Ein Zweig knackte. Alle erstarrten. Im nächsten Augenblick richtete die eine Hälfte von ihnen ihre Waffen in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und die andere Hälfte zielte in die entgegengesetzte Richtung – nur für alle Fälle. Amun und Maddox kamen aus einem Busch, und alle entspannten sich. Amun zog einen Mann hinter sich her. Mit grimmigem Gesicht warf er den reglosen Körper in die Mitte des Camps.

Während Maddox den Mann fesselte, erzählte Amun mit Gebärden, was sie herausgefunden hatten.

Strider hatte Amun schon immer um seine Fähigkeit beneidet, Erinnerungen aufzusaugen. Sicher, dabei gesellte sich jedes Mal eine weitere Stimme zu den Tausenden in seinem Kopf, doch das schien ein kleiner Preis zu sein, bedachte man, dass er die Gedanken eines jeden kannte, der sich in seiner Nähe aufhielt. Strider wusste jedoch, dass es nun, da Amun eben erst frische Erinnerungen aufgenommen hatte, lange dauern würde, bis er seinen Freund wieder sprechen hörte.

„Die Jäger haben etwa eine Meile nördlich von uns ein Camp errichtet, und dieser Kerl hatte gerade Wachdienst. Sie haben vor, darauf zu warten, dass wir sie auf ihrem Gebiet angreifen, weil sie dort leichter verschanzt bleiben können, während sie freies Schussfeld auf uns haben“, übersetzte Sabin. Dann lachte er humorlos. „Wir alle haben gesehen, wie Misstrauen mit dieser Frau verschmolzen ist. Sie werden nicht mehr nur versuchen, uns zu verletzen. Sie werden Jagd auf unsere Köpfe machen.“

„Es wird noch besser“, sagte Strider und steckte sein Handy ein. „Galen ist zurück in Buda, und er hat den Tarnumhang.“

Einige lange Sekunden herrschte Schweigen in der Runde. Dann spürte er die wütende Energie, die sich ausbreitete, während seine Freunde über die Konsequenzen nachdachten. Und dann hörte er ihre gemurmelten Flüche.

„Offensichtlich können wir nicht mehr lange hierbleiben, aber genauso offensichtlich dürfen wir diese Männer nicht entkommen lassen. Maddox kann uns zu ihrem Camp führen, und dann werden wir auf ihrem Schlachtfeld gegen sie kämpfen, genau wie sie es wollen.“ Sabin stand mit geballten Fäusten auf. „Nur dass ihnen das Ergebnis nicht gefallen wird. Wir zeigen keine Gnade: Gefangene wird es dieses Mal nicht geben.“

Unter zustimmendem Gemurmel erhoben sich Strider und die anderen. Reyes und Kane griffen nach ihren Messern. Gwen und er selbst packten die Pistolen. Nein, nein, nein. Er ging zu ihr, stellte sich vor sie und nahm ihr die frisierte Sig Sauer aus den Händen.

„Die nehme ich“, sagte er.

„Gut.“ Sie lächelte verlegen und wedelte dann mit ihren scharfen Krallen durch die Luft. „Ich komme sowieso besser ohne klar.“

„Und für uns ist es so auch besser.“

Sabin umarmte sie fest. „Ich werde dir helfen, deine Harpyie zu rufen, nachdem Maddox uns die Marschrichtung vorgegeben hat. Maddox?“

Maddox kniete sich in der Mitte der Gruppe in den Sand. Er zeichnete einen unförmigen Kreis. „Wir befinden uns wieder auf einer Insel. Wir sind hier, und sie sind dort.“ Seine Fingerspitze tanzte durch die goldenen Körner. „Anscheinend haben die Unaussprechlichen ihnen zusätzliche Ausrüstung gegeben, denn hier, hier und hier habe ich Fangeisen gefunden.“

Amun machte eine Geste.

Wieder übersetzte Sabin für Maddox und Reyes, die nicht die letzten tausend Jahre mit dem stillen Krieger verbracht hatten. „Unsere Schlafmütze hier“, begann er und wies auf den reglosen Jäger, „war am Rand des Camps zusammen mit drei anderen auf Patrouille.“

„Wenn wir uns aufteilen, können wir sie einkesseln. Dann kann sich jeder von uns einen anderen Wachmann vornehmen, ohne dass die anderen fliehen und sich verstecken können.“ Am liebsten hätte Strider sich jeden einzelnen Wachmann eigenhändig vorgeknöpft, aber dazu war keine Zeit.

„Ausgezeichnet“, sagte Sabin und nickte. Er legte fest, wer wohin ginge. „Mir ist egal, wenn ihr auf dem Bauch herumrutschen müsst. Hauptsache, sie sehen euch nicht. Wie Amun bereits gemeint hat, erwarten sie uns. Also, je größer der Überraschungseffekt, desto besser sind unsere Chancen auf einen Sieg. Und sobald ihr in Sichtweite des Camps seid, rührt euch nicht, bis ihr mein Signal hört. Ich will zuerst meinen Dämon auf sie loslassen.“ Zweifel konnte selbst den mutigsten Krieger in ein plärrendes Baby verwandeln. „Bewegt euch so schnell, wie ihr könnt. Am besten, wir erreichen sie, bevor ihnen auffällt, dass wir schon einen von ihnen ausgeschaltet haben. Sofern sie es nicht bereits bemerkt haben.“

Mit einem Grinsen auf den Lippen salutierte Strider. Dann war er auch schon weg. Meistens liebte er diesen Teil seines Lebens. Er liebte die Herausforderung des Kampfes und den Siegesrausch. Das Adrenalin, das dann durch seine Adern floss, trieb ihn an und machte ihn schneller und stärker. So wie jetzt. Er wich Ästen aus und sprang über Steine, während er mit den Schatten verschmolz.

Ich brauche einen Triumph, jaulte sein Dämon.

Einige der Herren konnten ihre Dämonen deutlich hören; andere spürten lediglich die Sehnsüchte ihrer anderen Hälfte. Strider hörte seinen Dämon nur vor und nach einer Schlacht. Das mochte daran liegen, dass Niederlage in diesen Situationen am stärksten war – und am besorgtesten.

Ich besorge dir einen. Versprochen.

Bist du sicher?

Wer bist du? Zweifel? Natürlich bin ich sicher.

Hin und wieder lugte die Sonne durch die dichten Baumkronen und warf Säulen aus Licht auf den Boden. Dann suchte Strider aus reiner Gewohnheit so lange, bis er wieder einen schattigen Abschnitt fand, um seinen Weg fortzusetzen. Traurigerweise war es ihm nicht vergönnt, dabei einem der Wächter über den Weg zu laufen. Als er sich schließlich seinem Ziel näherte, verlangsamte er sein Tempo und gab Acht, wo er hintrat, damit nichts unter seinen Stiefeln knirschen und ihn verraten konnte. Dann vernahm er das Gemurmel unbekannter Stimmen, legte sich wie befohlen auf den Bauch und kroch zentimeterweise zu einem Busch, der am Rand des Jäger-Camps stand.

Alles, was er sah, war eine Mauer breiter Felsen. Doch in unregelmäßigen Abständen fehlten Steine, und durch diese Lücken lugten Gewehrläufe hervor. Dann hörte er das Flüstern.

„Rick ist noch nicht zurück.“

„Er ist erst fünf Minuten zu spät.“

„Vielleicht hat er sich verirrt.“

„Ich bitte euch. Die Herren der Unterwelt sind da draußen. Rick ist schon längst tot.“

„Ja, du hast recht. So muss es sein. Sie haben weder Moral noch ein Gewissen. Denen würde es gar nichts ausmachen, einen unschuldigen Mann zu töten. Aber verdammt, ich habe ihn wirklich gemocht.“

Unschuldig? Oh, bitte.

„Wir sollten nicht warten, bis sie zu uns kommen, sondern sie selbst angreifen. Anscheinend haben wir einen oder zwei Götter auf unserer Seite. Immerhin ist unser Versteck wie aus dem Nichts aufgetaucht. Genau wie unsere Gewehre und die Fallen. Warum hätte man uns mit den Herren hierherbringen sollen, wenn nicht, damit wir sie vernichten?“

Gute Frage. Obwohl diese Jäger als Geschenk deklariert worden waren, waren sie bewaffnet und befanden sich in hervorragender Deckung. Oder vielleicht war ja auch die Schlacht das Geschenk. Und zwar nicht für die Herren, sondern für die Unaussprechlichen. Vielleicht hatten sie Spaß daran, anderen beim Blutvergießen zuzusehen.

Einer der Männer musste aufgestanden sein, denn plötzlich konnte Strider seinen Kopf sehen. „Haltet verdammt noch mal die Klappe. Jeder von euch. Wir haben es hier mit Dämonen zu tun, mit der größten Plage überhaupt. Wir müssen in Alarmbereitschaft bleiben.“

Was für Fanatiker, dachte Strider angewidert. Sie brauchten jemanden, dem sie die Schuld an ihren Problemen geben konnten. Verständlich, aber falsch. Menschen verfügten über einen freien Willen. Und meistens war dieser freie Wille der Grund für ihre Probleme. Sie entschieden, was sie aßen, wie viel sie tranken und mit wem sie schliefen. Sie entschieden, ob sie Drogen nahmen oder ob sie in ein Auto stiegen, das dazu bestimmt war, in einen Unfall verwickelt zu werden.

„Was … was ist, wenn sie zu stark sind und wir hier draußen sterben?“

„Sie wollen sich für das rächen, was wir mit Lügen gemacht haben, ich weiß es genau. Sie werden uns eine Hand nach der anderen abhacken, genauso wie wir ihm seine abgehackt haben.“

Strider verkniff sich ein Grinsen. Zweifel hatte seine Arbeit aufgenommen. Jetzt würde Strider jede Sekunde …

Sabins Pfiff ertönte.

Dingdingding! Da war sie endlich, seine Ringglocke. Strider sprang auf und hielt die Mündungen beider Pistolen nach vorn gerichtet. Er zielte auf zwei Lücken in der Mauer und betätigte gleichzeitig die Abzüge. Peng, peng.

Er hörte Schreie.

Dann sah er aus dem Augenwinkel, wie Reyes hinter einem Baumstamm hervorsprang, nach vorn spurtete, die Felsen erklomm und auf dem Weg nach oben ein Messer warf. Noch ein Schrei. Auch Maddox sprintete los, sprang mit einem einzigen Satz über die Felsen, und mehrere Schüsse ertönten. Nur dass Maddox gar keine Feuerwaffe bei sich getragen hatte, wie Strider schlagartig bewusst wurde. Sein Magen verkrampfte sich. Es war ein Ablenkungsmanöver gewesen, und die Jäger waren drauf reingefallen und hatten auf ihn geschossen.

Sabin eilte Maddox zu Hilfe, und Kane wollte es ihm gleichtun – doch da prallte eine Kugel an einem Felsen ab und drang tief in seine Schulter ein. So sah es zumindest aus. Kane fluchte laut, während Strider den äußeren Ring der Felsen umkreiste und durch die Löcher so viele Gewehre wie möglich untauglich machte.

Da fegte eine nach Zitrone duftende Windbö durch Strieders Haare, und er blieb kurz stehen. Gwen, dachte er. Und tatsächlich erspähte er das verschwommene Rot ihrer Haare, als sie die Felswand emporschnellte und sich auf der anderen Seite hinabstürzte. Sabin hatte nicht zu viel versprochen. Strider folgte ihr auf dem Fuß und blieb mit der Waffe im Anschlag auf der Kante des höchsten Felsens sitzen. Sicher war sicher.

Doch er hätte sich die Mühe auch sparen können. Die Harpyie kreischte, während sie mit ihren Klauen wild um sich schlug und mit ihren scharfen Zähnen zubiss. Männer schrien und brachen zusammen. Ein paar wenige versuchten wegzurennen und über die Felsen zu klettern. Doch sie kamen nicht weit. Dank der hauchdünnen Flügel auf ihrem Rücken konnte Gwen sich blitzschnell bewegen, und so erwischte sie einen nach dem anderen und biss ihnen die Kehlen durch.

Im Nu war der Feind besiegt.

Ja. Ja! sang Niederlage in seinem Kopf.

Das war viel zu einfach, dachte Strider. Er war nicht mal ins Schwitzen gekommen. Doch er würde sich nicht beklagen. Jedenfalls nicht allzu sehr. Bloß je steiniger der Weg zum Sieg, desto besser fühlte sich der Rausch danach an. War ein Sieg süß genug, suhlte sich sein Dämon manchmal tagelang im Glück. Und das war besser als Sex. Besser als alles, was er sich vorstellen konnte. Bislang hatte er es nur zweimal erlebt, doch er sehnte sich nach dem nächsten Mal wie nach einer Droge.

Reyes und Maddox bluteten stark, während sie die reglosen Körper durchsuchten und Waffen zur Seite traten. In wenigen Metern Entfernung, außerhalb des Verstecks, hörte Strider Steine knirschen und einen Zweig knacken. Er drehte sich um, die Waffe immer noch im Anschlag. Als er Kane erblickte, der gegen einen Baumstamm gelehnt stand und versuchte, die Kugel aus seiner Schulter zu operieren, entspannte er sich. Katastrophe hatte bereits Abertausende ähnlicher Unglücksfälle erlebt und wusste genau, wie er sich danach wieder zusammenflicken musste.

Neben ihm wand sich Amun am Boden. Der große Kerl hatte nicht eine Sekunde lang bei dem Kampf mitgemischt, sondern am Rand gewartet und seine volle Aufmerksamkeit den Erinnerungen der Jäger gewidmet. Er hatte sie ihnen gestohlen, und jetzt ergriffen sie Besitz von ihm.

„Gwen“, rief Sabin.

Abermals verlagerte sich Striders Fokus. Eine keuchende Gwen presste sich an die Felsen. Gesicht und Hände waren blutverschmiert. Alle Krieger hatten sich Einige Schritte von ihr entfernt. Außer Sabin. Er war der einzige, der sie beruhigen konnte, wenn ihre dunkle Seite die Kontrolle übernommen hatte.

Als Sabin auf sie zuging, schloss Strider sich den anderen an, die sich durch die am Boden liegenden Menschen schlängelten. Die meisten lagen leblos und still da. Einige wenige stöhnten. Ohne Zögern zielte und schoss er, um ihrem Elend ein Ende zu bereiten. Außer bei einem. Neben diesen einen hockte er sich hin. Irgendetwas an diesem Mann … Nein, er war fast noch ein Kind. Irgendetwas an diesem Jungen brachte ihn dazu, zu zögern. Und mit dem Zögern keimte ein widerstrebendes Mitgefühl in ihm auf.

Aus glasigen Augen sah ihn der Junge an, erkannte, wer er war, und knurrte: „Bastard.“ Während er sprach, spritzte Blut aus seinem Mund. „Glaub bloß nicht, dass die Sache schon zu Ende ist. Wenn es sein muss, werde ich wiederauferstehen, um dich zu töten.“

Ein solcher Hass passte nicht zu so einem jungen Menschen. Der Junge konnte nicht älter als zwanzig sein. Seine dunklen Haare erinnerten Strider an Reyes, und zwar in der Zeit, als sie noch im Himmel gelebt hatten. Sein Gesicht war von Schnittwunden übersät, und aus den Löchern in seiner linken Schulter und im Bauch sickerte Blut. Sie hatten beschlossen, diese Jäger zu töten und keine Gefangenen zu machen, doch nun musste Strider feststellen, dass er diese Entscheidung bereute.

Was keinen Sinn ergab. Wenn der Junge gekonnt hätte, hätte er Strider, ohne zu zögern, den Garaus gemacht. Trotzdem. Die Stärke, die er angesichts seiner Niederlage ausstrahlte, war bewundernswert.

Seufzend zog sich Strider das T-Shirt aus, riss den Stoff in zwei Streifen und verband zuerst die Schulter des Burschen.

„Was, zum Teufel, machst du da?“, knurrte der Junge.

„Dir das Leben retten.“

„Nachdem du gerade versuchst hast, es mir zu nehmen? Nein. Hölle, nein. Ich will nicht von einem Dämon gerettet werden.“ Er versuchte wegzurutschen, war jedoch so schwach und zittrig, dass er nur wenige Zentimeter weit kam.

„Dein Pech.“ Strider nahm den anderen Stoffstreifen und machte einen Druckverband auf dem Bauch des Schwerverletzten. „Jäger bekommen von mir nie, was sie wollen.“

Es herrschte angespanntes Schweigen. Dann kam ein schwaches: „Das ändert gar nichts.“

„Gut. Ich wollte auch nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst.“

Endlich gab der Junge auf und hielt still, während Strider ihn verband. Und das war gut so. Denn sein Dämon hatte angefangen, die Sache als Herausforderung aufzufassen. „Und, was haben wir getan, dass du uns so abgrundtief hasst?“

Dem Jungen waren die Augen zugefallen. Bei Striders Frage riss er sie wütend auf. „Als ob du das nicht wüsstest.“

Strider verdrehte die Augen. „Wie du meinst, Kumpel. Aber nur damit du es weißt: Wir können nicht überall gleichzeitig sein, und wir haben genug mit unserem eigenen Leben zu tun. Wir können also unmöglich für all das verantwortlich sein, was wir deiner Meinung nach den Menschen angetan haben, die du liebst.“

„Ich heiße nicht,Kumpel’, Arschloch.“

Wie nett von ihm, alles zu ignorieren, was Strider sonst noch gesagt hatte. „Ich dachte einfach, es wäre netter, als dich ,Schweizer Käse’ zu nennen.“

„Fahr zu Hölle.“

„Da war ich schon.“

Der Junge fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Also gut. Du willst den Namen des Mannes wissen, der dich eines Tages vernichten wird? Dominic. Ich heiße Dominic.“

„Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht daran erinnern, dich nach deinem Namen gefragt zu haben. Der ist mir nämlich so was von egal“, erwiderte Strider, und es stimmte. „Und jetzt, da ich deinen bemitleidenswerten Arsch gerettet habe, kannst du eine Nachricht für mich überbringen. Sag Galen, dass wir von der Frau wissen. Von der Frau, die einen Dämon in sich aufgenommen hat, falls du konkretere Angaben brauchst.“

Dominic, der bereits ziemlich blass war, wurde kalkweiß. „Ich weiß nicht … wovon du … redest.“ Der Blutverlust machte sich bemerkbar, und der Junge japste nach Luft.

Ja. Sicher.

Auf einmal fielen mehrere Schatten über den am Boden liegenden Menschen, und Strider blickte auf. Die meisten der anderen waren näher gekommen und standen jetzt um die beiden herum. Nicht ein einziger kritisierte ihn für seinen Ungehorsam. Stattdessen verdunkelten auch ihre Gesichter sich vor Mitgefühl.

Er wandte sich wieder dem Jungen zu. „Und tu dir selbst einen Gefallen“, fuhr er fort, während er seine Flickarbeiten beendete. „Wenn du wieder in euer Schlupfloch zurückkehrst – wo immer das auch sein mag –, sieh dir euren Anführer mal ganz genau an. Ich weiß, dass seine Flügel ihn wie den Engel aussehen lassen, der er zu sein behauptet. Aber weißt du was? Er ist einer von uns – ein von einem Dämon besessener Unsterblicher. Nur dass sein Dämon zufälligerweise Hoffnung heißt. Warum, denkst du, blickst du immer so optimistisch in die Zukunft, wenn du in seiner Nähe bist? Warum, glaubst du, verspürst du immer so eine entsetzliche Enttäuschung, wenn du ihn verlässt? Das ist sein Werk. Daraus zieht er seine Kraft. Er baut andere auf und zerstört sie dann wieder.“

„Nein. Nein … du … lügst …“ Dominic fielen die Lider zu. Und dieses Mal gingen sie nicht wieder auf. Rings um seine Augen und um seinen Mund hatten sich vor lauter Anstrengung und Schmerz Falten eingegraben, und seine Wangen waren eingefallen. Er brauchte eine Bluttransfusion, doch da es hier keinerlei medizinisches Gerät gab, war das unmöglich.

„Schreibt Lucien eine Nachricht, und sagt ihm, er soll noch mal versuchen, sich herzubeamen. Egal, wo er ist.“ Strider ballte die Fäuste. Er wollte nicht, dass dieser Dummkopf starb. Nicht nachdem er sich solche Mühe gegeben hatte.

Er hörte Kleidung rascheln, als Gwen seiner Anweisung folgte. Wenige Sekunden später sagte sie: „Ja! Er hat es geschafft. Er ist am Tempel und wird unseren Energiespuren folgen, um uns zu finden.“

Wo Lucien sich auch aufhielt, er konnte sich überall hinbeamen. Allerdings wusste er nicht aus dem Stegreif, wohin jemand, den er verfolgte, gegangen war. Deshalb musste er den energetischen Spuren folgen, die derjenige auf der spirituellen Ebene hinterlassen hatte.

Strider nahm das Gesicht des Jungen zwischen die Hände und schüttelte es. „Mach die Augen auf, Dominic.“

Ein Moment verstrich. Nichts. Er schüttelte ihn noch mal. Dominic stöhnte.

„Mach … die … Augen … auf.“ Er sprach so wütend und bedrohlich, dass er damit sogar die Toten geweckt hätte. Dominic hatte gedroht wiederaufzuerstehen. Jetzt konnte er beweisen, dass er es ernst gemeint hatte.

Endlich machte er die Augen auf. „Was willst du?“, fragte er erschöpft. Sein Atem ging schwer und stoßweise.

„Einer von uns ist auf dem Weg hierher, und sobald er da ist, wird er dich in ein Krankenhaus bringen. Du wirst leben. Und du wirst die Nachricht überbringen, die ich dir gegeben habe. Ach, übrigens – willst du den Namen des Typen wissen, der dich gerettet hat? Er lautet Strider. Und ich würde es als persönlichen Gefallen betrachten, wenn du Galen wissen ließest, dass ich kommen werde, um ihn zu holen.“ Und wie Galen würde auch Strider keine Gnade zeigen. Galen hatte einen großen Fehler gemacht, als er Misstrauen mit dieser Frau vereint hatte, denn jetzt würde Strider Galen töten. Und er könnte Hoffnung an jemanden seiner Wahl binden.

Niederlage lachte fröhlich. Das Spiel kann beginnen.

Ja, dachte Strider erbittert. Das Spiel kann beginnen.

15. KAPITEL

Aeron rauschte durch die Luft und hielt Olivia fest in seinen Armen. Sie selbst hatte die Arme ausgebreitet, während ihre Haare im Wind in alle Richtungen flogen. Alle paar Sekunden seufzte sie glücklich, und er stellte sich vor, wie sie lächelte. Offensichtlich vermisste sie das Fliegen sehr.

„Macht es dir Spaß?“ Er musste einfach fragen.

Sie antwortete nicht.

Schon seit sie Gillys Wohnung verlassen hatten, schwieg sie. Offenbar war sie wütend auf ihn. Immerhin hatte er sie heiß gemacht und dann fallen lassen. Aber er war auch wirklich ein Vollidiot. Warum sonst hätte er Lysander versprechen sollen, ihr die harte Realität des Lebens zu zeigen? Und zwar so schnell wie möglich? Aber das funktionierte natürlich nicht, wenn er ihr jedes Mal, wenn sie ihn anlächelte, sexuelles Vergnügen bereitete. Jedes Mal, wenn sie ihn so süß darum bat. Und ihn berührte.

Verdammter Vollidiot.

Ihre Wut machte ihm zu schaffen, das musste er zugeben, doch es war für sie beide besser, wenn er sie weiter schürte. Wenn sie kapitulierte, könnte Legion zurückkehren. Lysander würde dafür sorgen, dass Aeron und Legion begnadigt würden – oder es zumindest versuchen. Diese Einschränkung war Aeron keinesfalls entgangen. Aber trotzdem. Es wäre schön gewesen, mit Olivia … Nein. Nein. Alles andere war unwichtig. Sowohl Olivia als auch irgendein gemeinsames Leben, das er sich zusammen mit ihr aufbauen könnte.

Allein der Gedanke war schon paradox. Denn wenn sie bliebe, hätte er kein Leben mehr, sondern nur noch eine Handvoll Tage.

Plötzlich hörte er … Irritiert zog er eine Augenbraue hoch. Wimmerte Zorn etwa? Er hörte genauer hin. Gütige Götter, der Dämon wimmerte tatsächlich. Weil sie Olivia nicht haben konnten?

Dann waren sie beide Idioten.

Als sie die Burg erreichten, landete er auf den Stufen vor dem Haupteingang und setzte sie ab. Auf keinen Fall würde er mit ihr noch mal in sein Schlafzimmer fliegen. Denn allem Anschein nach konnte er sich nicht mit Olivia und einem Bett in einem Raum aufhalten, ohne den Verstand zu verlieren.

„Komm mit.“ Er packte ihre Hand und zog sie ins Foyer. Sie trug wieder ihre lange weiße Robe, die wie ein Sack an ihr herunterhing und ihre sündhaften Kurven verhüllte. Er war extra zur Burg geflogen und hatte sie geholt, bevor er Olivia aus der Stadt hierhergebracht hatte. Und dieser Rundflug war für ihn überlebensnotwendig gewesen.

Die Frau war die leibhaftige Gefahr. Als sie dampfend und nackt und offensichtlich scharf auf ihn aus der Dusche gekommen war, wäre er vor Lust beinahe an Ort und Stelle umgekommen. Und wenn er gestorben wäre, hätte er nur eines bereut: dass er sie nicht noch mal so hätte sehen können.

Ihre Brüste waren klein, aber fest, und ihre Brustspitzen hatten diesen köstlichen Pflaumenfarbton. Ihre Haut war wie eine flauschige Wolke, gemischt mit Sahne und einem Schuss Ambrosia. Und diese Schokoladenhaare, deren Locken ihr bis zur Taille reichten … Wie gemacht, um meine Hände darin zu vergraben, dachte er.

Doch aus irgendeinem Grund hatte er es nicht getan. Sie hatte gestöhnt, sich gewunden und nach mehr gebettelt. Hölle noch mal, sogar Zorn hatte gestöhnt, sich gewunden und nach mehr gebettelt. Und er war kurz davor gewesen, beiden nachzugeben. Aber dann hatte Olivia ihn auf einmal sanfter geküsst, was ihn enttäuscht und verärgert hatte, und diese brisante Kombination hatte ihn zum Glück zurück in die Realität katapultiert.

Dennoch hätte er deswegen weder enttäuscht noch verrgert sein sollen, sondern überglücklich. Stattdessen hatte er sich dabei ertappt, wie er darüber nachdachte, ob ihr Verlangen nach ihm abgeflaut war. Ob sie lieber jemand anderen wollte. Jemanden wie Paris oder William. Immerhin hatte sie beide unter der Dusche erwähnt, während sie sich gestreichelt hatte. Bei diesem Gedanken lechzte er wieder danach, sie außer Kontrolle zu erleben. Und zwar seinetwegen. Zu spüren, wie sie die Fingernägel an seinen Rücken presste und die Zähne an seinen Hals drückte.

Was war nur los mit ihm?

„Hast du das gehört?“, fragte Olivia und riss ihn aus seinen düsteren, sinnlichen Gedanken. Sie ließ seine Hand los – meins, knurrte Zorn, der nicht mehr weinte, sondern schon wieder Ansprüche stellte – und blieb stehen.

Obwohl er sich geschworen hatte, ab jetzt rigoros gegen solche Bemerkungen des Dämons vorzugehen, brachte er es nicht über sich. Schlappschwanz. „Was gehört?“ Auch er blieb stehen und horchte. Außer dem Gegrummel seines Dämons vernahm er nur Stille. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an, und wie immer, wenn er das tat, beschleunigte sich sein Herzschlag. „Ich höre nichts.“

„Aber diese Stimme …“ Sie wirbelte im Kreis herum und suchte mit dem Blick das Foyer ab. „Sie sagt mir, dass ich deine Eier in eine Hand nehmen und dir mit der anderen einen runterholen soll.“

War es möglich, dass sie seinen Dämon hörte und … Moment. Was? „Eine Stimme sagt dir, du sollst mich sexuell belästigen?“ Dann war es nicht Zorn. Der Dämon hatte nichts dergleichen geäußert. Leider.

„Ja.“

„Ist das ein Versuch, mich zu verführen?“ Wie einfallsreich diese zum Anbeißen schöne Frau doch war, die eine Vorliebe für spärliche Bekleidung hatte, ihm ungezogene Fragen stellte und splitterfasernackt aus dem Badezimmer kam. „Willst du …“

„Nein! Das gefällt mir nicht!“, unterbrach sie ihn. „Ich höre die Worte und denke sie auch, aber es sind nicht meine. Das ergibt keinen Sinn, ich weiß, aber anders kann ich es nicht beschreiben.“

Aeron hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Torin kam die Treppe heruntergelaufen, indem er immer zwei Stufen auf einmal nahm, und befand sich gerade auf halber Höhe. Heute trug er einen schwarzen Rollkragenpullover, schwarze Handschuhe und eine Hose, die so weit auf dem Boden schleifte, dass, selbst wenn er sich setzte und ihm die Socken bis unter die Knöchel herunterrutschten, kein Zentimeter Haut zu sehen wäre.

