Lage sein, das Vertrauen der Menschen zu zerstören, es zu zerfetzen – so, wie es deine Bestimmung ist.

Das Vertrauen der Menschen zerstören. So, wie es Misstrauens Bestimmung war. Nein, dachte er wieder.

Der Geist stöhnte und sprang noch gehetzter hin und her. Er war eindeutig aufgewühlt. Wusste er, was vor sich ging? Wollte er einen anderen Wirt? Oder war er dem Wahnsinn schon viel zu sehr verfallen, um zu verstehen?

„Bitte“, flehte die Frau. „Ich brauche dich. Ich brauche dich so sehr.“

Aha. Sie wollte es also. Was allerdings nicht bedeutete, dass sie wusste, was mit ihr geschähe, wenn sich ihr Wunsch erfüllte. Mindestens ein Jahrhundert lang bliebe von der Person, die sie im Augenblick noch war, nichts übrig. Sie würde durch und durch Dämon sein, und viele Menschen würden deshalb leiden müssen.

„Tu es“, fuhr Galen fort. „Das ist es doch, was du willst und brauchst. Du brauchst sie nur zu berühren, und schon wirst du Erleichterung erfahren. Könnte es etwas Leichteres geben?“

Ob der Dämon ihn wohl versteht? fragte Strider sich wieder. Als Hüter der Hoffnung war Galen in der Lage, jeden und alles dazu zu bringen, sich nach einer Zukunft zu sehnen, die er ohne seinen Einfluss nie gewollt hätte. Selbst einen Dämon. Auf diese Weise hatte er seine Jäger geformt. Er hatte sie davon überzeugt, dass die Welt ohne die Herren ein besserer Ort wäre. Eine Utopie von Frieden und Wohlstand.

Galens überzeugendes Säuseln zeigte sogar bei Strider Wirkung. Auf einmal wollte er die Frau berühren. Das brächte ihm Erleichterung … seine Zukunft wäre sicher … besser …

Der Dämon schoss zu der Frau hinab, änderte seine Meinung und schoss wieder in die andere Richtung. Oh ja. Er verstand.

Tu es nicht, schrie Strider dem Wesen stumm zu. Er wollte seinen Freund zurück, natürlich. Mehr als alles andere auf der Welt. Und auf gewisse Weise war der Dämon Misstrauen sein Freund. Wesen von Baden hin oder her. Er wollte nicht, dass sein Freund im Körper eines Feindes wohnte.

„Tu es!“, knurrte Galen. „Tu es! Jetzt.“

Unaufhörlich kreiste der Geist an der Zimmerdecke umher.

Dann warf Galen ungeduldig die Hände in die Luft. „Na schön. Vergiss es. Du kannst den Rest der Ewigkeit genauso verbringen wie die letzten tausend Jahre. Elend. Hungrig. Unerfüllt. Wir gehen.“ Er streckte die Hand aus, um die Fesseln der Frau zu lösen.

Da erklang noch ein Ächzen, dann ein Knurren, und im nächsten Moment schoss der Geist wieder von einer Ecke zur nächsten, wurde immer schneller, bis er nur noch ein unscharfer Streifen war. Dann fiel er … und drang in den Bauch der Frau ein.

Wäre sie nicht festgebunden gewesen, sie hätte sich selbst verletzt, so heftig zuckte sie auf einmal. Und mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde das Zucken heftiger. Sie grunzte und stöhnte, ihre Muskeln verkrampften sich, ihre Gesichtszüge verzerrten sich. Dann begannen die Schreie.

Nein. Götterverdammt, nein. Strider wäre am liebsten auf die Knie gefallen.

Galen lächelte ein böses, zufriedenes Lächeln. „Es ist vollbracht. Endlich. Jetzt brauchen wir nur noch abzuwarten, ob sie überlebt.“

Die Zimmertür schwang auf, und herein kam eine Gruppe seiner Anhänger. Was für ein perfektes Timing. Sie mussten das Geschehen irgendwo in der Nähe über einen Monitor verfolgt haben.

„Kehren wir zum Tempel zurück, großer Meister?“, fragte der Mann an der Spitze.

Galens Antwort ging unter, als das Bild blass wurde und schließlich komplett verschwand.

Die Zeit schien stehen zu bleiben, gefangen in einem Netz aus Entsetzen und Schrecken.

Sabin war der Erste, der den Schock abschüttelte. „Was, zur Hölle, ist da gerade passiert?“

Was passiert war? Die Tore zur Hölle hatten sich soeben geöffnet, und das Horrorszenario, das er zigmal im Geiste durchgespielt hatte, war plötzlich Wirklichkeit geworden.

Wenn die Frau überlebte, würden die Jäger von nun an aufs Ganze gehen. Genau wie Strider es befürchtet hatte. Sie würden sich nicht länger damit zufriedengeben, die Herren nur zu verletzen. Sie wären darauf aus, sie zu töten. Und wenn die Dämonen der Krieger erst befreit wären, würden sie eingefangen, mit jemand anderem gepaart, und Galen könnte eine Armee dämonischer Unsterblicher aufbauen, die allein seinem Kommando unterstünde.

„Hol die Bilder zurück“, forderte Maddox harsch. „Zeig uns, was passiert ist, nachdem er von ihr Besitz ergriffen hat.“

„Dieser Ton wird dir nichts als Enttäuschung einbringen, Gewalt, denn dein Feind will dasselbe wie du. Die Rute.“ Die Unaussprechliche breitete ihre Arme aus und präsentierte dabei ihre Fingernägel, die so lang waren, dass sie sich an den Enden zu den Fingern zurückkrümmten. „Wir werden entscheiden, wem wir dieses gesegnete Geschenk machen.“

Maddox schob den Unterkiefer hin und her, bevor er den Kopf nach unten neigte. „Bitte entschuldigt.“

„Was wollt ihr von uns? Sagt es, und es gehört euch.“ Strider war egal, was sie von ihm verlangen würden. Er würde es ihnen geben.

Sie lächelte, als hätte sie nicht weniger erwartet. „Wenn ihr in den Besitz der Rute kommen wollt, werdet ihr uns den Kopf eures Königs bringen müssen.“

Eine weitere Sekunde verstrich in entsetzter Stille.

„Moment. Ihr wollt … den Kopf von Cronus?“ Gwens Blick zuckte zu den Herren hinüber. „Des Götterkönigs?“

„Ja.“ Kein Zögern.

Konnte Strider ihnen das überhaupt geben? Der Götterkönig hatte ihm bei unzähligen Schlachten zum Sieg verholfen. Er war auf seiner Seite und täte alles, um Galen und die Jäger zu vernichten. Könnte Strider ihn also … töten? Könnte er den mächtigsten Unsterblichen aller Zeiten töten? Und ihn sich, falls er versagte, zum Feind machen?

„Und wie sollen wir das anstellen?“, fragte Kane.

„Ich habe euch gesagt, es würde nicht einfach werden. Doch obwohl er ein Gott ist und es sich als die schwierigste Aufgabe eures Lebens erweisen wird, ihn zu vernichten, so ist er euch doch sehr ähnlich“, erwiderte die Unaussprechliche. „Ähnlicher, als euch bislang klar war. Nutzt dieses Wissen zu eurem Vorteil.“

Kane schüttelte den Kopf, wobei ihm eine Locke ins Auge fiel. „Aber er gehört zu unserer Seite.“

„Wirklich?“ Noch ein grausames Lachen. „Denkt ihr nicht, dass er euch in derselben Sekunde töten wird, in der er keine Verwendung mehr für euch hat? Außerdem solltet ihr eines nicht vergessen: Wenn ihr uns seinen Kopf nicht bringt, wird euer Feind es tun. Und dann bekommt er unseren Preis.“

Strider riss die Augen auf, als ein weiteres Puzzleteil an seinen Platz rückte. Deshalb würde Galen Jagd auf Cronus’ Kopf machen. Darum also Danikas Prophezeiung.

Sie konnten nicht zulassen, dass Galen die Gunst dieser Kreaturen erlangte. Die möglichen Konsequenzen waren fatal – fataler, als es sich mit Cronus zu verscherzen. Mist. Verdammt! Fuck. Kein Schimpfwort schien heftig genug zu sein.

„Warum wollt ihr seinen Tod?“, wollte Strider wissen. Wie sagte Sabin immer? Wissen war Macht. Vielleicht fänden sie in der Antwort ja irgendeinen Ausweg.

Die Bestie knirschte mit den Zähnen. „Er hat uns zu Sklaven gemacht, und dieses Schicksal werden wir nicht hinnehmen. Das könnt ihr bestimmt gut verstehen.“

Verstehen, ja. Er war viel zu lange ein Sklave seines Dämons gewesen. Doch leider barg ihre Antwort keinerlei Aussicht auf einen Ausweg. Diese Wesen waren fest entschlossen. Es gab keine Chance, sie zu beeinflussen.

Was würde wohl geschehen, wenn sie befreit würden und sich uneingeschränkt bewegen könnten? Nichts Gutes, so viel konnte er sich denken.

„Ihr braucht Zeit, um nachzudenken“, fuhr sie fort. „Und wir werden euch diese Zeit gewähren. Und als weiteren Beweis für unsere Großmütigkeit werden wir euch sogar noch ein Geschenk machen. Genießt es. Wir werden es auf jeden Fall tun.“

Das Letzte, das Strider sah, war ihr teuflisches Grinsen. Dann wurden er und die anderen auch schon an einen anderen Ort transportiert: in einen Dschungel. In dem sie plötzlich von Jägern eingekreist waren.

8. KAPITEL

Olivia und Legion umkreisten einander. Als sich die kleine Dämonin unvermittelt auf sie gestürzt hatte, war Olivia zur Seite gesprungen, und Legion war gegen die Wand geknallt. Jetzt betrachtete Olivia ihre Gegnerin genau. Sie hatte solche Wesen – Lakaien, auch bekannt als dämonische Diener – in der Vergangenheit schon mehrmals unterliegen sehen. Das hatten alle Engel, auch solche, deren alleinige Aufgabe darin bestand, der Welt Frieden und Glück zu bringen. Aber natürlich hatte sie nie selbst gegen eines gekämpft.

Dennoch hatte es eigentlich nie den Anschein gemacht, als hätten die Kriegerengel sich besonders anstrengen müssen, um diese Geschöpfe zu vernichten. Sie hatten einfach die Arme ausgestreckt, wobei ihre Feuerschwerter erschienen waren. Diese Flammen waren nicht in der Hölle erschaffen worden, sondern dem Mund ihrer Gottheit entsprungen, deren Atem weitaus heißer war als die Flammen, die alle Dämonen so liebten. Wenn sie auf die Schuppen trafen, zerfielen die Dämonen einfach. Aber dieser Kampf hier war damit wohl kaum zu vergleichen.

Kaia und Cameo lagen immer noch am Boden und krümmten sich vor Schmerzen. Auf ihrer Haut lag jetzt ein grünlicher Schimmer. Als Engel hätte Olivia sie beruhigen und ihren Schmerz einfach verschwinden lassen können. Doch gefangen in diesem kläglichen Körper, konnte sie rein gar nichts tun.

Nichts als auf der Hut sein und kämpfen.

Wenn sie irgendwie überleben wollte, brauchte sie etwas, das sie noch nie zuvor erfahren oder sich gewünscht hatte: Wut. Immerhin war Wut das, was Menschen stark machte. Oder? Sie schienen zu wachsen, zu zerstören, zu siegen, wenn sie dieses Gefühl verspürten.

Also … was machte sie wütend? Auf jeden Fall ihre Zeit in der Hölle.

Obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte, beschwor Olivia die Erinnerung herauf. Die Flammen … der Gestank … diese schleimigen, gierigen Hände … Ihr Magen begann vor Übelkeit zu brennen, und unter den ersten Funken Wut mischten sich Angst und Ekel. Danach übernahm ihr Instinkt die Kontrolle, und ihr Entsetzen über den kaltblütigen Angriff auf Kaia und Cameo wurde immer stärker, bis es die Angst betäubte. Glücklicherweise nur die Angst.

„Du wirssst heute sterben, Engel.“

Sie ballte die Hände zu Fäusten. Ich bin stark. „Du kannst niemals so mit Aeron zusammen sein, wie du es dir wünschst, Dämon“, sagte sie in dem Wissen, dass die Wahrheit in ihrer Stimme für ein Wesen, das unter Lügnern aufgewachsen war, widerlich sein musste. „Ich sage das nicht, weil ich grausam sein will, sondern weil …“

„Sssei still. Sssei still!“ Mit ausgefahrenen Krallen schlug Legion nach ihr.

Olivia lehnte sich weit zurück, um sich außer Reichweite zu bringen. Ohne ihre Flügel, die sie stets im Gleichgewicht gehalten hatten, stolperte sie und wäre um ein Haar zu Boden gestürzt.

„Aeron liebt mich. Dasss hat er mir ssselbssst gesssagt.“

Fast ihre gesamte Wut versiegte, und sie konnte nichts dagegen tun. Mitgefühl war genauso tief in ihr verwurzelt wie das Bedürfnis, Freude zu schenken. Sie und Legion sehnten sich nach derselben Sache. „Und es stimmt auch. Er liebt dich. Aber er liebt dich nicht so, wie ein Mann eine Frau liebt, sondern wie ein Vater seine Tochter.“

„Nein.“ Ein kräftiges Aufstampfen. Ein Zischeln. „Ich werde ihn einesss Tagesss heiraten.“

„Wenn dem so wäre, hätte ich vermutlich nicht mein bisheriges Leben aufgegeben, um herzukommen und ihn zu retten. Ich hätte nicht mit ihm zusammen sein wollen.“ Sie sprach so sanft wie möglich, denn es war nicht ihr Ziel, die Gefühle der Dämonin zu verletzen. Schließlich mochte Aeron das … Ding aus irgendeinem Grund. Dennoch wusste sie, wie Dämonen funktionierten, und deshalb wusste sie auch, dass Legion sie so lange beschimpfen und ihr zusetzen würde, bis Olivia es ihr begreiflich machen konnte. „Ich habe schon in seinem Bett geschlafen und mich an ihn gekuschelt.“

Legion beschuldigte sie gar nicht erst, eine Lügnerin zu sein. Wie könnte sie auch? Engel kannten dieses Bedürfnis nicht, und das wusste der kleine Unhold genau. Stattdessen hielt sie inne und starrte Olivia mit offenem Mund an, während ihr Atem flach und abgehackt ging. Von ihren scharfen Zähnen tropfte noch mehr Gift.

„Du willst etwas, das du nicht haben kannst. Du bist neidisch und voller Sehnsucht. Das liegt in deiner Natur“, fuhr Olivia fort, „und ich verstehe diese Gefühle besser als je zuvor, weil sie der Grund dafür sind, dass ich hier bin. Auch ich bin neidisch und voller Sehnsucht. Es gibt jedoch eines, das du nicht verstehst: Dass du die Hölle verlassen hast, war für Aeron das Todesurteil. Du bist der Grund, weshalb man mich zu ihm geschickt hat. Du bist der Grund, weshalb man mir befohlen hat, ihn zu töten. Du bist der Grund, weshalb man an meiner Stelle einen anderen Henker schicken wird.“ Sie atmete tief durch. „Du bist der Grund, weshalb er sterben wird.“

„Nein. Nein! Den nächsssten dreckigen Engel werde ich genaussso töten, wie ich jetzzzt dich töten werde.“

Eine weitere Warnung bekam Olivia nicht. In der einen Sekunde stand Legion noch vor ihr, in der nächsten saß sie auf ihr, und sie fielen. Olivia bekam den Stoß fast alleine ab, als ihr Kopf auf die untere Kante des Kaminsimses schlug und der Sauerstoff urplötzlich aus ihren Lungen gequetscht wurde. Grelle Lichtpunkte trübten ihre Sicht, allerdings nicht stark genug, als dass sie die Zähne verdeckt hätten, die sich ihrem Hals näherten.

Am selben Tag, als die erste goldene Feder aufgetaucht war, hatte Lysander angefangen, sie auf ihre neuen Kriegerp fliehten vorzubereiten. Deshalb wusste Olivia, wie sie ihre Handfläche gegen Legions Kinn rammen und zudrücken musste, damit die Zähne der Dämonin schmerzhaft aufeinandertrafen.

Die Vorstellung, gegen Dämonen zu kämpfen, hatte ihr nie zugesagt. Vor allem nicht, als Lysander ihr gesagt hatte, dass Krieger sich vollständig von ihrer Aufgabe distanzieren müssten, bis allein die unumstößliche Entschlossenheit zurückbliebe, ihre Beute zu erledigen. Konnte sie das?

In ihren Fingern breitete sich eine nie gespürte Kälte aus, die ihre Arme hochwanderte … dann weiter in ihre Brust … und mehr als nur ihre Angst betäubte. Diese Kälte zerstörte die kläglichen Überreste ihrer Wut und riss auch das Mitgefühl und den Ekel mit sich.

Ja. Ich kann es, begriff sie. Erschreckend.

Tu, was du tun musst, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Du bist ein Engel. Sie ist ein Dämon. Lass dich von deinem Instinkt leiten. Lass den Glauben durch dich fließen.

Einen Moment lang meinte sie, Lysander stünde neben ihr. Doch dann riss Legions Knurren sie aus dem Gefühl der Erleichterung – und nichts war mehr wichtig. Olivia war bereit. Statt von Gefühlen Gebrauch zu machen, mit denen sie keine Erfahrung hatte, überließ sie sich dem, was ihrer Natur entsprach: Glaube und Liebe. So wie die Stimme sie angewiesen hatte. Das war wahre Stärke.

Mit einer einzigen Bewegung ihres Arms schleuderte sie Legion quer durchs Zimmer. Die Dämonin krachte gegen die Wand und rutschte zu Boden. Die ganze Zeit über ließ ihr roter Blick nicht von Olivia ab.

Hoch mit dir. Jetzt.

Olivia sprang auf und presste den Rücken gegen den Kamin. Zwar schränkte die neue Position ihren Bewegungsradius ein, doch sie brauchte etwas, das ihr Halt gab, wenn …

Legion machte einen Satz auf sie zu.

Wieder einmal duckte sich Olivia, und die Dämonin flog abermals gegen die Wand. Als sie abprallte, stieg der Putz in kleinen Wölkchen auf, füllte Olivias Nase und brachte sie zum Husten. Trotzdem zögerte sie nicht, auszuholen und Legion mit einem Tritt zu Boden zu befördern. Glaube – sie konnte den Kampf gewinnen. Liebe – Gut gegen Böse. Anscheinend hatte Olivia mit ihrer Ferse die Schuppen der Dämonin verletzt, denn in Höhe des Brustbeins sickerte Blut heraus.

„Ich werde nicht zulassen, dass du mir wehtust, Dämon.“

„Du wirssst mich nicht aufhalten können.“

Wieder sprang Legion auf. Wieder stürzte sie sich auf Olivia und krallte sich wie eine Kletterpflanze an ihr fest. Wieder schnappten Zähne, wieder kratzten Krallen. Olivia boxte nach links, nach rechts und nach vorne, quetschte ein Knie zwischen sie beide, um irgendwie für Abstand zu sorgen, und schaffte es nur mit Mühe und Not, sich aufrecht zu halten. Legion drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, um den Schlägen auszuweichen, doch es gelang ihr nicht immer. Ein Wangenknochen knackte. Ihre Nase brach.

Irgendwo im Raum klirrte Glas. Im nächsten Moment war eine männliche Gestalt mit dunklen Flügeln da, die den Raum mit wilden Blicken absuchte … Dann standen seine Augen still, und er fixierte die kämpfenden Frauen. Aeron. Als sich ihre Blicke trafen, schien die Zeit plötzlich stillzustehen. Seine Lippen waren schmal wie Striche, sein Blick war finster, und seine Tätowierungen waren so schwarz, dass sie wie Schatten aussahen.

Aufregung begann in Olivia hochzublubbern, und sie verlor die Konzentration. Ihre Hand prallte auf den Mund der Dämonin, ausgerechnet! Legion nutzte ihren Vorteil sofort aus und biss zu. Rasierklingenscharfe Fangzähne bohrten sich tief in Olivias Fleisch, und dicke Gifttropfen sickerten direkt in ihre Blutbahn.

Olivia schrie auf. Wie das brannte! Wie Säure und Salz und Feuer … oh Gottheit. Gleich musste sich ihre Hand in Asche verwandeln. Doch als sie hinunterblickte, stellte sie fest, dass ihre Haut kaum verletzt und die Finger nur leicht geschwollen waren.

„Olivia“, rief Aeron, während er auf sie zulief.

Ihre Knie gaben nach, und unfähig, sich auch nur noch eine Sekunde auf den Beinen zu halten, sank sie zu Boden. Auf einmal fiel ihr das Atmen unsäglich schwer, und sie schlug sich die Hand vor die Brust. Der Schmerz war einfach zu viel, als würde man ihr wieder und wieder die Flügel ausreißen.

Vorher, während des Kampfes, hatte sie kleine Lichtpunkte gesehen. Nun sah sie schwarze Flecken, und das war tausendmal schlimmer. Sie wuchsen und verschmolzen miteinander, nahmen ihr vollkommen die Sicht und ließen sie in einer dunklen Leere aus Einsamkeit und Schmerz zurück.

„Was hast du mit ihr gemacht?“, knurrte Aeron. Seine Stimme durchschnitt die Illusion der Einsamkeit. Und obwohl er wütend war, hieß sie sein Eindringen willkommen.

„M…mich verteidigt“, brachte Olivia mit zitternden Lippen hervor.

„Nicht du“, sagte er, und diesmal klang seine Stimme sanft. Genauso sanft strich er ihr mit den rauen Fingern über die Stirn und schob dabei ihre Haare zur Seite.

Obwohl ihre Hand sich noch immer anfühlte, als ob ihr das Fleisch von den Knochen brannte, schenkte sie ihm ein schwaches Lächeln. Aeron mochte nicht damit einverstanden gewesen sein, dass sie in der Burg blieb, er mochte sogar vor ihr davongelaufen sein, aber irgendwo tief in seinem Inneren lag ihm ihr Wohlergehen am Herzen. An Kaia und Cameo war er achtlos vorbeigegangen und ohne Umwege zu Olivia gekommen.

Ihr neu gefundenes Selbstvertrauen war aus diesem Grund also nicht unangebracht.

Sie hörte Schritte und dann: „Aeron, mein Aeron. Sssie issst ein Nichtsss. Verlasss sssie und …“

„Die Einzige, die dieses Zimmer verlassen wird, bist du. Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich von ihr fernhalten, Legion. Ich habe dir gesagt, du sollst ihr nicht wehtun.“ Aeron nahm seine Hände von Olivias Körper, und sie stöhnte bei diesem Verlust. „Du hast mir nicht gehorcht.“

„Aber … aber …“

„Geh in mein Zimmer. Sofort. Wir reden später über das hier.“

Schweigen. Dann ein Schluchzen. „Aeron, bitte.“

„Hör auf, mit mir zu diskutieren. Geh.“ Kleidung raschelte. Er musste sich von ihr abgewandt haben. „Was hat sie mit dir gemacht, Olivia?“

„H…Hand“, brachte sie durch zusammengebissene Zähne hervor. Sie hatte immer noch das Gefühl zu brennen, und zugleich war ihr nun eiskalt. „Gebissen.“

Diese starken, rauen Finger berührten sie wieder, doch diesmal umschlossen sie ihr Handgelenk und hoben ihre Hand hoch. Wahrscheinlich um die Verletzung zu untersuchen, aber das spielte keine Rolle. Bei der Berührung beschleunigte sich ihr Herzschlag, woraufhin ihr Blut schneller durch die Adern gepumpt wurde, was wiederum den Schmerz verstärkte. Sie wimmerte.

„Ich bringe das wieder in Ordnung“, versprach er.

„Die anderen … zuerst gebissen. Hilf zuerst ihnen.“

Statt zu antworten, legte er seine warmen Lippen auf ihre Wunde und begann zu saugen. Dabei war er alles andere als sanft. Sie verkrampfte sich, ihr Rücken bog sich durch, und sie stieß einen weiteren Schrei aus. Halb wahnsinnig vor Schmerz, versuchte sie, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er hielt sie fest und saugte, saugte und spuckte dann aus. Saugte, saugte und spuckte aus.

Allmählich ebbte der Schmerz ab. Das Brennen ließ nach, das Eis schmolz, und sie sackte wie eine Puppe auf den Boden. Erst da hörte Aeron auf.

„Jetzt werde ich mich um die anderen kümmern“, sagte er heiser.

Die schwarzen Flecken verschwanden aus ihrem Sichtfeld, und benommen beobachtete sie, wie er zu Cameo hinüberging und bei ihr das Gleiche tat wie zuvor bei Olivia. Er saugte das Gift aus der Wunde an ihrem Hals und spuckte es aus. Als die Kriegerin endlich ruhiger wurde und erleichtert aufseufzte, widmete er sich der Harpyie.

Er spuckte gerade das letzte Gift aus, da flog die Zimmertür auf, und zwei Krieger stürmten herein. Paris und William. Mit gezogenen Waffen suchten sie den Raum ab. Paris hielt irgendeine Pistole in der Hand, William hatte zwei Messer gezückt.

„Was ist hier los?“, fragte Paris. „Torin hat uns eine SMS geschickt, dass du durch Kaias Fenster gesprungen bist.“

„Bisschen spät“, erwiderte Aeron trocken.

„Wie bitte?“, meinte William unschuldig. „Wir haben uns extra viel Zeit gelassen. Wir dachten, ihr würdet irgendwelche perversen Sexpraktiken ausprobieren.“

„Ich werde … diese verdammte Schlampe … umbringen!“ Eine finster dreinblickende Kaia rappelte sich gerade auf. „Sie hat mich gebissen. Sie hat mich verdammt noch mal gebissen!“

„Ich werde das mit ihr regeln.“ Auch Aeron stand auf. Sein Gesichtsausdruck war leer und zugleich entschlossen. „Und nicht du.“

Kaia setzte ihm den Finger auf die Brust und stellte sich auf die Zehenspitzen, war dadurch jedoch immer noch nicht auf Augenhöhe mit ihm. „Nein, du wirst sie bloß verhätscheln. Wie immer.“

„Ich werde die Sache mit ihr regeln“, wiederholte er ernst.

„Noch mal zum Mitschreiben: Zuerst verpasse ich einen astreinen Frauenkampf zwischen vier Mädels, und dann erfahre ich auch noch, dass eine die anderen angeknabbert hat?“ William wandte Olivia seine Aufmerksamkeit zu, die noch immer auf dem Boden lag. „Bitte sagt mir, dass unser süßer kleiner Engel das Beißerchen ist. Das würde sie noch so viel heißer machen.“

Aeron knurrte tief in der Kehle, ging zu Olivia hinüber und hockte sich neben sie. „Raus mit dir, Willy. Du bist hier weder erwünscht, noch wirst du gebraucht.“

„Da bin ich aber anderer Ansicht“, erwiderte William verschnupft.

„Bevor Aeron dich noch umbringt, erzähle ich dir lieber auf dem Weg nach draußen, was passiert ist.“ Cameo rieb sich übers Gesicht, bevor sie erwartungsvoll einen Arm ausstreckte.

William zog bloß eine Augenbraue hoch. Im nächsten Moment trat Paris mit gerunzelter Stirn nach vorn, ergriff ihre Hand und zog sie hoch.

„Danke“, murmelte sie und feuerte einen wütenden Blick auf William ab.

Der zuckte mit den Schultern. „Du bist eben nicht mein Typ. Deshalb verspüre ich auch nicht das Bedürfnis, dir zu helfen.“

Sie verdrehte die Augen. „Jede Frau ist dein Typ.“

Eigentlich hätte die Bemerkung jeden im Zimmer zum Lachen bringen sollen, doch bei Cameos tragischer Stimme zuckten nur alle zusammen.

Aeron hob Olivia hoch. Gute Idee, denn jegliche Energie war aus ihrem Körper gewichen. Ihre Muskeln zitterten immer noch, so wie die Erschütterungen nach einem heftigen Erdbeben. Ohne ein Wort zu den anderen zu sagen, die nicht wie angekündigt gegangen waren, trug er sie in den Flur.

„Jedes Mal, wenn ich dir begegne, bist du verletzt“, sagte Aeron.

Da war was dran. Aber sie würde ihn trotzdem nicht bitten, sich von ihr fernzuhalten. „Ich schätze, ich sollte dir dafür danken, dass du mich gerettet hast.“

„Das schätzt du, Engel?“

Na schön. Hier gab es nichts zu schätzen, aber das würde sie unter gar keinen Umständen zugeben. Er hatte sie „Engel“ genannt. Schon wieder. Was bedeutete, dass er sie immer noch so sah, wie sie einst gewesen war, und nicht so, wie sie jetzt war. Er musste endlich realisieren, dass sie ihre Unschuld zusammen mit ihrer Robe abgestreift hatte.

„Mit dieser Haltung“, sagte sie, „wirst du keine Dankbarkeit von mir bekommen. Keine Chance.“

Keine Antwort.

Sie kämpfte eine Welle der Enttäuschung nieder. „Und?“, drängte sie.