„Köstlich“, hörte Aeron Olivia murmeln. „Ich könnte dich auffressen.“

„Du musst aufhören, solche Sachen zu sagen, Olivia.“ Aeron warf ihr einen mahnenden Blick zu – nur um sofort die Zähne aufeinanderzubeißen und in sich hineinzufluchen. Denn entgegen seiner Erwartung sah sie gar nicht ihn an, sondern Torin. Als wäre er ein saftiges Steak und als stünde sie kurz vor dem Hungertod.

Meins, zischte Zorn bedrohlich.

Aeron knackte mit dem Kiefer, als plötzlich Wut in ihm hochstieg – auf Torin. Es war nicht so, als interessierte es ihn, wen Olivia begehrte. Aber immerhin hatte sie ihre Unsterblichkeit für ihn aufgegeben. Er war es, der ihr Spaß bereiten sollte. Ihn wollte sie in ihrem Körper willkommen heißen. Sie sollte nicht so wankelmütig sein.

„Äh, wie bitte?“ Ein verwirrter Torin blieb am Fuß der Treppe stehen.

Aeron musterte seinen Freund in dem Versuch, ihn mit Olivias Augen zu sehen. Außer dem verblüffenden Kontrast von weißblonden Haaren und schwarzen Augenbrauen, der glatten, naturgebräunten – nicht tätowierten – Haut und, okay, okay, vielleicht diesen durchdringenden grünen Augen war er gar nicht so besonders attraktiv. Außerdem war er zwei Zentimeter kleiner als Aeron und nicht so muskulös.

„Ignoriert mich einfach“, flehte Olivia, auf deren Gesicht sich das blanke Entsetzen spiegelte. „Bitte. Ich habe keine Ahnung, was über mich gekommen ist.“

Anscheinend gab Torin sich alle Mühe, nicht zu lächeln. „Ich bin froh, dass du keine Angst mehr vor mir hast.“

Aeron wünschte, er hätte dasselbe sagen können. „Lasst uns mit dem Meeting beginnen.“ Dieser bissige, knurrige Ton kam bestimmt nicht von ihm.

„Ich fürchte, dazu ist es zu spät.“ Torin lehnte sich mit der Schulter an das Geländer. In seinen Augen lag ein schelmischer Glanz. „Alle sind weg.“

„Was!“

„Du bist nicht der Einzige, der große Neuigkeiten hat. Luden hat sich nach Rom gebeamt, nachdem Sabin und die anderen erfahren haben, dass es Galen gelungen ist, Misstrauen an einen seiner Soldaten zu binden. An eine Frau, um genau zu sein.“

Aeron fuhr sich mit der Hand durch die raspelkurzen Haare. Misstrauen, Badens Misstrauen, befand sich jetzt in einer Jägerin? Er hatte zwar gewusst, dass Galen so etwas geplant hatte. Aber trotzdem verblüffte ihn die Nachricht. Das war inakzeptabel!

Bestrafen, fand auch Zorn.

In seinem Kopf tauchten keine Bilder auf, aber das überraschte Aeron nicht im Geringsten. Allmählich gewöhnte er sich daran, dass die stimmliche Präsenz seines Dämons zunahm. „Dagegen müssen wir unbedingt etwas unternehmen, aber wir müssen vorsichtig vorgehen. Ich habe heute erfahren, dass Cronus’ Frau Rhea den Jägern hilft.“

Torin wurde blass. „Du machst Witze, oder?“

„Schön war’s.“

Olivia ergriff Aerons Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. Augenblicklich versiegte Zorns Wut, und Aeron fühlte sich wie ein verschmustes Kätzchen. Die Wut war ihm lieber. „Wenn ich euch irgendwie helfen kann, lass es mich bitte wissen“, sagte sie. „Ich werde noch nicht mal eine Bezahlung von dir verlangen.“

Ihr Versuch, ihn zu ermutigen, war … ermutigend. Verdammt noch mal! Jetzt war er schon genau wie Zorn. Verschmust. Und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Aber sie gefiel ihm. Und zwar mehr, als gut war. Er war es gewohnt, seine Gefühle auszublenden, sie zu ignorieren, damit er sich auf das konzentrieren konnte, was getan werden musste – doch sie weigerte sich, etwas anderes zu akzeptieren als seine vollständige Kapitulation.

Vielleicht war das der Grund dafür, dass … Hart traf ihn die Erkenntnis. Mist. So war es. Das war der Grund, warum er immer sanfte Frauen bevorzugt hatte. Na ja, eigentlich hatte er nicht sie bevorzugt, sondern die anderen, die starken Frauen, gefürchtet. Sanfte Frauen drohten nicht, die Blockade aufzubrechen, die all diese schäumenden Gefühle wegschloss. Starke Frauen hingegen konnten diese Barriere mit dem kleinen Finger einreißen und ihn dazu zwingen, zu fühlen.

„Was?“, fragte Torin mit zur Seite geneigtem Kopf.

„Nichts“, log Aeron. Auf keinen Fall würde er so eine Schwäche vor Dritten eingestehen. „Also, hör zu. Zurück zu den Jägern. Rhea versteckt sie vor uns, während sie in der Stadt sind.“

Torin fletschte die Zähne. „Zuerst erfahren wir, dass Galen die Jäger anführt, und jetzt hilft ihnen auch noch eine Titanen-Göttin. Wenn es noch mehr Überraschungen geben sollte, will ich es gar nicht wissen.“

„Na ja, also, Cronus …“

„Hat mich eben erst besucht“, unterbrach Torin ihn, „aber er hat nichts von alledem erwähnt. Er hat uns lediglich befohlen, unsere Arsche in Bewegung zu setzen, um Scarlet zu finden – wo übrigens gerade die anderen sind. Auf der Suche nach ihr. Er hat mir die üblichen Todes-und Zerstörungsdrohungen um die Ohren gehauen, für den Fall, dass wir sie nicht finden. Und zwar noch heute.“

Offenbar machte der Götterkönig seine ganz private Runde – erst der Besuch bei Aeron, dann bei Torin … Aber warum war es so wichtig für ihn, Scarlet zu finden? Um sicherzustellen, dass Rhea nicht zuerst bei ihr wäre?

Olivia drückte seine Finger, während sie Torin eingehend musterte. „Sieht aus, als könnte ich euch tatsächlich helfen. Aeron möchte, dass ich euch zeige, wo sie sich aufhält, und ich habe mich dazu bereit erklärt.“

Aufmerksam sah Torin sie an. „Ja, Cameo hat schon angedeutet, dass du das Mädchen kennst.“

Als er Cameos Namen aussprach, wurden seine Gesichtszüge weicher. Interessant. Stimmte es also, was die Krieger munkelten, und die beiden hatten was miteinander? Sie konnten einander nicht berühren. Wenn sie also Liebhaber waren, hatten sie andere Wege finden müssen, um einander glücklich zu machen.

Aeron konnte sich nicht vorstellen, Olivia nicht anfassen zu können. Nicht in der Lage zu sein … Konzentrier dich.

„Sag es ihm“, forderte er Olivia auf und zwang sich damit selbst, bei der Sache zu bleiben.

Sie straffte die Schultern und nannte den Aufenthaltsort. So schnell, so einfach. Wenn der Rest doch nur auch so leicht wäre.

„Ich schreibe es den anderen“, sagte Torin erleichtert. Er fragte Olivia weder, woher sie es wusste, noch beschuldigte er sie, ihn reinlegen zu wollen. Selbst wenn er nicht die Wahrheit in ihrer Stimme gehört hätte, er hätte auf Aerons Urteil vertraut.

„Nein. Sag ihnen nicht, wo sie ist“, meinte Aeron. Er warf einen schnellen Blick zum nächstgelegenen Fenster. Zwar waren die Vorhänge zugezogen, doch zwischen den beiden Schals klaffte eine schmale Lücke, die ein wenig Sonnenlicht hereinließ. Bis zur Dämmerung würden noch Stunden vergehen, was bedeutete, dass Scarlet noch schlief. „Sag ihnen, sie sollen nach Hause kommen. Olivia und ich werden uns um Albtraum kümmern. Jetzt, da die Jäger in Buda sind und zu allem Überfluss auch noch ein Artefakt besitzen, will ich, dass hier rund um die Uhr so viele Krieger wie möglich zugegen sind.“

„Geht klar. Kann ich dich trotzdem irgendwie dazu überreden, einen oder zwei Krieger mitzunehmen? Rückendeckung ist manchmal Gold wert.“

„Wir werden keine brauchen. Sie wird bis Einbruch der Dunkelheit schlafen und keine Schwierigkeiten machen. Stimmt’s, Olivia?“

Der Engel nickte widerstrebend. Offensichtlich missfiel es ihr, ihre Informationen mit jemand anderem zu teilen als mit ihm. Trotzdem tat sie es. Aeron zuliebe. Vielleicht könnte er ihr ihre Wankelmütigkeit von vorhin ja vergeben.

Zorn schwieg. Ausnahmsweise lehnte er sich nicht gegen den Gedanken an Vergebung auf. Normalerweise verwirrte dieses Konzept den Dämon.

„Ach so, ich weiß zwar, dass du eigentlich auf weitere Überraschungen verzichten wolltest, aber es gibt da noch eine Sache, die ich dir über unseren Kumpel Cronus erzählen muss“, fuhr Aeron fort. „Es hat sich herausgestellt, dass wir mehr gemeinsam haben als nur unsere Abneigung gegen Galen.“

Torin runzelte die Stirn. „Was soll das heißen?“

Der einzige Weg, ihm diese Nachricht schonend beizubringen, war, es kurz und knapp zu machen. „Er ist vom Dämon Habgier besessen.“

Zuerst klappte Torin die Kinnlade herunter. Dann wurden seine Augen immer größer. Schließlich stolperte er rückwärts, stieß gegen die unterste Treppenstufe und wäre um ein Haar gefallen. „Der Götterkönig ist von einem Dämon besessen? Woher willst du …“

„Lysander hat mir einen Besuch abgestattet.“ Genau wie Aeron wusste mittlerweile auch Torin, dass Engel nicht lügen konnten. „Cronus war im Tartarus eingesperrt, als wir die Büchse geöffnet haben. Es könnte also durchaus einen Sinn ergeben.“

„Wow.“

„Füg noch ein ,Oh’ und ein ,Mist’ ein, und du hast meine erste Reaktion.“

„Wann hat Lysander dich besucht?“, erkundigte sich Olivia. „Und was hat er sonst noch gesagt? Ging es auch um mich? Ich weiß, dass es um mich ging.“ Noch ehe Aeron antworten konnte, fügte sie hinzu: „Willst du eigentlich noch Sex haben, bevor wir aufbrechen?“ Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie nicht sicher, ob sie sich selbst richtig gehört hatte. „Habe ich dich gerade gefragt, ob du Sex mit mir haben willst?“

Das hatte sie, und sein Körper hatte dementsprechend reagiert. Da er nicht zu sprechen wagte – wer wusste, was ihm alles herausrutschen würde? –, nickte er bloß.

Das Entsetzen, das er zuvor in ihrer Stimme wahrgenommen hatte, war jetzt auf ihrem Gesicht zu erkennen. „Aber ich habe es nicht gesagt. Ich meine, natürlich habe ich es gesagt, und ich will es ja auch, aber das war nicht ich. Die Stimme …“

Torin grinste amüsiert. „Sprichst du gerade mit Aeron oder mit mir?“

„Mit mir“, bellte Aeron, und im selben Augenblick erwiderte Olivia: „Mit dir natürlich.“

„Was?“, riefen Aeron und Zorn einstimmig.

Meins!

Torin lachte. Dieser Bastard. „Ich wünschte, ich könnte, Engel, aber dich mit mir zu vergnügen würde dich umbringen, und zwar buchstäblich.“

Sie errötete, wodurch ihre Haut einen glühenden Schimmer bekam.

Abermals knirschte Aeron mit den Zähnen. „Du solltest dieser Stimme besser sagen, dass sie die Klappe halten soll.“ Sprach jemand durch sie? Lysander war mit Sicherheit mächtig genug, um so etwas zu tun, doch der Kriegerengel würde niemals solche Sachen sagen. Sabin könnte es ebenfalls, doch der war nicht hier.

Wer blieb dann noch übrig? Cronus? Rhea? Aber was hätten sie davon?

Olivia straffte von Neuem die Schultern, hob das Kinn auf eine Weise, die Aeron verriet, dass sie ihren Sturkopf eingeschaltet hatte, und sah ihn an. „Vielleicht war es diesmal ja gar nicht die Stimme. Vielleicht war ich es ja. Du bist nämlich gar nicht so lustig, wie ich gedacht habe. Du kannst mir ja nicht mal einen ordentlichen Orgasmus besorgen.“

Torin brach wieder in schallendes Gelächter aus, und dieses Mal wurde Aeron rot. „Das hätte ich gekonnt, wenn ich gewollt hätte.“

„Ach ja? Beweis es mir.“

Ja!

Aus den Tiefen seiner Kehle stieg ein Knurren herauf. Er ging auf sie zu und beugte sich vor, sodass sie sich auf Augenhöhe befanden. Ihr einen Orgasmus besorgen? Es gab nichts, das er mehr wollte. „Wenn du nicht aufpasst, wirst du …“

„Aeron, Aeron!“, rief eine vertraute Stimme.

Mit einem Ruck stellte Aeron sich aufrecht hin, als wäre er dabei erwischt worden, wie er etwas Verbotenes tat. Im Grunde war es ja auch so. Legion war hier. Wie hatte er sie nur vergessen können? Sie und ihre Sicherheit? Statt sich von Olivias Sticheleien provozieren zu lassen, hätte er da draußen sein und sie suchen sollen.

„Ich gehe in mein Zimmer, um Cronus noch mal zu rufen, bevor die Schlammschlacht beginnt“, sagte Torin. „Vielleicht kommt er, vielleicht auch nicht. Falls ja, werde ich ihn fragen, warum sein Name nicht in den Schriftrollen auftaucht und ob er uns vor den Jägern verstecken kann. Ich werde dich über den Ausgang unseres Gesprächs informieren. Bis später, Leute. Ach und, Olivia: Viel Glück mit dieser Stimme.“ Er zwinkerte ihr zu, machte auf dem Absatz kehrt und flitzte die Stufen wieder hinauf.

Wenn du das, was mir gehört, auch nur einmal berührst, wirst du dafür bezahlen, du …

Wirst du wohl aufhören, ihn mit deinen Drohungen zu verscheuchen? blaffte Aeron seinen Dämon an. Er kann dich sowieso nicht hören. Aber hör nicht auf, deine Ansprüche geltend zu machen, hätte er beinahe hinzugefügt. Was war er doch für ein Idiot.

Eine Sekunde später bog Legion um die Ecke. Ihre roten Augen leuchteten wild. Sie blieb stehen, als sie Aeron erspähte, und zischte, als sie Olivia sah. Dann trippelte sie weiter, bis sie vor ihnen stand. Sie atmete schwer und schwitzte.

Instinktiv stellte Aeron sich vor Olivia. „Was ist los?“, fragte er, während die Schuld ihn auffraß. Wenn ihr seinetwegen etwas zugestoßen war …

„Bald wird allesss … bessser sssein …“ In dem Augenblick, als das letzte Wort ihren Mund verließ, knickten ihre Knie ein, und sie stürzte zu Boden.

Aeron bekam sie gerade noch zu packen, ehe sie hart aufschlug, und legte sie sanft ab. Sie war so winzig und federleicht.

„Aeron“, seufzte sie erleichtert, und dann krümmte sie sich vor Schmerzen und grunzte.

„Legion“, sagte er panisch. „Sag mir, was …“

Noch ein Grunzen. Ihre Muskeln verkrampften und entspannten sich wieder, verkrampften und entspannten sich. Ihr Körper schien zu … wachsen? Unmöglich. Oder? Vor seinen Augen wurden ihre Arme, Beine und ihr Oberkörper länger.

Sogar ihre Schuppen fielen wie Tautropfen ab und hinterließen nichts als wunderschöne goldbraune Haut.

Schon bald verwandelte sich ihr Grunzen in nicht enden wollende Schreie. Aeron konnte sehen, wie die Zähne in ihrem weit geöffneten Mund kleiner wurden und sich der Spalt in ihrer Zunge schloss. Als Nächstes sprossen blonde Haare aus ihrer Kopfhaut, und große Brüste begannen sich an ihrem Oberkörper zu formen.

„Was, zum Teufel, geht hier vor?“

„Sie wird … ein Mensch“, flüsterte Olivia. Obwohl sie so viel leiser sprach als er, stand ihr Ton dem seinen in nichts nach in ihrem Schrecken und Entsetzen.

Da er es nicht besser wusste, sprang Aeron auf und rannte um die Ecke. Als er eines der Wohnzimmer erreichte, schnappte er sich eine Decke, die auf dem Sofa lag. In seinem Kopf überschlugen sich die Fragen, und er hatte Mühe, die Geschehnisse zu verarbeiten. Warum? Wie?

Zurück an Legions Seite, legte er die Decke über ihre nackte Haut. Wenigstens hatte sie aufgehört zu wachsen. Und auch zu zucken und zu schreien. Tränen liefen ihr über die Wangen, und ihre Unterlippe zitterte.

Aus dunklen Augen sah sie ihn an. Von dem dämonischen Rot war keine Spur mehr zu sehen. „Aeron“, seufzte sie. „Ich bin … so froh, dich … zu … sehen.“

Sie klang nicht mehr wie ein Kind, und auch das Lispeln war verschwunden. Obwohl ihr die Worte nur zögerlich über die Lippen kamen, als wüsste sie nicht genau, wie sie ihre neue Zunge benutzen sollte, klang sie wie eine Erwachsene. Ihre Stimme war voll und samtig.

Entgeistert hockte er sich neben sie und strich ihr die Haare aus der Stirn. „Sag mir, wie das passiert ist“, forderte er sie so behutsam wie möglich auf. Er wollte sie nicht verängstigen.

Sie hob einen zitternden Arm und fuhr ihm mit der Fingerspitze über die Lippen und den Kieferknochen. „So schön ist mein Aeron.“

Zum ersten Mal, seit er Legion begegnet war, verspürte er den Drang, sich ihrer Umarmung zu entziehen. Er liebte sie, das tat er wirklich, aber die Bewunderung auf ihrem neuen Gesicht – eine Bewunderung, die er schon hundertmal gesehen und nach der er sich einst gesehnt hatte – fühlte sich jetzt … falsch an. Denn ohne das rote Leuchten in ihren Augen konnte er das sinnliche Verlangen darin sehen.

Gütige Götter.

Sie war ein Fest für die Augen, sogar hübscher als Olivia. Haut wie Honig, Augen wie Zimt und Lippen, so rot wie Erdbeeren. Ihre Nase war klein und kess, und ihre Augenbrauen verliefen in perfekten Bögen. Sie war makellos schön. Aber …

Sein Blut erhitzte sich nicht, und seine Finger kribbelten nicht, wenn er sie berührte, und der Gedanke, die Decke wegzuziehen, um einen Blick auf ihre Kurven zu erhaschen, stieß ihn ab. Lieber hätte er sich die Augen ausgestochen. Und Zorn, der das Mädchen genauso mochte wie die alte Legion, war still und stellte keinerlei Besitzansprüche.

„Es gibt nur eine Möglichkeit, wie so etwas passieren kann“, sagte Olivia mit so viel Furcht in der Stimme, dass sich Aerons Magen zusammenzog. „Sie hat einen Handel mit Luzifer gemacht.“

Einen Handel mit dem Teufel? Um was? Sie besaß doch schon alles, was sich ihr Herz nur wünschen konnte. „Stimmt das?“ Und falls ja, was bedeutete das für sie? Und für ihn? Was könnte Luzifer im Gegenzug gefordert haben?

Zorn setzte sich schlagartig in Bewegung und tigerte in Aerons Kopf auf und ab. Zwar flackerten keine Bilder auf, aber auf einmal war der Dämon unruhig. Es war, als gefiele ihm nicht, was hier vor sich ging.

Legion starrte zu Olivia hoch. „Natürlich stimmt es … nicht. So etwas … Abscheuliches … würde ich niemals tun.“

„Du lügst“, erwiderte Olivia. „Ich kann die Unaufrichtigkeit in deiner Stimme hören.“

Das konnte Aeron nicht. Aber dafür hörte er die Aufrichtigkeit in Olivias Stimme. Trotzdem. Er wusste nicht, wem er glauben sollte. Legion, die er liebte. Oder Olivia, nach der er sich verzehrte, die er aber nicht haben konnte.

Behutsam setzte Legion sich auf. Die Decke rutschte bis zu ihrer Taille herunter. Hastig schaute Aeron weg, jedoch nicht, ohne einen unfreiwilligen Blick auf ihre harten Brustspitzen zu erhaschen.

Am liebsten hätte er sich die Hornhaut mit Sandpapier abgeschliffen.

Würde dieser Tag denn nie zu Ende gehen?

Olivia beobachtete Legion dabei, wie sie einen Arm ausstreckte, ihn inspizierte und dann mit dem anderen dasselbe tat. Sie legte die Hände um ihre Brüste, kniff sich in die Brustspitzen und keuchte bewundernd.

„Ich bin hinreißend“, sagte sie aufgeregt. Mit jedem Mal, das sie sprach, kamen die Worte flüssiger über ihre Lippen. Offenbar gewöhnte sie sich allmählich an ihre neue Zunge. Sie hob den Blick, der sich mit Selbstgefälligkeit füllte, als sie Olivia in die Augen sah. „Ich bin tausendmal schöner als du.“

Vielleicht. Aber das kümmerte Olivia nicht. Wie Aeron wohl darüber dachte? Er war sorgfältig darauf bedacht, Legion weder anzusehen noch zu berühren.

Küss seinen Nacken … leck seine Haut… und lass Legion dabei zusehen.

Olivia hörte auf zu atmen. Da war sie wieder. Die Stimme. Die Versuchung. Seit Aeron sie zurück in diese Burg geschleift hatte, quälte sie sie und zwang sie, die unmöglichsten Dinge zu tun – die allesamt darauf abzielten, Aeron ins Bett zu locken. Streichle seinen Penis, zieh dich vor ihm aus, und tanze nackt für ihn, flirte mit seinem Freund, um ihn vor Eifersucht wahnsinnig zu machen.

Eigentlich hätte sie nichts von alledem irgendwie gestört. Nur entsprangen diese Gelüste nicht ihrem Innern. Okay, sie wollte seinen Penis streicheln, und, okay, sie wollte sich auch für ihn ausziehen. Was allein dadurch belegt war, dass sie sich erst vor Kurzem nackt vor ihn gestellt hatte. Und, okay, ihr gefiel sogar der Gedanke an seine Eifersucht. Aber wann immer die Stimme diese Sehnsüchte hervorrief, blieben dunkle Flecken auf ihrer Seele zurück. Sie konnte sie spüren.

Wie konnte das geschehen? Und was geschah da überhaupt?

Aerons Räuspern riss sie aus ihren Gedanken. „Komm, Legion, wir besorgen dir was zum Anziehen.“

„Ich bin gerne nackt“, sagte sie und zog einen Schmollmund.

„Tja, Pech gehabt.“ Den Blick immer noch abgewandt, hielt er ihr die Hand hin. „Halt dich fest, dann ziehe ich dich hoch.“

„Nein.“ Während sie Olivia ansah, stand sie auf, warf die Arme um Aerons Hals und presste sich an seinen muskulösen Körper. „Ich möchte, dass du mich trägst.“

Er verzog zwar das Gesicht, nahm sie jedoch auf den Arm. „In Ordnung. Olivia, komm mit. Bitte.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, stapfte er die Stufen hinauf.

Natürlich hätte sie ihn keine Sekunde mit der zum Menschen gewordenen Dämonin allein gelassen, aber sie war dennoch dankbar, dass er ausdrücklich nach ihrer Gesellschaft verlangt hatte. Auf halbem Weg zu seinem Zimmer hörte sie: Streichle seinen Hintern … und ertappte sich dabei, wie sie tatsächlich die Hand nach ihm ausstreckte, bis ihre Finger nur noch wenige Zentimeter von seinem Hinterteil entfernt waren. Mit finsterem Blick zwang sie sich, den Arm fallen zu lassen, doch es war zu spät. Denn schon hatte sich ein weiterer dunkler Fleck auf ihrer Seele gebildet.

Was würde geschehen, wenn diese Dunkelheit sie verschlang?

Hör auf, schrie sie in ihrem Kopf. Wer oder was auch immer du bist, bitte hör auf.

Legion legte den Kopf an Aerons Schulter, ließ ihren Blick wieder zu Olivia schweifen und streichelte die Kontur seines Rückens. „So stark“, schnurrte sie.

Olivias Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als Wut jede Zelle ihres Körpers durchdrang. Nur ich darf ihn streicheln. Und nur ich darf ihm Komplimente machen.

Unternimm etwas. Du verdienst Aeron, nicht Legion. Also beweis es ihm. Stell dich vor ihn, sink auf die Knie, öffne seine Hose, und nimm seinen Penis in deinen Mund.

Sie stolperte über die eigenen Füße. Im Nu war die Wut verschwunden, und es blieb nur Verzweiflung. Was geschehen würde, wenn die Dunkelheit sie verschlänge, hatte sie sich gefragt. Diese jüngste Einflüsterung führte ihr die Antwort wie von selbst vor Augen. Sie wäre nicht länger in der Lage, zwischen ihren eigenen Wünschen und Gefühlen und denen der Stimme zu unterscheiden. Was die Stimme gesagt hatte, würde auch sie wollen. Unbedingt.

Bleib stark. Das durfte sie nicht geschehen lassen.

„Ich möchte mit dir reden … unter vier Augen“, fuhr Legion fort, und die Pause, die sie dabei einlegte, war nicht ihrer Zunge geschuldet, sondern einzig und allein einer sinnlichen Andeutung. „Schick den hässlichen Engel weg.“

„Hör auf damit“, blaffte er. Dann fügte er ruhiger hinzu: „Du musst damit aufhören.“

Endlich verschwand die Selbstgefälligkeit aus ihrem Blick, und mit tränenerfüllten Augen sah sie Aeron an. „Liebst du mich nicht mehr, Aeron?“

„Natürlich tue ich das, aber das bedeutet nicht … Wir können nicht … Verdammt noch mal!“ Er bog um die Ecke, stürmte den Flur entlang und trat seine Zimmertür förmlich aus den Angeln. Hastig setzte er Legion ab und zog sich sogleich aus seinem Zimmer zurück. „Du kannst dir von meinen Sachen nehmen, was du willst. Hauptsache, du ziehst dich an.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schloss er energisch die Tür und wirbelte zu Olivia herum. „Erzähl mir von ihrer Abmachung mit Luzifer.“

Geh auf die Knie …

„Nein!“ Olivia ging ein, zwei Schritte von ihm weg.

„Olivia“, ermahnte Aeron sie und blickte finster drein. „Hör auf.“

Jetzt küss ihn schon … irgendwo, überall…

Ihr Blick fiel auf seine Lippen, und sie leckte über ihre eigenen. Ein Kuss war so unschuldig und so notwendig. Ich muss … widerstehen …

„Hör auf damit“, bellte er wieder.

Sie schluckte. „Womit?“ Hinter der Tür konnte sie Legion herumstampfen hören, konnte hören, wie sie Gegenstände auf den Boden warf und etwas von „dämlichen Engeln“ murmelte.

„Erstens damit, dich meinen Befehlen zu widersetzen, und zweitens damit, mich verführen zu wollen.“

„Warum sollte ich dich verführen wollen? Man kann ja nicht gerade sagen, dass du im Bett der Knaller bist.“ Sofort nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, schlug sie sich die Hand vor den Mund. Also wirklich, wie konnte das passieren? fragte sie sich wieder. Die Stichelei war nicht von ihr gekommen, sondern von der Stimme.

Aeron wurde wütend. „Nicht der Knaller? Ich habe dich zum Höhepunkt gebracht, als wir zum ersten Mal … beim ersten Mal eben, verdammt!“

Ihre Augen wurden größer, als sie plötzlich verstand. Die Stimme barg noch eine Gefahr: Sie, Olivia, mochte die Resultate. Aeron konnte seine Wut nur mit Mühe im Zaum halten, und der Gedanke daran, dass er außer Kontrolle geriet, weil er fest entschlossen war zu beweisen, wie gut er sie befriedigen konnte, gab ihr einen Kick.