„Und was?“

Der Mann war unglaublich. „Hältst du mich immer noch für schwach und zerbrechlich?“

Wieder antwortete er nicht. Was so viel hieß wie: Ja, das dachte er. Sie runzelte die Stirn. So abgrundtief, wie er Schwäche hasste, würde sie nie in seinem Bett landen – mit einem nackten Aeron darin –, wenn es so weiterging.

Sie musste einen Weg finden, ihm ihre Stärke zu beweisen.

Abermals waberten die Worte Glaube und Liebe durch ihren Kopf. Doch sie bezweifelte, dass er für eins von beiden bereit war. Und außerdem liebte sie ihn nicht. Oder doch? Sie wusste es einfach nicht. Ihre Gefühle für ihn waren anders als alles, was sie jemals für jemand anderen gefühlt hatte, aber schließlich hatte sie auch noch nie jemanden auf romantische Art und Weise geliebt.

Im Grunde wusste sie über diese Art von Liebe nur, dass Personen, die so empfanden, bereit waren, ihr Leben für den anderen zu geben. Wie Ashlyn es für Maddox getan hatte. Wie Anya es beinahe für Lucien getan hatte. War sie bereit, für Aeron zu sterben? Nein, sie glaubte nicht. Schließlich hatte sie so einen Kompromiss auch nicht dem Rat angeboten, als sie die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Und das, obwohl sie ihn vielleicht sogar in Betracht gezogen hätten. Denn Opfer verdienten immer eine Belohnung.

„Wohin bringst du mich?“, fragte sie, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Sie war noch viel zu erschöpft, um die Sache vernünftig zu durchdenken. Aber das war nicht der einzige Grund für den abrupten Themenwechsel. Legion war in seinem Zimmer, und Olivia war noch nicht bereit für eine neue Runde. Wenn er also dorthin wollte, dann …

„In mein Zimmer“, antwortete er, und ihr Magen verkrampfte sich.

Argh! Er wollte dorthin. „Aber …“

„Legion ist nicht dort. Sie hat mir nicht gehorcht, wie immer. Ich habe gespürt, wie sie diese Daseinsebene verlassen hat.“

Olivias Augen weiteten sich vor Überraschung. Sie hatte zwar gewusst, dass die beiden miteinander verbunden waren, aber das war … wow. „So eng bist du mit ihr verbunden?“

Er nickte.

Vielleicht hatte Legion doch recht. Vielleicht war sie wirklich dafür bestimmt, mit Aeron zusammen zu sein. Der Gedanke fühlte sich an, als würde von Neuem Säure durch Olivias Adern strömen. Sie selbst wollte mehr sein als nur Aerons Bekannte, mehr als nur ein Kumpel. Sie wollte seine Freundin sein, seine Geliebte. Nie war ihr das klarer gewesen als in diesem Augenblick, als er sie in seinen starken Armen hielt und eng an sich drückte. Als sein Herz gegen ihr Ohr hämmerte und sein warmer Atem über ihre Haut strich. Aber sie würde ihn nicht mit Legion teilen, ganz gleich, wie sehr sie ihn auch begehrte.

Das wirst du auch nicht müssen. Du bist jetzt nämlich eine selbstbewusste und offensive Frau, die sich all das nehmen kann, was sie will.

Wie wahr.

„Tut mir leid, dass sie dich verletzt hat“, sagte Aeron schroff und überraschte sie damit. „Sie ist noch ein Kind, und ich …“

„Warte. Da muss ich dich unterbrechen.“ Auch wenn sie es gern hörte, wenn er sich entschuldigte. „Legion ist kein Kind mehr. Sie ist nicht viel jünger als du.“

Einen Moment lang sah er sie einfach nur schweigend an. „Aber sie ist so unschuldig.“

Unschuldig? Olivia schnaubte spöttisch. „Was hast du nur für ein Leben geführt, dass du diesen kleinen Unhold als unschuldig bezeichnest?“

Seine Lippen zuckten, während er eine Treppe hinaufstapfte. Ihr Gewicht schien ihn kein bisschen zu beeinträchtigen. „Es ist nur … weil sie lispelt, glaube ich. Und weil sie so viel Spaß daran hat, sich zu verkleiden und Prinzessin zu spielen.“

„Sie hat ihr Leben in der Hölle verbracht. Sie war umgeben von dem Bösen, und hinter jeder Ecke wurden Seelen gequält. Natürlich macht es ihr Spaß, sich zu verkleiden, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie kindlich ist. Sie liebt dich, Aeron.“ Zumindest hatte sie das gesagt. Ob Legion bereit war, für ihn zu sterben? „Sie will dich so, wie eine Frau einen Mann will.“ Daran gab es keinen Zweifel.

Einen Fuß in der Luft, blieb er mitten auf dem Flur stehen und drehte den Kopf, bis ihre Blicke sich trafen. In seinen violetten Augen lag etwas Wildes. „Du irrst dich. Sie liebt mich wie einen Vater.“

„Nein. Sie plant, dich zu heiraten.“

„Nein.“

„Doch. Du hörst mich und weißt, dass ich die Wahrheit sage.“

An seinem Kiefer zuckte ein Muskel. „Wenn es stimmt, was du sagst …“

„Es stimmt. Auch jetzt hörst du die Wahrheit in meiner Stimme.“

Aeron schluckte und schüttelte den Kopf, als wollte er ihre Behauptung abschütteln. Aber zumindest versuchte er diesmal nicht, es abzustreiten. „Ich werde mit ihr reden und ihr erklären, dass eine romantische Beziehung nicht möglich ist. Sie wird es verstehen.“

Nur ein Mann konnte sich derart etwas vormachen.

Schweigend setzte er sich wieder in Bewegung, und schließlich standen sie vor seinem Zimmer. Mit der Schulter schob er die Tür auf und trat ein. Angespannt sah sich Olivia um, konnte Legion aber tatsächlich nirgends entdecken. Sie seufzte erleichtert, als Aeron in die Knie ging und sie auf die weiche Matratze legte.

„Aeron“, sagte sie. Sie war nicht bereit, ihn gehen zu lassen, hatte jedoch den Verdacht, dass er genau das tun wollte.

„Ja.“ Er wich ihr nicht von der Seite und streichelte ihr übers Haar.

Am liebsten hätte sie geschnurrt, als sie sich seiner Berührung entgegenlehnte. „Ich habe das vorhin nicht so gemeint. Als ich gesagt habe, dass ich dir nicht dankbar sei. Ich bin dir für deine Hilfe sogar zutiefst dankbar.“

Was machst du denn da? Wenn du ihn permanent an deine engelhafte Natur erinnerst, wird er dich nie als mögliche Geliebte sehen.

„Ja, na ja.“ Er hüstelte verlegen, als er seinen Oberkörper aufrichtete. „Bist du sonst noch irgendwo verletzt?“ Statt auf eine Antwort zu warten, ließ er seinen Blick über ihren Körper gleiten. Vermutlich nahm er ihre neue Kleidung zum ersten Mal wahr, denn auf einmal klappte sein Unterkiefer herunter. „Du … du bist …“

Vielleicht war ihr Status als mögliche Geliebte ja doch nicht so gefährdet. Selbstbewusst. „Hübsch, nicht wahr? Kaia hat mir geholfen.“ Offensiv. Sie strich sich über die Brüste, den Bauch und die Hüften und wünschte sich, es wären seine Hände und nicht ihre. Sie bekam eine Gänsehaut. Wow, das war eine echte Überraschung. Es fühlte sich gut an. Sehr gut sogar. Sie musste unbedingt daran denken, sich noch mal so zu berühren.

„Hübsch“, erwiderte er mit heiserer, angespannter Stimme.

„Ja.“

„Und was hältst du von meinem Make-up?“ Als er ihr ins Gesicht sah, fuhr sie sich mit der Fingerkuppe über die Lippen. „Ich hoffe, Legion hat nichts verschmiert.“

„Es ist … schön.“ Wieder diese heisere Stimme.

War das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes?

Spielte es eine Rolle? Sie wollte ihn; sie hatte beschlossen, zum Angriff überzugehen. Sie würde ihn bekommen.

Sie leckte sich über die Lippen – und schmeckte Kokosnuss, mmmh –, stützte sich auf einen Ellbogen und streckte den anderen Arm nach Aeron aus. Dann legte sie ihre Hand flach auf sein klopfendes Herz. Ein Teil von ihr errötete angesichts dieser Verwegenheit und schrie danach, die Hand zurückzuziehen. Der andere Teil war stolz und forderte lautstark, weiterzumachen.

Um großes Glück zu überbringen, rief sie sich in Erinnerung, musstest du schon oft vertraute Pfade verlassen.

Dann verlass sie doch endlich. „Du kannst mich küssen, wenn du willst.“ Bitte, bitte, lass es das sein, was er will.

Einen Moment lang hörte Aeron auf zu atmen. Jedenfalls hörte sein Brustkorb auf, sich zu bewegen. Seine Augen begannen zu glühen, seine Pupillen weiteten sich, und seine Muskeln zuckten unter ihrer Hand. „Lieber nicht. Du bist ein Engel.“

„Ein gefallener“, erinnerte sie ihn. Erneut. „Ich hätte neulich sterben können. Ich hätte heute sterben können. In beiden Fällen wäre ich gestorben, ohne zu wissen, wie du schmeckst. Was für eine Schande wäre das gewesen, wo dich zu schmecken doch das Einzige ist, was ich je wollte.“

„Lieber nicht“, wiederholte er, während er sich langsam zu ihr beugte. Bedauerlicherweise hielt er inne, kurz bevor sich ihre Lippen berührten.

Sie musste sich beherrschen, um nicht frustriert aufzuschreien. Fast hätte sich ihr Wunsch erfüllt. „Sag mir, warum.“ Damit sie jeden seiner Gründe wegwischen konnte.

„Ich kann die Ablenkung nicht gebrauchen.“ Wenigstens zog er sich nicht von ihr zurück. „Ich brauche keine Frau. Ich brauche gar nichts.“

Diese Behauptung konnte sie unmöglich widerlegen. Noch nie hatte ein Mann überzeugter erklärt, dass er allein bleiben wollte. Statt also mit ihm zu diskutieren, sagte sie schlicht: „Aber ich brauche eine Ablenkung“ und schob ihre Hand zu seinem Hals. Diesmal würde sie die vertrauten Pfade nicht einfach nur verlassen – sie würde blitzschnell ins Dickicht stürmen.

Entschlossen zog sie ihn zu sich herunter, sodass er auf sie fiel.

Er hätte sich sträuben können. Hätte sie aufhalten können. Er tat es nicht.

Eine ganze Weile blieben sie so liegen, sahen einander nur an, sein Körper presste ihren an Ort und Stelle, und keiner von ihnen war in der Lage, seine Atmung zu kontrollieren.

„Aeron“, keuchte sie schließlich.

„Ja.“

„Ich weiß nicht, was ich machen muss“, gestand sie, und in ihren Worten schwang all die Sehnsucht mit, die sich in ihr aufgestaut hatte.

„Ich mag zwar ein Idiot sein, aber von hier an weiß ich, wie’s geht“, erwiderte er und küsste sie.

9. KAPITEL

Sie ist schwach, sie ist quasi ein Mensch. Schlimmer als ein Mensch, redete Aeron sich ins Gewissen, während ihre Zungen umeinander tanzten. Aber er konnte jetzt einfach nicht darüber nachdenken. Später. Später würde er es bereuen, aber im Augenblick war alles, was er wollte … sie. Olivia. Eine Frau, die seine kleine Legion verachtete, eine Frau, der er soeben den Arsch gerettet hatte – selbst wenn er zugeben musste, dass sie sich auch allein ganz gut behauptet hatte, bis er sie abgelenkt hatte –, und eine Frau, die er ohne Diskussion schon bald aus der Burg werfen würde.

Wie sie Zorn beruhigte und umgarnte, brachte ihn völlig aus dem Konzept. Selbst jetzt schnurrte der Dämon genießerisch und war ganz wild auf alles, was noch kommen mochte.

Dämlich. Olivia war eine Ablenkung, die er sich nicht leisten konnte. In diesem Punkt hatte er nicht gelogen. Er konnte seine Zeit nicht damit verschwenden, sich um sie zu sorgen oder sie zu retten, wenn sie sich in Schwierigkeiten gebracht hatte – und das würde sie. Sie könnte gar nicht anders. Die Frau war fest entschlossen, „Spaß“ zu haben, um Himmels willen.

Jeder andere Mann wäre bereit, ihr dabei zu helfen, dachte er weiter, als er links und rechts von ihren Schläfen ins Bettlaken griff. Zum Beispiel William. Der sexhungrige William. Der Bastard.

Der Engel gehört mir. Mir.

Zorn? Er erhob einen Anspruch auf jemanden? Lächerlich.

Sie gehört nicht dir und ganz sicher auch nicht mir. Aber er wünschte sich sehnlichst, es wäre anders.

Ihre neue Kleidung enthüllte köstlich zarte Haut und verboten heiße Kurven. Jede für sich war die pure Sünde; die reine Versuchung, der zu widerstehen kein Mann hoffen konnte. Nicht einmal er. Sie hatte einen Kuss gewollt, und irgendetwas in ihm hatte gefordert, ihn ihr zu geben. Ausnahmsweise war er nicht stark genug gewesen, um sich zurückzuziehen. Er hatte nur noch seine Lippen auf ihre pressen, ihren Mund mit seiner Zunge öffnen und nehmen können. Gierig hatte er ihre Süße in sich aufgesogen, ihre Unschuld. Er hatte alles genommen, was dieser Kuss ihm bot.

Und, heilige Hölle, sie schmeckte köstlich … nach Weintrauben, süß mit einer leicht herben Note. Als sie zögernd seine Zunge suchte, spürte er ihre harten Brustspitzen, und immer wieder bog sie ihren Rücken durch, um sich an seiner Erektion zu reiben. Mit den Händen fuhr sie ihm liebevoll über das kurze Haar und küsste ihn zärtlich.

Sie wäre eine sanfte Liebhaberin, genau wie er es immer bevorzugt hatte.

Nie hatte er verstanden, warum sich einige der anderen Krieger zu Frauen hingezogen fühlten, die bei diesem intimen Akt kratzten, bissen oder sogar schlugen. Er hatte noch nie das Verlangen danach verspürt. Warum die Gewalt des Schlachtfelds ins Schlafzimmer tragen? Dazu gab es keinen Grund.

Die wenigen Frauen, die er sich in der Vergangenheit zugestanden hatte, hatten mehr Heftigkeit von ihm erwartet, als er zu geben bereit gewesen war. Vermutlich weil er wie ein Biker aussah, weil er ein bekennender Krieger und Mörder war und weil er vor nichts zurückwich. Aber er hatte ihnen nicht erlaubt, ihn dazu zu überreden, sie schneller und härter zu nehmen.

Erstens, weil er zu stark war und sie zu schwach. Zu leicht hätte er sie zerbrechen können. Und zweitens, weil härter und schneller seinen Dämon hätte aufscheuchen können. Aeron weigerte sich, einen flotten Dreier mit einer Kreatur hinzulegen, die die Fesseln seiner Kontrolle manchmal vollständig abwarf. Denn im schlimmsten Fall würde er vom Liebhaber zum Vollstrecker, und das würde seine Partnerinnen umbringen.

Allerdings … wenn er ganz ehrlich zu sich war, schlummerte irgendwo tief in ihm das Verlangen, Olivia so weit zu bringen, dass sie die Kontrolle verlor; dass sie ihn angreifen und betteln und einfach alles tun würde, was nötig wäre, um ihren Höhepunkt zu erreichen.

Zorns Schnurren wurde lauter.

Was war nur los mit ihm? Was war los mit seinem Dämon} Bei so viel Aktivität von Zorn hätte er eigentlich mehr Angst haben müssen, Olivia wehzutun, als je bei einer anderen Frau. Doch er hatte keine Angst. Stattdessen küsste er sie noch intensiver und nahm sich mehr, als sie vermutlich bereit war zu geben.

Ja. Mehr.

Obwohl Zorn bloß flüsterte, riss es Aeron augenblicklich zurück in die Realität. Er zog seinen Kopf zurück. Das hier hat nichts mit Blutlust zu tun. Du solltest dich dafür nicht im Geringsten interessieren.

Mehr!

Zwar war der Dämon auch in Legions Gegenwart immer ruhig gewesen, da sein Baby ihn genauso besänftigte wie Olivia, doch niemals hatte Zorn sie küssen wollen.

Warum also reagierte er so auf Olivia? Einen Engel?

Wir müssen Tempo rausnehmen, erwiderte er. Etwas anderes fiel ihm nicht ein.

Wie ein bockiges Kind, dem man seine Lieblingsbelohnung verwehrte, quengelte der Dämon: mehr Himmel. Bitte.

Mehr … Himmel? Aerons Augen wurden größer. Natürlich. Für Zorn musste Olivia einen Ort verkörpern, an dem der Dämon nie und nimmer willkommen gewesen wäre. Auf diese Weise schien das Unerreichbare in Reichweite zu rücken. Doch um ehrlich zu sein, hatte Aeron nie geahnt, dass der Dämon den Wunsch verspürte, das Zuhause der Engel zu besuchen. Schließlich waren Engel und Dämonen Feinde.

Und vielleicht lag er mit seiner Vermutung ja auch vollkommen falsch. Allerdings fiel ihm keine andere Erklärung für die … Zuneigung des Dämons zu Olivia ein.

„Aeron?“ Sie öffnete die Augen. Die dichten schwarzen Wimpern bildeten den perfekten Rahmen für das atemberaubende Babyblau ihrer Iris. Ihre Lippen waren feucht und rot. Langsam befeuchtete sie sie sich. „Deine Augen … deine Pupillen … aber du bist nicht wütend.“

Was war mit seinen Pupillen? „Nein, ich bin nicht wütend.“ Wie kam sie darauf?

„Dann bist du … erregt, ja?“ Sie verzog die Lippen zu einem lasziven Lächeln und verschonte ihn davor, antworten zu müssen. „Warum hast du dann aufgehört? Mache ich irgendwas falsch? Gib mir noch eine Chance, bitte. Ich verspreche dir, ich werde es besser machen.“

Er zog sich noch etwas weiter zurück und blinzelte zu ihr hinab. „Ist das dein erster Kuss?“ Er hätte es wissen müssen. Ich weiß nicht, was ich machen soll, hatte sie gesagt. Doch erst jetzt ging ihm die volle Wahrheit auf. Engel blieben also selbst in diesen Dingen durch und durch unschuldig? Kein Wunder, dass Bianka sich entschieden hatte, noch eine Weile mit Lysander im Himmel zu bleiben. Das war … berauschend.

Olivia nickte. Dann schenkte sie ihm überraschenderweise noch ein Lächeln. „Du hättest es gar nicht gemerkt? Hat es sich angefühlt, als hätte ich Erfahrung?“

Eigentlich nicht, aber er wollte ihre Begeisterung nicht dämpfen. Außerdem gefiel ihm ihre Unerfahrenheit ein bisschen zu sehr. Ihm gefiel, dass er ihr Erster und Einziger war. Ihm gefiel das besitzergreifende Gefühl, das jetzt durch ihn hindurchströmte und ihn überflutete.

Ein Besitzanspruch, der auf so vielen Ebenen falsch war. „Vielleicht sollten wir …“

„Es noch mal machen“, platzte es aus ihr heraus. „Ich bin ganz deiner Meinung.“

Unschuld und Eifer zusammen zu solch einem hübschen Paket verschnürt. Oh ja. Berauschend. „Das wollte ich eigentlich nicht sagen. Vielleicht sollten wir aufhören.“ Bevor er ihr mehr zeigte als nur das Küssen.

Bevor er sich – und Zorn – den Himmel zeigte. Einen Himmel, den sie vielleicht nie wieder verlassen wollten.

„Nur dass dieses Mal …“, sprach sie weiter, als hätte er nichts gesagt, „… ich oben liegen werde. Das wollte ich schon immer mal ausprobieren. Na ja, jedenfalls seit ich dir begegnet bin.“

Sie war stärker, als sie aussah, und schaffte es tatsächlich, ihn auf den Rücken zu drehen. Der kühle Baumwollstoff berührte seine nackte Haut. Ohne auf seine Erlaubnis zu warten, setzte sie sich mit gespreizten Beinen auf seine Hüfte. Ihr Rock war so kurz, dass er ihr über die Oberschenkel rutschte und ihm einen verbotenen Blick auf ihr Höschen gewährte. Diesmal war es blau, im selben Farbton wie ihr Top, und winzig. So unfassbar winzig.

Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und er ertappte sich dabei, wie er die Hände auf ihre Knie legte, sie noch weiter auseinanderdrückte und seine Erektion an ihr rieb, ehe er sich zurückhalten konnte. Süßer Himmel. Verdammt, verdammt, verdammt. Himmel. Er sollte besser aufhören.

Mehr.

Stöhnend legte sie den Kopf in den Nacken, und ihr seidig weiches Haar kitzelte an seinem Bauch. Sie streckte die Brüste nach vorne, und er konnte ihre harten Brustwarzen durch den Stoff des Tops sehen. Sie trug eindeutig keinen BH.

Das erfreute ihn kein bisschen.

Als ihr Blick seinem begegnete, brannte er sich bis in seine Seele. „Ich habe keine Witze gemacht, als ich sagte, ich brauchte eine Ablenkung. Legions Angriff hat mich an das erinnert, was mir die anderen Dämonen angetan haben. Und das will ich vergessen, Aeron. Ich muss es vergessen.“

„Was haben sie mit dir gemacht?“, hörte er sich fragen, obwohl er sich einst gesagt hatte, dass es ihn nicht interessierte.

Der leidenschaftliche Schimmer in ihren Augen verblasste, das klare Blau ihrer Iris wurde matt, und sie schüttelte den Kopf. „Ich will nicht darüber reden. Ich will küssen.“

Sie beugte sich zu ihm herab, doch er drehte den Kopf zur Seite. „Erzähl es mir.“ Es herauszufinden war ihm plötzlich wichtiger als sein Genuss.

„Nein.“ Sie verzog den Mund.

„Erzähl!“ Er würde die Wahrheit erfahren und sie rächen. So einfach war das.

Zorn knurrte zustimmend.

Dem Engel entfuhr ein Knurren, das sie beide überraschte. „Wer hätte gedacht, ein Mann könnte lieber reden wollen, statt … andere Dinge zu tun.“

Er knirschte mit den Zähnen. Stures Weib. „Selbst wenn ich dich küsse, werde ich nicht mit dir vö… schlafen“, sagte er. In diesem Augenblick hallte Lysanders Warnung durch seinen Kopf. Sieh bloß zu, dass du sie nicht… beschmutzt. Falls du es doch tust, werde ich dich und alle, die du liebst, unter die Erde bringen.

Er erstarrte. Wie hatte er eine solche Drohung vergessen können?

„Ich habe dich doch gar nicht darum gebeten, mit mir zu schlafen, oder?“ Wie brav und sittsam sie klang. „Wie gesagt, ich wollte nur noch einen Kuss.“

Vielleicht war das die Wahrheit. Vielleicht aber auch nicht. Ja, ihre Stimme ließ keinen Zweifel daran zu, dass es so war, doch er weigerte sich, es zu glauben. Er wollte es einfach nicht glauben. Nicht, dass er so etwas jemals laut zugegeben hätte. Wenn er mit ihr schliefe, wonach sie sich so offensichtlich zu sehnen schien, würde sie mehr erwarten. Frauen erwarteten immer mehr, ob er sie glücklich machte oder nicht. Und er könnte ihr nicht mehr geben, und zwar nicht nur wegen ihres mächtigen Mentors. Komplikationen, erinnerte er sich selbst. Er brauchte keine.

Mehr!

„Wenn ich dich noch mal küsse …“, sagte er, während er dachte: Ruhe. Halt um Himmels willen die Klappe!, „… werde ich dich danach nicht im Arm halten.“ Ein Kuss war nicht „mehr“, sagte er sich. Ein Kuss war nichts, das jemanden beschmutzte. Ein Kuss war nur ein Kuss, und sie saß auf ihm, bei allen Göttern! „Es wird nichts ändern zwischen uns.“ Am besten, sie verstand das schon vorher. „Außerdem erwarte ich, dass du mir erzählst, was sie dir angetan haben.“

War er tatsächlich dabei, mit ihr zu handeln? Hauptsache, du bleibst hart.

„Ich bin eine selbstbewusste, offensive Frau, und deshalb habe ich auch kein Problem damit, wenn sich zwischen uns nichts ändert“, erwiderte sie mit einem beiläufigen – gezwungenen? – Achselzucken. „Kuscheln gehört ohnehin nicht zu meinen obersten Prioritäten. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich mit dir über das rede, was passiert ist.“

Hatte diese „selbstbewusste“ und „offensive“ Frau wirklich kein Interesse daran, sich an seine Seite zu kuscheln und ihn festzuhalten, wenn sich ihre Lippen erst wieder voneinander gelöst hätten? Wollte sie wirklich nur einen Kuss von ihm und sonst nichts? Das freute ihn. Ehrlich. Das enttäuschte ihn kein bisschen. Nicht im Geringsten.

„Im Moment will ich nur deinen Mund und deinen Körper benutzen“, fügte sie leicht errötend hinzu. Vielleicht war sie doch nicht so selbstbewusst, wie sie tat? „Aber keine Sorge, ich werde mich nur ein bisschen an dir reiben. Und wenn dann also alles geklärt ist, würde ich gern anfangen.“

Trotz seiner Enttäuschung – äh, großen Freude – darüber, dass sie bereit war, ihn zu küssen, ohne mehr zu erwarten, schienen Funken in seinen Adern zu knistern und breiteten sich rasend schnell aus. Jeder einzelne Muskel brannte förmlich vor Anspannung. Sie wollte also gern seinen Körper benutzen? Bitte, bitte, bitte!

Ich sagte, mehr!

Was war sie doch für eine seltsame Mischung aus Unschuld und Begierde.

Was war er doch für eine seltsame Mischung aus Widerwille und Begeisterung.

Er sollte das Ganze besser sofort und endgültig abbrechen, ehe alles außer Kontrolle geriet.

Kontrolle. Verflucht. Er musste sie unbedingt zurückerlangen und sich vernünftig verhalten, statt es sich im steten Wechsel schmackhaft zu machen und dann wieder schlechtzureden, sich auf sie einzulassen. Er musste sich – und seinem Dämon – die Sache ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen und dann gehen.

„Du hast mich vorhin daran erinnert, dass du heute hättest sterben können“, sagte er düster. Gut. Nichts erschütterte ihn mehr als Gedanken an den Tod. „Du bist leicht zu vernichten.“ Ausgenommen das.

„Und?“

„Und?“ Er konnte nur den Kopf schütteln. Wie bei den Menschen, die er immer beobachtete, schien es ihr nichts auszumachen. Sie fiel nicht auf die Knie, um um mehr Zeit zu betteln, und hatte offensichtlich auch nichts dergleichen vor. Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass es schmerzte. Sie sollte betteln.

„Sind wir jetzt fertig mit Reden?“, fragte sie, was die Röte in ihrem Gesicht wieder anfachte. „Wenn nämlich nicht, könnte ich mich vielleicht selbst ein bisschen anfassen. Vorhin hat es mir gefallen. Vielleicht gefällt es mir ja noch mal.“ Ohne seine Antwort abzuwarten, umfasste sie ihre Brüste und stöhnte. „Oh ja. Es gefällt mir.“

Vielleicht errötete sie ja gar nicht vor Scham, sondern vor Erregung.

Er schluckte. „Nein, wir sind noch nicht fertig mit Reden. Warum hast du keine Angst vor dem Tod?“

„Alles und jeder hat ein Ende“, antwortete sie, während sie sich weiter verwöhnte. „Ich meine, du wirst bald umgebracht werden, und obwohl ich den Gedanken verabscheue, siehst du mich auch deswegen nicht weinen. Ich weiß, was geschehen wird, und ich akzeptiere, was man nicht ändern kann. Ich versuche zu leben, solange ich kann. Solange wir können. Wer sich immer nur mit dem Schlechten aufhält, versagt sich die Chance auf Freude.“

Er spürte, wie unter seinem Auge ein Muskel zuckte. „Niemand wird mich umbringen.“

Sie hielt in ihren Bewegungen inne, und das Strahlen in ihrem Gesicht verblasste ein wenig. Er versuchte, diesen Verlust nicht zu betrauern. „Wie oft muss ich es dir denn noch sagen?“, fragte sie. „Du wirst nicht in der Lage sein, den Engel zu besiegen, der kommen wird, um dich zu töten.“

„Dann erklär mir etwas anderes. Du hast deine Unsterblichkeit aufgegeben, um Spaß zu haben, und bist sofort zu mir gerannt. Das bedeutet, du erwartest von mir, dass ich dir diesen Spaß bereite. Warum solltest du das tun? Warum solltest du so viel aufgeben und dich blind auf mich verlassen, wenn ich am Ende doch sterbe?“

Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln. „Lieber bin ich mit jemandem nur für kurze Zeit zusammen als gar nicht.“

Ihre Worte erinnerten ihn an das, was Paris vor einiger Zeit auf dem Dach gesagt hatte, und er wurde wütend. Nicht er lag in dieser Sache falsch, sondern die anderen! „Du klingst wie ein Freund von mir. Ein sehr dummer Mann.“

„Dann war es wohl dumm von mir, dass ich nicht ihn ausgewählt habe. Lieber hätte ich einen Dummkopf, der mitspielt, als einen, der nur an der Seitenlinie steht und zusieht.“

Knurrend bleckte er die Zähne. Am liebsten hätte er gebrüllt: Denk nicht einmal daran, mit jemand anderem zusammen zu sein!