Widerstehen? Vielleicht war das gar keine so gute Idee.

Wirklich? Na ja, wenn das so ist, wird sich Aeron in die Stimme verknallen und nicht in dich. Willst du das? Endlich. Ein rationaler Gedanke. Er durchbrach die Dunkelheit und ließ einen zarten Lichtstrahl herein.

„Was wirst du mit deiner kleinen Dämonenfreundin machen?“, fragte sie ihn und kehrte damit zu dem einzigen Thema zurück, das im Augenblick von Bedeutung war.

Aeron fuhr sich mit der Hand über sein auf einmal müde wirkendes Gesicht. Das tat er oft in letzter Zeit. „Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll.“

„Für einen Deal dieser Größenordnung muss sie ihm ein großes Versprechen gegeben haben.“

„Wie zum Beispiel?“

Olivia zuckte die Schultern. „Die Antwort darauf kennt nur sie. Na ja, und Luzifer, aber ich garantiere dir, dass er uns nichts verraten wird.“

„Woher weißt du, dass sie mit Luzifer verhandelt hat und nicht mit Hades? Und spielt der Handelspartner überhaupt eine Rolle?“

„Und ob er eine Rolle spielt. Aber Hades ist derzeit eingesperrt und nicht in der Lage, solche Abkommen zu schließen. Ihn kannst du also außer Acht lassen.“ Als die Titanen ihrem unsterblichen Gefängnis entkommen waren und die Griechen gestürzt hatten, befand sich auch Hades unter den Unterlegenen. Luzifer ließen die Titanen jedoch in Ruhe. Irgendjemand musste ja schließlich über die Unterwelt herrschen. Selbst wenn es jemand so Abscheuliches war wie der Teufel, der Schöpfer des Bösen. Immer noch besser als der verrückte Hades.

Reib deinen Körper an seinem …

„Genug jetzt!“ Wenn es noch lange so weiterginge, würde sie ihren Kopf bis zur Besinnungslosigkeit gegen die Wand schlagen. Dann wäre Schluss mit der Dunkelheit – egal, wie sehr ihr die Ergebnisse gefielen. „Ich werde es nicht tun, auch wenn ich es gern möchte. Du kannst also die Klappe halten.“

Ungeduldig warf Aeron die Arme in die Luft. „Was wirst du nicht tun?“

„Egal. Ich meine nur, na ja, an deiner Stelle würde ich Legion nicht trauen, solange ich nicht mehr über ihren Teil der Abmachung wüsste. Womöglich hat sie Geheimnisse ausgeplaudert oder versprochen, einen deiner Freunde umzubringen.“

Er schüttelte den Kopf und schien sich plötzlich sehr sicher zu sein. Mit verschränkten Armen lehnte er sich an die Tür. „Das würde sie nicht tun. Sie liebt mich.“

Sein Vertrauen in eine hinterhältige Dämonin war wirklich lästig. Warum konnte er nicht genauso für Olivia empfinden, einen ehemaligen Engel, der noch nie gelogen hatte? Warum versuchte er fortwährend, sie von sich zu stoßen?

In diesem Moment ging die Schlafzimmertür schwungvoll auf, und Aeron stolperte ein paar Schritte nach hinten. Legion fing ihn mit einem heiseren Lachen auf. Schnell hatte er sich wieder gefangen und drehte sich um. Sie trug eins von seinen T-Shirts und eine seiner Jogginghosen. Beides schlackerte an ihrem schlanken Körper.

„Bist du jetzt zufrieden?“, fragte sie und drehte sich auf den Zehenspitzen im Kreis. „Das ist … alles, was … ich finden konnte. Aber weißt… du, was das … Lustige ist? Ich sehe trotz…dem gut aus.“ In ihrem Überschwang kehrten die zögerlichen Pausen in ihre Sprechweise zurück.

Rückwärts gehend entfernte er sich von ihr und bewegte sich in Olivias Richtung. Olivia legte ihm die Handflächen auf die Schulterblätter, um ihn am Weglaufen zu hindern, und ihr Herzschlag wurde schneller. Körperkontakt.

„Olivia und ich müssen jetzt in die Stadt. Du wirst hierbleiben. Und diesmal meine ich es ernst. Du wirst nirgendwo hingehen. Ich muss nämlich mit dir reden, wenn ich zurück bin.“

Ihr Sirenenlächeln verblasste zusehends. „Was? Nein! Z… ur Hölle, nein. Ich komme mit dir.“

„Du bleibst hier. Darüber gibt es keine Diskussion.“

Bockig stampfte sie mit dem Fuß auf. „Und warum nimmst … du dann den häss…liehen Engel mit?“

Ich bin nicht hässlich!

„Ich brauche sie“, war alles, was Aeron sagte, und es war, als läge Stahl in seiner Stimme. Glühender Stahl.

Legion zischte, als sie Olivia fixierte, die immer noch hinter Aerons Rücken hervorspähte. In ihrem Blick lag mehr Hass, als Olivia je bei irgend)emandem gesehen hatte. „Wenn du ihn anfasst … bringe ich dich um. Ver…standen?“ Anscheinend fiel es ihr umso schwerer zu sprechen, je intensiver ihre Gefühle waren.

„Du wirst ihr kein Haar krümmen.“ Ohne sich auch nur einen Zentimeter zu drehen, schlang Aeron einen starken Arm um Olivias Taille und presste seine Finger gegen ihren unteren Rücken. „Und du wirst ihr nicht noch mal drohen. Hast du das verstanden? Das werde ich nicht tolerieren.“

Legion presste die Lippen aufeinander, und einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann lächelte sie. Es war ein gezwungenes, viel zu süßes Lächeln. „Alles, was … du willst … Aeron. Ich liebe dich und will nur, dass … du glücklich bist.“

Eine Lüge. Das hörte Olivia in den Untertönen von Legions Stimme. Nicht, was ihre Liebe zu Aeron betraf, sondern hinsichtlich ihres Versprechens, Olivia in Ruhe zu lassen. Sie würde ein Auge auf sie haben müssen, denn sie hatte schon Dämonen bei der Arbeit erlebt und wusste aus erster Hand, wie heimtückisch sie waren und wie viel Schaden sie anrichten konnten.

„Versuch es ruhig“, sagte sie und wusste nicht, ob die Herausforderung von ihr oder der verlockenden Stimme kam. Aber das war ihr in diesem Moment auch egal. „Ich habe nämlich vor, noch viel mehr zu tun, als ihn bloß anzufassen.“

Aeron wirbelte herum und nagelte sie mit einem durchdringenden Blick fest. Seine Pupillen waren genauso geweitet wie in Gillys Appartement, kurz bevor er sie geküsst hatte, und sein Brustkorb hob und senkte sich, als bekäme er nur schwer Luft. „Kein … Wort… mehr … von … euch … beiden.“

Küss ihn…

Ausnahmsweise widerstand sie nicht. Zur Hölle mit der Dunkelheit. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und legte ihre Lippen auf seine. Legion sollte wissen, dass Olivia genauso entschlossen war wie sie, diesen Mann für sich zu gewinnen und in jeder erdenklichen Art und Weise zu besitzen.

Nur ganz kurz schob sie ihre Zunge in seinen Mund. Gerade lange genug, um ihn zu schmecken. Er öffnete die Lippen, wollte eindeutig mehr, und das überraschte sie nicht nur, sondern fachte ihr Verlangen zusätzlich an. Trotzdem zwang sie sich dazu, sich ihm zu entziehen.

„Komm, Aeron“, sagte sie. „Wir haben etwas zu erledigen. Gemeinsam.“ Ohne einen Blick zurück auf Aeron oder die nun wüst fluchende Legion zu werfen, schlenderte sie davon, als fürchtete sie sich nicht vor dem restlichen Tag.

16. KAPITEL

Ich kann nichts sehen“, flüsterte Aeron eine Stunde später. „Es ist zu dunkel.“ Zudem war es eine unnatürliche Dunkelheit. Nicht ein Fleckchen Licht war zu sehen, und die Taschenlampe, die er mitgebracht hatte, erhellte nichts. Stattdessen wurde ihr Strahl von der erstickenden Finsternis vollständig verschluckt.

„In der Nacht, als mir Lysander erschienen ist, sagte er mir, dass ich bis zum Ablauf des Ultimatums in jeder wichtigen Hinsicht ein Engel bleiben werde“, sagte Olivia. „Ich denke also, ich kann …“

„Schhh. Nicht so laut.“ Er wollte nicht, dass sie zur Zielscheibe wurde. Der Gedanke machte ihn richtiggehend wütend, doch er konnte nur sich selbst die Schuld geben. Er hätte sie nicht herbringen dürfen, ob Albtraum nun eine Bedrohung darstellte oder nicht. Aber er … er hatte sie einfach nicht in Legions Reichweite lassen wollen. Oder in die Nähe von Torin. Und außerdem hatte er Lysander versprochen, Olivia die rauen Seiten seines Lebens zu zeigen.

Ich bin so ein Idiot. Ein Idiot, der in seinem selbst verursachten Chaos unterging. Sehnsucht nach Olivia – jawohl. Sie hatte nicht das kleinste bisschen abgenommen, ganz im Gegenteil. Eine eifersüchtige, blutrünstige Pseudotochter, die fest entschlossen war, seinen Engel zu töten, war auch vorhanden. Ein Schwur, besagten Engel zur Rückkehr nach Hause zu bewegen – ja. Auch wenn er sich jetzt schon für diesen Schwur hasste. Sie nach Hause schicken und niemals wissen, wie es ihr ginge? Folter!

„Sie schläft“, sagte Olivia, und zwar wieder in voller Lautstärke.

„Sie kann aufwachen“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dunkelheit hatte ihm nie etwas ausgemacht. Doch als er sich nun zentimeterweise die Stufen zu Scarlets Zuhause hinabtastete, das sich als unterirdische Gruft auf dem örtlichen Friedhof entpuppt hatte, als er gegen – Möbel? Särge? – stieß und er keine Ahnung hatte, was ihn hier erwartete, mischte sich beim Gedanken an die Möglichkeit, Olivia geradewegs in ein blutiges Gemetzel zu führen, Angst unter seine Wut. Wie sollte er sie so beschützen?

„Sie wird nicht aufwachen, das verspreche ich dir. Aber was ich gerade sagen wollte: Da mein Ultimatum noch nicht abgelaufen ist, kann ich vielleicht …“

Als Olivia mitten im Satz abbrach, blieb er stehen und drehte sich langsam um. Sie lief in ihn hinein und machte „uff“. Obwohl er sie nur kurz spürte, genoss er den Körperkontakt. Sie war so weich und warm. Berauschend. Abermals war sein Körper sofort bereit.

Meins, sagte Zorn.

Ich weiß. Das hast du schon gesagt. Immer und immer wieder, verdammt. Und Aeron hatte ihn gelassen. Hatte aufgehört, sich um ihn zu kümmern. Weil … Nein. Denk nicht weiter.

Einen Moment lang herrschte absolute Stille. Ihre Atemzüge waren das einzige Geräusch im Raum. Die Luft war muffig und ganz stickig, roch nach Alter, Staub und Tod, und dennoch wäre er zufrieden gewesen, für immer und ewig hier zu warten. Hier war sie sicher. Hier waren sie zusammen.

„Kannst du vielleicht was?“, hakte er schließlich nach.

„Das.“ Kleine Lichtpunkte flammten auf.

Er blinzelte und rieb sich die Augen. Die Lichtpunkte funkelten direkt auf ihrer Haut, verschmolzen miteinander und wurden immer heller. Schließlich waren sie so hell, dass sie die Schatten verjagten und seine Augen zu tränen anfingen.

„Wie …“

Langsam begann sie zu lächeln, ihr wunderschönes Gesicht strahlte wie der reinste Stern, die himmelblauen Augen eingerahmt von diesen sündhaft langen Wimpern. Er hätte ihr auf der Stelle einen Kuss geben können, der ihr den Atem geraubt hätte. Wag es ja nicht. Doch nun, da er wusste, wie sie schmeckte, und sie sich an ihm gerieben hatte, wie sollte er da noch widerstehen?

Legion. Lysander. Freiheit.

Ach ja. Er hätte fluchen können.

„Manchmal waren die Menschen in der Dunkelheit gefangen, und ich habe ihnen den Weg nach draußen zeigen müssen.“ Olivia verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere und wies mit dem Kinn hinter ihn. „Scarlet ist direkt um die Ecke. Ich kann sie spüren.“

„Danke.“ Mit steifen Bewegungen drehte Aeron sich um. Sogleich betrauerten seine Augen den Verlust ihres Anblicks.

Auch Zorn heulte in lautem Protest auf.

Beruhig dich. Wir sind immer noch bei ihr. Ganz langsam setzte Aeron sich in Bewegung. Kurze Zeit später stand er in einem behelfsmäßigen Schlafzimmer. An mehreren Stellen ragten mörderisch scharfe, fest einbetonierte Spitzen aus dem Boden, zwischen denen Stolperdrähte gespannt waren. Am anderen Ende des Zimmers, abgesichert durch diesen zwielichtigen Parcours, stand ein Sarg.

Warum ein Sarg? Weil sie sich dort zum besseren Schutz einschließen konnte? Kluge Frau, falls es so war.

Er ergriff einen Dolch und ging auf den Sarg zu, wobei er den Spitzen geschickt auswich. Olivia blieb ihm dicht auf den Fersen. Jeder ihrer Schritte war wohlüberlegt.

„Vorsichtig“, murmelte er, als er schließlich direkt davor stand. „Bleib hinter mir.“ Gewappnet für einen Kampf, hob er den Deckel an.

Nichts. Wie Olivia versprochen hatte, schlief Scarlet friedlich, ohne etwas von seinem Eindringen bemerkt zu haben. Er musterte sie. Seidiges schwarzes Haar rahmte ihr filigran wirkendes Gesicht ein. Als sie ihm in jener Nacht gedroht hatte, hatte sie kein bisschen filigran ausgesehen. Ihre Wimpern waren länger, als er bei ihrer ersten Begegnung bemerkt hatte. Wie breite Fächer, die auf ihren Wangen ruhten. Sie hatte eine kleine Nase, und ihre Lippen leuchteten noch roter als zuvor.

Sie trug Jeans und T-Shirt, beides schwarz, und überall von Kopf bis Fuß Waffen am Körper. Sie nahm sie also nicht einmal beim Schlafen ab. Interessant. Selbst er legte seine Messer ab, bevor er ins Bett kletterte. Natürlich bewahrte er sie in seiner Nähe auf, aber nicht an seinem Körper.

Allmählich entspannte er sich und ließ seinen Blick weiterwandern. Die Wände waren aus Lehm, ebenso der Fußboden, und überall blitzten Klingen hervor. Jeder, der hier gegen die Wand oder auf den Boden stürzte, fiele direkt in seinen Tod.

Auch am Eingang oder auf der Treppe, die hier herunterführte, hätte Albtraum Fallen anbringen können, doch sie hatte es nicht getan. Warum nicht? Vielleicht weil sie wusste, dass die undurchdringliche Finsternis die meisten Leute – die meisten Unschuldigen – in die Flucht schlagen würde. Aber diejenigen, die blieben, diejenigen, die weitergingen, hätten eindeutig böse Absichten. Vielleicht waren das die Einzigen, denen sie wehtun wollte.

Wenn dem so war, hieße das, dass sie beim Morden Unterschiede machte. Es hieße, dass es eine Grenze gäbe, die sie nicht überschritt. Vielleicht aber gefiel es ihr auch einfach, in ihrer unmittelbaren Umgebung zu morden, sodass das Erste, was sie beim Aufwachen sah, Blut und Tod waren.

So oder so – die Frau unternahm große Mühen, um sich zu schützen.

Er hoffte fast, sie würde aufstehen und ihn angreifen. Er brauchte einen Kampf. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und ein bisschen Blutvergießen hätte ihn beruhigt. Derzeit geschah und veränderte sich einfach zu viel. Und zu vieles lief schief.

Badens Dämon hatte dank Galen einen neuen Wirt gefunden. Sie hatten erfahren, dass Cronus und Rhea besessen waren. Und dann natürlich Olivia und ihre sexy Klamotten und heißen Küsse; ihre unwiderstehlichen Vorschläge (in diesem Augenblick vermisste er die unheimliche fremde Stimme beinahe) und ihr Versuch, einen anderen Mann zu verführen – all diese Dinge waren Öl ins Feuer seiner Erregung. Und seiner Eifersucht. Und Wut.

Ja, er würde heute jemanden töten müssen.

Und als wäre das alles nicht schon genug, sah Legion ihn auf eine Art an, wie er sich wünschte, dass Olivia ihn ansähe. Sie hatte einen Pakt mit dem Schöpfer alles Bösen geschlossen und ihm diesbezüglich frech ins Gesicht gelogen. Zum Schluss, kurz bevor er sie in der Burg zurückgelassen hatte, hatte er sich nichts anderes mehr vormachen können. Selbst er hatte ihre durchtriebene Entschlossenheit gespürt.

Was würde er mit ihr machen? Wie sollte er mit ihr umgehen? Er liebte sie immer noch wie eine Tochter und hatte auch immer noch vor, ihr einen Platz in seinem Leben zu reservieren. Auf keinen Fall würde er sie verstoßen. Es musste einfach … es musste doch eine Lösung geben.

Denk jetzt nicht darüber nach. Du hast hier schließlich einen Job zu erledigen. Der Job. Richtig. Also. Zurück zu Scarlet, dem Problem der Stunde. Ob Galen von ihr wusste?

„Früher lebte sie in einer Kirche“, erzählte Olivia schuldbewusst, bevor er ihr sagen konnte, dass sie von hier verschwinden mussten. „Aber das hat nicht so gut funktioniert.“

Warum die Schuldgefühle? Weil sie ihn hergeführt hatte? Vermutlich. Vorsicht. Er durfte nicht zulassen, dass ihre Schuldgefühle auch in ihm welche weckten. „Hatte ich dich nicht gebeten, still zu sein?“

„Ich hab’s dir schon mal gesagt: Sie wird nicht aufwachen.“

„Woher willst du das wissen?“ Dämliche Frage. Olivia wusste alles – zumindest hatte es manchmal den Anschein. Was bedeutete, dass Sabin sie lieben würde. Denn der beste Freund dieses Mannes hieß „Information“. Doch dank Olivias einer wahren Gottheit wäre sie fort, bevor der Krieger zurückkäme. Aeron hätte es nämlich gehasst, seinen Freund niederstechen zu müssen, weil er seine Frau ausfragte.

Bei diesem Gedanken gluckste Zorn vergnügt.

Na ja, vielleicht hätte er es nicht unbedingt gehasst. Aber Sabin hatte bei ihm noch was gut. Außerdem ist sie nicht deine Frau! „Egal. Vergiss es. Wir müssen uns beeilen, bevor wir anderen Besuchern begegnen.“

„Wie zum Beispiel?“

„Jägern.“

„Oh.“

Aeron mochte sich nach einem Kampf mit Albtraum sehnen, aber nicht nach einer Schlacht gegen Galens Armee. Er wollte Olivia nicht in so etwas mit hineinziehen. Er würde ihr die entsetzlichen Seiten seines Lebens auf eine andere Art zeigen. Aus sicherer Entfernung.

Dass Scarlets Gruft ein gutes Stück vom „Asylum“ entfernt lag, war auf jeden Fall schon mal zu ihrem Vorteil.

„… so dunkel“, ertönte plötzlich eine unbekannte Stimme. Die Worte tönten von den Betonstufen über ihnen herab und hallten in der kleinen Kammer wider.

„Meine Taschenlampe funktioniert nicht.“

„Ich kann nichts sehen.“

„Bewegt euch einfach zentimeterweise vorwärts, verdammt noch mal.“

Der Tag konnte also tatsächlich noch schlimmer werden. Seine Befürchtungen hatten sich bestätigt: Die Jäger waren hier. War ihm jemand gefolgt? Mit Hilfe des Tarnumhangs?

Beobachtete ihn sogar in diesem Augenblick jemand und stellte eine Gefahr für seine Frau dar?

Aeron ballte die Hände zu Fäusten. Abermals sah er sich genau in der Gruft um, entdeckte jedoch nichts Auffälliges. Dann blickte er zu Olivia, die immer noch leuchtete, nun aber die Stirn runzelte. Als Nächstes sah er zu Scarlet, die weiterhin schlief, und danach zum Eingang.

Die dunkle Öffnung war der einzige Weg nach draußen. Und um hindurchzukommen, müssten sie mitten durch die -höchstwahrscheinlich bewaffneten – Menschen rennen.

Zwar konnten diese Menschen in der Dunkelheit nichts sehen, aber das könnte Aeron ohne Olivias Licht auch nicht. Und mit ihrem Licht könnte jeder jeden sehen.

Es gab nur eine Lösung, bei der Olivia sicher wäre.

Aeron drückte ihr ein Messer in die Hand. „Halt es dem Mädchen an den Hals“, flüsterte er. „Wenn sie sich auch nur einen Millimeter bewegt, zögere nicht, ihr die Kehle durchzuschneiden.“

Ohne ihr die Chance zu geben, etwas zu erwidern, packte er Olivia bei der Taille und hob sie neben Scarlet in den Sarg. Obwohl sich die schlafende Frau nicht rührte, keuchte Olivia. Augenblicklich hielt er ihr den Mund zu und schüttelte warnend den Kopf. Sie schluckte verängstigt, gab ihm jedoch mit einem Nicken zu verstehen, dass sie wusste, was er von ihr wollte. Sie sollte schweigen.

„Mach das Licht aus.“

Wieder nickte sie, und das Leuchten auf ihrer Haut wurde schwächer und schwächer, bis die Funken vollständig erloschen. Offenbar hatten die Schatten nur darauf gewartet, denn sie schnellten hervor und hüllten jeden Quadratzentimeter in diese erstickende Finsternis.

„Mann! Pass doch auf, wo du hintrittst.“

„Entschuldigung.“

Die Stimmen kamen näher.

Bei seiner Größe passte Aeron unmöglich in den Sarg, um als Olivias Schutzschild zu dienen. Jedenfalls nicht, ohne sie zu zerquetschen. Also legte er die flache Hand auf ihre Schulter – oder dorthin, wo er ihre Schulter vermutete. Im nächsten Moment riss er die nun brennende Hand wieder weg, weil er stattdessen ihre wundervolle Brust berührt hatte. Und ihre Brustspitze war augenblicklich hart geworden.

Meins. Beschützen.

Vorsichtig zielte er etwas höher. Schulter. Gut. Sie zitterte. Nicht gut. Das bedeutete, dass sein Versehen sie genauso überwältigt – und abgelenkt – hatte wie ihn. Oder hatte er ihr Angst eingejagt? Er bevorzugte die Theorie von der Überwältigung.

Ganz offensichtlich war er derjenige, der abgelenkt war. Er zwang sich, weiterzumachen, und drückte sie nach unten, bis sie still in dem Sarg lag. Zum Glück sträubte sie sich nicht. Ob sie seiner Anweisung gefolgt war und Scarlet das Messer an den Hals hielt, wusste er nicht. Zur Sicherheit hielt er seine freie Hand über das Gesicht von Albtraum. Gut. Sie lag immer noch reglos da. Ihr warmer Atem strich in regelmäßigen Zügen über seine Haut.

Um den Sarg selbst herum hatte er keine Fallen bemerkt, und so ging er Zentimeter für Zentimeter zum Kopfende und weg vom Flureingang. Dabei unterbrach er nicht einmal den Kontakt zu den beiden Frauen. Olivia sollte wissen, dass er da war und sie beschützen würde. Immer. Er hätte auch den Deckel geschlossen, doch er wollte schnell eingreifen können, falls das Mädchen doch aufwachte.

„Moment“, sagte einer der Männer. „Stehen bleiben.“

„Was?“

„Die Luft. Spürt ihr den Luftzug?“

„Wir müssen dicht an einer Öffnung sein.“

Noch näher.

Sie hörten das Schlurfen mehrerer Füße. Olivias Zittern nahm zu, und er drückte beruhigend ihre Schulter.

„Das muss ein Zimmer sein.“ Eine Pause. Ein Knacken. „Ja. Ja! Hier ist viel zu viel Platz, als dass es noch ein Gang sein könnte.“

„Sie kann unmöglich hier sein. Sie hätte doch niemals hier hineingefunden.“

„Sie ist vom beschissenen Albtraum besessen. Natürlich könnte sie reingefunden haben. Ich schlage vor, wir … tasten uns mal ein wenig vor. Sie schläft bestimmt. Wenn ihr warme Haut spürt, fangt einfach zu schießen an.“

Woher wussten sie so viel? Hatte Cronus es seiner Frau erzählt? Oder hatte jemand von dem Tarnumhang Gebrauch gemacht und vertrauliche Gespräche belauscht?

„Hölle, nein. Nicht schießen. Wir würden uns nur gegenseitig abknallen.“

„Immer noch besser, als einen Dämon frei rumlaufen zu lassen.“

Während die Männer den Todeswunsch ihres Kameraden realisierten, herrschte einen Moment lang schockiertes Schweigen.

„Entweder schneiden wir ihr die Kehle durch, oder ich verschwinde“, blaffte schließlich jemand. „Ich hab mich doch nicht für eine Selbstmordmission gemeldet.“

„Dann schneidet ihr halt den Hals durch, verflucht. Aber sorgt dafür, dass ihr sie auch wirklich außer Gefecht setzt, damit wir sie hier rausbringen können, ohne Angst haben zu müssen, dass sie uns angreift. Jeder schlechte Traum, den wir je hatten, ist ihr zuzuschreiben. Alles Schlechte, das wir je erdulden mussten, ist ihr Verschulden.“

Noch mehr schlurfende Schritte. Aeron wartete gebannt und angespannt. Falls es einer von ihnen bis zum Sarg schaffen sollte, müsste er …

Ein Mann schrie.

„Was, zum Teufel …“

Noch ein Schrei. Ein Gurgeln. Gefolgt von noch einem und noch einem.

Keiner von ihnen würde es bis zum Sarg schaffen.

Dafür würden Albtraums Fallen schon sorgen. Mehrere Jäger feuerten trotz der Angst, sich gegenseitig zu treffen, ihre Waffen ab, aber die Dunkelheit verschluckte die Funken des Schießpulvers. Eine der Kugeln bohrte sich in Aerons Schulter und schleuderte ihn ein Stück nach hinten.

Er fing sich, als gerade mehrere Schreie die Gruft erfüllten. Zwar wollte er Olivia nicht zusammen mit dem Mädchen einsperren. Aber er wollte auch nicht, dass man sie erschoss. Er knallte den Sargdeckel zu.

„Was ist hier los?“

„Geschnitten“, brachte irgendwer unter röchelndem Husten hervor.

Dann wieder ein Schrei. Er vermischte sich mit einem Crescendo gequälten Stöhnens und dem Geruch frischen Blutes, der durch die Luft waberte.

„Rückzug“, presste jemand keuchend hervor. „Rück… Argh!“

Noch immer waren schleppende Schritte zu hören, doch die Anzahl der Füße, die sich bewegten, hatte stark abgenommen. Dann, als immer mehr Geschrei und Gestöhne ertönten, erstarb das Schlurfen gänzlich. Vorbei. Zu Ende. Nach diesem Kampf hatte er sich gesehnt, und dennoch hatte er nicht einen Finger rühren müssen, um ihn zu gewinnen.

Er wartete, bis absolute Stille herrschte, bevor er den Deckel öffnete und sagte: „Licht.“

Olivia gehorchte sofort. Wieder ging dieses beinahe blendende Licht von ihr aus, nahm weiter an Intensität zu und besiegte die Finsternis – und er sah, dass sie zwar blass, aber unverletzt war. Scarlet hatte sich noch immer nicht geregt.

„Aeron, ich hatte solche …“ Olivia setzte sich auf und drehte sich um, damit sie ihn ansehen konnte. Sofort verdunkelte Schrecken ihr Gesicht. „Du bist ja verletzt.“

Er blickte auf seine Wunde. In seiner Schulter klaffte ein Loch, und das Blut, das daraus hervorsickerte, rann über seine Bauchmuskeln und wurde schließlich von seinem Hosenbund aufgesaugt. Nun, da seine Sorge um Olivia verblasst und sein Adrenalinspiegel gesunken war, spürte er die Schmerzen. Blitzschnell breitete sich in seinem Körper ein furchtbares Feuer aus, als flösse durch seine Adern kein Blut, sondern brennendes Benzin.