Auch Zorn brauste heftig auf und beschwor Bilder vom Kopf des Kriegers auf einem Silbertablett herauf – ohne den Körper.

Augenblicklich verpasste Aeron ihm einen Dämpfer. Oh nein, das wirst du nicht tun. Du wirst Paris in Ruhe lassen.

Sie gehört mir.

Nein, mir, blaffte er und begriff erst im nächsten Moment, was er gerade gesagt hatte. Ich meine, sie gehört keinem von uns. Das habe ich dir schon mehrmals gesagt. Würdest du jetzt also bitte die Klappe halten?

„Sind wir jetzt fertig mit Reden?“ Olivia verfolgte mit der Fingerspitze eine unsichtbare Linie auf ihrem flachen Bauch, bis hinunter zum Nabel, den sie sanft umkreiste. „Oder sollen wir die Unterhaltung etwas interessanter machen?“ Sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. „Oh, ich weiß, worüber wir diskutieren können: Kann man wirklich vor Lust sterben?“

Oh, zur Hölle, nein. Das hatte sie nicht gefragt.

Sieh zu, dass du sie nicht beschmutzt. „Das werden wir wohl nie erfahren.“ Er setzte sich auf, um sie von sich zu schieben und zu gehen. Er würde sie allein lassen. Erregt, aber allein. Weder das Verlangen, seinen Freund zu töten, noch die Erinnerung an Lysanders Drohung hatten es geschafft, sein Begehren zu stillen. Deshalb lautete seine letzte Option: Rückzug.

„Tja, du vielleicht nicht, aber ich verspreche dir, dass ich es herausfinde.“

Er erstarrte. Wie weit würde dieser Engel wohl gehen, um die Wahrheit zu entdecken? Während die Frage durch seinen Kopf zog, begann sein Penis zu pulsieren. Ein Bild von ihr, wie sie ausgebreitet vor ihm lag, sich zwischen den Beinen streichelte und dann ihre Finger tief in sich versenkte, überrollte ihn. Gütige … Götter …

„Nein. Du wirst dich benehmen.“ Die Worte waren nicht mehr als ein Krächzen. „Und jetzt muss ich gehen.“

Hierbleiben! befahl Zorn.

Götter, helft mir, dachte er, denn er tat es. Er blieb. Als wäre er ans Bett gekettet, war sein Kampf bereits vorbei, bevor er Zeit hatte, richtig loszulegen.

„Na schön. Aber ich wünschte wirklich … Nein. Nein!“, sagte sie energisch. „Du kannst gehen, wenn wir fertig sind. Vorher nicht.“ Olivia schlang die Arme um seinen Hals, legte ihm die Hände auf den geschorenen Schädel und drückte die Fingernägel an seine Kopfhaut. „Jetzt weiß ich ja, was ich machen muss.“ Dann presste sie ihren Mund auf seinen und drang tief mit der Zunge in ihn ein.

Oh ja. Sie lernte wirklich schnell.

Ihre Lippen glitten über seine, ihre Zähne stießen aneinander. Die Hitze … die Feuchtigkeit – die Empfindungen überwältigten ihn, zerstörten seine Entschlossenheit. Das hier war alles, was er brauchte, alles, wonach er sich sehnte. Jeder Gedanke wurde ausgelöscht, außer einem: Bring es zu Ende.

Ja. Ja! Mehr.

Sie stöhnte, und er nahm das köstliche Geräusch in sich auf. Als sie sich wieder an ihm rieb, spürte er durch seine Hose hindurch, wie feucht sie war. Seine Sanftheit – verschwunden. Sein Zögern – wie weggeblasen. Er hob das Becken, um sie an ihrem empfindlichsten Punkt zu treffen. Als das nicht reichte, packte er ihren Hintern, drückte ihn fest auf seinen steifen Schaft und zwang sie, sich schneller und härter zu bewegen.

„Ich will dich überall anfassen“, brachte sie keuchend hervor, während sie ihn küsste. „Ich will dich überall schmecken.“

„Zuerst ich. Ich …“ Nein. Nein, nein, nein. Beschmutze sie nicht, beschmutze sie nicht.

Mit winzigen Bissen zog sie eine Spur zu seinem Kinn, knabberte kurz an seinem Hals und saugte dann an der Stelle, um den süßen Schmerz zu lindern.

Oh ja, bitte. Beschmutze sie, den ganzen Tag, die ganze Nacht.

Mehr, forderte Zorn wieder.

Mehr. Ja. Mehr … nein! Verdammt noch mal. Bedroh sie, ‘Zorn. Dann werde ich bestimmt fluchtartig den Raum verlassen.

Mehr.

Ist das das einzige Wort, das du kennst?

Mehr, verflucht.

Aeron knurrte. Wollte denn heute gar keiner kooperieren?

„Warum ich?“ Er drehte Olivia auf den Rücken, drückte sie wieder mit seinem Gewicht auf die Matratze und wollte damit eigentlich dem Wahnsinn ein Ende bereiten – doch stattdessen leckte er über die Kuhle zwischen ihrem Hals und ihrer Schulter. Ihr Pulsschlag sah einfach zu verführerisch aus, als dass er ihn hätte ignorieren können. Dummer Mann. Dämlicher Dämon. Schöne Frau.

Wie von selbst begannen seine Hände ihre Brüste zu kneten. Das war ein verdammter Fehler. Sie waren perfekt, und die Brustspitzen waren härter, als er gedacht hatte. Halt das Gespräch am Laufen. Und nimm die Hände da weg. „Ich muss doch all das verkörpern, was deine Art verachtet.“ Immerhin waren seine bösen Taten auf seinem Körper verewigt, sichtbar für die ganze Welt.

„Du verkörperst sowohl das Gute, das ich kenne, als auch die Heiterkeit, nach der ich mich sehne.“ Sie schlang die Beine um seine Hüfte und überwand das letzte bisschen Abstand zwischen ihren Körpern. „Was könnte irgendjemand daran nicht mögen?“

Mist, Mist, Mist. Auch hier passten sie perfekt zusammen. „Ich bin nicht gut.“ Nicht im Vergleich zu ihr. Im Grunde im Vergleich zu niemandem. Wenn sie nur zur Hälfte wüsste, was er getan hatte, oder zur Hälfte, was er noch tun würde – sie würde schreiend vor ihm davonlaufen. „Wie könnte ich das sein? Für jemanden wie dich, meine ich. Du bist ein Engel.“ Ein Engel, der ihn wie keine andere in Versuchung führte.

Himmel.

„Ich bin gefallen, schon vergessen? Und allmählich nervt es mich, wie du ständig von ,meiner Art’ sprichst oder .jemandem wie mir’. Es macht mich wütend. Und weißt du eigentlich, wie schwer es ist, einen Engel wütend zu machen? Selbst einen gefallenen?“ Sie ließ die Hände über seinen Rücken gleiten und strich über die Schlitze, in denen sich seine Flügel verbargen. Mit den Fingern erforschte sie sie und fand die hauchdünnen Membranen. „Tut mir leid, wenn mein Tadel deine Gefühle verletzt, aber … Nein. Es tut mir nicht leid!“ Sie streichelte sie.

Er brüllte vor Lust und musste sich am Kopfende festhalten, um nicht irgendetwas zu zerfetzen oder kaputt zu schlagen, so sehr berauschte ihn diese plötzliche Ekstase. Verdammt. Er war verdammt. Jetzt konnte er nicht länger widerstehen.

Ihm brach am ganzen Körper der Schweiß aus, und sein Blut wurde noch ein Grad heißer. Noch nie hatte jemand … Es war das erste Mal, dass jemand … Woher hatte sie gewusst, dass sie das tun musste?

„Noch mal“, befahl er.

Mehr, pflichtete Zorn ihm bei.

Wieder liebkoste Olivia seine versteckten Flügel mit den Fingerspitzen. Wieder brüllte er vor Lust und geriet außer Atem. Bei der ersten Berührung waren seine Gedanken zersplittert. Bei der zweiten hatten sie sich neu zusammengesetzt und waren nun ein Echo seines Verlangens. Bring es zu Ende.

Mehr als ein Kuss? Hölle, ja. Er würde es ihr geben.

Mehr, mehr, mehr.

Olivia hob den Kopf und leckte über seine Brustwarze. „Mmmh, das wollte ich schon immer mal machen.“ Sie leckte noch mal. Und noch mal. Doch schon bald schien ihr das nicht mehr zu reichen, und sie fing an, an der kleinen harten Knospe zu knabbern.

Aeron ließ zu, dass sie ihn biss. Bisher hatte er das noch keiner Frau erlaubt. Er war zu verloren, um sie aufzuhalten, und ein Teil von ihm wollte auch gar nicht, dass sie aufhörte.

Ein Teil von ihm, genau wie sein Dämon, wollte einfach nur mehr. Hölle, alles in ihm wollte das. Zum Teufel mit seiner Selbstbeherrschung.

Jetzt widmete sie ihre Aufmerksamkeit seiner anderen Brustwarze. Diesmal hielt sie sich gar nicht erst mit Lecken auf, sondern biss sofort zu. Überrascht ertappte er sich dabei, wie er sich in freudiger Erwartung dem stechenden Schmerz entgegendrängte. Und ebenso überrascht stellte er fest, dass Olivias grobe Liebkosung ihn – entgegen seiner Annahme – nicht an Zorns Rachefeldzüge erinnerte. Sie erinnerte ihn – entgegen seiner Annahme – nicht einmal an sein erstes Mal. Eine Angelegenheit, die er lieber vergessen wollte. Olivias Liebkosung war ein Ausdruck ihrer intensiven, unkontrollierbaren Erregung.

Und er wollte es noch härter und schneller.

Mehr!

Er ließ das Kopfende los und legte sich auf den Rücken, sodass Olivia wieder auf ihm saß. Küssend und knabbernd bahnte sie sich den Weg zu seinem Bauchnabel, wobei ihre Fingernägel scharf über seine Haut fuhren und ihre rauen Atemzüge in seinen Ohren hallten. Er fasste den Saum ihres Tops, zog ihr den Stoff über den Kopf und befreite ihre herrlichen Brüste. Bislang hatte er sie nur angefasst – der Stoff war eine verhasste Barriere gewesen –, doch nun konnte er ihre Brustspitzen sehen, die wie köstliche kandierte Pflaumen aussahen. Hunger, er hatte Hunger. Er ließ den Blick weiterwandern, ehe er sie hochhob und mit seinen Händen Besitz von ihr ergriff. Ihr Bauch war wunderbar weich.

Herrlich weich, dachte er, als er die Finger auf ihrer warmen Haut spreizte. Auf einer so wunderschönen Frau sahen seine tätowierten Hände beinahe obszön aus, doch er konnte sich nicht dazu bringen, sie fortzunehmen. Und, wo ist deine vielgepriesene Stärke jetzt, hm?

Verschwunden, genau wie seine Selbstkontrolle.

Sie verschränkte die Finger mit seinen und betrachtete fasziniert den Kontrast, den sie bildeten. Unschuld und Sünde.

„Wunderschön.“ Sie seufzte.

Fand sie das wirklich?

„Ich glaube, ich lasse ihn mir piercen“, sagte sie, während sie mit der Fingerspitze über seine Hand fuhr.

Er löste den Blick von ihren Händen und sah in ihr vor Leidenschaft glühendes Gesicht. „Was lässt du dir piercen?“

„Meinen Bauchnabel.“

„Nein.“ Unbeschmutzt. Ein Edelstein würde mit ihrer Haut um die Wette funkeln und permanent seinen Blick dorthin ziehen. Ihm würde das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er würde das Bedürfnis verspüren, ihren Nabel mit der Zunge zu verwöhnen – und dann tiefer zu wandern und sie zu beschmutzen. „Das wirst du nicht tun. Du bist ein Engel.“

„Ein gefallener.“ Sie grinste langsam und schelmisch. „Ich dachte, wir wären fertig mit Reden. Vor allem weil wir was getan haben, das mir ziemlich gut gefallen hat und das ich unbedingt noch mal machen will. Schmecken.“ Mit einem Ruck rutschte sie auf seinen Beinen herunter und leckte seinen Nabel, wobei ihre Zunge über verschiedene Tätowierungen huschte.

Stöhnend entspannte Aeron sich auf der Matratze. Diese ungezogene Zunge fühlte sich heiß an, und ihre Zähne waren scharf. Aber er sollte ein zweites Mal verdammt sein, wenn er nicht schon längst süchtig nach diesem Gefühl auf seiner Haut war. Mehr. Diesmal kam die Bitte von ihm. Wie vielleicht all die anderen vorher auch.

Bis … sie sich an seinem Hosenknopf zu schaffen machte und die Realität schlagartig zurückkehrte. Gleich bist du so weit. Das konnte er unmöglich zulassen. Dazu stand viel zu viel auf dem Spiel.

Er hasste die Realität.

Schalte deinen Verstand ein, na los. Er packte ihre Handgelenke, um sie zu stoppen. „Was machst du da?“ Kam dieses erstickte Gemurmel aus seinem Mund?

„Ich will deinen …“, sie leckte sich über die Lippen, und ihre Wangen gewannen erneut an Farbe, „deinen Penis sehen.“

Beinahe hätte er sich an seiner eigenen Zunge verschluckt. Unbeschmutzt. Verstand einschalten.

„Und dann will ich ihn lutschen“, fügte sie hinzu, wobei ihre Stimme leicht zitterte.

Gütige … Götter, dachte er wieder. Irgendjemand musste Lysander erzählen, dass sie schon längst beschmutzt war – auf köstlichste Art und Weise –, denn dann wäre es nicht mehr Aerons Schuld, wenn er es zu Ende brachte. „Das wirst du nicht tun.“

Idiot!

Oho, sieh an. Sein Dämon kannte doch noch ein anderes Wort.

Mit der Fingerspitze fuhr sie an seinem Bauch hoch und umkreiste seine Brustwarze. Ihre Hand zitterte dabei genauso wie zuvor ihre Stimme. „Aber ich will es. Unbedingt.“

„Du bist ein Engel“, erinnerte er sie beide zum tausendsten Mal und schüttelte dabei energisch den Kopf, um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen. Und er mochte zwar ein Mörder sein, aber er würde sie nicht verderben.

Aber du könntest es. Sein Dämon?

Götter, wie gern er es täte.

„Nein“, sagte er, wieder um ihrer aller willen – zu sich selbst, zu Olivia und zu Zorn. Und jetzt geh wieder in deine Ecke, schnauzte er den Dämon an. Du bist hier nicht länger willkommen. Obwohl Zorn sich so gut benommen hatte wie selten zuvor.

„Argh! Wie oft denn noch? Ich bin gefallen.“

„Ja, aber ich werde nicht für deinen Untergang verantwortlich sein.“

Sie verengte ihre Augen und rammte ihm die Faust vor die Brust. „Na schön. Als selbstbewusste und offensive Frau weiß ich, dass ich auch jemand anderen rinden kann. Ich wollte, dass du es bist, aber wie ich in den vergangenen Tagen gelernt habe, bekommen wir nicht immer, was wir wollen. Ich glaube, William hat mit mir geflirtet, und es ist eindeutig, dass er … na ja, du weißt schon … Sex will.“

Als sie ernsthafte Anstalten machte, von ihm herunterzurutschen und ihre Drohung wahr zu machen – und vielleicht wollte sie das auch, diese entschlossene kleine Wildkatze, trotz der Tatsache, dass sie bei dem Wort „Sex“ gezögert und dadurch bewiesen hatte, dass sie bei Weitem nicht so selbstbewusst und offensiv war, wie sie ihn gern glauben machen wollte –, entfuhr ihm ein wütendes Knurren, und er packte ihren Arm. Blitzschnell warf er sie zurück auf die Matratze.

William würde sie nicht anfassen. Niemals.

Kaum lag sie da, nagelte er sie mit seinem vollen Körpergewicht fest. „Nur weil ich nicht zulasse, dass du diese Sachen mit mir machst, heißt das noch lange nicht, dass ich sie nicht mit dir mache.“ Während er sprach, fuhr er mit der Hand an ihrem Oberschenkel hoch. So weich … und warm …

Meins.

Wieder machte Zorn seine Ansprüche geltend, nur fehlte ihm diesmal die Kraft für einen Widerspruch. Automatisch öffneten sich ihre Knie. Warm? Nein. Heiß. An ihrem Höschen vorbei glitt er zu ihrem Zentrum. Sie war perfekt und feucht. Sein Daumen, der jetzt zitterte, drückte gegen ihre süße Perle.

„Ja“, keuchte sie. „Ja. Das ist gut … genauso habe ich es mir vorgestellt …“ Sie schloss die Augen und presste die Fingernägel an seinen Rücken.

Zwar neben seinen Flügeln, doch auch das erregte ihn. Eigentlich wollte er langsam in sie eindringen, doch dieses Keuchen … ihr Schwärmen … ihre Liebkosung … Das alles trieb sein Verlangen in neue Höhen, und er schob seinen Finger hart in sie hinein. Vorsichtig. Doch es schien sie nicht zu stören. Im Gegenteil, sie schien es zu genießen.

„Ja.“ Diesmal war es ein Stöhnen. Sie rieb ein Knie an seiner Hüfte. „Mehr.“

Er musste ihr einfach gehorchen – ob es immer so wäre mit ihr? –, und so drang er mit dem zweiten Finger in sie ein. Sie wand sich unter ihm und zuckte, und er glaubte zu spüren, dass sie seinen Rücken blutig kratzte. Sein Penis steckte noch in seiner Hose – den Göttern sei Dank –, denn sonst wäre er in diesem Augenblick in sie eingedrungen.

Nein, verdammt: Sein Penis steckte noch in seiner Hose -zum Teufel mit den Göttern! –, denn sonst hätte er sich in diesem Augenblick in ihr versenkt!

In ihr versenkt. Er wollte nichts mehr als in ihr sein.

Danach, nachdem sie in seinen Armen gekommen wäre und dabei geschrien, gefleht und seinen Namen gerufen hätte, müsste er sie loswerden. Sie vernebelte seinen Verstand und lenkte ihn ab. Zu viele Probleme.

Unbeschmutzt, erinnerte er sich. Bring sie unbeschmutzt in die Stadt.

Behalt sie hier, wimmerte Zorn.

Ich habe dir doch gesagt, du sollst still sein, fuhr er den Quälgeist an. Er hatte schon genug damit zu tun, sein Verlangen unter Kontrolle zu bringen, da konnte er nicht auch noch einen Kampf mit seinem Dämon gebrauchen.

Und warum redet Zorn überhaupt so viel, fragte er sich abermals. Und dazu nicht einmal über die Bestrafung eines Sünders, sondern über eine Frau. Gut, er hatte verstanden, dass seinem Dämon – so seltsam das auch war – gefiel, was Olivia darstellte. Den Himmel. Aber diese Beharrlichkeit …

War der Dämon ihm ähnlicher, als er gedacht hatte? Verspürte er dieselbe Hassliebe für das, was sie taten, und dafür, wie sie töteten? Er hatte immer angenommen, sein Dämon genösse die blutigen Gräueltaten – und was dabei herauskam. Aber was, wenn Zorn die ganze Zeit genauso hilflos gewesen war wie Aeron? Sich genau wie er nach Vergebung sehnte?

„Aeron?“

„Ja“, stieß er durch zusammengebissene Zähne hervor, als Olivia ihn aus den Gedanken riss.

„Du hast aufgehört“, sagte sie schwer atmend. „Ich brauche mehr. Bitte mach weiter.“

Wieder ihre Höflichkeit. Einfach bezaubernd. Aber er wollte nicht hören, dass sie ihn um mehr bat; das schwächte nur seine Entschlossenheit. Und Zorn wollte er genauso wenig hören.

Er brachte beide auf die einzig mögliche Art zum Schweigen: Innig presste er seine Lippen auf Olivias und küsste sie.

Eigentlich hatte er das Tempo zurücknehmen wollen – so wie er es gewohnt war, damit er wieder Herr der Lage würde –, doch sie hatte anderes im Sinn. Begierig reizte sie mit ihrer Zunge seine, und ihre Zähne stießen aneinander.

Im nächsten Moment wand sie sich wieder stöhnend unter ihm. Mit einer Hand fasste sie zwischen ihre Körper, bahnte sich den Weg in seine Hose und griff nach seinem Penis. Ihm entfuhr ein wohliges und zugleich gequältes Seufzen. Auch hierbei war sie nicht sanft, und obwohl sie nicht so recht zu wissen schien, wie sie die Sache anstellen sollte, und ihre Bewegungen ein wenig zu ruckartig waren, genoss er ihre Berührung so sehr, dass er sich unwillkürlich bewegte. Hart, schnell, unkontrollierbar.

Es klopfte an der Tür.

Er hörte nicht auf, sich zu bewegen. Er konnte nicht. Sie hatte den Daumen auf den Spalt seiner Eichel gelegt und dadurch seine Lusttropfen verteilt. Binnen weniger Sekunden hatte sie ihn an einen Punkt katapultiert, an dem es kein Zurück mehr gab. Diesmal würde die Realität nicht über ihn hereinbrechen.

„Hör nicht auf“, befahl er ihr.

„Es ist so … nur noch ein bisschen … mehr …“ Sie fasste fester zu. „Aeron.“

Wieder zuckte er vor Lust. Er musste ein wütendes Brüllen unterdrücken, als es zum zweiten Mal klopfte.

„Und wehe, du wagst es, aufzuhören!“, schrie Olivia, um ihn schon im nächsten Moment wieder leidenschaftlich zu küssen. Sie fuhr ihm mit den Fingernägeln über den Oberkörper und hielt mit den Knien seine Hüften gefangen.

Wild stieß er seine Finger in Olivia. Ihr Griff wurde noch fester, und sie zog an seiner Haut, aber Götter, das Brennen fühlte sich gut an. So verdammt gut. Und als sein Daumen wieder ihre Klitoris fand, schrie Olivia lange, laut und so lustvoll, dass ihn eine Welle des Stolzes durchflutete – und mit dem Stolz kam der Höhepunkt.

Eine Erlösung, die so vollkommen war, dass er wie von Sinnen war, während er seinen Samen über ihren Bauch vergoss. Vollkommen außer sich, rief er Obszönitäten und rammte seine freie Hand so fest gegen das Kopfende, dass das Holz zersplitterte. Er war so berauscht, dass es ihm für einen winzigen Moment sogar gleichgültig war, ob er nach diesem Akt in Lysanders Augen verdammt war.

Als es zum dritten Mal klopfte, ließ Aeron sich völlig erschöpft auf Olivia sinken. Keuchend und verschwitzt drehte er sich von ihr weg, um sie nicht zu erdrücken.

„Okay“, sagte sie nach einem Moment und ließ sich wohlig entspannt auf die Matratze sinken. „Jetzt kann ich schon mal einen Punkt von meiner To-do-Liste streichen. Gut gemacht, vielen Dank. Ich weiß, dass andere Männer danach gerne kuscheln, aber ich glaube, du hast vorhin erwähnt, dass du nicht dazu gehörst, also …“

Abserviert, dachte er, und seine Augen wurden größer. Eiskalt abserviert.

Hölle. Nein. Gerade hob er die Hand, um Olivia in seine Arme zu reißen und zu zwingen, mit ihm zu kuscheln, da ertönte ein weiteres Klopfen. Frustriert zog er die Decke über sie, sprang aus dem Bett und ging mit finsterem Blick auf die Tür zu. Irgendjemand würde gleich sterben.

10. KAPITEL

Wer mochte das sein?

Immer noch nackt, riss Aeron die Tür auf, und Olivia beobachtete ihn ungeniert. Dieser schöne Schmetterling erstreckte sich über seinen oberen Rücken, und sie hatte ihn berührt. An den Stellen, wo sie ihn gekratzt hatte, war seine Haut sogar aufgeschürft und blutig. Vielleicht hätte ihr das peinlich sein sollen – doch das war es nicht. Sie war stolz. Sie hatte ihn gekennzeichnet. Hatte den Mann gekennzeichnet, auf den sie scharf war. Und er hatte ihr Verlangen erwidert; er war gekommen. Sie wollte es wieder tun. Nur dass sie mehr wollte. Sie wollte bis zum Letzten gehen.

Dämlicher Störenfried.

Wer mochte das sein, und was konnte er wollen? Wenn es nicht um Leben und Tod ging, wünschte Olivia dem Spielverderber, er möge später die Treppe runterfallen.

Der brutale Gedanke, ganz und gar untypisch für sie, brachte sie ins Grübeln. Vielleicht war solche Brutalität ja gar nicht mehr so untypisch für sie. Immerhin war sie jetzt eine neue und verbesserte Version ihrer selbst.

Und die neue und verbesserte Olivia könnte – könnte! – Aeron vielleicht dazu gebracht haben, seine Meinung übers Kuscheln zu ändern, indem sie unauffällig erwähnt hatte, dass es so vielen anderen gefiel. Wärme, Stärke und purer Sexappeal hüllten sie ein.

Vielleicht beim nächsten Mal. Wenn es ein nächstes Mal gäbe. Er hatte so sicher gewirkt, dass es sich nicht wiederholen würde.

„Was ist?“, bellte Aeron. Seine breiten Schultern versperrten ihr die Sicht, sodass Olivia nicht sehen konnte, wer vor der Tür stand.

„Ich habe jemanden schreien hören.“ Cameo trat einen Schritt zur Seite, um ins Zimmer spähen zu können, und beantwortete damit endlich Olivias unausgesprochene Frage. Als die Kriegerin ihren derangierten Zustand erfasste, klappte ihr vor Erstaunen die Kinnlade herunter.

Olivia grinste nur und winkte. Sie war nicht verlegen wegen ihres Erlebnisses mit Aeron. Nun ja, wenigstens nicht sehr. In erster Linie jubilierte sie innerlich. Sie hatte alles Vertraute aufgegeben, um die Freuden der Fleischeslust zu erfahren, also würde sie keinerlei Hemmungen tolerieren.

Außerdem hatte sie die Menschen in all den Jahren die verschiedensten Dinge tun sehen. Sex, Drogen. So viel Gutes, so viel Schlechtes. Was sie getan hatte, war wunderschön gewesen. Es gab nichts, wofür sie sich schämen musste.

„Du siehst gut aus“, begrüßte Olivia die Kriegerin.

„Du auch.“ Wäre Cameos Stimme nicht so traurig gewesen, Olivia hätte geglaubt, ein Lachen in ihrem Unterton zu hören.

„Augen zu mir, Cam“, sagte Aeron, der aus irgendeinem Grund eindeutig verärgert war. „Warum bist du hier?“

Cameo sah ihn an. Ihre Mundwinkel zuckten. „Torin hat sich das Überwachungsmaterial von letzter Nacht angesehen und einen Blick auf Albtraum erhascht. Soweit er sagen konnte, ging sie in ein Gebäude und ist seitdem nicht wieder rausgekommen.“

„Wovon redest du?“

„Von deinem Schattenmädchen. Olivia hat uns erzählt, dass sie vom Dämon Albtraum besessen ist. Wie dem auch sei, wir werden in die Stadt gehen, um … äh …“, sie warf einen bezeichnenden Blick auf Olivia, „… mit ihr zu reden. Bist du dabei?“

Aeron spannte sich an, und ein kurzes Schweigen senkte sich. Dann erwiderte er: „Klar“ und warf Olivia über die Schulter einen Blick zu. „Du brauchst es dir gar nicht erst gemütlich zu machen. Du kommst nämlich mit uns. Wir werden dir ein nettes Plätzchen suchen, an dem du bleiben kannst, bis du dir im Klaren darüber bist, wo du dauerhaft leben willst.“

Was? Er wollte sie immer noch loswerden? Nach allem, was sie getan hatten? Okay, sie hatte ihm gesagt, das würde nichts ändern, aber das war gewesen, bevor es alles verändert hatte. Diese kleine Kostprobe des Glücks würde ihr nie und nimmer reichen.

Vorhin, in diesem Bett, hast du dich durchgesetzt. Das schaffst du auch noch mal. „Tut mir leid, aber das geht nicht. Wahrscheinlich würde ich nur wieder in Todesgefahr geraten“, sagte sie und musste sich ein Grinsen verkneifen, als sich seine Augen weiteten. Anscheinend hatte der Mann ein ernsthaftes Problem mit ihrem Tod, wenn er ihn hinter jeder Ecke lauern sah. „Ich denke, ich bleibe lieber hier.“ Und das ist dir auch ganz recht so, versuchte sie ihm gedanklich einzureden. Einige Leute wussten einfach nicht, was sie zu ihrem Glück brauchten. Und Aeron gehörte eindeutig zu dieser Gruppe. Da würde sie ihm wohl ein wenig auf die Sprünge helfen müssen.

Er rieb sich den Nacken. „Darüber haben wir doch schon gesprochen, Olivia. Du kannst nicht hierbleiben. Egal, was zwischen uns passiert ist.“

„Alles klar.“ Sie schwang die Beine aus dem Bett und stand auf, ohne die Bettdecke loszulassen.

„Dann kommst du also mit in die Stadt?“, fragte er argwöhnisch. Und wütend und erleichtert. Welch seltsame Gefühlskombination.