Doch das war jetzt egal. „Es geht schon“, sagte er. „Ich hatte schon schlimmere Verletzungen. Mach dir keine Sorgen.“

„Ich kann aber nicht anders.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie die Hand ausstreckte und seine Wange streichelte. „Ich muss mir Sorgen machen.“

Die Berührung sollte ihn trösten. Doch wie immer quälte es ihn, sie zu spüren. Er brauchte mehr. Zorn brauchte mehr und wimmerte in seinem Kopf.

Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Blutverschmierte Leichen lagen hier übereinandergestapelt herum. Aus jedem der leblosen Körper ragten Klingen heraus. Einige waren auf dem Bauch gelandet, andere auf dem Rücken. Alle waren tot. Er würde dem Mädchen für ihre Dekorationskünste danken müssen, denn sie hatten Olivia das Leben gerettet – und nicht er.

Er wusste nicht, ob einige Jäger dieser Schreckenskammer entkommen waren, doch er würde garantiert nicht hierbleiben und abwarten, bis sie mit Verstärkung zurückkämen. Nachdem er Olivia auf die Füße geholfen hatte – Mist! dabei war seine Wunde aufgerissen –, hob er Albtraum auf seine Arme, so wie er es eigentlich schon vor der Unterbrechung durch die Jäger hatte tun wollen.

„Bleib dicht hinter mir“, sagte er. „Mach nur dann einen Schritt, wenn ich einen gemacht habe.“

„Mach ich.“

Er bahnte sich den Weg zum Eingang, wobei er den Leichen auswich und das Gesicht verzog, als das Feuer in seinem Körper heißer wurde.

Es schmerzt, heulte Zorn.

Er zog die Mundwinkel nach unten. Bei dir auch?

Und wie.

Wir gehen nach Hause. Uns ausruhen. Auf den Stufen war nicht ein Tröpfchen Blut zu sehen, was bedeutete, dass es niemand nach draußen geschafft hatte. Fantastisch. Nur dass er … am oberen Ende der Treppe am ganzen Körper zitterte. Er wurde immer schwächer. Seine Augen trübten sich, und er sah wie durch einen Schleier.

Zorn stöhnte.

Dann, endlich, erstickte das Feuer – nur um durch eine Eiseskälte ersetzt zu werden.

„Aeron?“

Er wurde langsamer, seine Bewegungen waren träge, und er stolperte über seine eigenen Füße. „Greif in meine Hosentasche, und hol mein Handy raus.“ In dieser Verfassung würde er es nicht schaffen, beide Frauen in die Burg zu fliegen.

„Was ist los mit dir?“, fragte Olivia, während sie tat, worum er sie gebeten hatte. „Ist es deine Verletzung? Du hast mir doch gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen!“

Er ignorierte ihre Frage genauso wie ihre Sorge. Er wollte sie nicht – schon wieder – anlügen und behaupten, alles käme in Ordnung, aber er hatte auch keine Antwort. Weder er noch Zorn hatten jemals so auf eine einfache Schussverletzung reagiert.

„Weißt du, wie man eine SMS schreibt?“ Sie gingen um eine Ecke.

„Nein. Ich habe die Menschen zwar häufig dabei beobachtet, aber ich habe es noch nie selbst versucht.“

„Und was ist mit Telefonieren?“ Ein Stückchen über sich konnte er bereits das Sonnenlicht sehen, das in den oberen Teil der Gruft fiel. Schweiß überzog seinen gesamten Körper in einem dünnen Film, und dennoch schmolz das Eis nicht. Seine Bewegungen wurden zunehmend langsamer und schleppender.

„Nein“, erwiderte sie noch mal. „Tut mir leid.“

Verdammt. Wenn er das Mädchen absetzte, wäre er nicht in der Lage, sie wieder hochzunehmen, so viel war klar. Verdammt, verdammt, verdammt.

Es gab nur zwei Erklärungen für diese Reaktion: Entweder die Jäger hatten eine spezielle Munition benutzt, oder er hatte sich noch nicht vollständig von ihrem letzten Angriff erholt – so wie er unlängst vermutet hatte. Keine der beiden Möglichkeiten verhieß Gutes für ihn.

Draußen angekommen – endlich! Den Göttern sei Dank! –, suchte er die Umgebung nach Jägern ab. Er konnte keine entdecken, wusste allerdings nicht, ob es daran lag, dass wirklich keine in der Nähe waren, oder daran, dass er immer schlechter sehen konnte. Aber immerhin stürzte sich niemand auf sie.

Ob fliegend oder zu Fuß – auf keinen Fall würde er es bis nach Hause schaffen.

Wieder suchte er mit dem Blick die Umgebung ab, diesmal jedoch nach einem geeigneten Versteck. Wenige Meter vor ihnen stand ein großer Grabstein. Zusammen mit den kunterbunten Blumen, die ringsherum wuchsen und sich über den Stein rankten, bildete er eine versteckt liegende Nische.

„Da lang.“ Er schleppte sich vorwärts, und mit jedem Schritt schwand etwas mehr von seiner Kraft.

Olivia schlang einen Arm um seine Taille und stützte ihn. „Hier. Stütz dich auf mich.“

Er wollte nicht. Er schämte sich dafür, dass er überhaupt eine Stütze brauchte, und noch mehr dafür, dass er Olivias Fürsorge genoss. Doch mit ihrer Hilfe schaffte er es. „Danke.“

Er versuchte, Scarlet sanft abzulegen, doch da gaben seine Knie nach, und sie plumpsten einfach nur beide zu Boden. Nicht einen Mucks gab sie von sich.

Genau wie Zorn. Der Dämon schwieg auf sehr unheimliche Weise.

Aeron rollte sich auf die Seite und sah, dass Olivia damit beschäftigt war, die Blumen so zu arrangieren, dass sie sie vor neugierigen und suchenden Blicken abschirmten. „Gutes … Mädchen“, sagte er.

In dem Lächeln, das sie ihm zuwarf, lagen Mut und eiserner Wille. Es brachte sein verfluchtes Herz dazu, einen Schlag auszusetzen. Und entweder fing er schon an zu halluzinieren, oder es tanzten tatsächlich Schmetterlinge über ihrem Kopf. Außerdem saßen ihr Eichhörnchen zu Füßen, und Vögel pickten in dem Gras, das sie umgab. Die Tiere schauten sie an, als hungerten sie nach ihrer Aufmerksamkeit.

Das bildete er sich garantiert ein. Und das hieß, dass es schlechter um ihn bestellt war, als er gedacht hatte. Da er die Ziffern auf der Tastatur seines Handys nicht mehr lesen konnte, sagte er Olivia, was sie wählen sollte.

„Es klingelt“, sagte sie und hielt ihm den Hörer ans Ohr.

„Torin“, sagte er, als sein Freund abnahm. „Ortet das Signal. Kommt und … holt uns.“

Die Antwort des Kriegers hörte er nicht mehr. Denn ihn hüllte eine Finsternis ein, die der in Scarlets Grabkammer verdammt nahekam, und dieses Mal hieß er sie willkommen.

17. KAPITEL

Nachdem Olivia einen Stoffstreifen vom unteren Ende ihrer Robe abgerissen und ihn um Aerons Schulter gebunden hatte, zog sie eines seiner Messer aus der Scheide an seinem Knöchel. Ich werde ihn beschützen. Egal, was ich dafür tun muss. Genauso, wie er sie beschützt hatte. Sie hockte sich hin, schirmte seinen Körper ab und wartete auf die Ankunft seiner Freunde. Oder der Jäger. Wenn jemand anders als ein Herr der Unterwelt auftauchte, würde sie keine Sekunde zögern, ihn anzugreifen.

Nie hatte sie sich mehr wie eine Kriegerin gefühlt, nie war sie selbstsicherer gewesen, und nie hatte sie größere Angst gehabt – um den Mann neben sich. Das hier war nicht seine erste Schussverletzung. Er war auch schon niedergestochen, geschlagen und von Pfeilen durchbohrt worden. Doch so wie jetzt hatte er noch nie reagiert. Er war niemals so kalkweiß geworden, noch hatte er gestöhnt und gezittert. Weder hatte er fortwährend geblutet, noch war er immer schwächer geworden.

Eine Minute nach der anderen verstrich, ohne dass sich sein Zustand besserte. Wo, um Himmels willen, blieben diese Herren? Sie sollten sich besser beeilen, und zwar nicht nur Aerons wegen. Wenn sie zu lange warteten, bräche die Abenddämmerung herein, und Scarlet würde aufwachen. Und sie würde sehr, sehr wütend sein.

Das würde niemand überleben.

Wenigstens schwieg die Stimme der Verlockung, seit sie die Burg verlassen hatte, und drängte sie nicht mehr dazu, all diese widerwärtigen – herrlichen – Dinge zu tun. Doch das war kaum ein Trost. Nichts konnte sie trösten. Noch immer drängten sich Tiere in den Blumen und Büschen um sie herum und weckten womöglich ungewollte Aufmerksamkeit. Suchten sie ihre Nähe? Oder Aerons? Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass jemals Tiere versucht hätten, sich Aeron zu nähern, konnte jedoch auch keine vernünftige Erklärung finden, weshalb die Eichhörnchen, Kaninchen, Vögel, Katzen und sogar ein Hund ihre Nähe suchen sollten.

„Ksch“, machte sie. Sie wollte nicht, dass sie verletzt würden, falls es tatsächlich zu einem Kampf käme.

Doch sie liefen nicht weg. Im Gegenteil, sie kamen immer näher. Zu ihr. Dann war sie es also, die sie anzog? Aber warum?

„Ihr müsst jetzt gehen, sonst …“

Das Knacken eines Zweiges ließ sie verstummen.

Der Hund knurrte, und die Katzen fauchten, doch kein Tier lief davon. Stattdessen gingen sie in Angriffsstellung.

Sie presste die Lippen fest aufeinander, und jeder kleinste Muskel ihres Körpers spannte sich an. Sie hörte sogar auf zu atmen. Wer war da? Herren? Oder Jäger? Die Hand, in der sie das Messer hielt, zitterte. Für Aeron, dachte sie, als sie sich wie die Tiere bereit zum Kampf machte. Auf einmal war sie froh, dass sie so stur gewesen und bei ihr geblieben waren.

Zwei Männer traten aus dem Blattwerk hervor, und im ersten Moment erkannte sie sie nicht. Sie war viel zu sehr darauf fixiert, diesen Mann zu retten. Den Mann, den sie … liebte? Doch gerade als sie auf einen der beiden zustürzte, machte der Hund einen Satz nach vorn und erreichte das Zielobjekt als Erster.

„Au! Lass mich los, du räudige Töle“, fluchte er.

Sie erkannte die Stimme – es war William –, konnte das Messer jedoch nicht mehr rechtzeitig herunternehmen, da sie zu viel Schwung hatte. Kurz bevor sie ihn traf, packte jemand sie am Handgelenk und riss sie zur Seite.

„Brrr, Liv“, sagte der andere mit einem Lachen. Auch seine Stimme war ihr vertraut. Paris. „Ich darf dich doch Liv nennen, oder? Nimm bitte das Messer runter, okay?“

Erleichtert ließ sie die Waffe fallen.

„Und jetzt sag diesem Köter, dass er mich loslassen soll!“, fluchte William.

„Das sind Freunde von mir“, sagte sie zu dem Hund. „Ich bin jetzt in Sicherheit.“

Der Hund ließ Williams Knöchel los, und im nächsten Augenblick sausten die Tiere davon, als hätten sie nur darauf gewartet, dass jemand Olivias Schutz übernahm.

Was für kleine Schätzchen. „Ich danke euch“, rief sie ihnen nach.

„Nun, da William angemessen begrüßt wurde“, meinte Paris mit einem weiteren Lachen, „sollten wir zum Wesentlichen kommen.“ Sorge trübte sein schönes Gesicht, als er zu Aeron sah. Er bückte sich, schob die Arme unter den immer noch schlafenden Krieger und hievte ihn auf seine Schulter. „Wie lange ist er schon in diesem Zustand?“

„Zu lange.“

William humpelte zu Scarlet und tat bei ihr das Gleiche, nur dass er sie in die Arme nahm, als wäre sie ein kostbarer Schatz. „Wenigstens bekomme ich die hübsche Fracht.“

„Ja, viel Glück mit ihr“, erwiderte Paris. „Ich würde sagen, ich habe am Ende das bessere Geschäft gemacht. Offenbar ist sie von Albtraum besessen.“

William verdrehte die Augen. „Und das ist etwas Schlechtes oder was?“

„Wenn es dich nicht kaltlässt, deine Eier auf dem Silbertablett serviert zu bekommen, dann würde ich sagen: Ja, es ist was Schlechtes.“

„Komm zu Daddy“, sagte William und hielt Scarlet nur noch fester.

Olivia hörte ihrem Geplänkel ein Weilchen zu, dann sagte sie: „Genug jetzt. Die Jäger waren hier. Wir sind hier nicht sicher. Außerdem stimmt mit Aeron irgendetwas nicht. Mir wäre es lieber, ihn so schnell wie möglich im Bett zu sehen.“

„Sicher“, sagte William mit einem Nicken. „Das wussten wir von Anfang an. Nur wirst du für diese Art von sportlicher Betätigung wohl oder übel warten müssen, bis er wieder wach ist. Aber wenn du mit ihm fertig bist, würde ich dich liebend gern auch mal herausfordern. Um dir zu zeigen, wie es ist, mit jemandem zusammen zu sein, der weiß, was er tut.“

Sie ballte die Fäuste. Nahm er eigentlich gar nichts ernst?

„Wir haben da drüben geparkt.“ Paris wies mit dem Kopf zur Seite.

Endlich. „Dann los.“

Als sie gemeinsam durch die Büsche traten, waren beide Männer sofort in höchster Alarmbereitschaft. Binnen einer Sekunde schienen sie ganz andere Personen zu sein. In ihrem Versteck hatten sie Witze gemacht und sie damit aufgezogen, dass sie mit Aeron ins Bett wollte. Jetzt waren sie skrupellose Soldaten, die zu allem fähig waren.

Schon so oft hatte sie diesen Wandel bei Aeron beobachtet. Doch bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihn nie richtig zu schätzen gewusst.

Aeron. Mutiger, verletzter Aeron. Wenn ihre neun verbleibenden Tage um wären und er ihr genommen würde – wohin ginge sie dann? Und was würde sie tun? Sie bezweifelte, dass diese Männer ihr anbieten würden, bei ihnen zu bleiben. Und würde sie das überhaupt wollen? Schließlich wäre Aeron nicht mehr da, und hinter jeder Ecke würde eine andere Erinnerung an ihn lauern und sie quälen.

Zum zweiten Mal stellte Olivia fest, wie traurig es sie machte, dass ihr und Aeron nur so wenig Zeit miteinander blieb. Vielleicht gab es ja doch noch einen Weg, ihn zu retten. Vielleicht gab es einen Weg für sie beide, für immer und ewig zusammenzubleiben. Ja. Bestimmt. Ihre Gottheit war der Schöpfer der Liebe. Im Grunde war ihre Gottheit die Liebe. Ihm läge doch sicher viel daran, dass zwei Geschöpfe, die sich liebten, zusammen wären. Richtig?

Aber sie war sich noch immer nicht ganz sicher, ob sie Aeron liebte. Sie bewunderte ihn, ja. Er erregte sie, und sie sehnte sich nach seinen Berührungen, oh ja. Aber für ihn sterben, fragte sie sich wieder. Und wieder war sie sich nicht sicher. Sie hatte alles geopfert, um mit ihn zusammen zu sein – alles außer ihrem Leben.

Könnte sie das?

Außerdem hieße für Aeron zu sterben auch, für Legion zu sterben. Denn sie wusste, dass Aeron ohne diese kleine – jetzt große – Tyrannin nicht glücklich wäre. Und wenn Aeron lebte, sollte er glücklich sein. Dennoch fühlte sich der Gedanke, für so eine verlogene, hinterhältige Göre zu sterben, alles andere als gut an.

Außerdem müsste zuallererst einmal Aeron Olivia lieben. Und momentan bestand kein Zweifel daran, dass er das nicht tat.

Mit einem schweren Seufzer kletterte Olivia in den Geländewagen. Paris legte Aeron auf die Rückbank, und sie bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Dann setzte Paris sich hinters Steuer, und William ließ sich mit Scarlet in den Armen auf den Beifahrersitz fallen. Gleich würde sie zum ersten Mal in einem Auto fahren. Eigentlich hatte sie sich darauf schon die ganze Zeit gefreut, doch im Augenblick war es ihr egal. Ihr schwirrte der Kopf.

Der Tod war etwas, das sie in Bezug auf sich niemals für möglich gehalten hatte. Es hatte sie einfach schon immer gegeben, und sie hatte gewusst, dass es sie auch immer geben würde. Jetzt war es möglich, dass sie starb. Nicht aus freien Stücken, um jemanden zu retten, sondern zum Beispiel bei einem Autounfall. Wie ging es ihr damit? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass zu sterben, ohne alles erlebt zu haben, was sie wollte, abscheulich wäre. Aber danach? Ohne Aeron zu sein wäre jedenfalls noch viel abscheulicher.

Sie hatte schon Abertausende, ach, Millionen Menschen sterben sehen. Keiner dieser Tode hatte sie jemals berührt, da sie einfach zum Kreislauf des Lebens gehört hatten. Jeder Anfang hatte ein Ende. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie es anfangs nicht betrauert hatte, Aeron mit Ablauf ihres Ultimatums zu verlieren. Sein Tod wäre nur ein weiterer in der langen Reihe von Toden, die sie mit angesehen hatte.

Jetzt ging sein Tod sie persönlich an. Sie kannte ihn genau, hatte ihn geküsst und geschmeckt. Hatte das größte Glück mit ihm erfahren. Sie hatte in seinen Armen geschlafen und sich an seine Seite gekuschelt. Er hatte sie beschützt. Er hätte selbst in diesen Sarg klettern können, hatte es jedoch unterlassen. Stattdessen hatte er sie hineingehoben und so dafür gesorgt, dass im Zweifel nicht er unversehrt davonkäme, sondern sie.

Somit war er bereit gewesen, für sie zu sterben. Aber warum? Noch immer machte sie sich keine Illusionen darüber, er könne sie womöglich lieben.

Sie seufzte abermals und streichelte ihm über den Kopf. Seine Haarstoppeln kitzelten an ihrer Handfläche. Später würde sie Lysander rufen. Sie würde ihn um seine Meinung zu der ganzen Angelegenheit bitten – und ihn fragen, warum er Aeron besucht hatte. Er wäre nicht fähig, sie anzulügen. Und wenn seine Antwort ihre Hoffnung auf eine Zukunft mit diesem wunderbaren Mann zerstörte, würde sie … was? Sie schluckte.

„Wir sollten Gilly nicht in ihrer Wohnung lassen“, sagte William unvermittelt und riss Olivia aus ihren Gedanken. „Nicht solange eure Feinde hier wie die Fliegen herumschwirren.“

„Erstens muss Aeron nach Hause, und zweitens ist sie dort, also fern von uns, sicherer.“ Paris stellte den Rückspiegel so ein, dass er alles, was hinter ihnen geschah, genauso gut sehen konnte wie das, was sich vor ihnen abspielte. „Die Jäger haben keine Ahnung …“

William schlug mit der Hand auf das Armaturenbrett. „Da bin ich anderer Ansicht. Sie wussten von Scarlet, und wie viel Kontakt hatten wir zu ihr? Fast keinen. Wie viel Kontakt hatten wir zu Gilly? Zu viel. Und mit Rhea im Team der Idioten können wir Gilly unmöglich alleine da draußen lassen. Außerdem ist Aeron unsterblich. Er wird es schon schaffen. Also noch mal: Wir können sie unmöglich alleine da draußen lassen.“

„Mist. Du hast recht.“

„Wie immer.“

„Wir werden sie auf dem Weg zur Burg einsammeln.“

„Sie ist bestimmt in der Schule“, gab William zu bedenken, und Paris legte fluchend einen verbotenen U-Turn hin, dass die Reifen nur so quietschten.

Olivia überlegte, ob sie protestieren sollte. Sie wollte, dass Aeron so schnell wie möglich in Sicherheit käme und medizinisch versorgt würde, aber die Männer hatten recht. Gilly war ein Mensch und musste beschützt werden.

„Mist“, wiederholte Paris. „Sie ist an der American International School von Budapest, und die liegt auf dem Nagykoväcsi-Campus. Glaube ich jedenfalls. Das ist ganz schön weit.“

„Aber nicht zu ändern.“

Williams Stimme klang seltsam zärtlich, wenn er von dem Mädchen sprach. Dabei war sie viel zu jung für ihn. Zu jung für jeden der Männer, die in der Burg lebten. Wenn Olivia den Krieger von Gilly fernhalten müsste, wäre er von ihren Methoden sicher nicht begeistert. Dabei würden nämlich ein Messer und eine kleine Plastiktüte eine entscheidende Rolle spielen.

Lernst du etwa allmählich das Kriegerleben schätzen, das du noch vor Kurzem, so einfach weggeworfen hast?

„Ich bezweifle, dass sie sich über unseren Anblick freuen wird“, meinte Paris.

„Sprich bitte nur von dir. Anya sagt, sie sei in mich verliebt.“ William klang stolz.

„Sie ist noch ein Kind“, erinnerte Olivia ihn. Und es ist mir egal, ob ich als Kriegerin gelte oder nicht, ich werde mir wirklich eins von Aerons Messern schnappen und…

William drehte sich auf dem Sitz um und sah Olivia an, ohne seinen Griff um Scarlet zu lockern. Sein Mund verzog sich zu einem ungezogenen Grinsen. „Das weiß ich, aber du wirst sehen: Wenn es um meine Anziehungskraft geht, spielt das Alter keine Rolle. Das Geschlecht übrigens auch nicht. Ich bin einfach unwiderstehlich.“

„Was hast du denn für Absichten?“

Er verdrehte die Augen. „Ich habe überhaupt keine Absichten. Ich mag es eben, angehimmelt zu werden, und sie himmelt mich gerne an. Das ist alles.“

„Gut.“ Olivia hörte keine Lüge in seiner Stimme. Trotzdem. Sie würde kein Risiko eingehen. Nicht wenn es um Gillys Wohlergehen ging. „Sie hatte es in ihrem jungen Leben nicht leicht. Der Mann ihrer Mutter … hat schlimme Sachen mit ihr gemacht.“ Vielleicht hätte sie Gillys Geheimnisse nicht ausplaudern sollen, aber sie wusste, wie die Erinnerungen in dem Mädchen gärten. Sie endlich ans Licht zu bringen wäre womöglich der erste Schritt zur Heilung. „Sie hat es ihrer Mom gesagt, doch die Frau weigerte sich, ihr zu glauben. Sie hat sie sogar beschuldigt, ihr wundervolles neues Leben zerstören zu wollen.“

„Das wissen wir“, erwiderte Paris sanft. „Danika hat es uns erzählt.“

„Mir nicht.“ William drehte sich wieder nach vorn, doch ihr entging nicht der Ausdruck purer Wut, der sich auf sein Gesicht gelegt hatte. „Woher weißt du eigentlich davon?“

„Ich war einst für ihr Wohl zuständig.“

Die restliche Fahrt über herrschte angespanntes, drückendes Schweigen. Endlich fädelten sie sich durch die Straßen eines kleinen Vorortes mit hübschen, einladenden Häusern. Dicht belaubte Bäume schmückten die Gegend, die sich linker Hand auf einem Hügel ausbreitete, der sich majestätisch über ihnen erhob.

Paris hielt auf einem Parkplatz und warf William einen bedeutsamen Blick zu. „Ich bin in einer Minute zurück. Behalt du unsere Fracht im Auge.“

Ohne Warnung und so schnell, dass Paris keine Gelegenheit hatte zu reagieren, warf William seinem Freund Scarlet in den Schoß – und zwar alles andere als sanft. „Ich bin in einer Minute zurück. Du jagst Gilly nur Angst ein, und darauf habe ich keine Lust. Nicht heute.“

„Ich jage Frauen keine Angst ein. Ich mache sie glücklich. Außerdem stehst du hier nicht auf den Gästelisten, und ich wohl.“

William verdrehte die Augen – das tat er offenbar gerne – und stieg aus dem Wagen. „Als ob mich das aufhalten würde. Siehst du meine Augen? Die sind elektrisierend. Die Frauen brauchen mich nur einmal anzusehen und setzen mich sofort auf jede Gästeliste, die es gibt.“

„Hör auf, dich selbst zu loben, und beeil dich“, sagte Olivia, als er die Tür zuwarf.

Er winkte ihr lächelnd zu.

Sie beobachtete, wie er das Schulgebäude betrat, und streichelte dabei unablässig Aerons Stirn. Statt dass es ihm besser ging, hatte er leicht zu zucken angefangen. Auf seiner Stirn glitzerten unzählige Schweißperlen, und er biss sich fest auf die Unterlippe.

Da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, begann sie zu singen. Schöne Lieder von Frieden und Gesundheit. Nach einigen Strophen wurde Aeron ruhiger, und sogar sein verhärmtes Gesicht entspannte sich etwas.

„Meine Götter“, flüsterte Paris gebrochen.

Sie hielt inne und blickte zu ihm auf. „Was? Was ist los?“

Aeron begann wieder zu zucken.

„Hör nicht auf!“, sagte Paris. „Das ist wunderschön. Meine Ohren sind jetzt schon süchtig nach deinem Gesang. Ich will mehr.“

„Oh. Danke.“ Olivia stimmte ein weiteres Lied an. Draußen kamen die verschiedensten Tiere aus dem Wald und näherten sich dem Wagen. Wieder beruhigte sich Aeron, und sie hätte vor Freude weinen können.

Würde sie für ihn sterben? Sie fuhr mit dem Finger über eines der Skelett-Tattoos auf seinem Wangenknochen. Vielleicht.

William stand im Schulsekretariat und wartete auf Gilly. Die Sekretärin hatte sie bereits ausgerufen. Als er der Frau gesagt hatte, sein Name sei Paris Lord, hatte sie das Mädchen, ohne zu zögern, zu sich bestellt. Die Listenkrise war abgewendet.

Die Frau war Mitte dreißig, klein und rundlich, trug das braune Haar zu einem glatten Bob geschnitten und hatte braune Augen – mit denen sie ihn gerade auszog. Das passierte ihm ständig, und normalerweise genoss er es. Aber nicht in diesem Moment. Jetzt wollte er einfach nur Gilly hier rausholen. Er mochte den kleinen Naseweis und würde keine Ruhe geben, bis er in Sicherheit wäre.

Er hatte keine Ahnung gehabt, was für ein furchtbares Leben hinter Gilly lag, und schämte sich für sich selbst. Er kannte die Frauen doch. Ein kurzer Blick reichte, und er wusste, welchen Typ er vor sich hatte. Warum also hatte er nicht bemerkt, dass Gillys Seele tief verletzt war?

Ihre verdammte Mutter und ihr Möchtegernstiefvater! Zwei Menschen, die sie eigentlich hätten beschützen sollen. Aber jetzt war William ja bei ihr, und William würde dafür sorgen, dass ihr nie wieder etwas zustieße. Er war sogar versucht, ihrer Mutter und ihrem sauberen Ehemann die Kehlen durchzuschneiden. Vielleicht könnte er Gilly die Köpfe zu Weihnachten schenken oder so.

„Sind Sie Gillys Vater?“, fragte die Sekretärin. Sie hatte ihren Posten hinter dem Schalter verlassen und stand ihm jetzt gegenüber.

Verdammt. Er hatte weder gesehen noch gehört, wie sie sich bewegt hatte. Sich derart ablenken zu lassen war gefährlieh. „Ihr Bruder“, erwiderte er leicht verstimmt, weil man ihn für den Vater einer Siebzehnjährigen hielt. Sah er wirklich so alt aus? Na gut, er ging auf die zweitausend zu, aber er hatte nicht eine Falte im Gesicht, verflucht!

„Oh. Wie schön.“ Lächelnd reichte sie ihm ein Stück Papier. „Falls Sie mal mit mir über Gillys Lehrplan sprechen möchten, hier ist meine Nummer. Sie können mich jederzeit anrufen.“

„Ich werde mich auf jeden Fall melden.“ Er erwiderte ihr Lächeln, allerdings war seins gezwungen. Er steckte die Visitenkarte in die Hosentasche, wohl wissend, dass er sie nie benutzen würde. „Bildung ist ja so wichtig.“

Sie kicherte, und er gab sich alle Mühe, nicht zusammenzuzucken.