„Natürlich nicht.“ Es war schwierig, einen Fuß vor den anderen zu setzen, während ihre Knie zitterten, doch sie schaffte es – ohne hinzufallen. Sie ging an Aeron vorbei, wobei sie ihn leicht streifte, – oh, süße Gottheit, seine Wärme, seine Stärke –, und lächelte, als sie dasselbe bei Cameo machte, die ihr zuzwinkerte.

Im Flur kam ihr plötzlich ein Gedanke in den Sinn, und sie blieb stehen.

Sie sah Aeron über die Schulter an und sagte: „Ich erkunde jetzt ein wenig eure Burg. Ach, und, Aeron: Wenn du Albtraum, die übrigens Scarlet heißt, nicht rinden solltest, dann lass deine schlechte Laune bitte nicht an mir aus, wenn du zurückkommst. Außer du möchtest, dass ich sie wegküsse. Darüber würde ich durchaus mit mir reden lassen.“

Ohne auf seine Antwort zu warten, schlenderte sie um die Ecke.

„Olivia“, rief er.

Sie ging weiter, ohne ihn zu beachten. Sie hatte das Gefühl, dass er sich mit ihr streiten wollte. Aber ihr Körper vibrierte noch vor lauter Lust und Glück, und ein Streit würde all das nur zerstören.

„Olivia! Du bist so gut wie nackt.“

So gut wie nackt? Sie verharrte in ihrer Bewegung, sah an sich hinab, nahm die Bettdecke wahr, die sich um ihre nackten Brüste schmiegte, und schluckte. Wenn sie mit Aeron zusammen war, war „so gut wie nackt“ genau richtig – aber wenn die Möglichkeit bestand, dass sie seinen Mitbewohnern über den Weg lief, war es alles andere als das. Und das hatte nichts mit mangelndem Selbstbewusstsein zu tun.

Ihr Liebesspiel mit Aeron hatte ihr dabei geholfen, die Erinnerung an ihre Erlebnisse in der Hölle zu verdrängen, ja. Aber schließlich hätten diese beiden Erfahrungen gegensätzlicher auch nicht sein können. Aerons Ziel war Lust gewesen, das der Dämonen Schmerz. Trotzdem. Lust in den Augen eines anderen zu sehen erweckte die scheußlichen Erinnerungen womöglich mit einem Schlag wieder zum Leben.

Seufzend eilte sie zurück in sein Zimmer, wobei sie kommentarlos an einem wütend dreinblickenden Aeron vorbeiging. Cameo war bereits gegangen. Ohne großes Aufhebens ließ Olivia die Bettdecke fallen, schnappte sich ihr Top und zog es sich über den Kopf. Zum Glück trug sie ihren Rock und das Höschen sowieso noch.

„Besser“, sagte sie nickend.

„Nein, nicht besser. Nicht für das, was wir vorhaben. Und ja, damit meine ich, dass du mit mir kommst.“

Sie ging zu ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „Bis später. Und sei bitte vorsichtig.“ Abermals schritt sie den Flur hinunter.

„Olivia.“

Doch sie ignorierte ihn und richtete ihre Aufmerksamkeit stattdessen voll und ganz auf die vielen Türen, die vor ihr lagen. Unsicher, was sie erwartete, steckte sie den Kopf zur ersten Tür hinein. Natürlich. Ein Fitnessraum. Das hätte sie sich ja denken können, aber sooft sie auch heimlich hier gewesen war, sie hatte sich immer hundertprozentig auf Aeron konzentriert.

„Olivia“, rief er, und dieses Mal klang er resigniert. „Also gut. Bleib hier. Mach, was du willst. Ist mir egal.“

Lügner. Wenigstens hoffte sie, dass er log.

Das zweite Zimmer war leer. Aus dem dritten kamen ihr Stimmen entgegen, noch ehe sie die Tür erreicht hatte. Ohne sich von Angst oder Unsicherheit bremsen zu lassen, lugte sie hinein.

Es war ein Schlafzimmer, wie Aerons, nur dass es hier weder rosafarbene Accessoires noch Spitzenstoffe gab. Dunkle Wände, Möbel aus Metall statt aus Holz und – damit hätte sie zuletzt gerechnet – eine Karaokeanlage in der Ecke. Eine Frau saß auf einem Stuhl neben einem riesigen Bett und las einem Mann etwas vor.

Anscheinend hatte Olivia ein Geräusch gemacht, denn der Mann hob seinen Blick und sah sie an. Er versuchte, sich aufzusetzen, doch die Frau protestierte. „Gideon. Was machst du denn da? Bleib liegen!“

Gideon. Olivia wühlte in ihrem Kopf. Hüter der Lügen?

„Ich bin ganz ruhig“, krächzte er. „Wir sind alleine.“

Volltreffer. Er war tatsächlich der Hüter der Lügen und unfähig, die Wahrheit zu sagen, wenn er nicht Höllenqualen erleiden wollte. Außerdem war er unheimlich süß, mit diesen blauen Haaren, den elektrisierenden Augen und einer gepiercten Augenbraue. Doch augenscheinlich war er verletzt. Dort, wo eigentlich seine Hände hätten sein sollen, endeten seine Arme in weißen Verbänden.

Selbstbewusst. Offensiv. „Entschuldigt die Störung, aber ich war … gerade in der Nähe.“ Das stimmte. „IchbinOlivia“, stellte sie sich vor und winkte. Obwohl sich beim Anblick dieses Dämons ihre Nackenhaare genauso aufstellten wie bei Torin, schrie sie ihn weder an, noch rannte sie davon. Damals war sie verletzt gewesen und gefangen in diesen furchtbaren Erinnerungen. Jetzt war ihr Körper stärker – oder jedenfalls so stark, wie ein menschlicher Körper eben sein konnte. Sie würde mit der Situation zurechtkommen. „Ich gehöre zu Aeron.

Was auch keine Lüge war. Aeron war einer der Gründe, weshalb sie hergekommen war. Gerade hatte sie ihn geküsst, während sie in seinem Bett gelegen hatten, und davon musste sich ihr Herz erst noch erholen. Nie hatte sie gesehen, dass er so etwas mit einer anderen Frau gemacht hätte.

Sofort waren ihre Gedanken wieder bei dem eben Geschehenen. Wow. Einfach nur … wow. Sein Körper war hart wie Stahl, doch sein Mund so weich wie ein Rosenblatt. Überall hatte er sie berührt, sie hatte sich an seiner harten Erektion gerieben, und dann war er mit seinen großen Fingern in sie eingedrungen. Die Lust … die Hitze … die überraschende Hemmungslosigkeit … Etwas Vergleichbares hatte sie noch nie erlebt.

Jetzt wusste sie es. Man konnte tatsächlich vor Lust sterben.

Er hatte nach Minze geschmeckt, süß und zugleich scharf. Mit allen Sinnen hatte sie auf ihn reagiert, und sie war überwältigt worden von diesem Geschmack, er war das perfekte Aphrodisiakum. Mit ihm Erlösung zu finden war zu ihrem einzigen Daseinszweck geworden.

„Du bist der Engel“, sagte die Frau mit einem einladenden Lächeln und riss sie aus ihren Gedanken.

„Ja. Ein gefallener, aber ja.“

Gideons Anspannung ließ nach, und er sank auf die Kissen. „Wundervoll.“

„Beachte ihn gar nicht. Er ist schlecht drauf, weil er sich so langweilt. Ich bin übrigens Ashlyn.“ Ashlyn hatte goldenes Haar, goldbraune Augen und wirkte zart wie eine Lilie. „Die Frau von Maddox.“

„Maddox“, wiederholte Olivia. „Hüter der Gewalt“. Ein Hüne mit schwarzen Haaren, genauso violetten Augen wie Aeron und einem scheinbar unbezähmbaren Temperament. „Ihr habt geheiratet?“

„In unserer eigenen kleinen Zeremonie“, erwiderte Ashlyn und errötete leicht. Dann stand sie auf. „Aber er ist eigentlich kein schlechter Kerl, ehrlich.“ Sie streichelte sich über ihren Kugelbauch. „Wenn man ihn erst mal näher kennt, merkt man schnell, was für ein Schatz er ist.“

Olivia konnte sich nicht zurückhalten – sie ging zu ihr hinüber und legte die Hände auf ihren Bauch. Schwangere Frauen hatten sie schon immer angezogen, da sie wusste, dass sie selbst nie ein Kind gebären würde – was sie insgeheim sehr bedauerte. Aber Engel wurden nun mal erschaffen und nicht geboren. Auch wenn sie also mit einem anderen ihrer Art körperliche Freuden genossen hätte, wäre sie nicht schwanger geworden.

Aber jetzt, da sie ein Mensch war … gab es vielleicht eine Möglichkeit.

Mit Aeron? Ein Mädchen durfte ja wohl noch hoffen. Einen kurzen Moment lang malte sie sich aus, wie ihre Kinder aussehen würden. Natürlich kämen sie nicht mit all den Tätowierungen auf die Welt, und das war eine Schande, aber vielleicht hätten sie seine schönen violetten Augen und sogar seine Flügel. In ihren Augen sollte jeder erfahren, wie herrlich es war zu fliegen – und wenn es nur ein einziges Mal war. Vielleicht hätten ihre Kinder ja sogar Aerons Mut und Entschlossenheit, die sie an ihm zugleich in den Wahnsinn trieben und bezauberten.

Sie seufzte und widmete sich wieder der Gegenwart.

„Sie sind stark, eure Zwillinge“, sagte sie, da sie wusste, dass werdende Mütter so etwas gerne hörten. „Feuer und Eis. Ihr werdet alle Hände voll zu tun haben, damit sie nicht ständig in Schwierigkeiten stecken, aber ihr werdet auch sehr glücklich sein.“

Ashlyn starrte die größere Olivia lange mit offenem Mund an. „Zw…willinge? Woher weißt du, dass ich Zwillinge bekomme?“

Oh nein. Jetzt hatte sie die Überraschung verdorben, nicht wahr? „Zu spüren, wer im Bauch einer Frau heranwächst, ist eine Gabe, die alle Engel besitzen.“

„Das … das kann nicht sein.“ Augenblicklich wurde sie blass, ihre Haut nahm sogar einen leichten Grünstich an. „Ich trage nur ein Kind in mir. Ich meine, mein Baby entwickelt sich doch ganz normal. Oder?“

Wie viel sollte sie ihr sagen? Vielleicht gerade genug, um sie zu beruhigen. „Nein. Deine Babys entwickeln sich langsamer, weil sie unsterblich sind. Deshalb dauert deine Schwangerschaft länger. Aber keine Sorge. Ich verspreche dir: Sowohl dein Sohn als auch deine Tochter sind gesund.“

„Sohn? Tochter?“

Na toll. Noch eine Überraschung ruiniert.

Mit zittriger Hand strich Ashlyn sich eine honigblonde Locke aus dem Gesicht und klemmte sie sich hinters Ohr. „Ich muss mich hinlegen. Ich muss Maddox anrufen. Ich … ich …“ Ihr wilder Blick schweifte zu Gideon. „Würde es dir sehr viel ausmachen, wenn …“

„Ja“, erwiderte er grinsend. „Würde es.“

Erleichtert stieß sie den Atem aus. „Danke.“ Wie in Trance verließ die hübsche Ashlyn das Zimmer, ohne einen weiteren Blick für Olivia zu erübrigen.

„Es tut mir leid“, rief Olivia. Aus mehr als nur einem Grund. Denn jetzt war sie mit Lügen alleine. Und das war eine Situation, auf die sie nicht vorbereitet war. Aber verletzt wie er war, konnte sie ihn unmöglich einfach allein zurücklassen. „Möchtest du, äh, dass ich die Geschichte weiterlese?“, fragte sie. Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm sie das Buch, das Ashlyn dagelassen hatte – ohhhh, ein Liebesroman, das war ja großartig! –, und setzte sich auf ihren Stuhl.

„Ich fände es fantastisch, wenn du mir vorlesen würdest“, sagte er. „Deine Stimme ist nicht … gruselig.“

Was bedeutete, dass er es schrecklich fände und ihre Stimme gruselig war. Zurückgewiesen.

Sie ließ die Seiten des Buchs durch ihre Finger gleiten und gab sich Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Was du da hörst, ist der Klang der Wahrheit. Ich kann nichts daran ändern. Na ja, außer lügen, aber das möchte ich nicht, denn es schmeckt furchtbar. Und außerdem ist es zu kompliziert. Gefühle werden verletzt, es kommt zu Kämpfen.“

„Klar. Mit so was kenne ich mich nicht aus. Lügen sind herrlich“, erwiderte er, doch sie wusste, dass er ihr zustimmte. Neid färbte seine Stimme. „Ich wünschte … nichts. Ich wünschte nichts.“

Armer Kerl. Er wünschte sich bestimmt eine Menge. „Und? Willst du immer noch, dass ich gehe?“

„Ja.“

„Prima.“ Ein Fortschritt. „Kann ich jetzt lesen?“ „Ja“, sagte er wieder. „Ich möchte lieber nicht reden.“ Oh. Also immer noch kein Liebesroman für sie. „Und worüber?“

„Nicht über dich. Ich will auf keinen Fall wissen, warum du hier bist.“

„Dann kannst du mir also helfen?“, fragte sie hoffnungsvoll. Von der Angst zur Hilfsbedürftigkeit? Und das so schnell. Das war wohl ein Beweis dafür, wie verzweifelt sie sich nach einem Erfolg sehnte.

„Sicher. Warum nicht?“

Olivia beschloss, die Lüge zu ignorieren – vielleicht dachte er ja nur, er könnte ihr nicht helfen, und würde sich selbst überraschen –, und erzählte ihm von ihrer Entscheidung zu fallen, von den Hoffnungen, die sie hegte, und von dem Fortschritt, den sie mit Aeron gemacht hatte. Es war nett, einen unvoreingenommenen Zuhörer zu haben. Jemanden, der sie nicht verurteilte.

„Dann hasst du ihn also?“, hakte der Krieger nach, und sie wusste, dass er „lieben“ meinte.

Lieben. Liebte sie Aeron? „Nein. Ja. Vielleicht.“ Sie wusste es immer noch nicht. „Ich denke die ganze Zeit an ihn. Ich will bei ihm sein und mich ihm ganz hingeben. In sexueller Hinsicht, meine ich“, fügte sie leicht errötend hinzu, falls er sie nicht verstanden haben sollte. Selbstbewusst. „Aber er meinte, er würde keinen Sex mit mir haben.“

„Kluger kleiner Scheißer, unser Aeron.“ Langsam verzog sich Gideons Mund zu einem schelmischen Grinsen. „Hör zu, ich gebe dir einen kleinen, wenig hilfreichen Ratschlag: Denk nicht mal dran, dich heute Nacht in sein Zimmer zu schleichen – und mach bloß keinen Lärm, damit er dich nicht umbringt, weil er dich für einen Angreifer hält. Ach so, und sei nicht nackt.“

„Fantastischer Vorschlag, vielen Dank“, sagte sie strahlend. Sie legte ihre Füße aufs Bett, immer noch in Kaias Stiefeln, und das schwarze Leder glänzte im Licht. „Mir ist aufgefallen, dass Männer gerne nackt sind. Aber Aeron wollte nicht, dass jemand anders meine … Brüste sieht.“

Sie stellte fest, dass ihr neues und verbessertes Ich immer noch in Verlegenheit geraten konnte.

„Wie falsch du liegst. Übrigens, Liv, wenn du so sitzt, kann ich dein Höschen nicht sehen“, sagte er offensichtlich amüsiert.

Selbstbewusst, du bist selbstbewusst. „Gefällt es dir?“

Überrascht blinzelte er, da er allem Anschein nach erwartete hatte, sie würde die Position wechseln. „Ich hasse es.“

„Wirklich?“ Das war nicht peinlich, beschloss sie, sondern gab ihr noch mehr Selbstbewusstsein. „Möchtest du es als Souvenir behalten? Da ich vorhabe, deinen Ratschlag zu befolgen und nackt in Aerons Bett zu kriechen, brauche ich es nicht mehr.“

Gideon lachte unverblümt. „Nein. Möchte ich nicht. Ich fände es abscheulich, es als Souvenir zu behalten. Und zwar nicht nur, weil ich sicher bin, dass Aeron begeistert sein wird, wenn er erfährt, dass ich das Höschen seiner Freundin habe.“

Aerons Freundin. Aus Gideons Blickwinkel war das eine Lüge, doch sie hätte zerfließen können wie Pudding. „Dann gehört es dir. Ich gebe es dir, bevor ich gehe.“

Das brachte ihr noch ein Lachen ein. „Ich kann dich nicht leiden, Junge. Kein bisschen.“

Sie strahlte. „Dito. Und jetzt, nachdem ich dir von mir erzählt habe, erzähl du mir von ihm. Von Aeron. Ich meine, ich weiß zwar, wer er ist, aber ich weiß nichts über seine Vergangenheit. Ich will ihn verstehen. Ihn erreichen. Ihm helfen, damit aufzuhören, sich über meinen möglichen Tod zu sorgen.“ Und seinen eigenen zu akzeptieren.

„Auf keinen Fall.“ Was so viel hieß wie: Ist geritzt.

Gideon legte sich anders hin. Eine seiner blauen Locken hatte sich im Kopfende des Betts verfangen und ziepte nun an seiner Kopfhaut. Er verzog das Gesicht und fasste nach oben, bekam die Strähne mit den bandagierten Handgelenken jedoch nicht zu fassen. Als er ein frustriertes Knurren von sich gab, erbarmte sie sich.

Sie nahm die Beine vom Bett, lehnte sich vor und befreite sanft seine Haare. „Besser?“

„Nein“, murmelte er mürrisch.

„Gut. Ich find Blau übrigens spitze. Vielleicht sollte ich meine Haare auch färben.“ Sie speicherte den Gedanken zur späteren Betrachtung. Zusammen mit dem Bauchnabelpiercing. Im Augenblick wollte sie mehr über Aeron erfahren. Wer er war und was ihn zu diesem Mann gemacht hatte.

„Wo wir Aeron gerade vergessen … wo soll ich nicht anfangen?“

„Ich weiß, dass ihr Krieger aus dem Himmel geworfen wurdet und im antiken Griechenland gelandet seid. Ich habe die Geschichten über die Untaten gehört, die ihr angerichtet habt – unschuldige Menschen umbringen, foltern und plündern und einfach alles zerstören, das euch begegnete.“

Er zuckte die Schultern. „Da hast du etwas Falsches gehört. Wir hatten die absolute Kontrolle über unsere Dämonen und waren nicht dem Blutrausch verfallen. Und als wir endlich die Kontrolle verloren, waren die Schuldgefühle für unsere Taten minimal.“

Schuld. Sie war eine schreckliche Bürde. Und nach dem zu urteilen, was sie von den Herren gesehen hatte, trugen sie weitaus schwerer daran, als eine einzelne Person jemals sollte. Sie fand, dass sie Frieden verdienten, und zwar ein für alle Mal.

„Aeron war kein Krieger“, fuhr Gideon fort, „und trotzdem haben seine Taten, selbst wenn sie ungerechtfertigt waren, ihn nicht gequält – obwohl ich mir immer sicher war, dass er das, was er tat, zu sehr hasste und sich selbst dafür liebte. Er hat den kleinsten Teil der Arbeit verrichtet, und der Rest von uns musste die ganze Zeit töten, um den Götterkönig zu beschützen.“

Im Kopf übersetzte Olivia schnell die eigentliche Bedeutung von Gideons Worten: Manchmal hatte Aeron seinen Job zu sehr geliebt und sich selbst dafür gehasst, doch er hatte auch seine Freunde geliebt und deshalb ihre Arbeit gleich mit erledigt, um ihnen einen Teil der Last abzunehmen, was für ihn vermutlich eine Qual gewesen war.

Schuld, dachte sie wieder. Auch damals schon hatte er einen riesigen Berg davon mit sich herumgeschleppt. Er hatte es genossen, denjenigen wehzutun, die anderen wehgetan hatten, und sich selbst vermutlich als genauso böse betrachtet wie sie.

Bevor er starb, bevor sie starb, würde sie ihn eines Besseren belehren. Er war nicht böse. Er war ein Beschützer. Kein Wunder, dass der Gedanke an ihren Tod ihn so aufwühlte. In seinen Augen hätte er als ihr Beschützer versagt. Dieser süße, liebenswerte Mann.

„Bitte, erzähl weiter“, flehte sie Gideon an.

Er nickte. „All diese Tode haben ihm nie etwas ausgemacht. Sie sind nicht der Grund dafür, dass er hinter jeder Ecke das Unglück erwartet. Und dann, als unser verhasster Feind Baden nicht geköpft wurde, sah Aeron, dass Unsterbliche für immer leben konnten. Das hat ihm kein bisschen Angst gemacht.“

Okay, also: Die vielen Tode, die er in Ausübung seiner Pflichten herbeigeführt hatte, ließen in ihm einen großen Respekt vor der Sterblichkeit heranreifen, vor allem als sein geliebter Freund geköpft worden war. Jetzt rechnete er ständig damit, dass irgendwer in seinem Umfeld starb, da er wusste, dass er nichts dagegen tun konnte – dass er nichts tun konnte, um andere zu beschützen.

Diese Hilflosigkeit musste einen Mann, dem Stärke und Macht extrem wichtig waren, stinksauer machen. Das war bestimmt auch der Grund dafür, dass er sich von allen außer Legion so distanzierte. Je weniger Leute ihm nahestanden, desto kleiner war die Anzahl derer, um deren Schutz er sich zu sorgen brauchte.

Wie also hatte Legion es geschafft, seinen Schutzwall zu überwinden?

Und was noch viel wichtiger war: Wie hatte Legion den Drang seines Dämons, andere zu bestrafen, ausgetrickst? Der kleine Unhold hatte wohl kaum ein schuldloses Leben geführt. Für diese Vermutung brauchte man sich nur an das zu erinnern, was die Kreatur der unschuldigen Olivia angetan hatte.

„Was Legion betrifft“, sagte Gideon, als hätte er Olivias Gedanken gelesen, „glaube ich, dass Aeron sich insgeheim nie nach einer eigenen Familie gesehnt hat und Legion ihm genau das nicht gibt.“

Aha. Aeron hatte sich insgeheim eine Familie gewünscht – genau wie sie –, und Legion bot ihm diese Familie. Ein bisschen jedenfalls. Ich könnte auch seine Familie werden, dachte Olivia. Nicht, dass sie Legions Stiefmutter werden wollte, doch um das Glück zu erfahren, mit Aeron zusammen zu sein, würde sie sogar diesen abscheulichen Titel auf sich nehmen.

„Ich kann nicht das Verlangen in deinen Augen sehen, Engel, und ich freue mich sehr darüber. Du solltest wissen, dass er selbst im Himmel wilde Frauen bevorzugt hat, und ich kann spüren, dass du tief in deinem Herzen so wild bist, wie es nur geht – auch wenn du dich selbst eindeutig nicht vom Gegenteil überzeugen konntest. Obwohl Aeron denkt, dass es das ist, was er will, versichere ich dir, dass es nicht das ist, was er braucht.“

Oh … nein, dachte sie plötzlich entmutigt. Aeron stand auf zahme Frauen, aber Gideon glaubte, dass er jemand Wildes brauchte. Außerdem fand Gideon, dass Olivia – ganz gleich, was sie behauptete – tief in ihrem Herzen nicht wild war und es auch niemals sein würde.

„Warum willst du mich abschrecken? Vor ein paar Minuten hast du mir noch verraten, wie ich ihn verführen kann.“

„Meine Süße, Aeron verdient dann und wann keine kleine Folter.“

Oh. Ein bisschen Unterhaltung. Das war sie in Gideons Augen also.

Da lag er aber so was von falsch! Vielleicht war sie früher sanftmütig gewesen – oder hatte so getan, als ob sie es wäre –, aber je mehr Zeit sie in dieser Burg verbrachte, umso mehr lernte sie über sich.

Sanftmut hatte sie ihr gesamtes Leben lang begleitet. Lysander war sanft und behutsam mit ihr umgegangen. Die anderen Engel waren sanft mit ihr umgegangen. Sie war sanft mit ihnen umgegangen.

In Aerons Armen hatte sie plötzlich viel mehr Emotionen gespürt. Sie hatte mehr gewollt, hatte es härter und chaotisch gewollt, und zwar ohne Netz und doppelten Boden. Sie hatte es wild gewollt. Ein paar Mal hatte er versucht, einen Gang zurückzuschalten, sie vorsichtiger anzufassen – was Gideons Behauptung untermauerte, dass er auf die sanfte Tour stand. Oder es zumindest dachte.

Er hat dich angefleht, seine Flügel zu streicheln, rief sie sich in Erinnerung. Und dabei war sie alles andere als zärtlich gewesen.

Trotzdem. Er hatte nicht gewollt, dass sie sich den Bauchnabel piercen ließ. Was würde er wohl davon halten, wenn sie es wirklich machte? Und wenn sie sich tätowieren ließe, was sie ebenfalls vorhatte? Vielleicht einen Schmetterling. Würde er sie dann nicht mal mehr küssen wollen?

„Diese Unterhaltung hat mich echt deprimiert“, sagte sie. „Nicht, dass ich mich nicht gern mit dir unterhalten habe. Du hast mir die Einzelheiten verraten, nach denen ich gefragt habe, und dafür bin ich dir sehr dankbar. Aber ich denke, wenn du einverstanden bist, lese ich dir jetzt einfach vor. Ich muss mich ablenken, bevor ich in die Küche gehe und jede einzelne Flasche im Schnapsschrank ausprobiere.“ Das taten viele Menschen, wenn sie schlechte Nachrichten bekamen.

„Wir können nicht beides machen“, erwiderte er und zeigte auf eine Sammlung von Flaschen auf seiner Kommode.

„Wirklich?“ Voller Eifer sprang Olivia auf, durchquerte das Zimmer und nahm so viele der volleren Flaschen in den Arm wie möglich. Die Flüssigkeiten plätscherten, und verschiedene Düfte stiegen ihr in die Nase. Apfel, Birne, Zitrone. Dunkle Gewürze. „Das Zeug habe ich immer Lachsaft genannt“, erzählte sie. „Ich habe es schon immer mal probieren wollen.“

„Jetzt hast du nicht die Gelegenheit dazu. Und lass dir bloß nicht einfallen, mir was abzugeben.“

„Ist mir ein Vergnügen.“ Sie setzte Gideon eine Flasche an die Lippen, und er trank Schluck für Schluck, bevor sie selbst den Rest austrank und sich fast daran verschluckt hätte – es schmeckte nicht so köstlich, wie sie gehofft hatte. Dann setzte sie sich wieder auf den Stuhl und schlug das Buch an einer beliebigen Stelle auf.

Die Buchstaben verschwammen leicht vor ihren Augen.

„,Sie griff nach ihren Brüsten und drückte sie’“, las sie. Interessant. „,Genauso wie er es zuvor getan hatte. Ihre Brustspitzen pochten noch stärker, sie wollten seine Hände spüren. Ihr entfuhr ein Wimmern. Normalerweise hätte sie sich dafür gehasst, dass sie so ein Geräusch von sich gab, doch in diesem Moment ließ sie sich voll und ganz von der Leidenschaft steuern.

Das Gefühl kenne ich, dachte Olivia. Traurig war nur, dass sie es womöglich nie wieder erfahren würde.

Sie machte die nächste Flasche auf.

Aeron stürmte mit geballten Fäusten in die Burg. Weder sah er sich um, noch ging er in die Küche, obwohl er fast vor Hunger starb, sondern stapfte mit schweren Schritten die Treppe hoch.

„Wohin gehst du?“, fragte Cameo, die neben ihm Schritt hielt.

„Olivia suchen.“ Sie ausfragen. Er würde sie nicht küssen, wie er es sich während der vergangenen Stunden so sehr gewünscht und dabei die ganze Zeit nur an sie gedacht hatte, statt anständig nach Albtraum zu suchen. Er begann zu fürchten, seine Besessenheit von ihr könnte irgendwann so stark werden wie einst das Verlangen, Danika zu töten.

Nur dass er Olivia nicht töten wollte.

Er wollte endlich zu Ende bringen, was er in seinem Bett angefangen hatte. Gut, sie waren beide gekommen, aber er hatte sie nicht gespürt. Er hatte nicht mit ihr geschlafen.

Trotzdem. Er hatte sie schon beschmutzt, indem er ihr seinen Samen auf den Bauch gespritzt hatte. Er hatte sich Lysanders Zorn bereits zugezogen. Nicht, dass ihn das noch kümmerte. Bislang war noch kein Engel erschienen, der es auf seinen Kopf abgesehen hatte. Wie viel mehr Unheil konnte es also anrichten, wenn er mit ihr schliefe?

Von einer Sekunde auf die nächste verlagerte sich sein Fokus. Statt sie zu befragen, würde er sie ausziehen, sobald er sie gefunden hätte. Du tust es schon wieder. Du denkst über sie nach, statt dich um deine Aufgabe zu kümmern.

Da war es ihm auch keine Hilfe, dass sein Dämon noch immer nicht die Klappe hielt. Wenn er noch ein Mal das Wort „mehr“ hörte, würde er von ganz allein in einen Blutrausch verfallen.