Frauen. Sein Segen und Fluch zugleich. Er liebte Sex. Er brauchte und sehnte sich nach Sex. Sex mit der falschen Frau hatte ihn in den Kerker gebracht. Sex mit der Göttin, die ihn im Tartarus besucht hatte, hatte ihm den Rauswurf aus dem Himmel beschert. Doch das alles hatte seiner Libido nichts anhaben können. Im Grunde konnte nichts seiner Libido etwas anhaben. Selbst der Fluch nicht, der wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf hing.

Eines Tages würde ihn eine Frau von unfassbarer Schönheit und Macht in Versuchung führen. Eines Tages würde diese Frau ihn durch eine List dazu bringen, sich in sie zu verlieben. Eines Tages würde diese Frau ihn zu ihrem Sklaven machen. Und dann würde sie ihn umbringen.

So war es prophezeit.

Vielleicht – eventuell – okay, wahrscheinlich eher nicht -hätte er alle Frauen meiden und sich so vor einem solchen Todesurteil schützen können. Doch selbst das könnte ihn nicht retten. Das war ebenfalls Teil der Prophezeiung. Wenn er Frauen und Sex mied, würde er sich nur zu einem schnelleren und schmerzvolleren Tod verdammen.

Der einzige Weg, wie er die namenlose Frau aufhalten und den Fluch brechen konnte, war in einem Buch beschrieben. Und da es schier unmöglich war, dieses Buch zu entschlüsseln, suchte er immer noch nach der Antwort. Außerdem war die verfluchte Göttin der Anarchie im Besitz dieses Buches und ließ ihm die Seiten nur in einzelnen, geizigen Häppchen zukommen. Er hätte Anya dafür hassen können – wenn er sie nur nicht so verdammt lieben würde.

Im Tartarus hatten sie Jahrhunderte als Zellennachbarn verbracht, und ihr Witz war das Einzige gewesen, das ihn davor bewahrt hatte, den Verstand zu verlieren.

„William?“, erklang plötzlich Gillys rauchige Stimme.

Er drehte sich auf dem Absatz um, und da war sie, stand am Ende eines langen Flures. Sie war schlank, hatte dunkle Haare und Augen und war … abgeklärter, als jemand in ihrem Alter es sein sollte. Das hätte Hinweis Nummer eins sein müssen, dachte er.

Vielleicht hatte er es gespürt, es aber nicht wahrhaben wollen.

Sie trug Jeans, ein T-Shirt und Turnschuhe, in deren Sohlen sich Peilsender versteckten – natürlich ohne ihr Wissen. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und ihr Gesicht war vollkommen ungeschminkt.

Das schien den Jungen neben ihr nicht zu stören. Er starrte sie wie hypnotisiert an. Als sie jedoch Williams Namen ausgesprochen hatte, hatte der Junge die Stirn gerunzelt. Und als er ihrem Blick gefolgt war und William erblickt hatte, waren die Falten tiefer und sein Gesicht blass geworden.

Ihr Freund? Oder Verehrer?

Irgendwer würde der Sache einen Riegel vorschieben müssen. Sie war zu jung und hatte eine zu traumatische Vergangenheit. Sie brauchte Zeit für sich. Bis sie mindestens vierzig wäre.

„Hey, Kleines“, begrüßte William sie und winkte ihr zu.

Lächelnd lief sie auf ihn zu und warf sich in seine Arme. Er drückte sie fest, ehe er ihre Handgelenke umfasste und sie sanft von sich wegschob. Er mochte gern mit ihr zusammen sein und wollte nur das Beste für sie – aber er wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen.

„Was machst du hier?“, fragte sie.

Der Junge, der sie begleitet hatte, tauchte hinter ihr auf. Er war groß für einen Teenager – er reichte William bis ans Ohr – und hatte braune Haare und blaue Augen.

„Wer bist du?“, fragte William schroff.

„C.Corbin, Sir.“

„Was ist das denn für ein Name, ,Corbin Sir’? Und wenn du Gilly jemals wehtust, schwöre ich bei den Göttern, dass ich persönlich …“

Gilly schlug William auf die Schulter. „Hör auf. Cori ist mein Freund. Er wollte einfach nur dafür sorgen, dass ich heil am Sekretariat ankomme.“

„Tja, das ist bewundernswert“, meinte William, ohne seinen stechenden Blick von dem Jungen abzuwenden. „Solange er dich wirklich nur beschützen wollte.“

Corbin zupfte am Kragen seines Hemdes. „Sind Sie ihr … Freund oder so was?“

„Ihr Bruder“, antwortete William in dem Moment, als Gilly Ja sagte.

Er sah sie an und zog eine Augenbraue hoch. Ja? Sie müssten definitiv ein ernstes Gespräch führen. Aber vielleicht später. Bei ihrer Antwort hatte sich irgendetwas in seiner Brust zusammengezogen. Zuerst musste er herausfinden, was es damit auf sich hatte.

„Also? Was machst du hier?“, wiederholte sie ihre Frage, während ihr die Röte in die Wangen stieg.

Es gefiel ihm zwar nicht, dass er sie in eine peinliche Situation gebracht hatte, aber jetzt konnte er nichts mehr daran ändern. „Aeron wurde verletzt. Es gibt Probleme in der Stadt, und wir möchten, dass du bei den anderen in der Burg bleibst, bis die Lage geklärt ist.“

„Aeron?“, fragte Corbin.

„Noch ein Bruder“, erklärte William ihm.

Der Junge riss die Augen auf. „Wie viele Brüder hast du denn?“

„Viele“, erwiderte Gilly mit einem müden Seufzen. „Wirst du auch da sein, Liam? In der Burg, meine ich?“

Liam. Ihr Spitzname für ihn. Früher hatte ihm das mal gefallen. Jetzt betrachtete er ihn als den Kosenamen, der er sein sollte. Oh ja. Sie würden miteinander reden. Zum Teufel mit ihrer unwiderstehlichen Schönheit. „Ja, ich werde auch da sein. Lass uns nach Hause fahren, Kleines. Aeron wartet im Auto und muss dringend verarztet werden.“

Trotz ihrer Angst vor den Herren wurde sie ganz blass vor Sorge, ergriff seine Hand und zog ihn aus dem Gebäude. „Ciao, Cori“, rief sie über die Schulter.

„Ciao“, erwiderte der mit leicht scharfem Unterton.

William spähte in den Wagen, konnte Olivia durch die getönten Scheiben jedoch nicht sehen. Ganz zu schweigen von der gotterbärmlichen Anzahl von Rehen, die das Auto umringten und ihm die Sicht versperrten. Doch auch ohne sie zu sehen, wusste er, dass sie – bei all ihrer Güte – einen ausgewachsenen Tobsuchtsanfall bekäme, wenn sie es nicht schafften, Aeron sicher in die Burg zu bringen. Er hatte sie in ihren Augen sehen können – diese brodelnde, nicht aufzuhaltende Leidenschaft, die kurz davor war überzukochen. Vermutlich war sie sich gar nicht bewusst, dass sie zu so etwas fähig wäre, aber William wusste es. Denn auch wenn er bei Gilly ahnungslos gewesen war – Olivias Träume, Ängste und Bedürfnisse hatte er in dem Augenblick erkannt, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

Aeron war ihr Ein und Alles. Wenn der Krieger stürbe, wären selbst die Götter nicht in der Lage, ihren Amoklauf zu stoppen.

18. KAPITEL

Olivia saß auf Aerons Bettkante und presste ihre Hüfte an seine. Legion saß auf der anderen Seite und presste sich ebenso an ihn. In ihrer Sorge um ihn hatten sie zusammengearbeitet, um ihn auszuziehen. Olivia hatte sich nicht gestattet, einen Blick auf seinen Penis zu werfen, ganz gleich, wie oft die Stimme sie dazu angestachelt hatte.

Oh ja. Die Stimme der Versuchung war zurückgekehrt.

So schwach wie Aeron war, wäre jedwedes Linsen ihrerseits vollkommen fehl am Platz gewesen. Nicht einmal hatte er sich seit ihrer Ankunft bewegt. Außerdem hatte er zu stöhnen aufgehört, obwohl sie nicht mehr sang, und sie glaubte nicht, dass das ein gutes Zeichen war.

Seine Wunde blutete immer noch, und obwohl das Stück Robe, das sie ihm um die Schulter gebunden hatte, selbstreinigende Kräfte hatte, kam es nicht gegen den Strom an und war völlig durchtränkt. Seine tätowierte Haut war nicht mehr heiß und verschwitzt, sondern klamm. Um ihn aufzuwärmen, hatten sie mehrere Decken über ihm ausgebreitet, doch das hatte keinerlei Auswirkung auf seine stetig sinkende Temperatur gehabt.

Schließlich hatten sie sich neben ihn gesetzt, in der Hoffnung, ihre Körpertemperatur wäre das Zaubermittel.

„Was hast du mit ihm gemacht?“, fragte Legion wütend, während sie ihn besitzergreifend streichelte.

„Nichts“, erwiderte Olivia, doch in ihrer Stimme schwang Schuld mit. Sie hätte mehr für ihn tun müssen. „Die Jäger haben ihn angeschossen.“

„Weil du ihn nicht beschützt hast.“

Schlag sie.

Da ihre Sorge um Aeron alles andere überschattete, fiel es ihr nicht länger schwer, die Stimme zu ignorieren. „Was hätte ich denn tun können?“, fragte sie gequält.

„Du hättest zum Beispiel die Kugel entfernen können. Das hätte ich jedenfalls getan.“

Ja, vermutlich hätte sie das tun sollen. Als Freundin bin ich eine Niete. Auch wenn sie gar nicht seine Freundin war. Aber sie wollte es sein, und allein deshalb hätte sie sich wie eine verhalten sollen. „Selbst wenn er das hier überlebt …“, und das würde er, weil sie nichts anderes akzeptieren würde, „wird er in wenigen Tagen deinetwegen sterben.“ Oh Gottheit. Kummer gesellte sich zu ihrer Qual.

„Lügnerin!“, knurrte Legion, beugte sich zu Aeron hinunter und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. „Hörst du, mein Liebling? Dein Engel ist eine Lügnerin. Du wirst niemals sterben. Das werde ich nicht zulassen.“

Stoß sie beiseite, und zeig ihr, dass er dein Mann ist.

Wieder ignorierte sie die Stimme und die Finsternis, die sie mitbrachte, ohne Probleme. „In neun Tagen wird ihn ein Kriegerengel holen kommen. Er wird ihn enthaupten, und zwar deinetwegen. Weil du nicht in der Hölle bleiben wolltest, wo du hingehörst.“ Jetzt kam die Wut.

Legion setzte sich aufrecht hin und wandte sich mit gefährlich gefletschten Zähnen Olivia zu. Jetzt leuchteten ihre Augen wieder dämonisch rot. „Noch ein Wort, und ich werde dich im Schlaf erstechen.“

„Während ich neben Aeron schlafe?“ Der höhnische Seitenhieb kam ganz und gar von ihr, und sie bereute nicht, dass sie ihn geäußert hatte.

„Du Schlampe!“

„Oh, oh. Zickenalarm“, erklang eine amüsierte Stimme von der Tür.

William.

Wäre ich doch nur von William so fasziniert gewesen, dachte sie. Er hätte sie am ersten Tag verführt, und da seine Aufmerksamkeitsspanne sowieso nie länger war als ein paar Tage, hätte sie ihn am Ende ihres zweiwöchigen Ultimatums problemlos ad acta legen können.

Andererseits hätte sie ihm vermutlich einfach wie befohlen den Kopf abgeschlagen und für so wenig Zeit mit ihm erst gar nicht ihre Zukunft geopfert. Wo Aeron selbstlos war, war William egoistisch. Bei jedem anderen wäre dies ein unangenehmer Charakterzug gewesen. William aber stand er gut.

Er lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen. „Entschuldige, dass wir versucht haben, dich abzustechen, als wir nach Hause gekommen sind“, wandte er sich an Legion. Er und Paris waren vollkommen aus der Fassung geraten, als sie die fremde Frau erspäht hatten, die Aerons Namen rufend die Treppe heruntergerannt war.

Sie hatten sie schon zu Boden geworfen, und nur weil Olivia erklärt hatte, wer sie war – und warum sie plötzlich so anders aussah –, hatten sie ihr nicht den Todesstoß versetzt.

Ich hätte einfach still sein sollen, dachte Olivia. Doch das hätte auch nichts genützt. Denn Torin, der seine Augen und Ohren überall in der Burg hatte, hatte ihre Geschichte umgehend bestätigt.

„Aber du kannst es uns nicht vorwerfen“, fuhr William mit weicher Stimme fort. „Deine Veränderung ist wirklich überwältigend. Außerdem dachte ich, wir hätten das Limit an schönen Frauen in dieser Burg schon längst erreicht. Ich hielt es einfach nicht für möglich, dass uns noch eine geschenkt wurde.“

Igitt. Er flirtete. Legte William denn nie eine Pause ein? Das einzige Mal, dass sie ihn nicht flirtend erlebt hatte, war während ihrer Rückfahrt zur Burg gewesen. Gilly hatte versucht, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber er war seltsam still gewesen.

„Na ja, es ist ja nicht gerade so, als wärt ihr für mich ernst zu nehmende Gegner“, grummelte das Dämonenmädchen, das vermutlich gegen seinen Willen entzückt von ihm war. Aber waren sie das nicht alle?

„Du hast meine Ehre verletzt.“ Er hielt sich die Brust.

„Wir müssen später unbedingt noch mal kämpfen, um zu sehen, wer am Ende oben ist. Ich kämpfe übrigens am liebsten nackt. Und du?“

„Du wolltest doch mit den anderen reden“, unterbrach Olivia ihn, um endlich zum eigentlich Wichtigen zu kommen. „Hat irgendjemand eine Ahnung, was mit Aeron los sein könnte?“

„Deshalb bin ich eigentlich hier.“ William nahm den Themenwechsel ohne Protest hin. „Torin glaubt, dass er vergiftet wurde.“

Gift. Das klang logisch. Und angesichts der göttlichen Kontakte, die die Jäger hatten, hätte sie darauf wetten können, dass das Gift direkt aus dem Himmel kam. Menschengift hätte ihn, genau wie der Alkohol der Menschen, niemals derart beeinträchtigt. „Hat Torin ein Gegenmittel?“, fragte sie hoffnungsvoll.

William schüttelte den Kopf. „Er hat die Frauen angewiesen, Cronus’ Schriftrollen danach zu durchforsten. Gib ihnen also noch ein paar Stunden, bevor du in Panik gerätst.“

Stunden? Blieb Aeron überhaupt noch so viel Zeit? Sie schluckte, und in ihren Augen brannten Tränen. Vielleicht sollte sie doch wieder das Thema wechseln. Wenn sie zusammenbräche, wäre sie niemandem mehr eine Hilfe.

„Wie geht es Scarlet?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Ist eingesperrt und schläft immer noch. Das süße kleine Ding“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. „Vielleicht sollte ich es mal bei ihr probieren.“

„Also, ich finde sie hässlich“, kommentierte Legion verstimmt. „Genau wie den Engel.“

„Gefallen.“ Statt sie auch nur eine Sekunde lang anzusehen, ließ Olivia ihren Blick auf William ruhen. „Das süße kleine Ding kann jeden, der hier rumläuft, töten. Sag den Herren und den Frauen, dass sie wach bleiben sollen, solange es geht. Sobald sie einschlafen, kann Scarlet in ihre Träume eindringen, auch wenn sie selbst schläft. Sie werden das, was in diesen Träumen geschieht, für wahr halten, und ihre Körper werden dementsprechend reagieren. Jede Verletzung, die sie ihnen im Traum zufügt, wird real werden.“

Moment. Aeron … schlief … Albtraum … Hatte Scarlet ihn bereits angegriffen? Bei dem Gedanken musste Olivia einen Schrei unterdrücken. Sie musste ihn wecken, und zwar schnell.

William schürzte die Lippen. „Dieses hübsche Detail hättest du uns nicht zufällig verraten können, bevor wir sie hergebracht haben, nicht wahr?“

„Hätte es denn etwas geändert?“ Zum Beispiel Aeron gerettet? Ich bin sogar eine noch miesere Freundin, als ich dachte.

„Nein“, seufzte er. „Vermutlich nicht.“

Er sagte die Wahrheit. Oder versuchte er nur, sie von jeglicher Schuld freizusprechen?

„Ach, wo wir gerade von Albträumen sprechen“, fügte er hinzu, „rings um die Burg haben sich Tiere versammelt. Genauso wie vorhin ums Auto vor Gillys Schule und auf dem Friedhof. Möchtest du mir das vielleicht erklären?“

„Ich wünschte, ich könnte es“, erwiderte Olivia, die ihm plötzlich unendlich dankbar war und den Wunsch verspürte, ihm so viel zu helfen wie nur möglich. „Seit ich die Gruft verlassen habe, suchen sie meine Nähe, und ich habe keinen Schimmer, warum.“ Das Letzte, was sie getan hatte, war, ihr inneres Licht herbeizurufen und …

Das war es. Ihr inneres Licht. Natürlich. Sie hatten das Licht gespürt und suchten jetzt nach der Quelle. Sie erklärte es William.

„Cooler Trick, aber wir finden es alle ziemlich unheimlich. Und mit ,alle’ meine ich alle. Lucien hat die anderen hergebeamt. Du weißt schon, diejenigen, die in Rom waren. Und jetzt habe ich noch ein bisschen Klatsch und Tratsch für euch.“ Grinsend rieb er sich die Hände. „Reyes wird vom Beamen immer schlecht, und als er sich vorhin übergeben hat, musste er währenddessen Vögel und Eichhörnchen abwehren.“

„Das tut mir leid.“

„Ja, klar.“ Legion feuerte einen düsteren Blick auf sie ab. „Du bist ein Unruhestifter. Nichts läuft glatt, wenn du in der Nähe bist.“

„Ach, halt die Klappe!“, blaffte Olivia. „Wir sollten lieber überlegen, wie wir Aeron helfen können. Oder wenigstens einen Arzt für ihn finden.“

„Er braucht keinen Arzt. Er braucht nur mich. Und ich werde für ihn da sein.“ Legion fing an, sich das Kleid auszuziehen, das sie sich besorgt hatte, während Olivia und Aeron in der Stadt um ihr Leben gekämpft hatten. Ein Hauch von Nichts, der eindeutig Olivias Schlampen-Outfit Konkurrenz machen sollte.

Olivia starrte sie mit offenem Mund an. „Du willst für ihn da sein, indem du ihn im Schlaf vergewaltigst?“

„Genau.“ Nackt und ohne eine Spur von Scham zog Legion Aeron die Decken weg. Anscheinend wollte sie ihre Ankündigung tatsächlich in die Tat umsetzen.

„Tja, das wird wohl warten müssen. Legion, Schätzchen, du musst mit mir kommen“, sagte William und krümmte den Zeigefinger in ihre Richtung.

Sie runzelte die Stirn und hielt inne. Ihre großen Brüste wogten eindrucksvoll. „Warum?“

„Warum?“, wiederholte er, als hätte er so weit nicht vorausgedacht.

„Ja, warum?“

„Ach so, na ja, weil ich dich den Kriegern vorstellen muss, die dich noch nicht kennen. Schließlich sollen die dich nicht auch noch angreifen, wenn sie kommen, um nach Aeron zu sehen. Denn das werden sie. Nach ihm sehen und dich angreifen, meine ich.“

Offenbar erfand er das alles, während er sprach, um Olivia ein bisschen Zeit mit Aeron allein zu verschaffen. Sie hätte ihn knutschen können.

„Aber ich kann nicht von ihm weggehen“, jammerte Legion.

„Es ist ja nur für einen Moment.“ Er schenkte ihr ein umwerfendes Lächeln. „Versprochen.“

„Na gut“, grummelte Legion, streifte sich das Kleid über den Kopf und zog den weißen Stoff über die gefährliche Rundung ihrer Hüfte. Sie fauchte Olivia an: „Wenn du ihn anfasst, werde ich deine Augen zum Frühstück verspeisen, und du wirst mir hilflos dabei zusehen müssen!“

Olivia verzichtete darauf, den Fehler in ihrem Plan aufzuzeigen, als die beiden das Zimmer verließen und die Tür hinter sich schlössen, wobei William ihr über die Schulter zuzwinkerte. Da sie nicht wusste, wie lange die Galgenfrist dauern würde, verschwendete sie keine Zeit, sondern kuschelte sich sogleich neben Aeron ins Bett.

Küss ihn…

Wenn sich die Dinge wieder beruhigt hätten, würde sie als Erstes herausfinden, wer da in ihren Kopf eindrang und warum.

Sie würde ihn nicht küssen, sondern beten.

Während sie Aeron zärtlich über die Brust streichelte, schloss sie die Augen. „Gütige himmlische Gottheit. Ich spreche jetzt als demütige Dienerin zu dir, die dich liebt. Dieser Mann hier ist nicht böse, auch wenn das Böse in ihm weilt. Er ist gütig. Er ist besonnen. Er ist zu großer Zuneigung und uneingeschränkter Loyalität fähig. Das sind die Dinge, die du am meisten schätzt. Er soll sterben, ich weiß. Aber nicht jetzt. Nicht so. Du, der du alle Dinge, selbst die schlechtesten, zu unserem Guten wenden kannst, du kannst ihn heilen und ihm seine Kraft zurückgeben. Du, der du vor langer Zeit den Tod besiegt hast, kannst ihn retten.“

Bitte erhöre mich. Bitte hilf mir.

„Warum tust du dir das an, Olivia? Er wird am Ende doch ohnehin sterben.“

Lysander. Das ging ja schneller, als sie gehofft hatte. Danke, danke, tausendmal danke!

Die Stimme – von nun an würde sie sie Versuchung nennen – kreischte frustriert. Nicht er. Jeder, nur nicht er. Ich kann diesen Bastard nicht ausstehen.

„Dann verschwinde doch“, blaffte sie, und in dieser Sekunde keimte ein Verdacht in ihr auf. Offensichtlich hasste Versuchung ihren Mentor, einen Engel. Und die einzigen Wesen, die Engel hassten, waren Dämonen.

Das bedeutete, dass Versuchung ein Dämon war.

Das werde ich. Vorerst. Bis später, Baby.

Wenn dieser Dämon zurückkehrte, was er zweifelsohne täte, müsste sie besser gewappnet sein.

„Olivia?“, sagte Lysander.

Sie öffnete die Augen einen kleinen Spalt. Und tatsächlich stand ihr Mentor neben ihr. Groß, imposant und eine überwältigende Macht ausstrahlend. Die Bögen seiner goldenen Flügel ragten über seine Schultern, und seine Robe umfloss seine Knöchel.

Was hatte er sie gefragt? Ach ja. Warum tat sie sich das an? „Aeron verdient es nicht, so zu sterben.“

„Viele verdienen nicht den Tod, der ihnen bestimmt ist.“

Sie schmiegte sich wie ein Schutzschild an Aerons Seite – so wie eine anständige Freundin das eben tat. „Du hast eine zweite Chance mit deiner Harpyie bekommen, und ich verdiene eine zweite Chance mit Aeron.“

„Und wenn seine Zeit um ist, wirst du dann eine dritte verlangen?“

Ihm die Antwort zu geben, die er hören wollte, hätte bedeutet zu lügen. „Warum bist du hier, Lysander?“

Einer seiner Wangenmuskeln zuckte. „Ich bin hier, um dir zu sagen, dass dein Gebet erhört wurde. Ich bin hier, um dir zu sagen, dass Aeron geheilt werden wird. Allerdings musst du im Gegenzug ein Opfer bringen. So wollen es unsere Regeln.“

Ein Opfer. Ja, so lief es für gewöhnlich. Seit Anbeginn der Zeit hatte das Selbstopfer, der pure Liebesbeweis, die Kraft besessen, ihre Gottheit zu beeinflussen – und die Welt zu verändern. „Ich bin einverstanden. Tu also, weswegen du hergeschickt wurdest, und dann geh.“

Er rührte sich nicht. „Willst du denn gar nicht wissen, was du verlierst?“

„Nein.“

„Bist du sicher? Ach, egal. Ich werde es dir trotzdem sagen. Du wirst die Stimme der Wahrheit verlieren. Vorbei die Zeiten, in denen andere dir vorbehaltlos glaubten, was du sagst. Vorbei die Zeiten, in denen du niemals Zweifeln begegnet bist. Vorbei die Zeiten, in denen du eine Lüge in der Sekunde entlarven konntest, in der sie ausgesprochen wurde. Und auch wenn du dich entschließt, in den Himmel zurückzukehren und der Engel zu sein, der zu sein du bestimmt bist, wirst du deine Stimme der Wahrheit nicht zurückbekommen. Sie wird für immer von dir gehen.“

Unwillkürlich griff sie sich an die Kehle. Ihre Wahrheit verlieren? Lieber würde sie ihre Hände verlieren, so wie Gideon. Wie sollte sie damit umgehen, wenn Aeron ihr misstraute, wo sie doch tief in ihrem Innern wusste, dass sie die Wahrheit sagte?

Sie sah ihn an. Er war so still und so blass. So düster.

„Überleg es dir wohl“, ermahnte Lysander sie. „Mit jeder Stunde, mit jeder Minute wird der Weg, auf dem du dich befindest, gefährlicher. Und weißt du, was ich am Ende des Weges sehe? Unabhängig davon, welche Richtung du einschlägst? Weißt du, was dort auf dich wartet? Der Tod, Olivia. Dein Tod. Und wofür? Für ein paar Tage mehr mit ihm. Ein paar Tage mehr mit einem Mann, der ein Abkommen mit mir geschlossen hat.“

„W…was für ein Abkommen?“

„Ich habe geschworen, dass ich versuchen werde, den Rat davon zu überzeugen, ihn und seine Dämonenfreundin zu verschonen, falls er es schafft, dich zur Rückkehr in den Himmel zu bewegen.“

Ihr Mund klappte hilflos auf und zu, wie bei einem Goldfisch auf dem Trockenen. Sie war schockiert, ja. Weil Lysander für Aeron bereit war, mit dem Rat zu verhandeln, während er ihr die Bitte, es zu tun, abgeschlagen hatte. Aber vor allem war sie verletzt. Das erklärte so vieles. Lysanders geheimen Besuch bei Aeron. Warum Aeron ihr den letzten Orgasmus verwehrt hatte. Warum er gewollt hatte, dass sie ihn kämpfen sah; dass sie sah, was für ein hartes Leben er führte.

Sie bedeutete ihm nichts. Hätte er sie sonst ohne Weiteres als Verhandlungsgegenstand benutzt? Und trotzdem war er ein Mann, den sie bewunderte. Er war bereit, alles zu tun, um jemanden zu retten, den er liebte. Um Legion zu retten.

Hätte es doch nur sie sein können, die er liebte.

„Wenn ich mit dir zurückkehre, kannst du mir dann garantieren, dass er leben wird?“, krächzte sie.

„Ich kann es versuchen.“ Das hörte sich für sie nicht gerade nach einer Garantie an. „Der Kern dieser Angelegenheit ist, dass er einverstanden war“, fügte Lysander hinzu, ehe sie etwas erwidern konnte. „Er ist bereit, sich von dir zu trennen, um sich selbst zu retten.“

Der Schmerz breitete sich aus, überrollte sie, ließ sie würgen.

„Ändert das etwas an deiner Entscheidung über seine Heilung?“, fragte Lysander leise. Hoffnungsvoll. „Über dieses Opfer?“

„Nein“, antwortete sie, ohne zu zögern. Zwar hatte Aeron Legions Wohlergehen über ihres gestellt, doch das hatte sie erwartet. Was sie jedoch nicht erwartet hatte, war, dass sie ihn vor Ablauf ihres Ultimatums verlieren sollte. Sie konnte ihn einfach nicht verlieren, trotz allem nicht. „Ich möchte das Opfer immer noch bringen.“

Lysanders Blick füllte sich mit Traurigkeit. „Dann soll es so sein.“

Als das letzte Wort seine Lippen verließ, zogen sich ihre Stimmbänder zusammen. Einen Moment lang konnte sie weder sprechen noch schlucken, noch atmen. Panisch griff sie sich an den Hals. Ihr Kopf war wie vernebelt, als sich Eis und Feuer in ihr Blut mischten.

„Gleich ist es vorbei“, sagte Lysander, der plötzlich vor ihr stand und ihr über die Wange streichelte. Dasselbe hatte er immer getan, wenn sie es nicht geschafft hatte, Freude ins Leben der ihr zugeteilten Menschen zu bringen. Er hatte ihr Trost gespendet. Immer hatte er das Beste für sie gewollt und wollte es offenbar noch. Er war kein schlechter Mann, und sie täte gut daran, das nicht zu vergessen.

Wie er versprochen hatte, begann endlich wieder Sauerstoff durch ihre Kehle in ihre Lungen zu strömen. Das Feuer erlosch, und das Eis verging. Der Nebelschleier zerriss. Dankbar holte sie tief und gierig Luft.