Konzentrier dich. Sie befragen. Ja. Das würde er tun. Nicht ausziehen. Außer sie trug zu enge Klamotten. Dann würde er ihr natürlich einen Gefallen tun, wenn er sie ihr auszöge, damit sie besser Luft bekäme.

Konzentrier dich, verdammt. Sie. Befragen. Sie hatte ihm prophezeit, dass er das Schattenmädchen nicht finden würde. Albtraum. Scarlet. Wie auch immer sie hieß. Und sie hatte recht gehabt. Woher hatte sie gewusst, dass das Mädchen spurlos verschwinden würde?

Sieht aus, als würde ich sie am Ende doch brauchen, dachte er finster. Aber das hieß nicht, dass er sie hierbehielte. Definitiv nicht. Sie ausziehen war allerdings …

Er schlug mit der Faust gegen die Wand.

„Wow. So sehr magst du sie?“, kommentierte Cameo seinen Ausbruch ungläubig. „Ich meine, ich weiß, dass du mit ihr rummachst, aber ich habe noch nie erlebt, dass du wegen einer Frau so gereizt warst.“

„Ich will nicht über sie sprechen.“

„Gut. Dann lass es eben.“

„Aber wenn du darauf bestehst … Ich verstehe sie nicht, und das macht mich wahnsinnig.“ Er teilte seine Probleme nur höchst selten mit seinen Freunden. Sie hatten genug eigene Sorgen. Doch nun wusste er sich einfach nicht mehr anders zu helfen. Er brauchte einen Rat, ehe er komplett den Verstand verlor.

Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen, und Cameo folgte seinem Beispiel. Er rieb sich übers Gesicht. „Sie weckt Gefühle in mir, die ich noch nie hatte, und Bedürfnisse, die ich nicht kenne. Ich vermute, dass Cronus mir eine Lektion erteilen will. Anders kann ich mir die Wirkung, die sie auf mich hat, nicht erklären.“ Keine andere Frau hatte ihn je auch nur ansatzweise so verwirrt. „Ich hätte den Götterkönig nie herausfordern dürfen, mir eine Frau zu schicken, der ich hinterherlaufen würde. Andererseits brauchte ich ihr bislang kaum hinterherzulaufen, also kann sie nicht von Cronus geschickt worden sein. Götter, das ergibt doch keinen Sinn. Irgendetwas stimmt einfach nicht mit mir.“

Cameo tätschelte seine Schulter und sah ihn verständnisvoll an, wenn in ihrem Blick auch das Elend lauerte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch das Schluchzen einer Frau hielt sie zurück.

Sie wechselten einen irritierten Blick, ehe Aeron sich wieder in Bewegung setzte. Er erkannte das volle, sexy Timbre selbst hinter dem Schleier der Traurigkeit, doch das Geräusch war nicht aus seinem Zimmer oder dem daneben gekommen.

Als Nächstes ertönte ein Männerlachen, und sein Blick verfinsterte sich. Gideon lachte. Das hätte ihn eigentlich freuen müssen, denn immerhin hatte Gideon in letzter Zeit starke Schmerzen aushalten müssen. Und dennoch war Freude nicht das, was er fühlte.

Aeron stürmte um die Ecke ins Zimmer seines Freundes. Da lag Olivia, direkt neben Gideon, und hatte den Kopf an seiner Schulter vergraben, während ihr ganzer Körper bebte. Gideon, der unsensible Mistkerl, lachte immer noch.

„Was ist hier los?“, fragte er eindringlich und eilte zum Bett. Und nein, es war nicht die Eifersucht, die wie Feuer in seinen Adern pulsierte, sondern Wut. Wut, weil Olivia seinen verletzten Freund belästigte. Ja. Wut. Auf Olivia. Er verspürte nicht im Geringsten das Verlangen, Gideon einen seiner Dolche ins Herz zu jagen. „Irgendeiner von euch sollte mir das hier lieber erklären, bevor ich etwas tue, das wir später alle bereuen.“

Meins, knurrte sein Dämon.

Besser als „mehr“, dachte Aeron.

„Aeron?“ Nur kurz sah ihm Olivia in die Augen, ehe sie ihren tränenumflorten Blick abwandte. Sie schlang sogar ängstlich die Arme um Gideons Hals. Während ihre Tränen auf sein Hemd tropften, bebte sie abermals heftig und schluchzte: „Na toll. Jetzt ist er sauer.“

„Wenn du ihr wehgetan hast…“ Aeron knurrte. Okay, zugegeben. Er wollte Gideon abstechen.

Noch nie hatte er einen seiner Freunde absichtlich verletzt. Na gut, er und die anderen schlugen sich dann und wann gegenseitig die Köpfe ein, aber das war nur ihre Art, Dampf abzulassen. Doch als Sabin ihm einmal hinterrücks einen Dolchstoß versetzt hatte – und zwar nicht, um Dampf abzulassen, sondern aus purer Wut –, hatte er sich geschworen, keinem seiner Freunde jemals dieses Gefühl von Verrat anzutun.

Doch nun würde er sich nicht zügeln können. Und er konnte noch nicht einmal seinem Dämon die Schuld dafür geben. Weder blitzten in seinem Kopf abscheuliche Bilder auf, noch verspürte er das Verlangen, einen Sünder zu bestrafen. Er fühlte einfach nur blinde Wut.

Diese Frau ist dir egal. Bei der nächstbesten Gelegenheit wirst du dich ihrer entledigen, erinnerte er sich, als er sie in seine Arme hob. Ihr Schluchzen wurde stärker, und sie versuchte, sich an Gideon festzuhalten.

Aeron gab nicht nach, bis sie losließ. „Gideon! Antworte mir. Was ist passiert? Was hast du mit ihr gemacht?“

„Alles. Sie ist nur sehr glücklich betrunken.“ Entschuldigend lächelte Gideon ihn an.

Betrunken? Die reine, liebreizende Olivia? Und schlimmer noch: Jemand anders als Aeron hatte sie verdorben?

Wut, ja. Das düstere Gefühl breitete sich aus. Und Überraschung. Und eine Eifersucht, die er nicht länger leugnen konnte.

„Oh Aeron“, seufzte Olivia zwischen zwei Hicksern, als sie sich endlich entschlossen hatte, sich lieber von ihm trösten zu lassen als von seinem Freund. „Es ist ja so schrecklich. Ich habe keine Flügel, und du bist fest entschlossen, mich mutterseelenallein und verzweifelt auf die Straße zu setzen. Legion war so gemein, und ein paar Minuten lang war ich wütend. Davor war ich noch nie wütend. Also, nicht so richtig. Ich mochte es nicht. Und dabei weiß ich so viel und könnte dir viel mehr helfen, als du ahnst, aber du willst meine Hilfe ja nicht. Vielleicht hatte Lysander doch recht. Vielleicht muss ich wieder nach Hause gehen.“

Er musste daran denken, in welch jämmerlicher Verfassung sie gewesen war, als er sie gefunden hatte. Welche Schmerzen sie nach Legions Biss ertragen hatte. Und auf einmal überlagerte die Schuld jedes andere Gefühl in ihm. Er sollte … Moment. Nach Hause gehen?

„Du kannst zurückgehen?“, fragte er verblüfft.

„Mmm-hmm.“ Schnief, schief. „In vierzehn … nein, zehn Tagen. Ich weiß nicht mehr genau. Du hast gesagt, ich war drei Tage krank, stimmt’s? Aber wenn ich wirklich zurückgehe, werde ich gezwungen sein, dich zu töten. Das ist der einzige Weg, dass sie mich wieder in ihre Gemeinschaft aufnehmen.“

Wenn sie also nach Hause zurückginge, müsste sie ihn immer noch töten. Oder es versuchen. Damit könnte er leben – hoffentlich im wahrsten Sinne des Wortes. Sie wäre außer Reichweite, jenseits seines düsteren Einflusses und seiner gefährlichen Triebe, und sicher vor jeglichem Unheil.

„Ich kann auf mich aufpassen, Olivia“, versicherte er ihr, und sie brach erneut in heftiges Schluchzen aus.

„Aber das solltest du nicht immer müssen, Aeron. Du brauchst jemanden, der dich so beschützt wie du die anderen.“

So würde sie mich töten, sinnierte er. Mit Tränen und Güte. Schon jetzt spürte er einen scharfen Stich in der Brust. Immer war er der Beschützer gewesen; derjenige, der für die Sicherheit anderer sorgte. Dass jemand sich um ihn kümmern wollte, war schier unerträglich. „Komm mal runter“, fuhr er den immer noch grinsenden Gideon an, ehe er aus dem Zimmer ging.

Und dann hörte er Zorn in seinem Kopf, der genauso unglücklich heulte wie Olivia. Meins. Verletzt. Besser.

Ich gebe mein Bestes. „Ich mag vielleicht nicht in der Lage sein, die Dinge, von denen du gesprochen hast, in Ordnung zu bringen, aber wenn du mir endlich erzählst, was die Dämonen dir angetan haben, kann ich wenigstens das besser machen. Weißt du noch, wie?“

Olivia rieb ihre Stirn an seinem stoppeligen Kinn. „Mit einem Kuss.“

„Genau.“ Er hielt sie fester. Götter, er war dazu bestimmt, zu geben. „Erzähl es mir.“

Schnief, schnief. „Nein. Ich will nicht.“

„Hast du es Gideon erzählt?“

„Nein.“

Aha. Selbst im betrunkenen Zustand würde sie es nicht ausspucken. Er hätte sie weiter drängen können, unterließ es jedoch. Nicht noch mehr Tränen. Bitte, Götter, nicht noch mehr Tränen.

In seinem Zimmer legte er sie sanft auf die Matratze. Sie blickte zu ihm auf, konnte aber kaum sein Gesicht fixieren. „Willst du jetzt Sex?“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, musste sie hicksen. „Ich glaube, ich habe Gideon mein Höschen gegeben. Ich wäre also so weit.“

„Du hast Gideon dein Höschen gegeben? Und er hat es angenommen! ?“ Ungläubig kämpfte Aeron gegen den Drang, unter ihrem Rock nachzusehen, und kurz darauf gegen den noch stärkeren Drang, zurück in Gideons Zimmer zu gehen und ihn endlich fertigzumachen.

„Ja und ja. Also, gehen wir das jetzt an oder nicht?“

Traurigerweise war er tatsächlich versucht. Trotz der verschwollenen Augen und der fleckigen Haut sah sie bezaubernd aus – und verführerisch. Sein Körper sehnte sich immer noch nach ihr, und nie hatte jemand mehr Trost gebraucht als sie. Nur wusste er gar nicht, wie man Trost spendete. Und außerdem hatte sie etwas Besseres verdient als ein erstes Mal im Vollrausch.

„Schlaf jetzt, Olivia. Morgen früh …“, wenn ihr – und ihm? – nur noch neun Tage blieben, bevor er dafür sorgen würde, dass sie nach Hause zurückkehrte, „… müssen wir eine Menge besprechen.“

11. KAPITEL

Legion kämpfte mit den Tränen, als sie durch die Flammen und Schreie der Hölle hetzte. Einst war hier ihr Zuhause gewesen, nun war es ein verhasster Zufluchtsort. Sie galoppierte auf allen vieren wie ein niederes Tier – das war eine Position, die sie gut beherrschte. Auf diese Weise blieb sie dicht am Boden und konnte sich unbemerkt und mit hoher Geschwindigkeit fortbewegen. Außerdem war es die einzige Haltung, die jemandem wie ihr erlaubt war. Wäre sie aufrecht gegangen, hätte sich jeder hohe Herr in ihrer Nähe gezwungen gesehen, sie für einen derartigen Affront zu bestrafen.

Und apropos hohe Herren: Hier wimmelte es nur so von ihnen. Sie quälten die menschlichen Seelen, die hergeschickt wurden, um bis in alle Ewigkeit in der Hölle zu verrotten. Sie lachten, weil sie jeden Tropfen Blut, jedes bisschen Schmerz und jeden Schwall Erbrochenes liebten.

Aeron interessierte sich nicht dafür, dass sie hier war, an einem Ort, von dem er wusste, dass sie ihn verabscheute. Nicht mehr. Wie konnte er nur? Er hatte den Engel beschützt. Ihre Feindin. Dann hatte er den Engel gerettet und, noch viel schlimmer, getröstet.

Warum? Warum hatte er nicht versucht, Legion zu beschützen? Warum hatte er nicht sie gerettet und getröstet? Die Tränen begannen zu laufen, und da sie mit Gift versetzt waren, fingen ihre Schuppen an zu brennen.

Als sie eine versteckt im Schatten liegende Steinnische erreichte, blieb sie stehen und presste ihren Rücken an die zerklüftete, blutbespritzte Wand. Sie hatte Schwierigkeiten zu atmen, und ihr Herz – das nun wegen dieses verfluchten Aeron in zwei Hälften zerbrochen war – pochte heftig.

Sie ließ ihre lange gespaltene Zunge herausfahren und leckte sich die Tränen ab. Während das beißende Gift jeden anderen schluchzend in die Knie gezwungen und um Gnade hätte betteln lassen, verursachte es bei ihr lediglich etwas mehr der stechenden Schmerzen. So sehr hatte sie sich gewünscht, der Engel würde an ihrem Gift sterben, doch es war anders gekommen. Aeron war zu entschlossen gewesen, ihn zu retten, und was Aeron wollte, schaffte er auch. Immer.

Was sollte sie nun machen? Als sie Aeron zum ersten Mal gesehen hatte – damals war er angekettet und blutdurstig gewesen –, hatte sie sich sofort in ihn verliebt. Er hatte sein tödliches Verlangen bekämpft, hatte sich gehasst für diesen inneren Drang, und noch nie zuvor war sie jemandem begegnet, der lieber rettete, statt zu vernichten. Sie hatte gedacht: Er kann mich retten.

Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte sie beschlossen, mit Aeron zu leben. Ihn zu heiraten. Jede Nacht in seinem Bett zu schlafen und jeden Morgen neben ihm aufzuwachen. Leider hatte Aeron seinen Freund Maddox beauftragt, ihr ein eigenes Bett zu bauen. Aber trotzdem hatte sie sein Ein und Alles sein wollen. Und immer war sie sich sicher gewesen, dass sie nur ein bisschen Zeit brauchte.

Doch Zeit war ein Luxus, den sie sich nun nicht mehr leisten konnte. Sie konnte nicht in ihr Zuhause zurückkehren, weil er den Engel zum Bleiben eingeladen hatte. Diese dumme, hässliche Engelsfrau mit ihren langen Locken und ihrer wolkenblassen Haut. Legion konnte es – genau wie alle anderen Dämonen – nicht lange aushalten in Gegenwart solcher Güte. Es tat weh. Furchtbar weh. Es höhlte sie aus und zerstörte sie Stück für Stück.

Aeron tut nichts weh, dachte sie finster. Wie hätte es auch? Er hatte die Schlampe mit offenen Armen empfangen. Vielleicht lebte Zorn schon zu lange unter Menschen, sodass er nicht mehr so auf den Engel reagieren konnte, wie es sich für einen Dämon eigentlich gehörte. Vielleicht war Zorn auch zu tief in Aeron vergraben.

So oder so – Aeron hätte sich für Legions Schmerz interessieren sollen. Doch das hatte er nicht. Genauso wie er sich nicht länger für sie interessierte. Er hatte sie fortgeschickt.

„Was ist los, liebes Kind?“

Als plötzlich eine Stimme in ihre Gedanken eindrang, holte Legion erschrocken Luft und starrte den Ankömmling mit weit aufgerissenen Augen an. Sie hatte ihn nicht kommen hören, und doch stand er direkt vor ihr, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht. Oder als hätte er die ganze Zeit unsichtbar dort gewartet.

Ein Zittern durchlief sie von Kopf bis Fuß. Am liebsten wäre sie davongelaufen, doch der Fels in ihrem Rücken hinderte sie daran. Schlimm, schlimm, schlimm. Das war ganz schlimm. Sie konnte kaum hoffen, diesen Besuch zu überleben.

„Lass mich in Ruhe!“, presste sie irgendwie hervor, obwohl ihr ein dicker Kloß in der Kehle saß. Ein Knoten aus Abertausenden Schluchzern.

„Weißt du, wer ich bin?“, fragte er sanft und anscheinend kein bisschen beleidigt.

Oh ja. Das wusste sie. Daher auch die Schluchzer. Vor ihr stand Luzifer, Bruder des Hades und Prinz der meisten Dämonen. Er war das Böse. Das wahre, pure Böse.

„Liebes Kind“ hatte er sie genannt. Ha! Sobald sie ihm den Rücken zukehrte, würde er ihr lachend einen Dolch hineinstoßen. Nur als „kleines Späßchen“, wie Anya sagen würde. Sie schluckte.

„Nun?“ Er schnippte mit den Fingern, und im nächsten Augenblick standen sie beide in der Mitte seines Thronsaals. Statt aus Stein und Mörtel bestanden die Wände von Luzifers Palast aus knisternden Flammen. „Das ist doch eine einfache Frage. Weißt … du … wer … ich … bin?“

„Ja … Ich weisss esss.“ Legion war erst zweimal hier gewesen, doch schon das erste Mal, nämlich als sie in dieses Reich hineingeboren worden war, hatte gereicht, sie davon zu überzeugen, dass sie niemals zurückkehren wollte. Beim zweiten Mal war sie hergebracht worden, um bestraft zu werden, weil sie sich geweigert hatte, eine Menschenseele zu quälen.

„Konzentrier dich“, schnappte Luzifer.

Sie blinzelte und zwang sich, sich zusammenzureißen. Vom Boden, von den Wänden, ja selbst von dem erhöht stehenden Thron stiegen dunkle Rauchwolken auf und wanden sich um ihren Körper wie die Finger der Verdammten. Aus diesen Schwaden tönten Schreie, die sie verhöhnten.

Wie hässlich, sagten sie.

Wie dumm.

Wie unnütz.

Ungewollt. Unerwünscht.

„Ich habe dir noch eine Frage gestellt, Legion. Und du wirst sie beantworten.“

Obwohl sie überall hinsehen wollte außer zu ihm, zwang sie sich, ihm in die Augen zu blicken. Luzifer war groß und hatte glänzendes schwarzes Haar und orange-goldene Augen. Er war muskulös, wie Aeron, und trotz des Infernos, das in seinem Gesicht lauerte, attraktiv – wenn auch nicht so attraktiv wie Aeron.

Was hatte er gefragt? Ach ja: Was mit ihr los war. „Ich …“ Was sollte sie ihm erzählen? Auf jeden Fall eine Lüge, aber eine, die er ihr abkaufte. „Ich wollte nur ein Spiel spielen.“

„Ein Spiel, hm?“ Er verzog den Mund zu einem boshaften Grinsen, während er sie umkreiste, näher kam, sie von oben bis unten musterte und eindeutig für mangelhaft befand. „Ich habe eine bessere Idee.“

Sein heißer Atem streifte ihren Nacken, und sie erschauderte. Wenigstens jagte er ihr nicht wie befürchtet ein Messer in den Rücken. „Ja?“

„Wir werden ein Geschäft machen, du und ich.“

Ihr drehte sich der Magen um. Seine Geschäfte waren berüchtigt, denn sie verliefen immer zu seinem Vorteil. Auf diese Weise war er für ein Jahr der Hölle entkommen und hatte unbehelligt auf der Erde gelebt. Damals hatte er mit der Göttin der Unterdrückung gefeilscht, die dafür verantwortlich gewesen war, die Wände, die dieses unterirdische Gefängnis umgaben, fest und undurchdringlich zu halten. Derjenigen, der viele dämonische hohe Herren entflohen waren. Derjenigen, die dann gestorben war und aus deren Knochen man die Büchse der Pandora gefertigt hatte.

„Nein?“, sagte sie, und obwohl es als Aussage gemeint war, kam das Wort als Frage aus ihrem Mund.

Luzifer stand nun wieder vor ihr. „Tz“, machte er. „Sei doch nicht so voreilig. Du hast dir mein Angebot ja noch nicht mal angehört.“

Es wäre nicht gut für sie, so viel konnte sie jetzt schon sagen. „Ich … sssollte jetzzzt gehen.“

„Noch nicht.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und glitt zu seinem Thron, auf dem er vollkommen entspannt und selbstsicher Platz nahm. Rauch erreichte ihn, hüllte ihn ein, und kurz darauf folgten Flammen, die um ihn herumtänzelten, als wären sie glücklich, in seiner Nähe zu sein.

Als Legion versuchte, ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen zu verlagern, bemerkte sie, dass ihre Füße wie festgeschweißt waren. Sie würde nicht gehen können. Nicht ehe er mit ihr fertig wäre. Trotzdem geriet sie nicht in Panik. Schließlich hatte sie schon zuvor Schläge eingesteckt – und überlebt. Sie hatte grausame Beleidigungen über sich ergehen lassen müssen – und darüber gelacht. Man hatte sie in scheinbar bodenlose Gruben geworfen und auf Eisfelder gestellt, und sie war unfähig gewesen zu fliehen.

„Ich kann dir helfen, zu bekommen, was du willst“, sagte Luzifer. „Etwas, für dessen Besitz du alles tun würdest.“

Ha! Er könnte ihr nichts anbieten, das sie …

„Ich kann dir helfen, Aerons Herz zu erobern.“

Einen Moment lang vergaß sie zu atmen. Erst als Lunge und Kehle zu brennen begannen, zwang sie sich, den Mund zu öffnen und Luft zu holen. Er konnte … was?

„Genau wie du hier gerne für die Herren der Unterwelt herumspionierst“, ein bitterer Beiklang mischte sich in seine Stimme, als er die Herren erwähnte, „spioniere ich gern auf der Erdoberfläche herum. Ich weiß, dass du in Aeron verliebt bist, in den Hüter meines Schätzchens Zorn.“

Als sie seinen Hohn wahrnahm, reckte sie das Kinn. „Er liebt mich auch. Dasss hat er mir ssselbssst gesssagt.“

Luzifer zog eine Augenbraue hoch. „Bist du dir da ganz sicher? Er war ja ziemlich wütend, als du seinen wertvollen Engel verletzt hast.“

Als er das Wort „wertvoll“ benutzte, um diese Engelsschlampe zu beschreiben, begannen rote Punkte ihre Sicht zu trüben. Sie war Aerons wertvoller Schatz. Sie. Und sonst niemand.

Luzifer winkte majestätisch mit der Hand, woraufhin die Luft vor Legion dicker wurde und Staubkörnchen aufwirbelten. Farben wurden lebendig. Dann war Aeron da, beugte sich hinab und führte sanft das Handgelenk des Engels an seinen Mund. Er saugte das Gift heraus, das Legion ihr bei ihrem Biss injiziert hatte, und ihr geschmeidiger Körper beruhigte sich.

Der Anblick seines Mundes auf dem Leib dieses widerwärtigen Eindringlings ließ die roten Punkte noch greller werden und Wut durch ihren Körper wallen. Wut und Hass und Entschlossenheit.

„Wie wirssst du mir helfen?“, hörte sie sich fragen. Die Szene verschwand, und sie sah Luzifer wieder in die Augen. Vielleicht wäre es ja doch nicht so verkehrt, mit ihm zu verhandeln. Vielleicht ginge sie ja als Siegerin hervor. Immerhin war sie schlau. Und erfinderisch. Oder?

„Lass uns der Wahrheit ins Gesicht sehen“, sagte er und ließ seinen Blick über ihren geschuppten Körper wandern. „Hässlicher als du kann eine Kreatur wirklich nicht sein.“

Ihre Kinnlade klappte herunter, als der Schmerz sie in wiederkehrenden Wellen traf und sie versuchte, zurückzuweichen und sich davor zu verstecken. Sie war nicht hässlich. Oder? Sie war anders als Aeron, ja. Sie war auch anders als der Engel. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie hässlich war.

„Ich kann deine Gedanken geradezu hören. Gestatte mir, mich dazu zu äußern. Ja, du bist wirklich hässlich. Im Grunde ist es sogar noch nett, dich als hässlich zu bezeichnen. Ich halte es kaum aus, dich anzusehen. Um meinen Magen zu beruhigen, muss ich an deinem Gesicht vorbei über deine Schulter schauen, während wir diese Unterhaltung führen.“

Dann war sie also hässlich. Abscheulich. Ein Ungeheuer. Selbst der Teufel persönlich konnte es nicht ertragen, sie anzusehen. Ihr traten Tränen in die Augen. „Und, wie wirssst du mir helfen?“, wiederholte sie ihre Frage.

Er blickte auf seine gelben, krummen Fingernägel und sagte dann fast schon beiläufig: „Dank der großen Macht, über die ich verfüge, kann ich dich hübsch machen.“

„Wie denn?“, hakte sie nach.

„Zunächst würde ich dir seidiges, wallendes Haar geben. In jeder Farbe, die du dir wünschst, und tausendmal schöner als das des Engels. Danach würde ich dir weiche, glatte Haut geben. Auch hier in genau der Farbe, die du dir wünschst. Ich würde dir einen Schlafzimmerblick geben, dem kein Mann widerstehen kann. Und einen großen, schlanken Körper mit üppigen Brüsten. Danach sind die Männer nämlich ganz verrückt. Und obwohl eine gespaltene Zunge im Bett durchaus ihre Vorzüge hat, würde ich sie dir vermutlich trotzdem nehmen. Denn dein Lispeln ist ganz schön nervig.“

Er konnte sie hübsch machen? Hübsch genug, um Aerons Herz zu erobern? In ihrer Brust keimte Hoffnung auf; allein der Gedanke daran, endlich mit dem Mann ihrer Träume zusammen zu sein – mit ihm als Ehepaar zusammenzuleben –, ließ sie einen Vorbehalt nach dem anderen über Bord werfen. „Wasss verlangssst du im Gegenzzzug?“

„Ach so. Das“, erwiderte er mit einem Schulterzucken, als wäre es kaum von Bedeutung. „Alles, was ich von dir verlangen würde, wäre, in deinem neuen Körper wohnen zu dürfen.“

Sie runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht. Wie soll ich Aeron gewinnen, wenn ich nicht … ich ssselbssst bin? Wie könnte ich Aeron gewinnen, wenn du ich bissst?“

Er schloss die Augen und massierte sich die Nasenwurzel. „Wie ich sehe, bist du auch noch dumm, also müssten wir uns darum auch noch kümmern. Ich meinte nicht, dass ich sofort in deinem neuen Körper wohnen würde, meine unterbelichtete Freundin. Das würde ich nur tun, falls du ihn nicht für dich gewinnen kannst.“

Ihr Stirnrunzeln wurde stärker. Schön zu sein bedeutete also nicht automatisch, dass sie sein Herz gewinnen würde?

Er quittierte ihr Schweigen mit einem Kopfschütteln. „Anscheinend hat es nichts genützt, mit dir wie mit einem Kind zu sprechen. Was kann ich nur tun, damit du mich verstehst?“

Ihre Wangen begannen zu glühen, und das hatte nichts mit der Hitze zu tun, die sie umgab. Sie war weder dumm noch ein Kind, verflucht! „Du versssuchssst, mich absssichtlich zzzu verwirren.“

„Nein, eigentlich nicht. Ich will nämlich nicht, dass du später behauptest, ich hätte dich über den Tisch gezogen. Also hör mir gut zu: Ich werde dir neun Tage geben, um Aeron zu verführen. Ich würde ja gern sagen, du brauchst ihm nur eine Liebeserklärung aus dem Kreuz zu leiern, aber das hast du ja bereits. Was du noch nicht hast, ist sein sexuelles Interesse, und das ist es ja, was du eigentlich willst. Also lock ihn in dein Bett – er muss natürlich freiwillig mitkommen –, und du hast unsere Abmachung erfüllt. Dann kannst du deinen neuen Körper behalten und bis ans Ende deiner Tage glücklich leben. Ohne dass ich mich einmische.“

Alles klang fair und wunderbar und perfekt. Alles außer dem Timing. „Warum nur neun Tage?“

„Spielt der Grund denn eine Rolle? Er würde an der Abmachung nichts ändern.“

Aha, er wich ihr aus. Natürlich spielte der Grund eine Rolle. „Verrate ihn mir“, forderte sie eindringlich.

„Na gut. Neun ist meine Lieblingszahl.“

Das war ganz klar eine Lüge. Sie könnte ihn natürlich weiter drängen, aber … War es wirklich wichtiger, die Wahrheit zu erfahren, als die Chance auf etwas zu bekommen, das sie sich von ganzem Herzen wünschte?

Nein.

„Und wenn ich esss nicht schaffe?“, fragte sie. Zwar hatte er ihr schon gesagt, was dann geschähe, aber sie wollte jedes Detail erfahren.

„Nun ja.“ Mit den Fingerspitzen zeichnete er Kreise auf die Armlehnen seines Throns. „Wenn du es nicht schaffst, ihn in der vereinbarten Zeit ins Bett zu kriegen – um mit ihm zu vögeln, nicht um neben ihm zu schlafen –, musst du mir erlauben, deinen neuen Körper zu besitzen, wie ich bereits sagte. Und zwar, solange ich will.“

Da war es. Das letzte Detail. Er hätte so lange die Kontrolle über sie, „wie er wollte“. In anderen Worten: für immer.