„Hätte Aeron dasselbe für dich getan?“, fragte Lysander. „Nein. Antworte nicht. Denk einfach über alles nach, was ich gesagt habe.“

Sie nickte, unfähig, mehr zu tun.

„Sei vorbereitet, süße Olivia. Es ist sehr gut möglich, dass Aeron wieder so verletzt wird. Ich fürchte, Rhea hat den Jägern Wasser aus den fünf Flüssen des Hades gegeben.“

Olivia zuckte zusammen. Wenn dieses Wasser als Waffe eingesetzt wurde, bedeutete es den sicheren Tod. Ein Schluck, eine Berührung … und auf Nimmerwiedersehen. Die Seele selbst verkümmerte. Die einzige Möglichkeit, das abscheuliche Gift zu bekämpfen, war, aus dem Fluss des Lebens zu trinken. Aus einem Fluss, von dem selbst sie nicht wusste, wo er zu finden war.

„Sie haben spezielle Kugeln gefertigt, und jede dieser Kugeln enthält einen Tropfen des Wassers.“ Er zog ein kleines Fläschchen aus seiner Robe. „Aeron braucht nur einen Tropfen davon, um gesund zu werden. Den Rest würde ich gut verstecken. Für alle Fälle. Aber benutze es wohlüberlegt, denn wenn es aufgebraucht ist, wirst du nicht mehr davon bekommen.“

Der Fluss des Lebens? Mit zittriger Hand ergriff sie das Fläschchen.

„Aber denke nicht, nicht einen Moment lang, dass ihn das hier retten wird, nachdem man ihn enthauptet hat. Und er wird enthauptet werden, Olivia. Sein Henker wird kommen.“

Sie senkte den Blick. Lysander kannte sie gut; ihre Gedanken waren tatsächlich in diese Richtung gegangen. Sei’s drum. Sie schüttelte den Kopf, wodurch sie die Enttäuschung vertrieb und ihre Entschlossenheit erneuerte. Sie würde einfach einen anderen Weg finden.

„Ich dachte, du wolltest seinetwegen den Rat um Gnade ersuchen.“

„Und so soll es auch geschehen. Wir wissen, wie solch ein Bittgesuch ausgehen wird. Er nicht. Bei dir waren sie gnädig, aber du bist schließlich eine von uns. Er ist ein Dämon. Bei ihm wird es keine Gnade geben.“

Wäre es klug, ihm davon zu erzählen?

„Welch große Sorgen du mir machst, Olivia.“ Lysander seufzte. „Ich werde dich jetzt deine Aufgabe erfüllen lassen.“

19. KAPITEL

Gideon, Hüter des Dämons Lüge, warf sich unruhig in seinem Bett hin und her. Die Boxershorts klebten an seiner schweißnassen Haut, und seine bandagierten Hände – oder besser: seine fehlenden Hände – pochten schmerzhaft. Blut war in die Bandagen gesickert, und das war dank seiner langsam, aber stetig voranschreitenden Heilung seit Wochen nicht mehr passiert. Hatte er einen Rückfall?

Obwohl er schlief, war er bei vollem Bewusstsein – was ziemlich seltsam war – und in der dichtesten Dunkelheit gefangen, die er je erlebt hatte. Auch das war seltsam, wenn auch technisch nicht ganz wahr. Zumindest nicht, was seinen Dämon betraf. Denn die Dunkelheit in der Büchse der Pandora war genauso gewesen: drückend und unerträglich. Seit sie dieses merkwürdige Reich betreten hatten, hatte Lüge nicht aufgehört, entsetzt darüber zu heulen. Seine Schreie hatten sich mit denen vermischt, die in dieser Dunkelheit lagen. Abertausende, misstönende, kreischende Schreie, einer gequälter als der andere.

Sich einen Weg nach draußen zu bahnen hatte sich als unmöglich erwiesen.

„Gideon. Gideon, wach auf, Mann. Du sollst nicht schlafen.“

Er hörte Paris’ Stimme und hätte gern gehorcht, doch wieder konnte er nicht. Die Finsternis war zu klebrig, schlang sich um ihn, hielt ihn fest und erstickte ihn fast. Und dann, als seine Verbindung zur wachen Welt ganz und gar abriss, erstickte er tatsächlich. Ich kriege keine Luft…

Die Finsternis teilte sich, und gierig atmete er ein – nur um sogleich nach hinten zu stolpern. Hölle, nein. Eine Spinne!

Beruhig dich nicht, befahl sein Dämon ihm.

Du wirst dich nicht beruhigen! Keuchend und bemüht, nicht wie ein Mädchen zu kreischen, presste er sich gegen die Wand. Die monströse Spinne folgte ihm. Ihre achthundert Beine stachen in den Boden, und ihre schwarz glänzenden Knopfaugen bohrten sich direkt in seine Seele.

Feind, sagte Lügen. Was bedeutete: Freund.

Wohl kaum. Mist, Mist, Mist. Seine Gehirnzellen, die alle in diesem fiesen Dunst der Panik gefangen waren, gaben ihm plötzlich – in hochauflösenden Bildern – einen Ausblick darauf, wie diese Kreatur ihn zum Abendessen verspeisen würde. Lieber würde er sich anzünden lassen. Lieber würde er sich aufknüpfen lassen. Hölle, lieber würde er sich ausweiden lassen.

„Ich werde so gut schmecken“, sagte er verzweifelt. Die Wahrheit war, dass er scheußlich schmecken würde, doch selbst in seinen Träumen konnte er nicht sagen, was er eigentlich meinte. Zumindest ging er davon aus. Versucht hatte er es noch nie. Und das würde er auch nicht. Immerhin könnten die Konsequenzen genauso verheerend sein wie im realen Leben: Schmerzen, Schmerzen und noch mal Schmerzen.

Die Erinnerung an seine letzte Begegnung mit der Wahrheit war ihm noch lebhaft im Gedächtnis. Vor einigen Wochen hatte er einem Jäger gesagt, was er wirklich fühlte – Hass – und was er wirklich tun wollte – verletzen, quälen, töten. Und alles nur, weil er, der eine Lüge schon aus ein paar Tausend Meilen Entfernung erkannte, durch einen Trick hinters Licht geführt worden war. Er war dem Irrglauben erlegen, Sabin, Hüter von Zweifel, sei durch die Hände der Jäger gefallen. Dumm von ihm. Doch als die qualvolle Strafe für seine wahren Worte ihn durchfuhr, hatte er gedacht: Jetzt kommt es auf ein bisschen mehr auch nicht mehr an und sich freiwillig für die Folter der Jäger angeboten, um seine Freunde davor zu bewahren.

An jenem Tag hatte er seine Hände an eine Metallsäge verloren. Jetzt waren dort nur Stümpfe mit ein paar Fingern. Sogar in seinen Träumen. Deshalb konnte er sich auch nicht angemessen gegen Mr Hungrig verteidigen – der ihn immer noch beobachtete, als wäre er ein saftiges Steak, während er von einer Ecke des Traums in die andere stolperte.

Diese Ecken kamen jetzt immer näher, der Raum wurde immer kleiner.

Hölle. Nein. „Komm näher!“ Bleib mir vom Leib! „Du willst mich doch.“ Du willst mich doch gar nicht.

Beruhig dich nicht, wiederholte Lügen.

Er hatte keine Zeit, sich mit dem merkwürdigen Verhalten seines Dämons zu beschäftigen. Plötzlich zuckte ein dürres haariges Bein nach vorn. Die Kralle am Ende war scharf wie eine Rasierklinge und schlitzte ihm den Oberschenkel auf. Vielleicht war sie dazu noch mit Gift getränkt, denn der stechende Schmerz, der ihn kurz darauf durchfuhr, zwang ihn in die Knie. Seine Muskeln krampften sich so fest um seine Knochen, dass sie sie beinahe brachen.

„Mach das noch mal“, keuchte er. Ruhe, halt einfach die Klappe! Er verachtete seinen Dämon nur selten. Meistens mochte er den Mistkerl sogar. Dann war er froh, wegen seines kleinen bösen Geistes ein stärkerer und härterer Soldat zu sein. Aber nicht jetzt. Jetzt wünschte er diese götterverdammte Spinne einfach nur ins ewige Fegefeuer.

Warum er solche Angst vor Spinnen hatte, wusste er nicht. Die Angst war einfach immer da gewesen.

Noch ein Zucken. Noch ein Schnitt. Diesmal erwischte das Monstrum ihn am Rücken, als er versuchte, sich aus der Bahn zu drehen. Der Schmerz breitete sich blitzschnell aus, wieder verkrampften sich seine Muskeln. Und dieses Mal brachen die Knochen in seinem Arm tatsächlich.

„Noch mal“, wiederholte er. Wie Pfeile schössen die Worte zwischen seinen aufeinandergebissenen Zähnen hervor. „Noch mal.“

Beruhig dich nicht!

Die Spinne stand reglos vor ihm. Nur ihren widerwärtigen Kopf neigte sie zur Seite. Sie beobachtete ihn, musterte ihn.

Verdammt! Er konnte nicht einmal mehr wegkriechen, war auf einmal wie festgenagelt.

„Bleib hier!“ Verschwinde! Sein schwerer Atem hallte von den viel zu nahen Wänden wider.

„Warum sagst du das Gegenteil von dem, was du deinem Gesichtsausdruck nach meinst?“

Die Stimme kam aus dem Nichts. Oder vielleicht sprach die Spinne. Allerdings hätte er gedacht, dass eine derart hässliche Spinne männlich wäre, und diese Stimme war die pure Weiblichkeit gewesen. Und irgendwie vertraut. Weich und dennoch fest. Entspann dich, sagte der Klang dieser Stimme.

Lügen seufzte zufrieden.

„Bleib hier!“, schrie Gideon die Bestie an. Er würde darauf nicht hereinfallen. Ihn würde sie nicht so schnell zum Schweigen bringen wie seinen Dämon.

Langsam, viel zu langsam, verblasste die Spinne, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen war. Das ist bloß noch ein Trick. Du musst…

Eine Frau trat aus der Dunkelheit. Sie war groß und schlank, und in ihren schulterlangen schwarzen Haaren war nicht die kleinste Welle zu sehen. Ihr Gesicht kam ihm genauso bekannt vor wie ihre Stimme.

Wer war sie?

Ihre Augen waren wie schwarzer Samt, ihre Nase war majestätisch geschwungen, und ihre Lippen waren so rot wie Abertausende frisch polierte Rubine, die man zusammengepresst und herzförmig zugeschnitten hatte. Sie hatte scharfe Wangenknochen und ein eigenwilliges Kinn, aber bei den Göttern – sie war bezaubernd. Eine Kriegerkönigin.

Sein Herz pochte wie wild, und Lügen stieß einen weiteren Seufzer aus. Die Panik fiel von ihm ab und ließ nichts als glühende Faszination zurück. Ein Trick? Wen interessierte das schon! Sein Kopf hatte sich offensichtlich bei seinen tiefsten Fantasien bedient, um sie zu erschaffen.

Der Schweiß auf seinem Körper trocknete, und das Eis verließ in dem Augenblick sein Blut, als ein alles verzehrendes Feuer durch ihn fegte und alles versengte, was es berührte. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als diese Frau zu berühren, ihr Gesicht zu streicheln und ihr mit den Fingern durch die Haare zu fahren. Er wollte wissen, ob sie genauso weich und seidig waren, wie er es sich vorstellte.

„Warum sagst du das Gegenteil von dem, was du meinst?“, fragte sie noch einmal.

„Weiß nicht“, erwiderte er, was bedeutete, dass er die Antwort sehr genau kannte. Er hätte detaillierter lügen und ihr so die Möglichkeit geben können, die Wahrheit zu entziffern. Doch ein Gedanke hinderte ihn daran. Was, wenn sie ein Köder war? Eine Frau, die geschickt worden war, um ihn zu vernichten?

Waren die Jäger jetzt schon so mächtig, dass sie in Träume eindringen konnten?

Möglich. Torin hatte ihn erst kürzlich besucht, um ihm mitzuteilen, dass Galen ein Artefakt in seinem Besitz hatte – und dass dieser Verräter den Dämon Misstrauen erfolgreich an eine dunkelhaarige Frau gebunden hatte und … Eine dunkelhaarige Frau?

Er erstarrte. Wie die, die gerade vor ihm stand?

„Komm zum Kerker“, sagte sie. „Allein.“

„Wer bist du nicht?“, wollte er wissen.

„Wer bist du nicht?“, feuerte sie zurück.

Während sich ein unheimliches Schweigen zwischen ihnen ausbreitete, füllten sich diese schwarzen Augen mit Wut. Doch die Wut verdrängte nicht die Neugier, die ebenfalls darin weilte.

„Komm zum Kerker, sonst hole ich die Spinne zurück.“ Mit diesen Worten verschwand sie.

Gideon riss die Augen auf, und sein Bewusstsein raste mit Lichtgeschwindigkeit aus diesem merkwürdigen Traumzustand in die Realität.

„Den Göttern sei Dank“, sagte ein aufgeregter Paris. „Endlich.“

Gideon keuchte. Anders als in seinem Traum war sein Schweiß nicht getrocknet. Er lief an seinem Körper hinab und ließ seine Kleidung an ihm kleben. Doch blutende Wunden an seinem Arm, Oberschenkel und Rücken waren exakt an den Stellen, an denen die Spinne ihn im Traum aufgeschlitzt hatte.

„Was ist passiert?“, fragte er mit zitternder Stimme. „Eine kleine, unbehaarte Mücke …“

„Du hast schlecht geträumt, wie ich befürchtet hatte.“

Das schwache Licht der untergehenden Sonne fiel durch das einzige Fenster ins Zimmer, doch die Deckenlampe brannte und schien auf seinen Freund herab. Paris’ Haar hatte viele Schattierungen, und jede der Farben leuchtete kräftig. Sein Teint war zwar blass, schimmerte jedoch wie eine Perle.

Ich habe mich vielleicht wie ein Mädchen verhalten, aber Paris sieht wie eines aus, dachte er, als sein Humor allmählich zurückkehrte.

„Du bist eingeschlafen, bevor wir dir sagen konnten, dass du nicht schlafen darfst, und hast anscheinend unseren neuen Gast getroffen.“

Das Mädchen. „Wer ist denn nicht unser neuer Gast?“

„Sie heißt Scarlet, und sie ist ein Herr der Unterwelt. Oder vielmehr eine Herrin.“

Sie hatten tatsächlich jemanden von der Liste gefunden und hergebracht? „Welcher Dämon wohnt nicht in ihr?“ Er hätte sich gern mit der Hand übers Gesicht gerieben, um sich den Schlaf aus den Augen zu wischen, doch das ging ja nicht.

Paris spürte sein Bedürfnis und wischte ihm mit einem Zipfel seines Ärmels über die Augen. „Albtraum, so wie’s aussieht. Hübsches Ding, wenn man auf den rauen Typ steht, aber augenscheinlich genauso verrückt wie die Jäger.“

Albtraum. Aus irgendeinem Grund reichte allein das Wort, damit sein eigener Dämon fast einen Orgasmus bekam. Und Gideon, nun ja … Er fragte sich plötzlich, warum ihm das Mädchen so bekannt vorgekommen war.

Bleib, bleib, bleib, forderte Lügen.

„Olivia hat uns geholfen, sie zu fangen, und nun ist sie im Kerker eingesperrt“, fuhr Paris fort.

„Sie ist verletzt, nicht wahr?“, fragte er eindringlich und schwang die geschwächten Beine aus dem Bett.

„Was machst du denn da, Mann?“

Gideon schaffte es aufzustehen. Er schwankte zwar bedrohlich, fiel jedoch nicht hin. Dann blickte er an sich herunter. Er trug immer noch diese Boxershorts, war schweißverklebt und roch vermutlich ziemlich streng.

Es war nicht die Eitelkeit, die ihn in Richtung Badezimmer stolpern ließ, sondern schlicht Höflichkeit. Es gab schließlich keinen Grund, das Mädchen – Scarlet, hatte Paris gesagt – zu foltern, wenn sie noch gar nichts Falsches getan hatte. Zumindest nicht so richtig. Seine frischen Wunden schmerzten höllisch, und Blut tropfte überall auf den sauberen Fußboden. War das ihr Werk?

Aeron, ihr ganz persönliches Zimmermädchen der Burg, wäre garantiert sauer darüber, und bei dieser Aussicht begannen seine Mundwinkel zu zucken. Aeron mit einem Mopp – das zu beobachten wäre ein Heidenspaß. Ein Klassiker.

Jedem der Herren war eine bestimmte Pflicht zugeteilt. Sicher, für seine Freunde war das eine tolle Sache, aber Gideon hatte sich eigentlich immer nur durchs Schmarotzen hervorgetan. Früher hatte er diesen Titel einmal mit Stolz getragen. Doch dann hatte Paris ihm ein schlechtes Gewissen gemacht und ihn dazu gebracht, ihm beim Einkaufen zu helfen. Jeder von ihnen war einmal pro Woche in den Supermarkt gefahren, Paris am Anfang der Woche und Gideon am Ende.

Ob nach seiner Verletzung wohl jemand anders diese Aufgabe übernommen hatte, und falls ja, was würde er wohl stattdessen tun müssen, wenn er sich wieder vollständig erholt hätte? Vermutlich Aeron beim Zimmermädchenspielen helfen.

Sein Grinsen verblasste.

„Also, was hat sie mit dir gemacht?“, erkundigte sich Paris, der kommentarlos neben ihn getreten war und den restlichen Weg ins Bad als sein Krückstock fungierte. Am Ziel angekommen, stellte Paris ihm sogar das Wasser an. Brühend heiß, genau wie Gideon es mochte. „Du hast von einer kleinen, unbehaarten Mücke gesprochen, und ich muss gestehen, dass ich keine Ahnung habe, was das heißen soll.“

Mit etwas Hilfe gelang es Gideon, sich auszuziehen. Er stieg in die Dusche. Besonders schüchtern war er nie gewesen, und er wusste, dass es Paris, der in all den Jahren schon mit Abertausenden Frauen und auch dem einen oder anderen Mann zusammen gewesen war, sowieso nichts ausmachte, ihn nackt zu sehen.

Eine ganze Weile stand er unbeweglich da, die Stümpfe an die Wand vor sich gestützt. Sein gebrochener Arm pochte, während das Wasser auf ihn herabprasselte und ihm Gesicht und Körper verbrühte. Schließlich umfasste Paris das Handgelenk, das nicht gebrochen war, nahm die Bandage ab und legte ein Stück Seife darauf.

„Nein, danke“, nuschelte er. Wie sollte er das nur hinbekommen?

„Unglaublich, er lebt“, murmelte Paris in sich hinein. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was hat sie dir mit diesen Mücken angetan?“

„Nichts“, erwiderte er und meinte: irgendwas halt.

„Das weiß ich. Nun rede endlich.“

Während er sich so gut wie möglich einseifte – was nicht so besonders gut war, da er ja keine Hände hatte und nur seinen rechten Arm benutzen konnte –, antwortete er in Gideon-Sprache. Die Bedeutung seiner Worte wurde klar – Als ich wach war, durfte ich mit meinem Lieblingstier feiern –, auch ohne dass er von der Wahrheit Gebrauch machen musste.

„Du weißt, was das bedeutet, nicht wahr?“, fragte Paris grimmig.

„Ja.“ Nein. Zum Teufel. Sein Gehirn war offenbar verknotet. Alles, was ihm dazu einfiel, war, dass Scarlet Insekten heraufbeschwören konnte, aber das hätte mittlerweile auch ein Dreijähriger herausgefunden.

„Sie wusste, was dir am meisten Angst einjagt. Die einzig logische Erklärung dafür ist, dass die Frau unsere tiefsten Ängste spüren kann und sie uns im Schlaf persönlich vorstellt. Daher die Albträume.“

Großartig. Das war genau das, was ihm in seinem Leben noch gefehlt hatte. „Ich werde sie nicht besuchen.“

Darauf reagierte Lügen mit einem Nein, danke.

„Nun mal langsam.“

„Du wirst mir die Sache auf jeden Fall ausreden können, also würde ich an deiner Stelle jetzt nicht die Klappe halten.“ Er brauchte zwar ein bisschen, schaffte es aber, das Wasser abzustellen. „Gib mir kein Handtuch.“

Ein vor sich hin grummelnder Paris warf ihm ein flauschiges Badehandtuch zu. Aber Gideons Stümpfe waren einfach nicht schnell genug, und so fiel es auf den Boden. Er bückte sich, und nach mehreren Versuchen gelang es ihm endlich, das Handtuch aufzuheben. Sein Arm pochte. Dämlicher Knochenbruch! Er gab sich alle Mühe, sich abzutrocknen, bekam es allerdings nicht sonderlich gut hin.

Irgendwann nahm Paris ihm das Handtuch ab und rieb ihn trocken. „Du bist schlimmer als ein Baby, weißt du das?“

„Besorg mir nichts zum Anziehen.“

Kopfschüttelnd verschwand Paris in sein Zimmer. Gideon hörte eine Schublade aufgehen und wieder zuknallen, dann noch eine, und kurz darauf kam Paris mit einer kurzen Hose und einem T-Shirt in der Hand zurück ins Bad.

Gideon war bereits aus der Dusche gestiegen. Er hätte sich selbst anziehen können, aber das hätte ihm das letzte bisschen Energie geraubt. „Zieh mich bitte nicht an.“

Noch ein Kopfschütteln. „Wenn du sie besuchst, nimm wenigstens ein paar Waffen mit.“ Paris zog ihm das Shirt über den Kopf und half ihm, die Arme hindurchzustecken. Nur einmal zuckte Gideon schmerzhaft zusammen. „Mich zum Beispiel.“

„Sicher.“ Götter, war das peinlich, so hilflos zu sein. Doch sein Freund ging so sachlich damit um, dass sich die Scham langsam legte.

Paris verdrehte die Augen, als er die Shorts aufhielt, damit Gideon hineinsteigen konnte. „Nur weil sie eingesperrt ist, ist sie noch lange nicht harmlos.“ Sein Blick fiel auf die immer noch blutende Wunde in Gideons Oberschenkel.

Gideon zuckte mit den Schultern. „Hättest du mir nicht etwas femininere Klamotten raussuchen können?“, fragte er angewidert, als er an sich hinunterblickte. Falls er hoffte, Scarlet beeindrucken zu können – was er nicht tat, wie er sich selbst versicherte –, würde er versagen. Ein weißes, viel zu kleines T-Shirt und graue Joggingshorts. Fantastisch.

Paris verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast also vor, ohne mich zu gehen.“

„Nein.“ Allein, hatte sie gesagt. Wenn er einen Freund mitbrächte, würde sie ihre hübschen Lippen womöglich gar nicht erst öffnen, und das würde er nicht dulden. Er wollte Antworten, verdammt. Vor allem auf die Frage, woher er sie kannte. Außerdem wäre er nicht abgeneigt, sich ihre Entschuldigung dafür anzuhören, dass sie ihn aufgeschlitzt hatte.

„Gideon“, warnte Paris ihn.

„Sie ist doch nicht eingesperrt, oder?“ Er humpelte ins Schlafzimmer und rief über seine Schulter: „Ich werde die ganze Zeit in Gefahr sein.“

„Nervensäge. Von mir aus: Tu, was du nicht lassen kannst. Aber sei vorsichtig“, rief Paris.

„Keine Chance.“

Zwei lange, gewundene Flure und eine Treppe später musste er sich gegen die Wand lehnen, um nicht umzukippen. Auf dem Weg war er einigen seiner Freunde begegnet, und jeder einzelne hatte versucht, ihm zurück in sein Zimmer zu helfen. Er hatte sich bemüht, sie so höflich wie möglich zu verscheuchen. Sie sorgten sich um ihn, und er liebte sie dafür. Auch wenn er ihnen das nie würde sagen können. „Ich hasse dich“, war das Beste, das er herausbekam. Aber deshalb würde er noch lange keinen Rückzieher machen.

Er zwang sich weiterzugehen. Als er über die Schwelle zum Kerker trat, veränderte sich schlagartig die Luft. Sie war schwer von Blut, Schweiß und sogar Urin. Hier hatten sie Jäger gefoltert, immer und immer wieder. Wie musste sich das Mädchen ekeln. Er hoffte nur, dass sie nicht zitternd in der Ecke kauerte und weinte.

Was würde er tun, wenn dem tatsächlich so wäre? Wahrscheinlich schreiend davonlaufen, dachte er. Das Einzige, das schlimmer war als Spinnen, war eine weinende Frau.

Angsterfüllt bog er um die letzte Ecke. Dann endlich kam sie in sein Blickfeld, und er blieb stehen. Als Erstes bemerkte er erleichtert, dass sie weder weinte noch verängstigt war. Dann sah er, dass sie in der Realität noch viel hübscher war als in seinem Traum.

Sie hatte die Gitterstäbe gepackt und wartete mit ausdruckslosem Gesicht. „Du bist gekommen.“ Sie klang nicht überrascht, sondern einfach nur schicksalsergeben.

„Nein, bin ich nicht.“ Wie in Trance ging er weiter auf sie zu, und als er vor ihr stand, stieg ihm plötzlich der Duft von Blumen in die Nase. Er atmete tief ein. Genau wie Lügen.

Sie musterte ihn von oben bis unten, schätzte ihn ab und schien keinen einzelnen Makel an ihm zu übersehen. „Vielleicht hättest du es lieber lassen sollen.“

Wieder stellte er verblüfft fest, wie vertraut sie ihm war. Ihre Stimme, ihr Gesicht … Doch noch immer konnte er nicht einordnen, wo er ihr begegnet war. „Sag mir nicht, warum.“

Sie kniff leicht die Augen zusammen. „Sag mir, dass ich hübsch bin.“

Ziemlich eingebildet, oder? Nun, sie würde von ihm ohnehin nicht das zu hören kriegen, was sie wollte. „Du bist hässhch.“

Ein Teil von ihm rechnete damit, dass sie entsetzt nach Luft schnappen würde. Aber es geschah nichts dergleichen. Stattdessen sagte sie in demselben resignierten Tonfall: „Sag mir, dass ich klug bin.“

„Du bist dumm.“

Langsam verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. „Soso. Lügen. Du bist es also wirklich. Endlich sind wir wieder vereint.

20. KAPITEL

Ein Wassertropfen berührte Aerons Lippen. Es fühlte sich kühl an und kitzelte ein bisschen. Dann lief der Tropfen über seine Zunge und rann ihm die Kehle hinab bis in seinen Magen, wo er in seinen Blutkreislauf eintrat und zu seinen Organen transportiert wurde. In dem Moment, als der Tropfen ihn berührte, begann sein Herz wieder kraftvoll und regelmäßig zu schlagen, füllten sich seine Lungen mit mehr Luft als je zuvor und erreichte seine Haut die perfekte Temperatur – weder zu warm noch zu kalt.

Plötzlich konnte er hören, wie vor dem Fenster die Vögel zwitscherten und wie der Wind durch die Wipfel des Waldes strich, der die Burg umschloss. Er konnte sogar hören, wie seine Freunde in ihren Zimmern über und unter seinem darüber diskutierten, was sie mit Scarlet machen sollten, wie es mit den Jägern weiterginge und was sie bloß tun könnten, damit er wieder gesund würde.

Und seine Nase … Er holte tief Luft und nahm die verschiedensten Düfte wahr: Baumrinde, frische Blätter, Schweiß, die Zitronenseife, die Sabin benutzte, Paris’ Aftershave und seinen persönlichen Lieblingsduft … wilden Himmel. Olivia.

Olivia war bei ihm.

Vielleicht schnurrte Zorn deshalb so zufrieden.

Aeron öffnete die Augen und bereute es sofort. So viel Licht. Licht aus den Strahlern in der Decke, Licht aus dem Badezimmer. Seine Wände, die für ihn immer aus silbermatten Steinbrocken bestanden hatten, glänzten plötzlich, als hielten ihre Steine den Regenbogen gefangen.

„Du lebst“, sagte Olivia, und ihre Erleichterung war geradezu greifbar.

Irgendetwas an ihrer Stimme ist anders, dachte er, während sein Blick sie suchte. Sie war immer noch schön, vor allem jetzt, da er die feinen Nuancen wahrnahm – ein schwaches Kratzen und weiche Sinnlichkeit –, aber dennoch anders. Sie saß auf seiner Bettkante und sah ihn aus ihren himmelblauen Augen an. Die dunklen wirren Haare rahmten ihre feinen Gesichtszüge ein. Die weiße Robe, die sie – vor wie langer Zeit? – auf sein Drängen hin angezogen hatte, umspielte noch immer faltenfrei und rein ihre Kurven.

Ihre Haut war … Er hielt die Luft an. Königlich. Das war das einzige Wort, das ihm dazu einfiel. Königlich. Nein, es gab noch ein Wort. Makellos ging auch. Er hätte sie stundenlang anstarren können, tagelang. Für immer.

Er wollte sie berühren, musste fühlen, wie weich sie war. Wie warm sie war. Er musste wissen, dass sie gesund und unversehrt entkommen war.

Entkommen. Das Wort quälte ihn. Er erinnerte sich, dass sie in der Gruft gewesen waren und man ihn angeschossen hatte. Er hatte Albtraum auf den Friedhof getragen, war auf die Knie gefallen und hatte auf seine Freunde gewartet. Doch was war danach geschehen? Er krallte sich in die Bettdecke. Zuerst brauchte er ein paar Antworten. Danach könnte er sich eine einzige Berührung gestatten.

Nur eine einzige?

Konzentrier dich. „Was ist passiert?“ Seltsam. Nicht nur Olivias Stimme hatte sich verändert. Seine eigene hatte noch nie so samtig und kräftig geklungen.

Sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. „Wir dachten, wir hätten dich verloren. Du wurdest angeschossen, und die Kugel war mit einem Gift der Unsterblichen gefüllt, das dich langsam umbringen sollte.“

Ja, das ergab einen Sinn. Bisher hatte ihn noch keine Schussverletzung so sehr mitgenommen wie diese. Die hier hatte ihn unerträglich geschwächt. „Wie bin ich hergekommen?“

„Paris und William sind gekommen und haben uns geholt.“

„Es gab keine Probleme?“

„Mit Jägern?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Wir haben auf dem Rückweg zur Burg sogar noch Gilly abgeholt und sind auf der ganzen Strecke auf nicht einen Jäger gestoßen.“

Trotzdem war es nur noch eine Frage der Zeit. Immerhin waren sie ganz in ihrer Nähe und hatten mit ihrer Dämon-Umsiedelungsaktion vollen Erfolg gehabt. Ein Angriff würde also nicht mehr lange auf sich warten lassen. „Wie geht es Paris?

„Gut. Er ist bei Kräften und kümmert sich jetzt selbst um sein Wohl.“

Oder er hatte alle glauben gemacht, er täte es. Paris war gut darin, alles, was er tat – oder eben nicht tat –, mit Humor und Lachen zu kaschieren. Höchstwahrscheinlich trank er gerade Ambrosia und vernachlässigte seine körperlichen Bedürfnisse.

„Das werde ich nicht sagen!“, keifte Olivia plötzlich.

Aeron runzelte die Stirn. „Was sagen?“

„Entschuldige.“ Sie ließ die Schultern fallen. „Die Stimme ist wieder da, und permanent versucht sie mir zu sagen, was ich alles mit deinem Körper anstellen soll. Ich habe sie oder besser ihn – es ist eine Männerstimme – Versuchung getauft, und ich bin ziemlich sicher, dass es ein Dämon ist.“

Ein Dämon? Aber keiner, den er kannte. Und das könnte heißen, dass sich noch jemand, dessen Namen in den Schriftrollen auftauchte, in der Stadt versteckte. Aber warum sollte er Olivia ärgern? Und noch dazu mit sexuellen Gedanken?

Was auch immer der Grund dafür war, er würde das nicht hinnehmen.

Bestrafen, verlangte Zorn.

Aeron war froh, dass sich der Dämon ebenfalls erholt hatte. Und ja. Er wollte diejenigen bestrafen, die sie verletzt hatten. Er musste nur …

„Oh nein“, sagte Olivia und schüttelte den hübschen Kopf. „Ich kann in deinen Augen sehen, was du denkst. Wir werden uns später um den Dämon kümmern. Er ist nur nervig, sonst nichts. Im Augenblick mache ich mir viel größere Sorgen um dich.“

Süße, liebevolle Olivia. Sie war seine Beschützerin. Nie hätte er gedacht, dass er so etwas einmal brauchen würde. Nie hätte er gedacht, dass er so etwas einmal wollen würde. Aber er wollte und brauchte es unbedingt. Dennoch würde er sie überreden müssen, in den Himmel zurückzukehren. Und zwar in … wie vielen Tagen?

Er sah zum Fenster und konnte durch den Spalt zwischen den Vorhängen den abnehmenden Mond sehen. „Wie lange war ich bewusstlos?“

„Den restlichen Tag und fast die ganze Nacht. Du bist übrigens immer noch nackt, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.“ Sie errötete. „Aber nicht, dass das im Augenblick wichtig wäre.“

Den restlichen Tag und fast die ganze Nacht. Bald bräche also der nächste Tag an. Und das bedeutete, dass ihm noch acht Tage blieben, um Olivia zur Rückkehr nach Hause zu bewegen. Acht Tage, um sich und Legion zu retten.

Acht Tage, um ihr zu widerstehen.

Das würde er nicht aushalten. Er gestand sich ein, dass ihm eine einzige Berührung nicht reichen würde. Er würde mehr wollen. Und er würde mehr bekommen.

Mehr, wiederholte Zorn in ihm.

Ja, mehr. Er würde sich nicht zurückhalten. Nicht mehr. Zugegeben, das war egoistisch von ihm, aber dann wäre er eben egoistisch. Er hätte da draußen sterben können, und zwar ohne Vorwarnung. Ohne zu wissen, wie es wäre, in sie einzudringen und zu spüren, wie sich ihre Muskulatur um seinen Penis anspannte. Ohne zu wissen, wie es sich anfühlte, wenn sie ihm den Rücken zerkratzte und seinen Namen stöhnte.

Sobald er es wüsste, würde er aufhören, darüber nachzudenken und sich nach mehr zu sehnen. Dann könnte er endlieh weitermachen wie zuvor. Und sie hätte ihren Spaß gehabt und könnte zufrieden nach Hause zurückkehren.

Egoistisch? Von wegen! Er war eine echte Gebernatur.

„Wie hast du mich geheilt?“, fragte er, obwohl die ehrlichere Frage gewesen wäre: Würde ihm mittendrin die Luft ausgehen? Sie sollte dieses Bett nicht verlassen, ohne mindestens zweimal den Gipfel der Lust erreicht zu haben. Das war er ihr schuldig. Ihre Stichelei ob seines mangelnden Könnens schmerzte immer noch.

Olivia wandte den Blick ab. „Durch ein Gegengift.“

Warum konnte sie ihm nicht in die Augen sehen? „Ein Gegengift der Engel?“

„Ja.“ Sie zeigte auf ein bläulich schimmerndes Fläschchen auf seinem Nachttisch. „Das ist Wasser aus dem Fluss des Lebens. Ein Tropfen, und der Tod wird verjagt.“

Kein Wunder, dass seine Sinne so sensibel waren.

„Wenn wir es aufgebraucht haben“, fuhr sie fort, „werden wir kein neues bekommen. Das ist eine Schande. Lysander sagte mir, dass die Jäger noch viel mehr von diesen vergifteten Kugeln haben.“

„Wie lange wird die Wirkung anhalten?“ Er hatte damit gerechnet, dass Zorn vor Wut zu toben anfinge, weil ihm eine himmlische Substanz eingeflößt worden war. Stattdessen schnurrte der Dämon nur noch ein bisschen lauter, als hätte er ein prächtiges Geschenk erhalten.

Und auf einmal fiel bei Aeron der Groschen. Legion repräsentierte die Hölle und Olivia den Himmel. Letzteres hatte er sich bereits gedacht, aber der erste Teil … Erst jetzt begriff er, dass Zorn sein Zuhause vermisste. Beide Orte, die er als sein Zuhause ansah. Olivia hatte gesagt, die hohen Herren seien einst Engel gewesen, bevor sie aus dem Himmel gestoßen worden waren. Zuhause Nummer eins. Und in der Hölle gelandet waren. Zuhause Nummer zwei, auch wenn Zorn es zunächst nicht als solches betrachtet hatte – bis er es mit der Büchse der Pandora hatte vergleichen müssen.

Himmel und Hölle, dachte er wieder. Wie hatte er diese Verbindung nur übersehen können? Olivia und Legion. Zwei Hälften eines Ganzen, genau wie er und Zorn.

Apropos … „Wo ist Legion?“, fragte er und sah sich suchend im Zimmer um.

„William lenkt sie gerade ab, aber ich weiß nicht genau, wie lange es noch dauern wird.“ Olivia fuhr mit einem Finger über sein Brustbein. „Dein Herzschlag erholt sich langsam. Er ist schon viel kräftiger.“

Dort, wo sie ihn berührte, erhitzte sich seine Haut. Mehr.

Er spitzte die Ohren und lauschte einer Unterhaltung ein paar Zimmer weiter. Sabin und sein Team waren vom Tempel der Unaussprechlichen heimgekehrt. Zwar waren viele verletzt, aber sie alle waren bereits auf dem Wege der Besserung. Sobald sie wieder bei Kräften wären, würden sie das „Asylum“ überfallen und die Jäger vernichten, die sich dort aufhielten.

Dann käme also in nächster Zeit niemand, um nach ihm zu sehen, und im Augenblick gab es für Aeron nichts zu tun. Außer sich um Olivia zu kümmern.

„Wie du bereits erwähnt hast, bin ich immer noch nackt“, hörte er sich sagen. „Bist du bereit für ein bisschen Spaß?“

Zuerst klappte ihr Unterkiefer herunter. Dann schloss sie den Mund mit einem Schnappen. Dann ging er wieder auf. Da er nicht warten wollte, bis sie sich an seine Absichten gewöhnt hatte – keine Wartezeiten mehr –, legte er ihr eine Hand in den Nacken und zog sie nach unten, bis sie praktisch auf ihm lag. Ihr Atem ging stoßweise, und ihre weichen Brüste drückten gegen seine Brust.

Ja, er würde diese Frau besitzen. Und diese Brüste auch. Ihr süßes Innerstes wurde hoffentlich schon feucht. Bestimmt sogar.

„W…was machst du denn da?“ Die atemlose Frage erwärmte seinen Körper und seine Seele, denn jedes einzelne Wort war voller Verlangen.

„Dich nehmen.“ Endlich.

Er hob den Kopf und presste seinen Mund auf ihren. Sie leistete keinerlei Widerstand. Im Gegenteil, sie öffnete ihre Lippen und begrüßte seine Zunge mit ihrer. In ihrem Kuss konnte er die Frische des Wassers, das sie ihm gegeben hatte, genauso schmecken wie die Zimtnote ihres Atems.

Als sie ihre zittrigen Hände auf seinen Körper legte, nahm sein Herzschlag an Fahrt auf. Ihre Haut war nicht warm, sondern heiß, und versengte ihn köstlich, wo sie ihn berührte. Ihre seidigen Locken kitzelten ihn.

Mit der freien Hand fasste er unter ihren Po und zog sie vollständig auf sich. Automatisch spreizte sie die Beine. Ihre Körper passten perfekt zusammen. Er stöhnte. Ja … ja … Ja, stimmte Zorn mit ein.

„Nein“, keuchte sie und entzog sich ihm. Sie krabbelte sogar vom Bett und stand auf, obwohl ihre Beine so stark zitterten, dass sie um ein Haar vornübergekippt wäre.

Er und sein Dämon hätten am liebsten gebrüllt. Stattdessen stützte Aeron sich auf die Unterarme und sah sie an. Ruhig bleiben. „Du willst mich. Das weiß ich genau.“ Götter, genau in diesem Augenblick konnte er ihre Erregung riechen, diesen berauschenden weiblichen Moschusduft.

„Stimmt. Aber ich werde nicht noch einmal zulassen, dass du mich heiß machst und dann kurz vor dem Ende einfach im Regen stehen lässt.“ Mit einer Hand ergriff sie energisch den Stoff ihrer Robe und hob ihn dabei versehentlich so weit an, dass er einen Blick auf ihre hübschen Waden erhaschen konnte. Waden, die er auf jeden Fall mit der Zunge erkunden würde.

„Olivia, ich …“

„Nein“, wiederholte sie und wirbelte herum. Auf dem Weg zu seiner Kommode stolperte sie zweimal über ihre eigenen Füße. Dann stützte sie die Ellbogen auf die Oberfläche und legte den Kopf in ihre Hände. „Das ertrage ich nicht.“

Weinte sie etwa?

Aeron schluckte den Kloß herunter, der plötzlich in seiner Kehle steckte, und stand auf. Bitte nicht. Alles, nur das nicht. Splitterfasernackt stand er da, und seine Erektion winkte stolz. „Ich will dich. Und ich werde uns nie wieder verleugnen. Das schwöre ich dir, Olivia.“

„Ach, halt die Klappe!“

Er blinzelte. Machte er denn gar keine Fortschritte? Hatte sein Verhalten alles ruiniert? „Dafür musst du schon selbst sorgen“, erwiderte er. Mit einem Kuss. Bitte.

„Nicht du“, murmelte sie. „Die Stimme. Versuchung. Er will, dass ich meine Robe hochhebe und dir zeige, dass ich nichts darunter trage.“

Ach so? Aeron leckte sich die Lippen und ging auf sie zu. Nichts, nicht einmal ein Bombenangriff der Jäger, hätte ihn nach dieser Information davon abhalten können. „Ich werde es einfach selbst herausfinden.“

Olivia atmete scharf ein, als er seine zitternden Hände von hinten auf ihre Hüfte legte. Sie hob den Kopf und drehte ihn zur Seite, sodass sie ihn aus den Augenwinkeln sehen konnte. Als er in ihre großen, feuchten Augen sah, geriet sein Herz ins Stolpern.

„W…was machst du da?“

„Es herausfinden, wie gesagt.“ Zuerst nahm er ihre Brüste in die Hände und zupfte an ihren Brustspitzen, bis sie zu beben begann. Dann sank er auf die Knie, ohne ihren himmlischen Körper auch nur für eine Sekunde loszulassen, und ließ langsam seine Hände tiefer gleiten. „Du wolltest Spaß haben, also werde ich dafür sorgen, dass du Spaß bekommst.“

„T…tu das nicht, wenn du wieder mittendrin aufhören willst. Ich habe in den letzten Tagen einfach zu viel durchgemacht, und ich …“

„Ich werde nicht aufhören.“ Der Duft ihrer Erregung wurde intensiver. Er erinnerte ihn an eine schwüle Sommernacht, und er wollte sich darin verlieren. „Nichts könnte mich jetzt noch aufhalten, Engel. Nichts.“

Langsam, ganz langsam hob er den Saum ihrer Robe an. Sie protestierte mit keinem Wort, auch nicht, als sie an den Beinen eine Gänsehaut bekam. An diesen glatten, straffen Beinen, die aussahen wie eine Mischung aus Honig und Vanille. Als er ihren Po enthüllte und sah, dass sie tatsächlich kein Höschen trug, reagierte sein Schwanz mit einem heftigen Zucken. Wunderschön. Sogar seine Flügel schmerzten in ihren Schlitzen.

Meins.

Wirklich meins. Er raffte den Stoff um ihre Taille und klemmte ihn mit Hilfe der Kommode fest, sodass ihr Unterkörper nackt war. Dann umfasste er ihre köstlichen Pobacken. Wieder keuchte sie. Zwischen jeden seiner Finger platzierte er einen Kuss.

„Mehr?“, fragte er.

„Ja“, stöhnten sie und Zorn wie aus einem Mund.

Er küsste ihren Po und entdeckte dabei die weichste Haut, die ihre Gottheit – die jetzt auch seine Gottheit war, da er denjenigen, der sie erschaffen hatte, bis in alle Ewigkeit anbeten müsste – vermutlich je erschaffen hatte.

„Aeron“, flüsterte sie atemlos.

„Spreiz deine Beine. Für mich.“ Er packte ihre Oberschenkel, um sie ein wenig anzuspornen. Ja, er drückte sogar mit den Knien ihre Füße auseinander. Sein Blut war heiß wie Feuer und sein Verlangen scharf wie eine Rasierklinge. „Jetzt beug dich nach vorn. So weit du kannst.“

Nach einer kaum wahrnehmbaren Pause gehorchte sie. Einen Moment lang konnte er nichts tun als sie anstarren. So schön. So süß. So rosa. So feucht. Für ihn ganz allein. Selbst der Gedanke, das hier mit seinem (wieder einmal schnurrenden) Dämon zu teilen, war ihm zuwider. Doch das würde er.

Er würde diese Frau auf jede erdenkliche Art nehmen.

„Ich will dich schmecken.“ Er senkte den Kopf und nahm eine gierige Kostprobe. Undeutlich hörte er nacktes Fleisch auf Holz schlagen.

„Aeron!“

Sein Blick schoss nach oben. Sie hatte die Hände auf den Spiegel vor ihr und den Kopf seitlich auf die Kommode gelegt. Ihre Augen waren fest geschlossen, ihr Atem ging flach, und sie kaute auf ihren Lippen.

„Hör nicht … auf“, flehte sie.

Das hatte er auch nicht vor. Abermals fuhr er mit der Zunge über sie, glitt über ihren Kitzler und saugte daran. Das war Ambrosia. Sie. Weich und geschwollen … seins. Sie ließ zu, was er tat, mochte es.

Obwohl er sie am liebsten verschlungen hätte, mahnte er sich zur Langsamkeit. Er war schon einmal zu schnell gewesen. Dieses Mal würde er jede Sekunde auskosten. Dieses Mal würde er alles über diesen bezaubernden Körper lernen.

„Ich … gleich … ich … Aeron …“

„Braves Mädchen.“ Er leckte sie schneller und härter. Sie bewegte sich vor und zurück, und als er ihre Öffnung fand, drang er tief mit der Zunge in sie ein. Bebend schrie sie während des Orgasmus auf.

Er wusste nicht, wie viel Zeit – Minuten, Stunden, Tage – vergangen war, ehe sie sich so weit beruhigt hatte, dass er sich weiter nach unten beugen und die Waden küssen – und lecken – konnte, die er zuvor so bewundert hatte. Dann glitt er wieder höher und ließ ihrem unteren Rücken die Huldigung zukommen, die er verdiente. Er entdeckte zwei Grübchen direkt über ihrem Po, und während er sie mit der Zunge umspielte, ließ er seine Hände weiter nach oben gleiten und umfasste ihre Brüste – genau so, wie sie es mochte. Ihre Brustwarzen waren immer noch hart wie kleine Perlen, und er reizte sie genüsslich mit den Fingern.

Mehr.

„Ich bin so weit“, sagte Olivia atemlos. „Ich will dich in mir spüren.“

„Noch nicht.“ Sie war feucht, okay, aber er wollte, dass sie vor Lust tropfte. Er wollte, dass sie mehr als „so weit“ war. Sie war noch Jungfrau, und er würde ihr das erste Mal so leicht wie möglich machen.

Sein erstes Mal hatte er mit einer niederen griechischen Göttin erlebt. Mit einer der drei Furien. Ihr Name war Megaira, „die Neiderin“, wie sie oft genannt worden war. Sie hatte auf brutale und schmerzhafte Art mit ihm geschlafen und war einer der Gründe, warum er Frauen, die es gern auf die harte Tour mochten, stets gemieden hatte. Doch bei Olivia war es nicht so, dass er eine sanftmütige Frau einer wilden vorzog oder eine wilde Frau einer sanftmütigen. Er bevorzugte einfach nur Olivia.

Er stand auf und fuhr mit der Zunge an ihrer Wirbelsäule entlang – an den Stellen, wo eigentlich ihre Flügel hätten sein sollen, prangten zwei Narben, die er ebenfalls küsste und mit Liebkosungen übersäte –, während er ihre Robe weiter hochzog und schließlich über ihren Kopf streifte. Das seidige Haar fiel ihr über Schultern und Rücken und bedeckte sogar ihre Brüste. Ich muss diese Brüste sehen, dachte er und strich ihr Haar zur Seite.

Im Spiegel sah er ihre köstlichen Brustspitzen. Er zwickte sie, und sie lehnte, die Augen halb geschlossen, den Kopf an seine Schulter. Unwillkürlich drückte er seinen harten Schaft zwischen ihre Pobacken. Aeron sehnte sich so sehr danach, in ihr zu versinken, dass er scharf die Luft durch die Zähne einsog.

Wenn er so weitermachte, gäbe es kein Genießen mehr.

Er ließ die Hand tiefer gleiten, bis zwischen ihre Beine. Mit den Fingern tastete er durch die weichen dunklen Locken bis zu ihren warmen, feuchten Lippen. Dann stieß er einen, zwei Finger in sie hinein.

Gemeinsam stöhnten sie auf. Aeron küsste sie auf den Nacken, während er sich mit ihr im Spiegel beobachtete. Was für einen Anblick sie boten! Sein dunkler, tätowierter Körper hinter ihr. Ihr weicher, wolkenfarbener Körper, der sich vor ihm wand. Es war mit Abstand der erotischste Anblick, den er je gesehen hatte.

Nein. Moment. Sie streckte die Arme nach hinten, fasste mit der einen Hand seinen Kopf, um ihn für einen Kuss nach unten zu ziehen, und packte mit der anderen seinen Hintern. Das war das Erotischste, was er je gesehen hatte.

„Ich schwöre, ich bin so weit.“

Gleich … gleich … Er schob noch einen Finger in sie hinein, dehnte sie und verteilte die glitzernde Feuchtigkeit. Als er den Beweis für ihre Jungfräulichkeit entdeckte, hielt er inne, badete in dem Gefühl, das ihn durchflutete – meins, alles meins –, und durchbrach die hauchdünne Barriere.

Meins!, brach es in einem triumphierenden Schrei aus Zorn heraus.

Meins, versicherte sich der Dämon noch einmal stolz.

Sie spannte sich an, und für einen Augenblick hielt sie inne. „Aeron.“

Lieber hatte er ihr mit den Fingern als mit seinem Schwanz wehtun wollen. „Tut mir leid. Der Schmerz. Gleich besser. Versprochen.“ Er klang wie ein Neandertaler, doch er war einfach nicht in der Lage, vollständige Sätze zu formulieren. Olivia gehörte ihm. Ihm allein. Das war der Gedanke, der seinen Kopf beherrschte.

Als sie sich entspannte, widmete er sich wieder ihrem Mund, spielte mit ihrer Zunge, gab ihr Kuss um ersehnten Kuss, und schon bald fing sie wieder an, sich – verloren in ihrer Lust – an ihm zu reiben. Nicht viel später war sie so tropfnass, wie er es sich ersehnt hatte.

Jetzt war sie so weit.

Widerstrebend ließ er sie für einen kurzen Augenblick los, um nach seinem Schwanz zu greifen. Er sprang ihm förmlich entgegen. Aeron verzehrte sich nach mehr, nach viel mehr, wenn er auch Angst hatte, beim ersten Stoß in ihr zu kommen. Ablenkung. Er biss sich auf die Zunge, bis er Blut schmeckte, und sein brodelndes Verlangen beruhigte sich etwas. Das reichte. Sanft drückte er Olivias Oberkörper mit der freien Hand über die Kommode, sodass ihre Brüste das Holz berührten, und setzte dann die Spitze seiner Erektion an ihre Öffnung.

„Immer noch bereit?“

„Jetzt, Aeron. Tu es endlich!“

Und dann drang er in sie ein, Zentimeter für Zentimeter, damit sie sich an seine Größe gewöhnen konnte, ehe er ihr mehr gab. Die ganze Zeit über keuchte sie, stöhnte und flehte ihn an. Genau wie Zorn. Endlich hatte er sich ganz in ihr versenkt, und das überwältigende Verlangen, immer und immer wieder in sie zu stoßen, vernebelte ihm die Sicht.

„Aeron“, rief sie stöhnend, und er wusste, dass es ein weiteres Flehen war.

Er zog sich fast vollständig zurück, bevor er wieder in sie eindrang. Ihm entfuhr ein Fluchen – sie hatte ihm die Hüften entgegengeschoben, und jeder rationale Gedanke war wie ausgelöscht. Etwas in ihm war zerrissen. Die Ketten, die seine Lust unter Kontrolle gehalten hatten.

Von jetzt auf gleich verlor er sich. Verlor die Kontrolle, vergaß, wer er war, vergaß alles außer dem verzehrenden Bedürfnis, diese Frau auszufüllen mit allem, was er war. Wieder und wieder stieß er zu, genau wie er es gewollt hatte. Entschlossen, getrieben und von viel mehr besessen als nur von einem Dämon.

Er packte sie fest an der Hüfte, wahrscheinlich hätte sie morgen Blutergüsse oder gebrochene Knochen, doch er konnte sich nicht zügeln. Er war wild und barbarisch und lebte nur für diesen Moment. Für diese Frau. Auf einmal war sie alles für ihn. Sie war genauso ein Teil von ihm wie Zorn. Er könnte nicht mehr ohne sie leben. Er würde nicht mehr ohne sie leben.

„Aeron.“ Jetzt keuchte sie nicht mehr, sie schrie. „Hör nicht auf, hör nicht auf, hör ja nicht auf. Mehr. Mehr!“

In seinem Kopf ertönte nur ein Wort. Meins. Meins, meins, meins. Er hatte es schon tausendmal gehört, doch nun schrie er es hinaus: „Meins, meins, meins!“, und der Klang erfüllte seine Ohren, rauschte durch seinen Körper, zeichnete ihn. Zerstörte den Aeron, der er gewesen war, zerstörte, was er gewesen war, nur um ihn neu wieder aufzubauen, in etwas Neues und Gutes und Richtiges zu formen, in einen Mann, der er immer hatte sein wollen. In ihren Mann. Und das war der Moment, in dem meins verblasste und ein anderes Wort seinen Platz einnahm, stärker und noch viel wichtiger. Dein. Er wollte zu ihr gehören, er wollte ihr gehören. Er wollte alles sein, wovon sie je geträumt hatte, und alle Wünsche erfüllen, die sie je gehabt hatte.

„Aeron“, stöhnte sie.

Dein.

Er hätte es kommen sehen müssen. Er hätte wissen müssen, was sie ihm schon jetzt bedeutete, doch sein Widerstand hatte ihn blind gemacht. Aber nun, da er auf sein bloßes Ich reduziert war, nackt und verletzlich, handelte er nur noch aus reinem Instinkt.

Sie war sein, und er gehörte ihr.

Mit dem Knie schob er ihre Beine noch weiter auseinander, und ihr Körper senkte sich ein Stückchen seinen Stößen entgegen, die so noch tiefer wurden. Die Lücke zwischen ihrem Körper und der Kommode erlaubte es ihm, um sie herumzugreifen und sie dort zu streicheln, wo sie es brauchte. Mit einem Schrei kam sie, und als ihre Muskeln zuckten, konnte auch Aeron sich nicht mehr beherrschen und spritzte seinen Samen in sie.

„Aeron“, rief sie.

Dein.

Keuchend ließ er sich auf sie fallen, während ihm endlich klar wurde, dass sein „Nur ein einziges Mal“-Plan einen entscheidenden Fehler hatte. Einmal wäre niemals genug. Weder für ihn noch für seinen Dämon.

Sie brauchten mehr; wahrscheinlich wären sie nicht eher befriedigt, als bis sie sie auf jede erdenkliche Art genommen hätten. Und das könnten sie auch. Ohne Angst. Denn obwohl er die Kontrolle verloren hatte, hatte Zorn Olivia nicht angegriffen. Obwohl er die Kontrolle verloren hatte, hatte er ihr nicht wehgetan.

Vorher war sie unwiderstehlich gewesen, aber jetzt … Er musste mit ihr zusammen sein, sonst wäre sein Leben nicht vollständig. Er musste jede Nacht mit ihr schlafen und jeden Morgen neben ihr aufwachen – um wieder mit ihr zu schlafen. Er musste sie verwöhnen und ihr alles geben, wonach sie sich sehnte. Wie etwa Spaß. Oder Freude. Oder Leidenschaft.

Oder sich selbst.

„Olivia“, krächzte er. Die Silben kamen nur gebrochen über seine Lippen, waren aber trotzdem ein Versprechen. Ein Versprechen auf all das „Mehr“, das sie sich ersehnte. Für immer?

Was machst du da? Was denkst du da? Das kannst du nicht machen. Seine verschwitzte Brust presste sich herrlich gegen ihren Rücken, doch er zwang sich dazu, sich aufzurichten.

Zorn wimmerte.

„Aeron“, sagte sie. „Aeron!“

Nein, der letzte Aufschrei war nicht von Olivia gekommen. Absolut synchron wirbelten er und sein Engel herum und erstarrten dann. William und eine hübsche Blondine – Legion, erinnerte er sich und war wieder einmal überwältigt von ihrer Verwandlung – standen in der offenen Tür.