Aber welches Interesse hätte er daran … Die Antwort traf sie wie ein Schlag in die Magengrube, und sie schnappte nach Luft. Luzifer betrachtete sie als sein Ticket für die Flucht aus der Hölle. Weil Legion nicht an die Hölle gebunden war, sondern an Aeron, konnte sie diesen Ort jederzeit verlassen. Im Gegensatz zu Luzifer. Er war hier gefangen.

Wenn sie ihm nun erlaubte, Besitz von ihr zu ergreifen, könnte auch er jederzeit gehen. Was immer er wollte, ihr Körper würde es ausführen. Sie wäre immer noch irgendwo darin, doch ihre Wünsche wären nicht länger von Bedeutung.

Wenn es nur darum gegangen wäre, die Kontrolle über ihren Körper zu übernehmen und ihn für seine Flucht zu missbrauchen, hätte Luzifer seine Zeit nicht mit Verhandlungen verschwendet. Aber so einfach war es nicht. Ohne Erlaubnis konnten Dämonen keine Körper besetzen – weder menschliche noch irgendwelche anderen. Selbst die Dämonen in der Büchse der Pandora hatten den Segen der Götter gebraucht, um von den Herren Besitz zu ergreifen.

„Jetzt geht es nur noch darum, ob du glaubst, dass du es schaffst“, sagte Luzifer. „Glaubst du es? Ich denke schon, und deshalb komme ich mir beinahe albern vor, dir diesen Handel überhaupt anzubieten. Vielleicht war es ein Fehler.“ In einer fließenden Bewegung stand er auf. „Ich meine, es gibt andere, schwächere Dämonen, die ich …“

„Warte“, platzte es aus ihr heraus. „Warte kurzzz.“

Langsam setzte er sich wieder.

Sie durfte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Der Engel, der unfähig war zu lügen, hatte ihr gesagt, dass Aeron sie wie eine Tochter liebte. Dass er sich als ihre Vaterfigur betrachtete, würde sich niemals ändern – wenn sie nicht etwas Drastisches unternähme.

„Die Bedingungen müsssen noch genau fessstgelegt werden.“

„Ist das nicht bereits geschehen?“

„Nicht von meiner Ssseite.“

Theatralisch griff er sich an die Brust. „Du vertraust mir nicht?“

Sie schüttelte den Kopf. Eine Abmachung war bindend, selbst für Kreaturen wie sie. Sobald der Handel besiegelt wäre, wäre er ein Teil von ihr, so wie ein eigenständiges Lebewesen in ihr, und sie könnte ihre Meinung nicht mehr ändern. Wenn sie versagte, müsste sie ihr Versprechen einlösen, ohne in der Lage zu sein, sich davon abzuhalten.

„Ich bin tief getroffen, aber ich komme schon damit klar“, sprach er weiter. „Sag mir genau, was du von mir verlangst.“

Denn andernfalls bekäme sie nicht mehr als das, sondern ganz sicher weniger. „Ich musss hübscher sssein als der Engel. Ich will blonde Haare, goldene Haut, braune Augen und grossse Brüssste.“ Dann wäre sie das komplette Gegenteil von dieser kleinen Schlampe. „Ich will die gesssamten neun Tage, ohne Zzzeitabzzzüge.“ Während sie sprach, wuchs ihre Aufregung. Sie würde es wirklich tun. Sie würde wirklich versuchen, Aerons Herz zu erobern. „Und ich will wach sssein, wenn ich bei ihm bin.“

„Verdammt“, fluchte Luzifer, doch in seinen feurigen Augen lag ein amüsiertes Funkeln. „Du hast mich ertappt. Ich hatte eigentlich vor, dich bis zum Ablauf der Frist in ein Koma zu versetzen.“

Und sie hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Legion war stolz auf sich. Na also, sie war nämlich ganz und gar nicht dumm. „Und du darfssst ihn nicht töten. Wenn er stirbt, bevor die Zzzeit um ist, stirbt auch die Abmachung.“

„Einverstanden. Sind das deine einzigen Forderungen?“, fragte er, ganz der wohlwollende Gebieter.

„Ich will nicht mehr lissspeln, wie du gesssagt hasst. Ich will, ssso wie ich jetzzzt bin, direkt vor Aeronsss Augen erscheinen, nicht am anderen Ende der Welt. Ich will mich vor ssseinen Augen verwandeln.“ So würde sie verhindern, dass er sie für einen Köder oder eine Jägerin hielte und versuchte, sie loszuwerden, ehe sie ihn verführen könnte.

„Das ist machbar. Ist das alles?“

Sie schluckte, überlegte und nickte dann.

Abermals erhob er sich. Er breitete die Arme aus, und aus seinen Fingerspitzen begannen Flammen hervorzuzüngeln. „Damit gilt die Vereinbarung. Du sollst alles haben, was du verlangt hast. Aber falls du es nicht schaffst, Aeron, den Herrn der Unterwelt und Hüter des Dämons Zorn, binnen neun Tagen zu verführen, wirst du in diesen Thronsaal zurückkehren und aus freien Stücken meiner Besitzergreifung deines Körpers zustimmen.“

Noch ein Nicken.

„Sag es“, forderte er sie auf, und jetzt war er nicht mehr der freundliche und wohlwollende Mann, als der er sich ausgegeben hatte.

„Ssso sssoll esss sssein.“

Kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, durchzuckte sie ein stechender Schmerz. Grunzend krümmte sie sich. Sie konnte nicht atmen, wurde schwächer, und jeder einzelne Muskel ihres Körpers verkrampfte sich. Doch genauso schnell wie der Schmerz gekommen war, als sich die Abmachung tief in ihrem Innern einnistete, verließ er sie auch wieder, und sie richtete sich auf.

„Damit ist es vollbracht“, sagte Luzifer. Dann schenkte er ihr dasselbe böse, zufriedene Lächeln, mit dem er sie schon bedacht hatte, als er sie zum ersten Mal hergebracht hatte. „Hatte ich eigentlich erwähnt, dass im Falle deines Versagens mein erster Tagesordnungspunkt sein wird, jeden einzelnen Herrn der Unterwelt zu töten und ihre Dämonen zu befreien?“

12. KAPITEL

Während die Nacht der Morgendämmerung wich und die Einwohner der Stadt allmählich erwachten und ihren Tag begannen, schlich Aeron an Paris’ Seite durch die Straßen. Beide bewegten sich leise und waren sorgfältig darauf bedacht, im Schatten zu bleiben. Vielleicht war Paris, der sich diesmal ohne Zögern für eine Bettgefährtin entschieden hatte – ob das hieß, dass er endlich über Sienna hinwegkam? –, ja genauso in Gedanken wie Aeron, als sie zurück zur Burg gingen.

Olivia hatte sich in den Schlaf geweint, und er hatte sie die ganze Zeit festgehalten. Als sie endlich in einen sanften Schlummer geglitten war, hatte er sie in Gillys Wohnung gebracht – in dem Glauben, die Dinge würden dadurch einfacher. Wenn sie nicht mit ihm sprechen könnte, könnte sie ihn auch nicht in Versuchung führen, seine Pläne über den Haufen zu werfen. Allerdings hatte er die Wohnung nicht sofort verlassen. Da Paris noch etwas Zeit mit seiner Auserwählten gebraucht hatte, hatte Aeron sich noch ein Weilchen neben den Engel gekuschelt.

Von Neuem hatte er festgestellt, dass er sie gerne im Arm hielt. Was erst recht ein Grund war, sie endlich loszuwerden. Doch als er irgendwann gegangen war, und zwar in der Absicht, für immer zu gehen, war er sich nicht mehr sicher gewesen, ob er sie überhaupt noch loswerden wollte. Nicht, dass er sich da jemals sicher gewesen wäre, aber verflucht, seine Entschlossenheit war gehörig ins Wanken geraten.

Sie in Gideons Armen zu sehen hatte in ihm einen Besitzanspruch geweckt, den er nie für möglich gehalten hätte, und die vorherigen Zwischenfälle mit William und Paris waren ihm plötzlich bedeutungslos vorgekommen. Der Gedanke, wie Olivia allein durch die Straßen streifte, und zwar fest entschlossen, einfach nur Spaß zu haben, für jeden eine leichte Beute … Aeron biss fest die Zähne aufeinander, wie jedes Mal, wenn er an sie dachte.

Ein Mann kam vorbei und weckte seine Aufmerksamkeit. Ein Mensch. Mitte zwanzig. Groß. Sogleich begann Zorn wild zu knurren und versuchte, sich seinen Weg in die Freiheit zu bahnen, während er Bilder von Wurstfingern übermittelte, die mit einem lauten Klatschen auf das Gesicht einer schluchzenden Frau trafen.

Einer, der Frauen schlägt, stellte Aeron fest, während Zorn immer mehr dieser Bilder durch seinen Kopf schickte.

Du bist so was von wertlos, schrie der Mann häufig, wobei ihm Speicheltropfen aus dem Mund flogen. Ich weiß nicht, warum ich dich überhaupt geheiratet habe. Du warst schon damals eine fette Kuh, und heute bist du sogar noch fetter.

Ausnahmsweise versuchte Aeron nicht, sich zu beherrschen. Was, wenn Olivia das Ziel dieser Wut gewesen wäre? Oder Legion? Er ließ seinen Dämon von der Leine, und in diesem Moment liebte er ihn mehr, als gut war – ohne den ewigen Makel der Schuld. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und folgte seinem Opfer. Der Mann keuchte erschrocken, als Aeron ihn packte und herumwirbelte.

„Was willst du, zum Teufel?“

„Aeron“, rief Paris.

Aeron ignorierte ihn. „Du widerst mich an, du unbedeutendes Stück Scheiße. Warum versuchst du nicht, mich zu schlagen?“

Der Mann wurde blass und begann zu zittern. „Ich weiß weder, wer du bist, noch, wofür du dich hältst, aber du gehst mir besser sofort aus den Augen, Arschloch.“

Ein Tourist, dachte er, sonst hätte der Widerling ihn erkannt. „Sonst was?“ Aeron lächelte langsam und grausam. „Beleidigst du mich sonst noch mal?“

Tief in der Kehle des Mannes grollte ein Knurren. Er hat ein Messer in der Hosentasche, wusste Aeron auf einmal. Er wollte Aeron in den Bauch stechen und in den Hals. Er wollte zusehen, wie er verblutete.

Ohne Vorwarnung schlug Aeron zu. Mit der rechten Faust traf er den Mann an der Nase. Er grunzte und heulte vor Schmerzen auf. Blut spritzte. Aeron ließ ihm keine Atempause, sondern holte mit der Linken aus. Er schlug seinem Opfer auf den Mund und zerfetzte ihm dabei die Lippen. Das Heulen verwandelte sich in einen Schrei.

Aeron war noch nicht fertig.

Kann nicht fair kämpfen. Muss verletzen. Zorn hatte voll und ganz die Kontrolle übernommen.

Doch das kümmerte Aeron nicht.

Während der Mann versuchte, sich zu orientieren und davonzulaufen, rammte Aeron ihm ein Knie in die Weichteile. Sein Gegner krümmte sich und stieß zwischen den blutenden Lippen einen Schwall Luft aus. Keine Gnade. Die hatte dieser Bastard auch nie walten lassen. Aeron trat ihm gegen die Schulter, und er flog nach hinten. Danach hatte er zu starke Schmerzen, um sich aufzurichten, geschweige denn um sich verteidigen zu können.

Aus tränenerfüllten Augen starrte er zu Aeron herauf. „Tu mir nicht weh. Bitte, tu mir nicht weh.“

„Wie oft hat deine Frau dich schon darum angefleht?“ Aeron ging über ihm auf die Knie und nagelte seine Hüfte mit seinem Körpergewicht auf den Boden.

Indem der blasse Mann eine Kraftreserve anbrach, von deren Existenz er bis zu diesem Moment vermutlich selbst nichts geahnt hatte, versuchte er rückwärts unter Aeron wegzukriechen. Doch Aeron brauchte nur ein bisschen die Beine anzuspannen, und der Mistkerl blieb, wo er war.

„Bitte.“ Die Stimme des Mannes zitterte und klang verzweifelt.

Und dann schlug Aeron wieder und wieder zu. Seine Fäuste prasselten auf den Mann nieder, und mit jedem neuen Schlag flog sein Kopf von links nach rechts und wieder zurück. Noch mehr Blut spritzte. Es flogen sogar Zähne wie Bonbons aus seinem Mund. Seine Haut platzte auf, und seine Knochen brachen.

Schon bald war weder ein Grunzen noch ein Keuchen zu hören.

Aeron spürte eine Hand auf der Schulter. „Du hast ihn bestraft. Du kannst jetzt aufhören“, sagte Paris hinter ihm.

Aeron hielt in seiner Bewegung inne. Er atmete schwer, und seine Fingerknöchel pochten. Zu leicht. Das war zu leicht gewesen. Der Mann hatte für den Schaden, den er angerichtet hatte, nicht genug bezahlt. Aber vielleicht hat er eine Lektion gelernt, sagte eine Stimme in Aerons Kopf. Sein Verstand arbeitete wieder, was bedeutete, dass er offenbar die Kontrolle wiederhatte.

„Lass uns nach Hause gehen“, schlug Paris vor.

Nach Hause? Nein. Er war nicht bereit, in sein Zimmer zurückzukehren – und sein Bett zu sehen, in dem er Olivia geküsst und angefasst hatte. Trotzdem stand Aeron auf. Er verpasste dem Mann einen letzten Tritt in die Rippen, ehe er seinen Freund ansah. „Ich brauche ein bisschen Zeit für mich.“

Einige Momente, in denen Paris den harten Gesichtsausdruck seines Freundes studierte, verstrichen in völliger Stille. Schließlich nickte er. „In Ordnung. Vielleicht solltest du sie nutzen, um runterzukommen. Wirklich, Mann …“

„Habe ich vor.“ Nachdem Paris gegangen war, blieb Aeron an Ort und Stelle und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Ich habe die Kontrolle, sagte er sich, obwohl er sie eigentlich noch gar nicht wiederhaben wollte. Ich habe die Kontrolle.

Zorn streifte weiter durch seinen Kopf. Er taumelte in einem glückseligen Blutrausch und war bereit für sein nächstes Opfer.

Er brauchte Legion.

Oder Olivia, war sein nächster Gedanke.

Sein Herz begann heftig zu pochen, und es dauerte einen Moment, bevor er den Grund dafür realisierte. Eine Mischung aus Erregung und Reue prasselte genauso auf ihn ein, wie seine Schläge auf den Menschen niedergeprasselt waren. Olivia war weder aufgewacht, als er sie in Gillys Gästezimmer gebracht hatte, noch als er Gilly Anweisung gegeben hatte, ihn anzurufen, sobald sie aufwachte. Anbetungswürdig hatte sie mit zerwühltem Haar auf dem Bett gelegen und ganz entzückend geschnarcht. Den Drang niederzukämpfen, sich wieder neben sie zu legen, hatte sich als fast unmöglich herausgestellt. Doch er hatte es geschafft. Er war losgezogen, um Paris zu holen.

Vielleicht sollte ich zu ihr zurückgehen, dachte er – und bevor er sich davon abhalten konnte, lief er auch schon in Richtung von Gillys Wohnung. Rat suchend blickte er zum Himmel. Doch sein Blick schaffte es nicht mal bis zu den Sternen. Stattdessen erspähte er weiß gefiederte Flügel und blieb stehen.

Galen. Anführer der Jäger. Falscher Engel. Bastard.

Automatisch packte Aeron zwei Messer und drückte sich noch tiefer in die Schatten. Er hätte nicht ohne Pistole in die Stadt kommen sollen, aber er war so mit Olivia beschäftigt gewesen, dass er nicht an zusätzliche Bewaffnung gedacht hatte. Galen saß mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Hausdach, während sein Blick die Straßen absuchte.

Falls er wusste, dass Aeron ihn von unten beobachtete, ließ er es sich nicht anmerken.

Die ganze Zeit über heulte Zorn laut in Aerons Kopf. Galen hatte so viele Sünden begangen, dass der Dämon sie nicht verarbeiten konnte. Stattdessen wurde Aeron einfach überrollt von dem Bedürfnis zu töten. Kontrolle. Absolute Kontrolle. Diesmal durfte er sie nicht verlieren.

Unerwartet richtete Galen sich auf. Aeron presste sich an die Hauswand in seinem Rücken. Er war sich sicher, entdeckt worden zu sein, wollte jedoch nicht unverrichteter Dinge fliehen. Vielleicht würde er die Sache heute Nacht endlich zu Ende bringen.

Galen sprang vom Dach und fiel scheinbar endlos in die Tiefe. Er breitete seine Schwingen noch etwas weiter aus, tat einen Flügelschlag und legte nur wenige Meter vor Aeron eine sanfte Landung hin.

Aerons Muskeln spannten sich an. Er konnte Galen zwar nicht ohne schwere Konsequenzen töten, aber er könnte den elenden Mistkerl foltern, bevor er ihn einsperrte. Und ihn danach noch mal foltern.

Eine Sekunde nach der anderen verstrich. Doch Galen ließ nur die Flügel in seinem Rücken verschwinden und wartete. Er näherte sich keinen Zentimeter.

Aeron musste alles an Selbstbeherrschung aufbringen, was er in sich trug, um nicht auf ihn loszugehen. Manchmal war Angriff in einem Krieg eben nicht die beste Vorgehensweise. Manchmal erzielte man mit bloßem Abwarten und Beobachten die größeren Erfolge. Was ging hier vor? Was machte Galen in Budapest?

Sicher, er war schon öfter hergekommen. Doch vor nicht allzu langer Zeit hatte er die Stadt verlassen, um einen Stoßtrupp der Herren zu bekämpfen. In Chicago hatten sie eine Einrichtung überfallen, in der Galen Halblingkinder großgezogen – und ausgebildet – hatte. Kinder, die halb Menschen, halb Unsterbliche waren. Und jedes von ihnen war gelehrt worden, die Herren zu hassen.

Nun lag die Schule in Schutt und Asche. Die Herren hatten die Kinder befreit und fürsorgliche Familien für sie gefunden. Familien, die die Jäger hoffentlich niemals aufspürten.

War Galen hier, um sich zu rächen?

Bestrafen, forderte Zorn.

Noch nicht.

„Endlich“, sagte Galen, und seine volle Stimme durchbrach die Stille.

Aeron suchte mit seinem Blick die Umgebung ab, konnte jedoch niemanden entdecken. Mit wem sprach Galen? Mit sich selbst? Oder …

Unmittelbar vor Galen erschien ein Paar Beine. Nur gehörten diese Beine zu keinem Oberkörper. Was, zur Hölle, war das? Er hatte die Frage kaum zu Ende gedacht, da erschien eine Taille und kurz darauf Schultern, Arme – und da, auf der Innenseite des Handgelenks dieser … Erscheinung, prangte das Unendlichkeitssymbol, das Erkennungsmerkmal der Jäger – und zuletzt ein Gesicht. Dann stand die vollständige Gestalt eines Mannes auf der Straße vor Galen und hielt ein Stück dunklen, fließenden Stoffs in der Hand.

Er war kein Gespenst, denn er hatte keine schimmernde Kontur. Er war einfach nur ein Mann, der genauso aus Fleisch und Blut war wie Aeron. Aber wie hatte er … Stoff Das Wort hallte in Aerons Kopf wider, gefolgt von einem zweiten: unsichtbar.

Erstaunt und entsetzt riss er die Augen auf. Stoff. Umhang. Der … Tarnumhang?

„Das nehme ich.“ Galen konfiszierte den Umhang und faltete ihn einmal, dann noch einmal. Doch der Stoff wurde nicht etwa kleiner und dicker. Nein. Mit jedem Falten wurde er kleiner und dünner, sodass der Krieger kurz darauf nicht mehr als ein Blatt Papier in den Händen zu halten schien.

Oh ja. Das konnte nichts anderes sein als der Tarnumhang.

Galen steckte das Artefakt in seine Robe, als Aeron automatisch die Hand ausstreckte. Halt. Warte. Er ließ den Arm sinken. Zuerst die Informationen, dann das Artefakt.

„Hier sind überall Kameras“, sagte der Mensch. „Ich habe zwar noch keine gefunden, aber ich weiß, dass die Dämonen die Stadt überwachen.“

„Keine Sorge.“ Galen lachte süffisant. „Um die haben wir uns schon gekümmert.“

Ach, wirklich? Wie denn? Die Kameras waren nicht zerstört worden. Das hätte Torin ihm schon längst getextet. Hatte sich womöglich jemand in ihr System gehackt und spielte jetzt alte Aufnahmen ab? Das war in einem der Filme passiert, die er sich auf Paris’ Drängen hin hatte ansehen müssen. Oder könnten noch höhere Mächte am Werk sein?

Ab und an half Cronus den Herren. Es war also durchaus denkbar, dass ein anderer Gott die Jäger unterstützte.

„Kannst du bestätigen, dass ein Engel in ihrer Mitte lebt?“, fragte Galen.

„Ja, auch wenn sie nicht so mächtig zu sein scheint wie du.“

„Das sind nur wenige Engel. Und die Hälfte von ihnen ist weg?

„Ja“

Noch ein Lachen von Galen. „Ausgezeichnet. Jetzt geh wieder zu den anderen, und dann haltet euch versteckt, bis ich zurückkomme. Einige unserer Leute sind gestern verschwunden, und sogar unsere große Königin hat sie aus den Augen verloren. Sobald ich sie gefunden habe, können wir angreifen. Und diesmal werden wir keine Gnade zeigen.“

Bestrafen! brauste Zorn wieder auf.

„Keine Gnade? Aber ich dachte …“

Galen schüttelte den Kopf. „Sag den anderen, dass unser Experiment geglückt ist.“

Langsam verzog der Mann seinen Mund zu einem zufriedenen Grinsen. „Keine Gnade also.“

Galens weiße Flügel schnellten hervor, taten einen Schlag und standen dann still. Er zog die Augenbrauen hoch. „Meine Tochter. Sie soll am Leben und unversehrt bleiben.“ Mit diesen Worten erhob er sich in die Lüfte.

Seine überraschende Sorge um Gwen wird ihn auch nicht retten, dachte Aeron finster und stieg ebenfalls gen Himmel auf. Seine Flügel waren vollständig verheilt, und die Verfolgung von Galen wäre …

Von einem Augenblick auf den nächsten verschwand Galen.

BESTRAFEN!

Verdammt, fluchte Aeron innerlich. Ich kann nicht. Der Umhang war weg, außerhalb seiner Reichweite, und Galen gleich mit. Das Einzige, das er jetzt noch tun konnte, war, nach weiteren Informationen zu suchen. Auch wenn es sein Versagen nicht wieder wettmachte, wenn er welche bekäme.

Sein Blick fokussierte sich auf den Menschen unter ihm. Der Mann schlüpfte um Hausecken und zwischen parkenden Autos entlang, ohne dabei seine Umgebung aus den Augen zu lassen. Aeron folgte ihm. Schließlich betrat seine Beute den jüngst umgebauten Club Destiny – der nun einen neuen Eigentümer hatte und „The Asylum“ hieß – und kam nicht wieder heraus.

Hatten die Jäger hier ihr Lager aufgeschlagen?

Unmöglich. Da einige der Herren hier gern feierten, hatte Torin den ganzen Laden mit Überwachungskameras ausgestattet, die ihn schon längst über die Gegenwart ihrer Feinde informiert hätten. Außer …

Vielleicht war es doch nicht so unmöglich. Vielleicht waren die Kameras manipuliert worden, genau wie die in den Straßen?

Plötzlich machten noch andere Fragen sich in seinem Kopf breit. Welches Experiment war ihnen geglückt? Wohin waren Galens Männer verschwunden? Wer war ihre „Königin“?

Während Zorn immer noch wie verrückt schrie, zog Aeron sein Handy aus der Tasche und schrieb an Torin. Beruf ein Treffen ein. In zwei Stunden. Vorher musste er sich noch um ein paar Dinge kümmern. Um Olivia, um genau zu sein. Falls sie Antworten hätte, bekäme er sie aus ihr heraus. Währenddessen könnte sie seinen Dämon beruhigen, so wie er es ursprünglich geplant hatte. Hab was gefunden. Und Galen mit dem verdammten Tarnumhang gesehen.

Torin, der nie zu schlafen schien, antwortete auf der Stelle. In einer Stunde. Wenn du noch interessantere Infos hast als die vom Tarnumhang, muss ich ASAP davon wissen lassen.

Geht klar. Aeron steckte das Handy ein und machte sich auf der Stelle auf den Weg zu Gillys Appartement, wo er Olivia wecken und Antworten von ihr verlangen würde. Doch auf halber Strecke wurde er von einer großen, bedrohlichen Gestalt gestoppt.

Götterkönig Cronus sah mit gerunzelter Stirn auf ihn hinab. Wie immer trug er eine lange weiße Robe, und seine Füße waren mit Sandalen bekleidet. An seinen nackten Zehen bogen sich ungepflegte gelbe Fußnägel.

Doch Aeron fiel auf, dass er jünger aussah als je zuvor. Seine Haare waren nicht mehr von grauen Strähnen durchzogen, sondern dick und sandfarben. Sein Gesicht war beinahe faltenfrei und seine Augen von einem strahlenderen Braun, als Aeron es je gesehen hatte. Was hatte diese Verjüngung bewirkt?

„Mein Herr“, sagte er, sorgfältig darauf bedacht, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Der Gott erschien nur selten, wenn man ihn rief, hatte jedoch kein Problem damit, in den ungünstigsten Momenten ungebeten aufzutauchen.

Zorn, obwohl er immer noch in Angriffslaune war, spielte keine Bilder in Aerons Kopf ab. Allerdings tat er das bei diesem Gott auch sonst nie. Ähnlich wie in dem Moment, als er Galen erblickt hatte, verspürte er auch jetzt lediglich einen überwältigenden Drang. Diesmal jedoch nicht, zu töten, sondern – seltsamerweise – alles zu stehlen, was der Gott besaß. Aeron konnte dieses Bedürfnis weder verstehen noch deuten.

„Du hast mich enttäuscht, Dämon.“

Tue ich das nicht immer? „Das ist nicht der richtige Ort für so ein Gespräch. Die Jäger …“

„Niemand kann uns sehen oder hören. Dafür habe ich gesorgt.“

Genauso wie ein anderer Gott dafür gesorgt hatte, dass wir die Jäger nicht beobachten können? fragte er sich wieder. „Dann sag mir doch bitte, warum ich dich enttäuscht habe. Ich kann nämlich nicht eine Sekunde weiterleben, solange ich es nicht weiß.“

Cronus kniff die braunen Augen zusammen. „Dein Sarkasmus missfällt mir.“

Und wie Aeron nur allzu gut wusste, geschahen schlimme Dinge, wenn dem Götterkönig etwas missfiel. Aus einer solchen Verstimmung war zum Beispiel der Fluch des Blutrauschs auf ihn gefallen, der ihn und Zorn in den Wahnsinn getrieben und das Leben seiner Freunde in große Gefahr gebracht hatte. „Bitte entschuldige.“ Er verneigte sich, um den Hass zu verbergen, der mit Sicherheit in seinen Augen flackerte.

„Muss ich dich daran erinnern, dass Galens Tod für dich genauso wichtig ist wie für mich? Und trotzdem hast du dich von dem Engel ablenken lassen.“

„Ist es nicht genau das, was du wolltest?“, entfuhr es ihm.

Cronus machte eine abfällige Handbewegung. „Glaubst du wirklich, ich habe deiner albernen Bettelei irgendwelche Beachtung geschenkt? Ich will nicht, dass du abgelenkt wirst. Warum also sollte ich dir eine Frau schicken, die dich mit Sicherheit ablenkt?“

Das hatte er sich auch schon gefragt.

„Du musst sie loswerden.“

„Das versuche ich ja“, erwiderte er und ballte die Fäuste.

Behalten, blaffte sein Dämon.

„Dann streng dich mehr an“, befahl Cronus.

„Sie wird nur noch zehn … nein, neun Tage hier sein.“ Nun, da der Morgen nahte, hatte er wieder etwas von seiner Zeit mit ihr verloren. Und das war gut so. Ja, wirklich. „Danach kehrt sie in den Himmel zurück.“ Wohin sie gehörte. Dafür würde er schon sorgen.

Traurigkeit bohrte ihren giftigen Stachel in sein Herz, doch er ignorierte den Schmerz. Genau wie Zorns Gejammer.

Seine Worte schienen Cronus nur mäßig zu beschwichtigen. „Wenn nicht, werde ich …“

„Wirst du was?“ Ohne Vorwarnung tauchte plötzlich ein dritter Mann auf. Er war groß und muskulös und hatte helle Haare und dunkle Augen. Wie Galen hatte er Flügel. Nur dass seine aus purem Gold waren.

Lysander.

Aeron hatte den Kriegerengel erst wenige Male gesehen, und wie Olivia weckte auch er keine Bilder von abscheulichen Taten in seinem Kopf. Aeron verspürte keinerlei Drang, ihn zu bestrafen – was allerdings nicht hieß, dass er den Mistkerl mochte.

Sie ist zu gut für dich, hatte Lysander gesagt. Sieh zu, dass du sie nicht beschmutzt. Falls du es doch tust, werde ich dich und alle, die du liebst, unter die Erde bringen.

Aeron hatte den Engel weder damals noch jetzt in irgendeiner Form gespürt, und er hasste das Gefühl der Hilflosigkeit, das er dadurch in ihm weckte. Lysander hätte ihm die Kehle durchschneiden können, und er wäre nicht in der Lage gewesen, sich zu wehren.

Olivia hatte recht gehabt.

Cronus’ Gesicht nahm einen unvorteilhaften Weißton an. „Lysander.“

„Wenn du ihr wehtust“, sagte Lysander und feuerte dabei zornige Blick auf ihn ab, „wenn du ihr auch nur ein einziges Haar krümmst, werde ich dich vernichten.“

„Wie kannst du es wagen, mir zu drohen!“ Cronus bleckte knurrend die Zähne, und mit der Wut kehrte auch schlagartig die Farbe in sein Gesicht zurück. „Mir, dem Allmächtigen. Mir, der ich bin ein …“

„Ein Gott, ja, aber man kann dich töten.“ Lysander lachte ein humorloses Lachen. „Du weißt, dass ich niemals leere Drohungen ausspreche. Du hörst die Wahrheit in meiner Stimme. Wenn du ihr etwas antust, werde ich dich eigenhändig vernichten.“

Stille.

Dicht und schwer.

„Ich werde tun, was ich will“, erwiderte Cronus schließlich, „und du wirst mich nicht davon abhalten.“ Doch entgegen seiner Worte verschwand er im nächsten Augenblick.

Aeron kämpfte darum, seine Fassung zu bewahren. Noch nie war der Götterkönig vor etwas zurückgewichen. Dass er es nun getan hatte, vor einem Engel … das verhieß für Aeron, der weit weniger mächtig war, nichts Gutes.

„Nun zu dir.“ Lysander streckte die Hand aus, und auf einmal erschien ein Schwert aus Feuer. Noch ehe Aeron blinzeln konnte, spürte er die Spitze eben dieses Schwertes an seiner Kehle.

Seine Haut begann zu prickeln, und er kniff die Augen zusammen. „Geht es um die … Beschmutzung?“

„Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich mich danach sehne, dich zu töten“, sagte der Engel. „Kalt und gnadenlos.“

„Aber das wirst du nicht.“ Denn sonst hätte der Engel schon längst zugestochen. In dieser Hinsicht waren sie sich offenbar sehr ähnlich. Wenn es gerechtfertigt war, handelten Krieger, ohne zu zögern. Sie hielten nicht inne, um ein bisschen zu plaudern.

„Nein. Es würde Bianka nicht gefallen. Und Olivia auch nicht.“ Er ließ das Schwert sinken, dann verschwand es. „Ich will sie zurück, aber sie … mag dich.“ Seine ehrliche Stimme troff vor Ekel. „Deshalb wirst du leben. Vorerst jedenfalls. Aber ich will, dass du dafür sorgst, dass es ihr schlecht geht und sie das sterbliche Leben hasst. Und ich will, dass sie währenddessen in Sicherheit ist.“

„Einverstanden.“

„So einfach?“ Die dunklen Augen wurden größer. „Du willst sie nicht behalten?“

Wollen? Das schon. In diesem Augenblick, beim Gedanken daran, sie ein für alle Mal zu verlieren, musste er zugeben, dass ein Teil von ihm sie tatsächlich behalten wollte. Zumindest eine Zeit lang. Er wollte ihr helfen, Spaß zu haben, wollte sie lächeln sehen und lachen hören. Er wollte sie wieder halten. Sie wieder küssen. Sie wieder berühren. Er wollte sich endlich in ihren süßen kleinen Körper versenken. Doch das würde er nicht. Sie gehörte in den Himmel, und er könnte in das Leben zurückkehren, das er sich aufgebaut hatte. Ein Leben ohne Komplikationen oder Sorgen. Nun ja, abgesehen von den bevorstehenden Versuchen von verschiedenen Seiten, sein Leben zu beenden.

Wenn sie auf der Erde bliebe, würde sie ein Mensch werden. Ein zerbrechlicher Mensch. Schon bald würde sie dahinwelken und sterben. Und er könnte nichts tun, als ihr dabei zuzusehen. Doch genau das würde er sich niemals gestatten. Bei niemandem. Nicht einmal bei ihr. Vor allem nicht bei ihr.

Meins, knurrte Zorn.

„Nein“, zwang er sich zu sagen – zu Zorn ebenso wie zu Lysander. Er würde die Forderungen seines Dämons weder länger ignorieren noch akzeptieren. Das war viel zu riskant. „Ich will sie nicht behalten.“ Im Gegensatz zu dem Engel konnte er schamlos lügen.

„Und trotzdem wünschst du dir, sie ganz und gar zu … beschmutzen?“

Er presste stur die Lippen aufeinander. Auf dieses Gespräch würde er sich nicht weiter einlassen. Allein beim Gedanken daran, mit ihr zu schlafen, reagierte sein Körper und wurde an den entsprechenden Stellen hart.

„Ich sehe, dass du es dir wünschst. Also gut.“ Vielleicht ließe er sich doch darauf ein. „Du kannst mit ihr … auf diese Art zusammen sein, wenn es das ist, wonach ihr euch beide sehnt. Ich werde dich nicht dafür bestrafen, denn niemand weiß besser als ich, dass eine Frau, die erpicht darauf ist zu verführen, unwiderstehlich ist. Und niemand kennt Olivia besser als ich. Wenn sie nicht alles erlebt …“, Lysander, der furchterregende Engel, errötete, „wird sie dich nicht verlassen. Also: Nach dem Akt wirst du dafür sorgen, dass es ihr schlecht geht, so wie ich es dir befohlen habe. Wenn du sie davon überzeugst, dich zu verlassen, ohne ihr körperlichen Schaden zuzufügen, werde ich mein Bestes tun, um den hohen Rat davon zu überzeugen, dich und deine dämonische Freundin zu verschonen.“

Lysanders Bestes hieße, er hätte Erfolg. Daran gab es für Aeron keinen Zweifel.

Was bedeutete, dass Aeron und Legion am Leben blieben und Olivia bis in alle Ewigkeit beschützt wäre. Olivia, die niemand besser kannte als Lysander. Diese Aussage berührte ihn mehr als alles andere – sogar mehr als die Aussicht darauf, verschont zu werden.

Er sollte derjenige sein, der sie am besten kannte.

Lysander wich einen Schritt zurück, dann noch einen. „Ich werde jetzt gehen, aber nicht, ohne dir die Informationen zu geben, nach denen du schon so lange suchst. Denn du kannst meinen Schützling nicht angemessen beschützen, wenn du nicht weißt, was um dich herum geschieht.“ Er wartete nicht auf Aerons Erwiderung. Doch Aeron hätte ohnehin nicht gewusst, was er hätte sagen sollen. Und mit den Worten, die in seinem Kopf umhergeisterten, hätte er Lysander womöglich eher vertrieben, statt ihn zum Fortfahren zu bewegen. „Du hast dich schon oft gefragt, warum Cronus sich weigert, Galen selbst zu töten. Der Grund dafür ist einfach. Cronus und seine Frau Rhea verachten einander. Sie haben sich in eurem Krieg auf gegensätzliche Seiten gestellt und geschworen, keinen der Herren eigenhändig gefangen zu nehmen oder zu töten. Ich schätze, das ist ihre Art, dafür zu sorgen, dass es in dem Krieg einigermaßen fair zugeht. Rhea ist Galens Schutzschild und Informantin.“

Also doch. Es gab tatsächlich einen Gott, der den Jägern half. Und zwar nicht irgendeinen, sondern die Königin der Titanen höchstpersönlich.

Er hätte es wissen müssen. Hätte es ahnen müssen. Aeron war ihr ein Mal begegnet, als die Titanen die Griechen besiegt und die Herrschaft über den Himmel übernommen hatten. Sie hatten ihn zu sich gerufen, um Informationen über die Herren aus ihm herauszubekommen. Rhea hatte genauso alt ausgesehen wie einst Cronus, mit silbergrauem Haar und knittriger Haut. Sie hatte so viel Kälte und Hass ausgestrahlt, dass es Aeron völlig aus der Fassung gebracht hatte – auch wenn ihn zu jener Zeit die Neuigkeit über den Wechsel in der himmlischen Führungsriege weitaus mehr bestürzt hatte.

„Und ich werde dir noch ein Detail verraten“, fuhr Lysander fort, „das dir mehr helfen wird als alles andere. Cronus und Rhea sind wie ihr.“

Wie sie? „Was meinst du damit?“

„Sie sind Götter, ja, aber sie sind auch Herren der Unterwelt. Sie ist vom Dämon Unfrieden besessen und er – er ist besessen von Habgier.“

13. KAPITEL

Olivia stöhnte. Ihre Schläfen pochten, und ihr Gehirn fühlte sich an, als wäre es mit Benzin getränkt und angezündet worden. Trotzdem öffnete sie die Augen. Sie musste unbedingt herausfinden, was mit ihr los war. Sogleich begannen sie zu tränen, und diese Tränen brannten noch heißer als ihr Kopf. Und nun, da sie allmählich ins Bewusstsein zurückkehrte, merkte sie, dass sich ihr Mund anfühlte, als hätte jemand einen viel zu großen Ball aus Stacheldraht und Baumwolle hineingestopft.

Verwirrt und besorgt bewegte sie schmatzend die Lippen.

„Braves Mädchen“, sagte Aeron. Obwohl die Worte an sich positiv waren, klang er abgespannt. Fast beunruhigt. Und laut. Viel zu laut. „Wach auf. Komm schon, Olivia. Du schaffst es.“

„Schhh.“ Irgendwie gelang es ihr, ihn durch den dichten Nebel anzusehen. Er hockte mit ausgestreckten Händen neben ihr. In der einen hielt er zwei kleine Tabletten, in der anderen eine Tasse mit etwas Dunklem, Dampfendem. „Bitte.“

„Du musst das hier nehmen und das hier trinken.“ Wenigstens flüsterte er diesmal.

Als Engel waren ihre Sinne nicht auf Genussmittel abgestimmt gewesen, und sie hatte nie riechen können, was die Menschen kochten, tranken oder sich auf ihre Körper sprühten. Doch jetzt konnte sie es riechen, und diese dunkle Flüssigkeit war göttlich. Sie war wie in eine Tasse gefüllte Energie und versprach einen Neuanfang, vielleicht sogar vollständige körperliche Heilung.

Die Menschen nannten sie Kaffee. Kein Wunder, dass sie sich in kilometerlangen Schlangen anstellten und bereit waren, für einen einzigen Schluck ihren letzten Cent auszugeben.

„Was ist das?“, krächzte sie und wies mit dem Kinn auf die Tabletten. Ein Fehler, denn die Bewegung löste einen unbeschreiblichen Schwindel aus.

„Nimm sie einfach. Danach wird es dir besser gehen.“

Diese Worte hatte er nicht geflüstert, und sie hielt sich die Ohren zu. „Hast du eine innere Stimme? Könntest du ab sofort bitte die benutzen?“

Er schloss die Hand mit den Tabletten zur Faust und schob ihr sanft die Hände von den Ohren. „Hör auf mit den Spielchen. Wir haben nicht viel Zeit.“

„Schhh! Jetzt spricht Livvie, und sie ist nicht abgeneigt, deine Stimmbänder zu durchtrennen, wenn du nicht bald leiser sprichst.“ Warum mochte sie diesen Mann noch gleich?

„Hoch mit dir. Jetzt.“

Behutsam setzte sie sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Ihr schmerzte immer noch der Kopf, und sie stöhnte.

Aeron starrte sie ungeduldig mit finsterem Blick an. Nein, nicht ungeduldig. Die Emotion in diesem Blick war finster, ja, aber was auch immer er fühlte, war stärker. Begieriger? Hatte ihr Stöhnen ihn etwa erregt?

Sie wollte sich ein wenig herrichten und schüttelte ihre Haare mit den Händen auf – nur um festzustellen, dass die Lockenmähne in unzähligen Knoten über ihre Schultern hing. Ihre Wangen brannten, als sie die Kapuze ihrer Robe aufsetzte. Oder besser: als sie es versuchte. Mit einem Stirnrunzeln sah sie an sich herab. Blaues Top, kurzer schwarzer Rock.

Warum war … Ach ja, ihr Schlampen-Styling. Oh ja! Aber das erklärte immer noch nicht ihre Kopfschmerzen. Als sie langsam die Wimpern hob, begegnete sie Aerons durchdringendem Blick. „Bin ich verletzt worden?“

Er schnaubte. „Von wegen. Du hast zu viel getrunken, und jetzt zahlst du den Preis dafür.“

Und Schmerz war nicht der einzige Preis, den sie zahlte. Auf einmal kam eine schreckliche Erinnerung nach der anderen hoch. Nach der ersten Flasche Lachsaft, der für sie offensichtlich gar nicht so lustig gewesen war, hatte sie sich furchtbar einsam gefühlt. Nach der zweiten Flasche hatte sie eine niederschmetternde Depression überkommen, und sie hatte unkontrollierbar geschluchzt. Gideon hatte sie gehalten, und sie hatte ihm die Ohren vollgeweint. Wegen Aeron. Wie demütigend.

Aeron hielt ihr die Hand an den Mund. „Nimm die Tabletten, aber zerkau sie nicht. Verstanden? Schluck sie am Stück runter.“

Konnte sie das? Plötzlich sahen die Dinger so groß aus wie Orangen. Ihr Arm zitterte, als sie die Tabletten von seiner Handfläche auflas und in ihren Mund warf. Sie versuchte, sie runterzuschlucken. Es klappte nicht. Igitt. Dieser Geschmack! Angewidert verzog sie das Gesicht.

„Trink. Das wird dir helfen.“ Er hielt ihr die dampfende Tasse an die Lippen und goss das Getränk in ihren Mund.

Olivia würgte. So wunderbar diese Flüssigkeit auch roch, sie schmeckte wie eine Mischung aus Batteriesäure und Dreck. Wie ladylike sie wohl rüberkäme, wenn sie alles aufs Bett spuckte?

„Runterschlucken“, befahl er barsch, während er die Tasse wegstellte.

Sie tat es. Schaffte es gerade so. Mit einem unangenehmen Scheuern rutschten die Tabletten ihre Kehle runter, und der widerliche Kaffee floss hinterher. Als sie aufhörte, sich zu schütteln, sah sie ihn an. „Tu mir das nie wieder an!“

Er verdrehte die Augen und setzte sich wieder auf seine Fersen. „Das hast du dir ganz alleine angetan, als du Gideon erlaubt hast, dich abzufüllen.“

Wie oft würde er sie wohl noch an ihre Torheit erinnern?

„Und jetzt möchte ich, dass du aufstehst, Livvie. Wir haben etwas zu erledigen.“

Im Augenblick wollte sie nur eins: zurück ins Bett. Ohne Aeron zu beachten, ließ sie sich auf die Matratze fallen und starrte an die Decke. Dort hing ein Poster mit einer Frau im Bikini. Ihre Haut war goldbraun, und ihre Brustwarzen waren hart. Lange blonde Haare wehten im Wind. Olivia runzelte irritiert die Stirn. Das hatte vorher noch nicht in Aerons Zimmer gehangen.

Jetzt sah sie sich genauer um, erkannte jedoch nichts wieder. Auf der Kommode aus Walnussholz stand eine Kristallvase, die in dem Licht funkelte, das durch die weißen Vorhänge fiel. An den Wänden hingen Stillleben, die Blumen in den verschiedensten Farben zeigten, und auf dem Fußboden lag ein hübscher beigefarbener Teppich.

„Das sieht nicht wie dein Zimmer aus“, sagte sie.

„Das liegt daran, dass es nicht mein Zimmer ist.“

Ihr Stirnrunzeln wurde stärker. „Und … wessen Zimmer ist es dann?“

„Deins. Du wirst hier bei Gilly bleiben, in diesem Gästezimmer. Kennst du Gilly?“ Er gab ihr keine Chance zu antworten. „Sowohl Paris als auch William haben hier schon gepennt. Deswegen das Poster. Egal, du wirst hierbleiben, bis du dich entschieden hast, in den Himmel zurückzukehren.“

Da verstand sie. Er wollte sie so dringend loswerden, dass er sie im Schlaf in die Stadt geflogen hatte. Autsch, das tat weh.

„Olivia?“

Bekämpfe den Schmerz. „Ja, ich kenne Gilly“, erwiderte sie mit zitternder Stimme. Sie kannte das Mädchen sogar besser als die Herren. Gilly war jung und niedlich und hatte bis zu ihrem Umzug nach Budapest eine furchtbare Jugend durchlebt. Ihre Eltern hatten ihr immer wieder wehgetan.

Eine Zeit lang war Olivia dafür verantwortlich gewesen, Freude in Gillys Leben zu bringen. Deshalb hatte sie Gilly, als sie von zu Hause weggelaufen war, nach Los Angeles geführt. Auf unerklärliche Weise war sich Olivia sicher gewesen, dass der Teenager hier sein Seelenheil fände. Was sie damals nicht gewusst hatte, war, dass dieses Seelenheil in Gestalt von Danika und den Herren der Unterwelt daherkäme.

Ihre Gottheit bediente sich wirklich rätselhafter Wege und Mittel.

„Aber“, fuhr sie fort, „ich werde nicht in den Himmel zurückkehren.“

Entschlossenheit funkelte in Aerons Augen, als er sagte: „Darüber reden wir später. Jetzt haben wir, wie schon erwähnt, etwas zu erledigen. Du hast noch Zeit, schnell zu duschen. Aber weil wir es schon ziemlich eilig haben, werde ich dir währenddessen ein paar wichtige Fragen stellen.“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, hob er sie auf seine Arme und trug sie ins Badezimmer. Leider ging alles so schnell, dass ihr keine Zeit blieb, den Weg zu genießen. Er setzte sie ab, unterbrach jeglichen Körperkontakt, beugte sich vor und betätigte die Drehknöpfe in der Dusche. Er hatte einen hübschen Hintern, der perfekt in seiner Jeans saß. Und mit „hübsch“ meinte sie natürlich „so knackig, dass sie Schmetterlinge im Bauch hatte“.

Auf einmal sprudelte warmes Wasser aus dem Duschkopf, und sie riss erschrocken den Blick los. Als sie realisierte, was sie getan hatte – mehr davon! –, hatte er sich schon wieder aufgerichtet. Wie schade. Oder vielleicht auch nicht. Das Wasser versprach Kraft, Vitalität und … ihre Lider gingen auf Halbmast. Spaß, die Zweite? Möglich. Das war ihre erste Dusche, und Aeron würde ihr dabei zusehen. Und wenn sie Glück hatte, könnte er sie nicht beobachten, ohne sie anzufassen.

Plötzlich versprach der Start in den Tag viel besser zu werden.

Ein Schauer des Verlangens lief ihr den Rücken hinunter.

Er wandte sich ihr zu und wirkte irgendwie größer und bedrohlicher als sonst. Seine Augen glühten in einem hellen Violett, seine Tattoos zeichneten sich klar auf seiner Haut ab, und der Puls an seinem Hals hämmerte wild. Er trug ein schwarzes Shirt und eine schwarze Hose – beides leicht auszuziehen –, und an seiner Hüfte und den Fußgelenken beulte sich der Stoff über den Waffen, die er trug.

Wie schön er ist, dachte sie, und ihr Herz klopfte schneller. Sie wollte ihn wieder streicheln. Wollte ihre Lippen über seinen ganzen Körper tanzen lassen. Vor allem zwischen seinen Beinen. Als sie ihn dort angefasst hatte, hatte sie die Feuchtigkeit auf dem kleinen Spalt gefühlt.

Wie diese Lusttropfen wohl schmeckten?

Er schluckte. Hatte er gespürt, wohin ihre Gedanken gingen? „Du weißt doch, wie man duscht, oder? Du … ziehst dich aus“, bei den letzten Worten hakte seine Stimme kurz, „gehst unter das Wasser und seifst dich von Kopf bis Fuß ein.

„Machst du mit?“ Sie zog sich das Trägertop über den Kopf und ließ es zu Boden gleiten. Eigentlich hätte es ihr unangenehm sein müssen, ihren Körper zu enthüllen, aber sie wollte, dass er sie sah und sich genauso nach ihr verzehrte wie sie sich nach ihm: unerträglich. Außerdem war sie selbstbewusst und offensiv, und jetzt, da sie um die Ekstase wusste, die sie einander bescheren konnten, würde sie alles, einfach alles, dafür tun, wieder in diesen Genuss zu kommen. „Oder willst du mir nur dabei zusehen?“

In dem Fall kannst du mir dabei zusehen, wie ich das hier mache. Sie nahm ihre Brüste in die Hände und stellte sich vor, es wären seine rauen Handflächen, die über ihre zarte Haut fuhren. Oh ja. Das fühlte sich gut an.

Seine Augen wurden größer, klebten förmlich an ihr, und die Luft im Badezimmer lud sich mit einer fast greifbaren Spannung auf. „Hör auf damit“, sagte er harsch, und seine Stimme klang heiser.

„Warum denn?“

„Weil deine Gottheit dafür belohnt werden sollte, dass er diese Pracht erschaffen hat.“ Er schüttelte den Kopf, ohne die verengten Augen von ihr abzuwenden. „Ich meine, weil ich …

Götterverdammt. Ich gehöre bestraft. Die Gedanken, die sich gerade in meinem Kopf abspielen …“

Waren es dieselben wie ihre? „Aeron“, flehte sie.

„Mir ist gerade klar geworden, dass ich sie noch nie geküsst habe“, sagte er mit rauer Stimme, in der die gleiche Spannung knisterte wie in der Luft. „Und bei den Göttern, Frau, das ist ein Verbrechen.“

„Dann küss sie jetzt.“ Bitte.

„Ja.“ Er lehnte sich zu ihr hinüber und senkte den Kopf. Seine Pupillen weiteten sich – und dieses Mal wusste sie, dass es nicht vor Wut geschah, sondern vor Verlangen.

Ihre Brustwarzen waren hart wie Perlen. Sie warteten … erwarteten ihn … Doch kurz bevor er sie berührte, riss er sich zusammen, richtete sich auf und knurrte. Sie stieß die Luft aus, die sie, ohne es zu merken, angehalten hatte. Beinahe hätte er … Süße Gottheit. Um ein Haar hätte er sie dort geküsst.

„Aeron.“ Der Erkenntnis folgte ein schier unerträgliches Gefühl des Verlusts. Tu es. Hör jetzt nicht auf.

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Darum!“ Er wusste, wonach sie sich sehnte und was sie brauchte, und trotzdem weigerte er sich, es ihr zu geben. Einfach nur „darum“. Mistkerl! „Du machst das besser alleine.“ Dann ging er an ihr vorbei, verließ das Badezimmer und zog die Tür so weit hinter sich zu, dass sie nur noch einen kleinen Spalt offen stand.

Sie war so dicht vor dem Ziel gewesen …

Auf einmal fühlte sich ihre Haut zu eng für ihren Körper an, und sie hätte schreien können. Stattdessen entledigte sie sich auch ihrer restlichen Kleidung und ging in die Duschkabine. Doch als das Wasser auf ihren Körper prasselte, wünschte sie, sie hätte geschrien. Hauptsache, das quälende Verlangen in ihr würde irgendwie gelindert. Ein Verlangen, das durch die sanfte Liebkosung des Wassers nur noch größer wurde.

Sie versuchte, einen klaren Kopf zu kriegen, doch ein Reigen von Wörtern tanzte unaufhaltsam in ihr herum. Küssen. Brüste. Körper. Bewegen. Kneten. Argh!

„Ich höre nicht, dass du dich einseifst“, bellte Aeron von vor der Tür.

„Du kannst mich mal“, blaffte sie zurück. Das hatte sie die Menschen oft sagen hören, wenn sie wütend auf jemanden waren. Und sie war extrem wütend auf Aeron.

Küssen. Brüste. Körper. Bewegen. Kneten. Stoßen. Nehmen. Beinahe hätten ihr die Knie nachgegeben.

„Olivia.“ Hörte sie da einen drohenden Unterton?

„Halt die Klappe, Dämon!“ Zitternd gab sie ein paar Spritzer der nach Rosen duftenden Seife in ihre Handflächen und begann schließlich, sich zu waschen. Selbst das wühlte sie auf, stachelte ihr Verlangen weiter an. Wie hatte er sie nur so schnell so unglaublich aufheizen können? Ohne sie auch nur zu küssen?

Küssen. Brüste. Körper. Bewegen. Kneten. Stoßen. Nehmen. Besitzen. Lecken. Saugen.

Nicht mehr lange, und sie bräche zusammen.

Ablenkung. Ja, genau. Sie musste sich ablenken. „Haben Paris und William auch diese Seife benutzt? Und ja, jetzt darfst du reden.“

„Ich weiß es nicht, und es ist auch egal. Du solltest überhaupt nicht über sie nachdenken. Außerdem stelle ich hier die Fragen. Woher wusstest du gestern, dass wir Scarlet nicht erwischen würden?“

„Ich habe es dir schon mal gesagt: Ich weiß eine Menge Dinge, die euch helfen können, aber bislang schien dich das nicht besonders zu interessieren.“

„Aber jetzt interessiert es mich, also schieß los. Sind noch andere von Dämonen besessene Unsterbliche in der Stadt?“

Selbstbewusst, erinnerte sie sich. „Denkst du wirklich, das Ganze sei so leicht?“ Offensiv. „Du gibst eine Bestellung auf, und schon liefere ich?“

Eine Pause. Er zögerte. „Was willst du?“

Erleichterung! „Beginnen wir mit einer Entschuldigung.“

„Es … tut mir leid.“

Widerwillig geäußert und gierig empfangen. „Nein“, erwiderte sie schließlich. „Es sind keine weiteren dämonenbesessenen Unsterblichen in Buda.“

„Gut. Du wirst mich dorthin bringen, wo diese Scarlet sich aufhält.“

„Nein, keine Chance.“ Olivia drehte sich genüsslich unter dem Wasserstrahl hin und her, während der Schaum an ihrem Körper herablief. Küssen. Brüste … Argh! „Ich werde gar nichts für dich tun.“

„Doch, das wirst du.“

Wieder eine Forderung. Und eigentlich hätte sie sich über die Entschlossenheit in seiner Stimme ärgern sollen. Stattdessen fand sie sie sexy. Schon wieder dieses drängende Verlangen … „Warum bist du auf einmal so versessen auf meine Hilfe?“

„Weil du sehen sollst, was für ein Leben ich führe. Du sollst die Kämpfe sehen, das Blut und den Schmerz. Du sollst sehen, dass mir außer meinen Freunden und Legion alle egal sind und dass ich jeden -jeden – verletzen werde, der sie bedroht.“

Jeden – sogar Olivia? Obwohl er sich gestern entschieden hatte, Olivia zu helfen und Legion wegzuschicken? Ohne Zweifel. Auf Wiedersehen, Druck. Hallo Leere. Seine Worte waren kalt und hart gewesen und klangen eher wie ein Gelübde als wie eine Drohung. Er mochte es vielleicht nicht wollen, aber er würde sich nicht zurückhalten.

„Na dann“, sagte sie. Wenn er den Rest seines Lebens damit verbringen wollte, ihr diese Dinge zu zeigen, würde sie ihn gewähren lassen. Und sie würde sich revanchieren! Bis ins kleinste Detail würde sie ihm vor Augen führen, was er verpassen würde, wenn sie ginge. Zum Beispiel die Brüste, die er ignoriert hatte – wofür sie ihn definitiv „bestrafen“ würde. Oder den Mund, der sich so sehr danach sehnte, an ihm zu saugen.

Drängendes Verlangen … noch stärker als zuvor …

Atmen, sie musste atmen. Ungeschickt hantierte sie an den Knöpfen herum, bis das Wasser versiegte. Sogleich umhüllte sie kühle Luft. Nur leider hatte das nicht die erhoffte Wirkung. Auf ihrer nassen Haut bildete sich eine Gänsehaut, und sie stöhnte. Nicht noch mehr.

Vielleicht kann ich mir ja selbst Erleichterung verschaffen, dachte sie neugierig. Aeron hatte seine Finger benutzt … sie hatte auch Finger … Sie leckte sich über die Lippen, und ihr Herz begann von Neuem wie wild zu klopfen. Er brauchte es ja nicht zu erfahren. Sie würde einfach das Wasser wieder anstellen und so tun, als müsste sie sich noch mal einseifen …

„Fertig?“, fragte er.

Sie erstarrte. „Ich … Ich muss nur noch …“

„Olivia, ich glaube, ich habe erwähnt, dass die Zeit knapp ist, oder?“

Ach ja, richtig. Er würde nicht mehr lange leben.

Die Erinnerung schaffte, was der kalten Luft nicht gelungen war, und fegte ihr Verlangen im Nu weg. Sie hatte gedacht, sich mit seinem bevorstehenden Tod abgefunden zu haben. Aber neun viel zu kurze Tage? Das würde wohl kaum reichen, um alles zu erleben, was sie mit ihm erleben wollte. Vor allem weil er so stur war.

Dann musst du eben dafür sorgen, dass es reicht.

„Also gut.“ Sie seufzte und stieg aus der Dusche. Wenn sie ihn jetzt begleitete, verbrächte sie schließlich auch Zeit mit ihm. Und wahrscheinlich werde ich ihm auch nicht meine Reize vorenthalten, um ihn zu quälen, dachte sie erbittert. Nur widerwillig ließ sie den Gedanken an ihre süße Rache fallen. Irgendwie hatte sie jedoch das Gefühl, dass sie ihm ihre Brüste und ihren gierigen Mund – und alles, was er sonst noch wollte – sogar ohne große Aufforderung anbieten würde.

Und zwischen diesen „Angeboten“ könnte sie Aeron, genau wie sie es sich geschworen hatte, beschützen, falls ihn irgendjemand bedrohen sollte.

„Also gut, was?“, fragte er verwirrt.

Auf dem Waschbecken lagen eine Zahnbürste und eine Tube Zahnpasta mit Minzgeschmack. Da sie die Menschen schon Tausende Male beim Zähneputzen beobachtet hatte, wusste sie, was zu tun war, und putzte sich ohne Zwischenfälle die Zähne. „Also gut, ich zeige dir, wo Scarlet lebt.“

Nachdem ihr Mund frisch und sauber war, nahm sie die Bürste, die im Regal lag. Die Borsten verfingen sich in diversen Knoten, wobei sie jedes Mal das Gesicht verzog, doch sie hörte nicht auf, bis ihre Haare seidig glatt waren. Nächstes Mal würde sie ihre Robe mitbringen, auch wenn sie nicht vorhatte, sie noch mal zu tragen.

„Wieso hast du deine Meinung geändert?“, fragte er argwöhnisch.

„Weil es reine Zeitverschwendung ist, mit dir zu diskutieren.“ Das stimmte, wenn sie es auch anders meinte, als er vermutlich dachte.

„Eine rationale Frau. Wer hätte das gedacht?“

Sie warf die Bürste ins Waschbecken. „Ein unsensibler Mann, der keine Küsse mehr bekommen wird, wenn er so weitermacht.“ Auch das war die reine Wahrheit, und es war erschreckend. Die rachsüchtige Seite, die sie jüngst an sich entdeckt hatte … gefiel ihr.

Eisiges Schweigen schlug ihr entgegen. Hieß das, dass er sich nach weiteren Küssen sehnte? Trotz ihrer neuen Affinität zur Folter bemühte sie sich, die aufkeimende Hoffnung klein zu halten.

„Übrigens habe ich Legion nicht wehgetan“, wechselte sie das Thema. „Obwohl sie mir wehgetan hat.“

„Weißt du, Engel, allein deine Nähe bereitet ihr Schmerzen. Jedenfalls war es so, als du deine Flügel noch hattest.

Aber weder ich noch die anderen Krieger haben je irgendetwas gespürt. Dabei sind wir doch genauso dämonisch wie Legion. Woran liegt das? Hast du das absichtlich gemacht?“

„Natürlich nicht. Aber es stimmt: Dämonen sind nicht gern in der Nähe von Engeln. Nur habt ihr es geschafft, eure dunkle Seite zu vermenschlichen. Zumindest ein Stück weit.“ So. Jetzt hatten sie wirklich genug von Legion gesprochen, auch wenn es diesmal Olivia gewesen war, die das Thema auf den Tisch gebracht hatte. „Willst du jetzt wissen, wie man Scarlet einfängt, oder nicht?“

,,’tschuldigung“, murmelte er. „Ja, will ich.“

Sie verkniff sich ein Grinsen. Noch eine Entschuldigung. Genauso widerwillig wie die erste und nicht weniger süß. „Soweit ich weiß, verhält es sich folgendermaßen: Weil sie von Albtraum besessen ist, ist sie tagsüber geschwächt.“ Während sie sprach, betrachtete Olivia sich in dem beschlagenen Spiegel. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Wangen waren leicht eingefallen. Eigentlich wollte sie ja, dass Aeron sie vor Schönheit strahlen sah, aber da konnte man wohl nichts machen. „In der Hinsicht ist sie wie ein Vampir. Sie schläft am Tag, weil ihr Körper sogar zum Gehen zu schwach ist.

Aeron brauchte einen Moment, bis er begriff. „Dann werden wir sie heute gefangen nehmen, während sie schläft.“

„Warum die Eile? Und was habt ihr mit ihr vor?“

„Die Jäger sind in der Stadt. Wir haben ihr Versteck gefunden, und seit gestern Nacht wissen wir, dass sie von Rhea unterstützt werden, der Götterkönigin. Wir wollen Scarlet ein paar Fragen stellen und dafür sorgen, dass sie nicht den Jägern hilft.“

„Ich hätte dir sagen können, dass sie in der Stadt sind, aber du wolltest mir ja nicht zuhören.“

„Ich weiß, ich weiß, und auch das tut mir leid. Also, was weißt du über Rhea?“

Noch eine Entschuldigung von ihm. Der Mann verdiente eine Belohnung. „Ich weiß, dass sie sich selbst ,Mutter Erde’ nennt und dass sie den Jägern hilft“, sagte Olivia, obwohl sie an nichts anderes denken konnte als daran, Aeron seine Belohnung zu geben. „Ich weiß, dass sie im Tartarus stark geschwächt wurde, so wie alle Titanen. Nur deshalb war es den Griechen möglich, den Dämon Unfrieden mit ihrem Körper zu vereinen.“

„Ich kann nicht glauben, dass ich diese Informationen die ganze Zeit direkt vor der Nase hatte“, murmelte er. „Wenn man ihr den Dämon nimmt, wird sie dann sterben? So wie wir?

„Ja“

„Warum hilft sie dann den Jägern?“

„Aus demselben Grund, aus dem Galen sie anführt. Beide haben vor, euch zu töten und sich selbst zu retten, um dann eure Dämonen zu ihrem eigenen Vorteil zu benutzen. In Rheas Fall heißt das: die Herrschaft über den Himmel übernehmen und Cronus ein für alle Mal zerstören.“

Falls er noch mehr Fragen hatte, und dessen war sie sich sicher, hielt er sich damit zurück. Hatte er vor, zu seiner anderen Quelle zu gehen, wer – oder was – auch immer das war? Denn dass er eine Quelle hatte, stand fest. Gestern war er nämlich noch nicht so gut unterrichtet gewesen. Wenn das also wirklich der Fall war, brauchte er Olivia nicht, und das war ein Gedanke, der ihr ziemlich gegen den Strich ging.

„Danke für die Informationen“, grummelte er.

„Gern geschehen.“ Treib ihn in die Enge. Sei selbstbewusst und offensiv. Zeig ihm, dass er dich für mehr braucht als nur für Informationen. „Meine Bezahlung hätte ich gern in Form von Küssen. Ach ja, ich glaube, ich schulde dir auch zwei. Immerhin hast du dich für dein unsensibles Verhalten entschuldigt.“

Aeron räusperte sich. „Ahm, also, ich habe nie gesagt, ich ürde dich bezahlen. Oder mich bezahlen lassen. Wir, äh, müssen los.“

Enttäuschend, dieser Mann. „Ich muss mich nur noch …“ Olivia sah zu dem Handtuch an der Wand hinüber. Wenn sie es nähme, hieße das, sie gäbe auf – und dazu war sie nicht bereit.

Sie biss sich auf die Lippe, als sie Gideons Worte Revue passieren ließ. Oder vielmehr ihre Interpretation seiner Worte. Männer mochten nackte Frauen. Männern fiel es schwer, nackten Frauen zu widerstehen. Also kein Handtuch, dachte sie und fing in ihrer Vorfreude fast an zu summen.

Verlangen …

„Ach, egal“, sagte sie heiser. „Ich bin fertig.“

Sie drückte den Rücken durch, sodass sich ihre Brüste hoben – er mochte ihre Brüste –, ergriff den Türknauf und öffnete schwungvoll die Tür. Selbstbewusst. Aeron lehnte mit dem Rücken zu ihr an der Wand. Die Arme hielt er immer noch vor der Brust verschränkt. Leider war er auch immer noch angezogen.

Offensiv. Das musste sie unbedingt ändern.

Nackt und nass trat sie vor ihn, während ihr Herz noch härter und schneller schlug als in dem Moment, als sie darüber nachgedacht hatte, sich zu berühren. Als er sie erblickte, blieb ihm der Mund offen stehen. Seine Nasenflügel bebten, und seine Pupillen explodierten förmlich, als sie die violetten Iris vollständig verschwinden ließen.

Olivia hätte beinahe gestöhnt. Tja-ja. Da hatte Gideon richtiggelegen. Aeron gefiel der Anblick einer nackten Frau tatsächlich.

Treib ihn noch mehr in die Enge. Ihr Verlangen … Er musste ihr dieses drängende Gefühl nehmen … „Was hältst du von meinem Outfit?“, fragte sie und drehte sich einmal.

Erstickte Laute kamen aus seinem Mund.

Vielleicht sollte sie nie wieder Kleidung tragen. „Ich bin jetzt ein Mensch, und Menschen verlangen für ihre Dienste immer eine Bezahlung.“ Ob er die Aufregung und Nervosität in ihrer Stimme hörte? „Wenn du also noch mal irgendeine Information von mir willst – und glaub mir, ich habe noch eine Menge in petto –, wirst du sie dir verdienen müssen.“

„Und wie?“ Die Worte waren ein einziges Knurren – allerdings ohne eine Spur von Wut. „Mit diesen Küssen, die du erwähnt hast?“

„Das war der Preis von vor fünf Minuten, und du hast dich geweigert zu zahlen. Inzwischen ist mein Preis gestiegen. Wenn du noch irgendetwas erfahren willst, wirst du mich mit deinem Körper wärmen müssen. Mir ist nämlich kalt.“ Mir ist so heiß, ich verbrenne gleich.

Er schluckte und straffte die Schultern. Begierig musterte er sie von oben bis unten, wobei sein Blick länger an ihren Brüsten und zwischen ihren Oberschenkeln ruhte. Sein Atem wurde flach und unregelmäßig. „Heilige Hölle. Ich sterbe. Ich sterbe!“

Ich auch. „Aeron.“ Zeig es mir. Nimm mich.

„Wir … wir haben keine Zeit.“

„Dann verschaff uns die Zeit“, sagte sie und überbrückte auch die letzte Distanz zwischen ihnen. Muss … berühren …

Er hätte sie wegstoßen können, ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, ihm etwas entgegenzusetzen, doch er tat es nicht. Stattdessen legte er seine großen Hände um ihre Taille und drückte die Fingerspitzen an ihre Haut. Endlich!

„Das sollte ich lieber nicht tun“, sagte er. „Ich habe mir geschworen, es nicht zu tun, auch wenn er niemals …“

„Er?“ Mehr. „Wer würde niemals was?“

Zuerst antwortete er nicht. Dann sagte er schließlich: „Mein Dämon.“ Sein Tonfall war hart, und er spreizte die Finger, um noch mehr von ihr in den Händen zu halten. Jetzt berührte er sie vom unteren Rücken bis zu den Pobacken – und ihre Haut stand förmlich in Flammen. „Er würde niemals …

Er würde dir niemals wehtun. Ausnahmsweise brauche ich mir mal keine Sorgen zu machen.“

„Er“ und nicht „es“? Was hatte sich zwischen den beiden geändert?

Aber wen interessierte das? Mach weiter! „Und warum solltest du dann nicht mit mir zusammen sein?“ Falls er gehofft hatte, sie von diesem Weg abzubringen, hätte er ihr zur Welt der Leidenschaft niemals Zutritt verschaffen dürfen. Sein Fehler, und sie würde ihn schamlos zu ihrem Vorteil ausnutzen. „Es gibt keine Hindernisse.“

„Hindernisse …“, stammelte er, während sein Blick an ihren Lippen klebte. „Wir sind …“

Sie legte ihm die flachen Hände auf die Brust, da sie nicht bereit war, sich eine endlos lange Liste von Problemen anzuhören. Sein Herz schlug noch härter und schneller als ihres. Ein gutes Zeichen. Trotzdem. Es sollte noch härter und noch schneller klopfen, und deshalb presste sie ihren Unterkörper an seinen und stöhnte. Oh ja.

„Du bekommst gerne Antworten, Aeron? Das ist dir wichtig, hm? Zu deinem Wohl und dem deiner Lieben. Bezahl mich einfach.“

Er befeuchtete sich die Lippen, was sie feucht schimmern ließ. Einmal schmecken, das war alles, was sie brauchte … „Wer hätte gedacht, dass ein Engel so manipulativ sein kann?“, fragte er heiser.

„Ich bin gefallen“, erinnerte sie ihn. Schon wieder. „Aber jetzt hör auf zu reden – und gib mir mehr von der Bezahlung.“

„Ja.“

In dem Augenblick, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, beugte er sich zu ihr herunter. Ihre Lippen trafen heftig aufeinander. Zuerst erwiderte er den Kuss nicht, und sie musste ihre Zunge gewaltsam durch seine Zähne zwingen. Doch als ihre Zungen sich berührten, stöhnte er und übernahm die Führung.

Und er konnte gut führen. Er legte ihr die Arme um die Taille und hob sie hoch. Um nicht wie eine Stoffpuppe in der Luft zu hängen, musste sie die Beine um seine Hüften schlingen und die Füße hinter seinem Rücken verschränken. Diese Position war herrlich, genau das, was sie brauchte, denn ihre pochende Perle landete direkt auf der Spitze seiner harten, großen Erektion, die unter der Hose war.

Dämliche Hose.

Sein kurzes Haar kitzelte an ihren Handflächen, als sie ihm über den Kopf fuhr. Er legte ihr eine Hand in den Nacken, um den Kuss zu vertiefen. Auf jedem Quadratzentimeter ihrer Haut spürte sie den Körperkontakt, in jedem Blutkörperchen, das durch ihre Adern rauschte, und in jeder nach mehr schreienden Zelle.

„Du hast definitiv zu viel an“, brachte sie atemlos heraus.

„Nicht genug“, konterte er. Er presste die Lippen auf ihr Schlüsselbein und saugte. Dann ließ er die Lippen tiefer gleiten. Er leckte ihre Brustspitze und löste damit endlich sein Versprechen ein, sie dort zu küssen. Sie stöhnte. Mit seiner freien Hand umfasste er ihre andere Brust und massierte sie. „Ich glaube, kein Schutzschild der Welt könnte mich vor deiner Anziehungskraft bewahren.“

Was für ein köstliches Geständnis.

„Wir sollten langsamer machen.“

Was? Nein! „Mach schneller.“ Sie zog an seinem Ohr und erntete ein Knurren.

Er küsste die andere Brustwarze, saugte fest daran, und der stechende Schmerz ließ ihren Atem stocken. Dann leckte er über die Stelle, an der er gerade noch geknabbert hatte, und Olivia stöhnte. Lustvoll bog sie den Rücken durch, presste sich noch enger an ihn und rieb sich genau so an ihm, wie sie es mochte.

„Ich mache dich noch ganz nass.“

„Und das ist schlimm?“, fragte er.

Schlimm, schlimm. Die Worte hallten in ihr wider, und sie musste daran denken, wie sie bei ihrem letzten feurigen Kuss versucht hatte, seinen Penis zu lecken, er es jedoch nicht zugelassen hatte. In seinen Augen war sie dafür zu rein gewesen.

Sie ließ die Beine sinken, und ihre Füße berührten den weichen Teppich.

Verwirrt runzelte er die Stirn. „Was hast du …“

Im nächsten Moment kniete sie vor ihm und zerrte an seiner Hose, bis sein Schaft frei war. Er war dick und lang und so herrlich hart.

„Olivia …“ Er stöhnte, als würde sie ihn foltern. „Mach das lieber nicht.“

Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, als sie die Wange an die seidenweiche warme Haut presste. Aeron wühlte in ihrem Haar. Nur ein kleines Stück zog sie den Kopf zurück, öffnete den Mund und nahm ihn in sich auf. Sein Umfang dehnte ihren Kiefer, was irgendwie unangenehm war, doch sein salzig-süßer Geschmack erregte sie.

„Ich hab mich geirrt. Mach es“, krächzte er. „Mach es unbedingt.“

Während sie an seinem Penis lutschte und saugte, massierte sie zärtlich seine Hoden. Sie genoss ihn, genoss es, seinen Widerstand zu brechen und ihn zur völligen Hingabe zu verwöhnen. Doch er ließ sie nicht bis zum Ende gehen. Viel zu schnell packte er ihre Schultern und zog Olivia hoch.

„Das reicht.“ Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, als er sie gegen die Wand drückte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, kniete er sich nun nieder. Mit seinen starken Händen spreizte er ihre Beine. Und im nächsten Augenblick war er genau dort, wo sie ihn brauchte. Er leckte sie, saugte an ihr, verschlang sie regelrecht.

Sie brauchte irgendeinen Halt, fand aber keinen, als sie mit den Händen über die Wand hinter ihr fuhr. Als sie den Kopf hin und her warf. Als ihr Haar an ihrem Rücken kitzelte. Jede Berührung stimulierte sie. Und sie war kurz davor … ganz kurz davor … Sie brauchte nur noch …

Unvermittelt sprang er auf, keuchte und leckte sich die Lippen, die nach ihr schmecken mussten. Seine Lider waren halb geschlossen, die Augen wie flüssiger Onyx. „Ich will dich nehmen … kann dich nicht nehmen … Du schmeckst so gut … Ich brauche mehr … kann nicht mehr haben …“

Mehr. Ja. „Aeron.“

Er schüttelte den Kopf, und das letzte bisschen Widerstand, das sich eben noch auf seiner Miene gezeigt hatte, wich einer eisernen Entschlossenheit. Er griff zwischen ihre Körper und streichelte seinen harten Schwanz. Mit der anderen Hand packte er ihre Taille. „Ich kann nicht … kann nicht … Ich muss daran denken …“

„Woran? Woran musst du denken? Wirst du … Werden wir …“ Bitte, bitte, bitte.

„Kann nicht.“ Er erstarrte. Jetzt waren nur noch ihre schweren Atemzüge zu hören, die sich genauso eng ineinander zu verweben schienen, wie sie mit ihm zusammen sein wollte. „Ich kann nicht. Wir werden …“ Noch ein Knurren. Er riss seine Hand von ihr los und rieb sich übers Gesicht. Als er den Arm senkte, sah sie die Veränderung in seinem Blick. Von Entschlossenheit zu Wut. „Die meisten Menschen müssen ohne die Erfüllung ihrer Wünsche durchs Leben gehen. Wenn du ein Mensch sein willst, solltest du wissen, wie sich das anfühlt.“

Keine Erfüllung? Lieber würde sie sterben. „Die Lektion kannst du mir beim nächsten Mal beibringen. Bitte, Aeron.“ Jetzt brauchte sie ihn viel zu sehr. „Bitte.“ Sie bewegte das Becken vor und zurück und rieb dabei ihre feuchte Perle über seinen heißen, harten Schaft, den sie eben noch geschmeckt hatte. Sie glitt runter, rauf, wieder runter. Oh Gottheit. Dieses Glücksgefühl … unvergleichlich. Heiß, erregend … verboten.

Offenbar fühlte er dasselbe, denn wieder einmal übernahm er das Ruder. Hart packte er ihren Po und zog sie an seinen Schaft. Wieder und wieder. Und noch mal. Kein einziges Mal drang er in sie ein, doch das kümmerte ihren feuchten Körper nicht. Dazu war das, was er tat, einfach zu gut und zu elektrisierend, und es dauerte nicht lange, da stöhnten sie beide, atmeten noch heftiger und bebten am ganzen Körper.

Sogar ihr Kuss geriet außer Kontrolle. Ihre Zungen duellierten sich, kämpften miteinander, und ihre Zähne schlugen hart gegeneinander. Sie presste die Fingernägel an seinen Rücken und in seine versteckten Flügeln – zu wild? Zwar hatte Gideon gesagt, dass Aeron eine wilde Frau brauchte. Aber das hier war vielleicht zu viel und zu schnell für ihren Krieger, und sie wollte nicht, dass er sich ihr entzog.

Obwohl es sie fast um den Verstand brachte, mäßigte Olivia sich und nahm die Fingernägel aus den sensiblen Schlitzen.

„Was machst du da?“, blaffte er.

„Dich genießen“, erwiderte sie. „Jedenfalls bis du gerade den Mund aufgemacht hast.“

Er runzelte die Stirn und zog den Kopf ein Stückchen zurück, sodass er ihr besser in die Augen blicken konnte. „Dann fang gefälligst wieder an, mich zu genießen.“

„Das würde ich ja gern.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und drängte sich an ihn. „Aber zuerst will ich deinen Penis in mir spüren.“

Ein gurgelnder Laut drang aus seiner Kehle.

Sie streckte ihren Rücken noch weiter durch. Seine Penisspitze rieb an ihrer Perle, Olivia keuchte. Zischend entfuhr ihm der Atem. Das war gut. Sooo gut. Sie ließ den Kopf in den Nacken fallen, wobei ihr nasses Haar nach hinten schwang und wieder an ihrer Haut kitzelte. Gleich, dachte sie. Gleich würde sie den Gipfel der Lust erreichen, auf den er sie schon beim letzten Mal geführt hatte. Den Gipfel, der endlich den unglaublichen Druck lindern würde, der sich immer weiter in ihr aufbaute und sie so quälte.

„Aeron, Aeron. Nur noch ein bisschen“, sagte sie keuchend. „Dann kann ich …“

„Nein. Nein!“ Plötzlich und ohne Vorwarnung ließ er sie los, und sie glitt von ihm herunter. Sie stürzte zu Boden, und ihr stockte der Atem, aber ihre Leidenschaft ebbte dadurch nicht ab. „Kann nicht.“

Mit zittriger Hand fuhr er sich über den Mund, als wollte er ihren Geschmack wegwischen, und verdeckte für einen kurzen Moment die tiefen Falten der Anspannung, die sie auf seinem Gesicht gesehen hatte. Dann knöpfte er sich die Hose zu.

„Kein Orgasmus“, sagte er in dem harschen Ton, den sie so hasste. Denn er klang nicht leidenschaftlich, sondern wütend.

„I…ich verstehe nicht.“

Er kniff die Augen zusammen und sah sie an, seine Miene wie versteinert. „Ich habe es dir doch gerade schon mal gesagt: Menschen haben oft mit unerfüllten Sehnsüchten zu kämpfen. Da du unbedingt ein Mensch sein willst, wirst du das aushalten müssen. Und jetzt zieh dich an. Denn wie ich dir ebenfalls gesagt habe, haben wir noch etwas zu erledigen.“

14. KAPITEL

Strider ließ sich zu Boden fallen, als eine Kugel an seiner Schulter vorbeizischte.

,,’tschuldigung“, murmelte Gwen und zog eine Grimasse. Sie hatte ihre roten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und ihre silber-goldenen Augen glühten. „Ich habe Schwierigkeiten, meine dunkle Seite“ – ihre Harpyie – „zu kontrollieren, und dachte deshalb, es wäre besser, wenn ich eine Waffe mitnehme.“

Eine Waffe, die sie noch nie zuvor bedient hatte. Eine Toter-Jäger-Sonderanfertigung, die er selbst gebaut hatte.

Verdammt, das war knapp gewesen. Um ein Haar wäre er vom eigenen Team außer Gefecht gesetzt worden. Und dann wäre es erst richtig mies geworden. Auch wenn sie ihn nicht absichtlich angeschossen hätte – sein Dämon hätte es als Herausforderung verstanden. Gwen hätte gewonnen, und er hätte sich tagelang in qualvollen Schmerzen am Boden gekrümmt.

Da er erst vor wenigen Wochen eine Herausforderung an die Jäger verloren hatte – weil Gwen und Sabin Gwens Vater hatten entkommen lassen, was er ihnen im Übrigen noch immer nicht verziehen hatte –, waren ihm die Konsequenzen seines Versagens noch lebhaft in Erinnerung. Er war nicht scharf darauf, diese Erfahrung noch mal zu machen.

„Nimm einfach den Finger vom Abzug“, ermahnte er sie. „Wir wissen nicht, wohin sich die Jäger zurückgezogen haben, und sie wissen nicht, wo wir sind. Durch Schüsse verraten wir nur unsere Position.“

„Geht klar.“

Kopfschüttelnd stand Strider auf. Er sah sich um. Üppig belaubte Bäume umgaben ihn und die meisten anderen, die mit ihm am Tempel gewesen waren – und die wie er mit einem Schlag … wo, zum Teufel, auch immer gelandet waren.

Er wusste nur, dass sie sich – wie zuvor – nah am Wasser befanden. In wenigen Metern Entfernung hörte er das Meer rauschen, und an seinen Füßen glitzerte goldener Sand.

Amun und Maddox waren gerade dabei, die Gegend nach Hinweisen auf den Feind abzusuchen.

Anscheinend hatten die Unerwähnten unter einem „Geschenk“ verstanden, sie und sechzehn bewaffnete Jäger binnen eines Augenzwinkerns an einen rätselhaften Ort zu befördern. Seit vierundzwanzig Stunden waren sie nun schon hier, hatten eine heftige Schießerei überstanden, sich dann zurückgezogen, um zu kapieren, was hier vor sich ging, und nun das. Warten. Suchen. Die Situation ähnelte den Boxkämpfen, die Strider sich so gern im Fernsehen ansah: die Herren in einer Ecke und die Jäger in der anderen. Wann also würde endlich die verdammte Ringglocke ertönen?

Bald, wenn es nach ihm ginge.

Das Piepsen seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Wenigstens ein Erfolg an diesem Tag.

„Jawoll!“, sagte er und schlug aufgeregt gegen einen Baumstamm. „Meine SMS an Lucien ist endlich durchgekommen.“ Fast die gesamten vierundzwanzig Stunden hatte er erfolglos versucht, seine Freunde in Buda zu kontaktieren. Entweder hatten sich die mächtigen Kreaturen geweigert, ihm diesen Kontakt zu gestatten, oder es gab in dieser Gegend eindeutig zu wenig Handymasten. Er tippte auf die Unaussprechlichen. Lucien musste ihnen unbedingt mehr Waffen und Munition rüberbeamen. Denn auf keinen Fall würden sie diesen Ort verlassen, solange nicht alle Jäger gefangen wären. Oder tot. Da war er nicht wählerisch.

Die Nachricht war also durchgekommen, und die Kommunikationswege standen anscheinend wieder offen. Hieß das, dass die Unaussprechlichen nicht mehr ihre Finger im Spiel hatten?

Nur wenige Sekunden später piepste sein Telefon wieder.

Er sah auf das Display und las Luciens Antwort: Habe versucht, mich zu euch zu beamen. Irgendwas blockiert mich.

Mist. Finger noch drin, nur nicht mehr mit ganz so großen Einschränkungen.

Er gab die schlechte Nachricht an die anderen weiter, die entnervt aufstöhnten.

„Alles wird gut“, versicherte Sabin. „Zur Not kann Gwen sie in der Luft zerfetzen.“

Strider wusste, dass dies nicht die übertriebene Prahlerei eines vernarrten Ehemanns war, sondern die Wahrheit. Wenn Gwens dunkle Seite die Kontrolle übernahm, konnte sie alleine eine ganze Armee unsterblicher Krieger außer Gefecht setzen. Da wären Menschen für sie ein Kinderspiel.

„Aber nur, wenn meine Harpyie sich endlich mal entschließt aufzutauchen“, grummelte sie. „Halt. Es gibt kein ,Nur wenn’. Sie wird auftauchen. Dafür werde ich sorgen.“ Wenn es um Sabin ging, täte sie alles, um ihn zu beschützen. Das wussten alle in diesem kleinen Camp aus eigener Erfahrung, da jeder von ihnen bei der einen oder anderen Trainingseinheit schon mal von ihrer Harpyie zu Brei geschlagen worden war.

Keine Sorge, tippte er in sein Handy. Wir kriegen das schon hin.

Aber jetzt die gute Nachricht, kam die Antwort von Luciea Galen ist hier in Buda und nicht bei euren Jägern.

Das war eine Überraschung, nachdem er Galen doch in der Vision gesehen hatte. Bei euch alles klar? hakte er nach.

Alles bestens. Aber seid gewarnt: Irgendwie hat der Bastard den Umhang in die Finger gekriegt. Er könnte in diesem Moment in der Burg sein, ohne dass wir es mitkriegen.

Mist! Das wurde ja immer schlimmer. Galen hatte ein Artefakt, und dazu noch ein so mächtiges. Sobald diese Sache vorbei wäre, würde Strider alles Erforderliche tun, um es zu stehlen. Bis dahin war er jetzt an der Reihe, eine Bombe platzen zu lassen. Offenbar war Hoffnung ein fleißiger Junge. Galen hat es geschafft, Misstrauen mit einem seiner Soldaten zu verschmelzen. Mit einer Frau. Wir gehen davon aus, dass er jetzt unsere Köpfe will.

Zunächst antwortete Lucien nicht. Vermutlich musste er den Schrecken erst genauso verdauen wie zuvor Strider und die anderen. Misstrauen, das einzige Überbleibsel Badens, war jetzt in den Händen des Feindes.

Braucht Galen die Büchse der Pandora jetzt überhaupt noch? fragte er sich. Mit der Büchse könnte er alle Dämonen auf einmal einsammeln, ohne sie erst suchen zu müssen. Also, ja – vermutlich brauchte er sie.

Endlich erhielt er eine neue Nachricht. Das ist schlecht. Ziemlich schlecht. Schätze aber, es wird noch schlimmer. Aeron hat Treffen einberufen. Hat was rausgefunden. Melde mich wieder, wenn ich mehr weiß. Passt auf euch auf.

Ihr auch.