Aeron breitete seine Flügel aus und schlug sie um Olivia, um sie vor den Blicken der Besucher abzuschirmen. Währenddessen versuchte William die zum Menschen gewordene Dämonin zurückzuhalten – doch stark wie sie war, zerrte sie ihn Schritt für Schritt vorwärts, den mordlüsternen Blick starr auf den Engel gerichtet.

21. KAPITEL

Olivia konnte nicht glauben, was sie gerade mit Aeron erlebt hatte – und was sie jetzt mit Legion erlebte. Nacktheit. Sex. Lust. Glück. Hoffnung.

Alles zerschmettert.

Zitternd bückte sie sich, um ihre Robe aufzuheben, und zog sich den Stoff über den Kopf. Ein Glück nur, dass Aerons Flügel sie die ganze Zeit über verhüllten. Wie gern hätte sie das Glimmen nach dem Feuer der Leidenschaft noch ein bisschen genossen und herausgefunden, ob Aeron genauso überwältigt war wie sie.

Sex war … so viel mehr, als sie sich je hätte vorstellen können – und seit ihrem ersten Orgasmus hatte sie sich eine Menge vorgestellt. Die Lust, die Befriedigung, die Macht, jemanden zu kennen, konnten einen um den Verstand bringen. Die Nähe, das Geben, das Nehmen. Jede Minute davon war ein Wunder.

Sie lebte seit Jahrhunderten. Warum hatte sie das nicht schon die ganze Zeit getan? Allerdings vermutete sie, dass es mit einem anderen Mann nicht dasselbe wäre. Sie wollte es nur mit Aeron. Ihrem Aeron. Dem Mann, nach dem sie sich so schmerzhaft sehnte … von dem sie träumte.

Legions schrilles Kreischen riss sie zurück in die Gegenwart. „Schlampe! Hure! Ich bringe dich um!“

Versuchung lachte in Olivias Kopf. Während des Sex war er still gewesen. Er hatte ja auch bekommen, was er wollte. Warum war er jetzt wieder da?

William hielt Legion immer noch fest, doch jeden Moment würde sie sich losreißen. Irgendwie hoffte Olivia, dass sie es schaffte. Irgendwer musste Legion in die Schranken weisen, und sie wäre überglücklich, diese Aufgabe übernehmen zu dürfen. Sie wollte das Glimmen genießen, verdammt noch mal!

„Zieh dich an“, sagte Olivia zu Aeron. Es war ihr zuwider, dass eine andere Frau – vor allem diese – ihn so sah. Nur sie sollte das Privileg genießen, sich an diesen Tätowierungen zu berauschen, sie allein. Und zwar nicht nur optisch. Am liebsten hätte sie darübergeleckt.

Nächstes Mal.

Ob es ein nächstes Mal gäbe?

Sein Gesichtsausdruck war hart und undeutbar, als er sich die Hose hochzog und den Knopf schloss. Da seine Flügel immer noch ausgebreitet waren, konnte er sich kein Hemd anziehen. Immerhin beendete das Anziehen seine Tatenlosigkeit. Er schoss vor, schlang einen Arm um Legions Taille und hob sie hoch wie einen Sack Kartoffeln.

Unaufhörlich schlug und trat sie wild um sich. „Lass mich los! Ich will sie fertigmachen!“

„Du kannst gehen“, sagte Aeron zu William. „Ab hier komme ich alleine klar.“

Blutige Schnitte übersäten Williams Gesicht und die Arme. Der Krieger nickte, wobei sich seine Lippen zu einem amüsierten Lächeln verzogen. „Viel Glück, mein Freund. Ach, nur damit du es weißt: Es wurde eine Versammlung einberufen. In zehn Minuten im Unterhaltungszimmer.“ Mit diesen Worten schlenderte er in den Flur hinaus und schloss leise pfeifend die Tür hinter sich.

Aeron trug seine Geisel zum Bett und warf sie auf die Matratze. Ihr Körper federte auf und ab. Den Blick immer noch auf Olivia geheftet, versuchte Legion wegzukrabbeln.

„Bleib da“, bellte Aeron.

Legion erstarrte und sah zu ihm hoch – bis ihr Selbsterhaltungstrieb offensichtlich wieder griff und ihr Gesicht sich entspannte. Doch auf Selbsterhaltung folgte blitzschnell Entschlossenheit, und sie rutschte auf die Bettkante, stützte sich auf ihre Unterarme, drückte die Brust heraus und stellte die gespreizten Beine, bereit, ihn jeden Moment damit zu umschlingen, auf den Boden.

„Lust, mir Gesellschaft zu leisten?“, fragte sie mit rauchiger Stimme.

Oh nein, auf keinen Fall, dachte Olivia und kochte vor Wut. Währenddessen schrie Versuchung seinen Protest ebenfalls heraus. Das reicht! Sie stakste vorwärts, ging schweigend an Aeron vorbei und blieb direkt vor Legion stehen. Ehe einer von beiden wusste, was sie vorhatte, schlug sie Legion die Faust auf den Mund.

Legions Kopf flog zur Seite. Ihre Unterlippe war aufgeplatzt und blutete. Olivias Fingerknöchel pochten, aber sie hieß den Schmerz willkommen. Versuch nur, ihn jetzt noch zu küssen.

Auf einmal spürte sie harte, heiße Hände auf den Schultern, die sie herumrissen. Aeron sah nicht sie an, sondern warf Legion über ihre Schulter einen warnenden Blick zu. „Du bleibst da.“

Legion murrte zwar, gehorchte jedoch.

Nun blickte Aeron Olivia an. Überraschung spiegelte sich in seinen betörenden violetten Augen, und die Wut war wie weggezaubert. „Ich hätte nie gedacht, dass ich dir mal sagen muss, wie man sich zu benehmen hat.“

Sie hob das Kinn. „Ich werde es nicht dulden, wenn man mich derart beschimpft.“

„Das wirst du auch nicht müssen.“ Abermals sprang sein Blick zu Legion. „Verstanden?“

Seine Unterstützung überraschte sie. War es möglich, dass er sie Legion vorzog? Einen Augenblick lang bekam Olivia keine Luft und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Doch ihr blieb keine Zeit, sich in dem fabelhaften Gefühl zu sonnen. Aeron ging um sie herum, als sei sie bereits vergessen, und hockte sich vor Legion hin.

„Du hast keinen Grund, mei… dem Engel wehzutun. Ich liebe dich“, sagte er. „Das weißt du doch.“ Sein Ton war jetzt sanft und wohlwollend. „Sag mir, dass du es weißt.“

„Ja. Das weiß ich.“ Auch von Legion fiel jetzt sämtliche Wut ab, und sie nahm sein Gesicht zwischen die Hände und versuchte, ihn zu sich heranzuziehen, um ihn zu küssen. „Ich liebe dich auch.“

Aeron nahm ihre Hände sanft, aber bestimmt weg. „Ich liebe dich nicht auf diese Art. Ich liebe dich wie eine Tochter. Sag mir, dass du auch das weißt.“

Zuerst keimte wieder die Wut im Gesicht der Dämonin auf. Dann Erschütterung. Dann Angst. Und das alles binnen einer einzigen Sekunde. Ihr Kinn zitterte, und klägliche Tränen schössen ihr in die Augen. „Aber ich bin doch hübsch.“

„Du warst auch vorher schon hübsch, doch das ändert nichts an meinen Gefühlen.“

Legion schüttelte ungläubig den Kopf. „Nein. Du musst mit mir zusammen sein. Du musst …“

„Das wird nicht passieren, Baby.“

Mehrere Tropfen lösten sich und rannen an ihren Wangen hinab. „Ist es … ist es wegen des Engels?“

„Olivia hat nichts mit meinen Gefühlen für dich zu tun.“

Auf einmal wünschte Olivia sich an einen anderen Ort. Sie sollte nicht hier sein. Sie sollte nicht Zeugin dieses intimen Moments sein. Und deshalb würde sie auch woanders hingehen. Ihre Knie zitterten, als sie zur Tür ging.

Halt! Wohin gehst du? fragte Versuchung. Wann würde der Dämon sie endlich in Ruhe lassen?

„Du lügst!“, fauchte Legion. „Du liebst sie.“

Olivias Hand erstarrte auf dem Türknauf.

Stille. Die Antwort … Sie musste die Antwort hören.

Dann sagte Aeron mit einem Seufzer: „Legion.“

Enttäuschung schnürte Olivia die Kehle zu, und trotzdem konnte sie sich nicht zum Gehen zwingen. Noch nicht. Vielleicht würde er ja …

„Du kannst sie nicht lieben“, rief die Dämonin aus. „Du musst mich lieben.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich liebe.“

Ihr Magen zog sich zusammen. Sag es. Sag die Worte.

„Nein! Du musst mich wie eine Frau lieben. Du musst mich mit deinem Körper glücklich machen. Sonst …“

„Sonst?“, fragte er harsch.

Olivia erstarrte. Oh Gottheit. Das Abkommen. Sie hatte Legions Abkommen mit Luzifer vollkommen vergessen. Angst, so große Angst. Sie drehte sich um und lehnte sich zitternd an die hölzerne Tür. Und wartete. Das musste sie noch viel dringender hören als seine Liebeserklärung.

„Sag es ihm“, verlangte sie. „Er verdient es, die Wahrheit zu erfahren.“

„Sag es mir“, forderte auch Aeron.

Legion schluckte. „Wenn ich es nicht schaffe, dich innerhalb von acht Tagen zu verführen, wird Luzifer … dann wird er … er wird mich dazu benutzen, dich und deine Freunde zu töten.“

Nein. Nein!

Aeron warf Olivia einen schnellen, unsicheren Blick zu. Er konnte nicht begreifen, was Legion ihm soeben gestanden hatte. „Aber er kann die Hölle nicht verlassen. Er kann nicht …“

„Er kann. Wenn er in sie fährt, wenn er ihren Körper besitzt, kann er alles tun“, krächzte Olivia und griff sich an die Kehle. Ihr Entsetzen hielt nicht lange an, schon bald erkaltete das Blut in ihren Adern und betäubte jedes Gefühl. Sie war dem Paradies so nah gewesen, nur um jetzt in die Hölle geworfen zu werden. „Er kann sie mit jedem Mann seiner Wahl paaren, die Kontrolle über die Jäger übernehmen und die Menschen beeinflussen und gegen euch aufhetzen. Er kann sogar ins Reich der Engel blicken und meine Brüder und Schwestern töten.“

Aeron versteifte sich. „Warum sollte er irgendetwas von alledem tun?“

„Warum wohl? Für Macht, für Freiheit. Aus Boshaftigkeit. Er verachtet die Engel. Eigentlich hätten sie ihm folgen sollen, doch stattdessen entschieden sie sich, bei der einen wahren Gottheit zu bleiben. Aber am meisten verachtet er die wahre Gottheit. Seine Zerstörung ist das, wonach Luzifer sich am meisten sehnt. Und die Chancen darauf vergrößern sich immens, wenn seine dämonischen hohen Herren sich frei auf der Erde bewegen können.“

Genug von diesem dummen Geschwätz. Bring sie zum Schweigen, befahl Versuchung.

Olivia ignorierte ihn. Doch dann hielt sie inne und blinzelte fassungslos. Sie hatte schon länger gewusst, dass es eine Männerstimme war, die sie hörte, aber erst jetzt wurde ihr klar, dass dieser Mann wollte, dass sie Aeron gewann – und dass Legion ihn verlor. Dieser Mann wollte Legion daran hindern, Aeron ins Bett zu bekommen.

Also doch kein Dämon.

Luzifer, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Luzifer war Versuchung. Er brauchte nicht die Hölle zu verlassen, um irgendeinem irdischen Wesen seine Gedanken einzuflüstern. Er musste sich nur mit einer Seele verbinden, die offen für seine Bestechung war.

Auf Wiedersehen, gesegnete Benommenheit. Das Entsetzen kehrte gemeinsam mit einer guten Portion Furcht zurück, gewürzt mit einer Prise Scham. Wie hatte ihr das nur entgehen können? Wie hatte sie die Wahrheit nicht erkennen können? Dummer Engel.

„Warum hättest du so ein Abkommen schließen sollen?“, fragte Aeron scharf.

Immerfort strömten neue Tränen Legions Wangen hinab. „Ich wollte hübsch sein. Ich wollte für dich sein, was du brauchst. Ich dachte, ich würde dich gewinnen und dazu bringen, den Engel zu vergessen. Ich dachte, ich würde dich glücklich machen.“

Aeron rieb sich übers Gesicht, wobei seine Fingernägel tiefrote Striemen hinterließen. „Ich fass es nicht. Hast du überhaupt eine Ahnung, was du angerichtet hast? Hast du auch nur die geringste Ahnung, was du alles in Gang gesetzt hast?“

Legion nickte. Ihr Kinn zitterte. „Es tut mir leid, unendlich leid.“

Eine Pause, dann ein trauriges: „Mir auch.“

Nach diesen Worten wusste Olivia es. Sie wmste es. Er hatte sich entschieden. Er würde mit Legion schlafen. Würde genauso in ihren Körper eindringen wie gerade noch in Olivias. Um die kleine Dämonin vor der Besessenheit zu bewahren. Um seine Freunde vor Luzifer zu schützen. Um einen Sieg der Jäger zu verhindern.

Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie blinzelte sie weg. Mit diesem Akt würde Aeron beweisen, dass ihm das, was er und Olivia getan hatten, nichts bedeutete. Wenn er das tat, würde sie gehen. Und das müsste er eigentlich auch wissen.

Ob dieses Wissen ihm die Entscheidung leichter gemacht hat? fragte sie sich, innerlich bitter auflachend. Zu wissen, dass er mit einer anderen Frau geschlafen hatte, würde es ihr unmöglich machen zu bleiben. Ganz gleich, was der Grund dafür wäre.

Anscheinend musste Olivia ebenfalls eine Entscheidung fällen. Sie würde gehen, das war ihr jetzt sonnenklar. Aber würde sie in den Himmel zurückkehren und dadurch vermutlich Aerons Leben retten, oder würde sie sich einfach an einen anderen Ort auf der Erde begeben?

Höchstwahrscheinlich würde sie hierbleiben, denn wie sollte sie jetzt noch nach Hause zurückkehren? Sie hatte sich verändert. In allen wesentlichen Bereichen war sie ein Mensch geworden. Dort oben würde sie sich elend fühlen und niemandem Freude bringen, am allerwenigsten sich selbst. Sie wäre nutzlos. Und wenn sie es je bereuen sollte, zurückgekehrt zu sein, würde man ihr nicht noch einmal erlauben zu fallen. Nein, sie würde getötet oder für alle Ewigkeit in die Hölle geworfen. Für einen Engel, der zweimal vom Weg abgekommen war, gäbe es kein anderes Schicksal.

Doch wie sollte sie hierbleiben und in Frieden leben, mit dem Wissen, dass sie Aerons Leben hätte retten können? Auch wenn ihn zu retten bedeuten würde, dass er mit einer anderen Frau zusammenlebte?

War sie wirklich so selbstlos?

Nein. Sie hätte ihn töten sollen, als sie die Chance dazu gehabt hatte, und ihnen beiden diese Qual ersparen sollen. Abermals erfüllte ein erbittertes Lachen ihren Kopf, doch diesmal brach es aus ihr heraus.

Aeron stand mit steifen, unkoordinierten Bewegungen auf. „Uns bleibt noch ein bisschen Zeit. Wir müssen uns nicht jetzt sofort darum kümmern.“

Er hatte also nicht vor, jetzt gleich mit Legion zu schlafen. Das war immerhin ein kleiner Trost.

„Danke“, sagte Legion, dankbar, glücklich und beschämt zugleich. „Ich verspreche dir, dass ich nicht …“

Er drehte sich um und schnitt ihr dadurch das Wort ab. Olivia verschlang ihn mit ihren Blicken. Seine männliche Schönheit, seine Stärke. Nein, sie war nicht so selbstlos, aber sie war so verliebt, wie sie in diesem Moment erkannte.

Verliebt. Liebe. Das Wort hallte in ihrem Kopf wider. Sie liebte ihn. Ganz und gar, mit Haut und Haar. Er war der Grund, weshalb ihr Herz weiterschlug, und die Quelle ihrer Freude. Sie würde tatsächlich für ihn sterben. Er war stark und mutig, leidenschaftlich und liebevoll. Er hatte eine großzügige Natur und war dabei vollkommen selbstlos. Was konnte man daran nicht lieben?

Sie würde bei ihm bleiben, bis er mit Legion ins Bett ginge. Sie würde jeden Moment aufsaugen, den sie mit ihm hätte. Und dann … dann würde sie in den Himmel zurückkehren.

Sie würde dafür sorgen, dass Lysander seinen Teil der Abmachung einhielte und beim Rat um Aerons Leben ersuchte.

Trotzdem. Das war keine Garantie für ihre Gnade.

Nun ja, dann würde sie eben einen anderen Weg finden müssen.

Was für einen Unterschied doch ein paar Tage machen, dachte sie traurig. Als sie hergekommen war, hatte sie sich mit Aerons bevorstehendem Tod bereits abgefunden gehabt. Sie war glücklich gewesen mit der Zeit, die ihnen miteinander bliebe, und fest entschlossen, denselben Spaß zu erleben wie die Menschen. Doch dann hatte sie Zeit mit ihrem Krieger verbracht, und alles hatte sich verändert. Sie konnte den Gedanken an seinen Tod, an die Auslöschung seines Mutes und seiner Stärke, nicht mehr akzeptieren.

„Mach dir keine Sorgen, Aeron“, sagte sie und straffte die Schultern. „Schon bald werde ich gehen, und dann seid ihr, Legion und du, in Sicherheit.“ Dieses Versprechen brannte sich unauslöschlich in ihre Seele.

Legion starrte sie mit offenem Mund an.

In ihrem Kopf stieß Luzifer ein entsetzliches Kreischen aus.

Aerons Lippen wurden schmal, und er fletschte die Zähne, während seine Augen gefährlich rot glühten. Dämonenaugen. „Ich sagte, wir haben noch Zeit. Wir müssen uns nicht sofort darum kümmern. Deshalb wirst du bleiben. Und jetzt genug davon. Ich muss zu einer Versammlung. Ich werde euch zwei jetzt hier alleine lassen, und ihr werdet nett zueinander sein. Verstanden? Euch wird nämlich nicht gefallen, was passiert, wenn ihr euch gegenseitig wehtut, das verspreche ich euch.“ Statt auf eine Antwort zu warten, stob er aus dem Zimmer.

Im Gegensatz zu William schloss er die Tür nicht vorsichtig, sondern knallte sie so heftig zu, dass die Bilder an den Wänden wackelten.

Nach allem, worüber sie sich gerade den Kopf zermartert hatte, nach allem, was sie gerade erkannt und entschieden hatte, wäre ein bisschen Mitgefühl – und ein Kuss zum Abschied – nicht verkehrt gewesen.

Olivia starrte zu Legion hinüber. Legion starrte zurück.

„Tja“, sagte Olivia, da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte. Sie konnte Aeron immer noch an ihrem Körper spüren. Spürte immer noch die Feuchtigkeit, die er hinterlassen hatte. Und trotzdem würde diese Frau schon bald genauso mit Aeron zusammen sein, wie sie selbst mit ihm zusammen gewesen war.

„Ich werde nicht mit dir hierbleiben“, preschte Legion vor.

„Dann sind wir ja schon zwei. Ich gehe nämlich.“

Grinsend fuhr Legion hoch. „Du gehst schon in den Himmel zurück?“

„Jetzt noch nicht. Ich werde mir anhören, was bei der Versammlung besprochen wird.“

Legions Grinsen verblasste, doch sie blickte zur Tür. „Deine Ohren sind vermutlich so schlecht, dass du jemanden brauchen wirst, der das Gemurmel für dich übersetzt.“

Olivia erwiderte nichts. Sie hätte diese Frau so gerne gehasst, war dazu aber nicht in der Lage. Denn Hass erforderte Energie, und Olivia hatte keine Reserven mehr. Außerdem wäre diese Dämonin so etwas wie ihre Stieftochter geworden, wenn sich die Dinge nach ihren Wünschen entwickelt hätten. Und Legion hatte nur getan, was notwendig war, um ihren Mann zu gewinnen. Genau wie Olivia.

Nur dass Legion gewonnen hatte.

Es tut gut, wieder zu Hause zu sein, dachte Strider, als er sich im Unterhaltungszimmer umsah. Alle Männer und Frauen waren anwesend. Alle gefühlten dreitausend. Außer Gideon, der sich – wenn man den tratschenden Hühnern und William, ihrem Hahn im Korb, wie er sich selbst fröhlich nannte, Glauben schenkte – gerade im Kerker aufhielt und mit der neuesten Gefangenen einen auf Schönwetter machte.

Die großen, muskelbepackten Körper der Krieger schienen jeden Quadratzentimeter des Raumes einzunehmen und luden die Luft mit Testosteron auf. Die Frauen saßen auf den Sofas und Sesseln und zwangen die Männer, sich stehend gegen die Wände zu lehnen. Zumindest jene, die nicht anderweitig beschäftigt waren.

Lucien und Sabin spielten eine Partie Billard und führten dabei ein Zwiegespräch. Vermutlich versuchten sie, die Dinge zu ordnen, bevor sie zur Gruppe sprachen. William saß vor dem Fernseher und spielte ein Videospiel. Aeron und Paris standen in einer Ecke und reichten eine Flasche hin und her. Beide sahen elend aus. Vor allem Aeron. Seine Gesichtszüge sahen aus wie in – fahlen – Beton gemeißelt, und die Tätowierungen hoben sich scharf von seiner blassen Haut ab. Und seine Augen … zur Hölle. Sie waren teuflisch rot.

Waren das noch immer die Nachwirkungen der vergifteten Pistolenkugel? Oder hatte seine Verfassung persönliche Gründe?

Obwohl Strider erst seit einem Tag wieder da war, hatte er schon aus drei verschiedenen Quellen von den Engelsproblemen des Mannes gehört: von Cameo, Kaia und Legion – einer unglaublich viel schöneren Legion. Die drei Frauen hatten ihm sehr gegensätzliche Informationen geliefert. Cameo mochte Olivia und sprach davon, wie klug und hilfreich sie war. Kaia berichtete ihm, wie herrlich verrucht die wahre Olivia war. Und Legion hielt sie für eine Schlampe, die Aeron im Schlaf ermorden wollte.

Kaia war der Meinung, Aeron würde das Mädchen heiraten. Cameo glaubte, er würde sie rauswerfen und nie wiedersehen. Und Legion fand, sie sei eine Schlampe und Mörderin. (Das war im Grunde alles, was Legion sagte. Ach nein, Moment. Sie hatte Strider auch noch gebeten, die „Schlampe und Mörderin“ umzubringen.) Als er sich geweigert hatte, hatte sie angedroht, jemanden dafür zu bezahlen, es ihm nach Gefängnismanier zu besorgen.

„Ich warte“, rief Strider. „Und ich mag es nicht besonders, zu warten.“

Endlich beendeten Lucien und Sabin ihre Partie, nickten einander zu, als seien sie sich einig geworden, und stellten sich an die Stirnseite des Raumes. Die Gespräche verebbten.

Beide Männer standen breitbeinig da und verschränkten die Arme hinter dem Rücken. Sie waren bereit anzufangen. Gut so. Denn jeder der Anwesenden wartete gespannt darauf, was sie wohl zu sagen hatten.

„Wir haben diese Versammlung einberufen, damit jede Gruppe die andere hinsichtlich der Geschehnisse in Rom und Buda auf den neuesten Stand bringen kann“, begann Sabin. „Ich fange an. Die Unaussprechlichen wollen, dass wir ihnen Cronus’ Kopf bringen. Allerdings wird diese kleine Tat sie befreien, und wenn sie frei sind …“ Er erschauderte. „Niemand kann voraussagen, wie viel Böses sie entfesseln werden.“

„Wie dem auch sei“, nahm Lucien Sabins Faden auf. „Sie sind auf Nummer sicher gegangen und haben auch die Jäger aufgefordert, ihnen Cronus’ Kopf zu bringen. Derjenige, der ihre Aufgabe erfüllt, wird das vierte und letzte Artefakt bekommen.“

Die Rute. Niemand wusste etwas über ihre Eigenschaften. Aber wenn auch nur die geringste Chance bestand, dass sie Macht besaß, und diese Chance bestand in der Tat, dürfte sie keinesfalls in feindlichen Händen landen. Allerdings hätte Strider auch dann eine ganze Armee abgeschlachtet, um in ihren Besitz zu kommen, wenn sie nutzlos gewesen wäre.

„Aber Cronus ist ein Gott“, warf Maddox ein. Und sie alle hatten sich schon einmal gegen die Götter aufgelehnt. Allein aus dem Grund waren sie ja hier statt im Himmel. Allein aus dem Grund waren sie von Dämonen besessen. „Wir können ihn nicht kontrollieren.“ Trotz des ernsten Themas sah der Mann so glücklich aus wie nie.

Warum? Später. Die Götter waren schon immer mächtiger gewesen als sie. Seit jeher waren sie in der Lage, die Krieger mit einem Wedeln ihrer unberechenbaren Hände niederzuschlagen.

„Aber er ist auch besessen“, sagte Cameo. „Und sein Dämon wird genauso irgendeine Schwäche haben wie unsere.“

Dieses Leid in ihrer Stimme. Strider war zu sehr damit beschäftigt, zu erschaudern, als dass er ihren Worten hätte folgen können.

„Sein Dämon ist Habgier.“ Das kam von Aeron, und das Leid in seiner Stimme war noch tausendmal schlimmer als in Cameos.

Heilige Hölle, Strider musste diese Stimmen unbedingt aus seinen Ohren waschen und … Halt, halt, halt. Noch mal zurückspulen. Cronus war von Habgier besessen. Das hatte Lucien ihm bereits erzählt, aber Cameo hatte einen berechtigten Einwand gemacht. Jeder Dämon hatte seine Schwachstelle. Und diese Schwachstelle machte einen Krieger verletzlich. Wenn zum Beispiel sein Dämon verlor, wurde Strider bewusstlos. Dann konnte ihn jeder angreifen, und er war unfähig, sich zu verteidigen.

Wo lag Cronus’ Schwachstelle?

Diese geheime Information wäre für einen Kampf Gold wert … Nicht, dass er plante, gegen den Götterkönig zu kämpfen, aber ein Krieger musste eben auf alles vorbereitet sein.

Aus dem Augenwinkel sah er Amun in Gebärdensprache reden.

„Was ist mit Danikas Gemälde?“, übersetzte Strider. „Das Bild, mit dem sie vorhergesagt hat, dass Galen Cronus den Kopf abschlagen wird?“ Er selbst fügte hinzu: „Ich weiß, dass wir gehofft hatten, das von ihr gesehene Schicksal abwenden zu können. Aber vielleicht sollten wir dazu nicht selbst den Götterkönig töten, sondern uns noch mehr bemühen, Galen umzubringen.“

„Aber Galen hat den Umhang“, gab Reyes zu bedenken, während er zum Sofa ging, Danika hochhob, sich hinsetzte und sie auf seinen Schoß nahm. „Dadurch ist er womöglich schwieriger zu vernichten als jedweder Gott.“

„Galen hat den Umhang“, wiederholte Aeron, „aber warum hat er ihn dann nicht schon längst gegen uns eingesetzt? Seine Truppen sind schon seit einer Weile hier. Also noch mal: Warum haben sie uns noch nicht angegriffen?“

Maddox zuckte mit den Schultern. „Vielleicht haben sie abgewartet, ob ihr kleines Experiment mit Misstrauen Erfolg hat. Und jetzt, da es geglückt ist …“

„Wir müssen zuerst zuschlagen“, meinte Aeron, „und sie unvorbereitet erwischen. Dadurch können wir ihre Zahl hoffentlich drastisch reduzieren und uns Zeit verschaffen – um herauszufinden, was wir mit Misstrauen machen, und vielleicht sogar um Galen aus seinem Versteck zu locken.“

Gute Argumentation, aber kehrte da etwa sein Blutdurst zurück? Es war nicht nur, dass seine Augen rot funkelten. Er ballte auch die Fäuste und stand in starrer Haltung da.

„Aber werden sie wirklich unvorbereitet sein?“, wandte Reyes ein. „Was ist, wenn sie nur auf unseren Angriff warten?“

Die Soldaten auf der Insel hatten auch gewartet. Womöglich war das die neue Taktik der Jäger. Außerdem hatten sich viele der gerade aus Rom zurückgekehrten Krieger noch nicht von dem Kampf im Dschungel erholt. Sie waren nicht in Bestform, doch genau das müssten sie sein, wenn sie einen Sieg dieser Größenordnung nach Hause tragen wollten. „Und wir dürfen nicht vergessen, dass sie Rhea auf ihrer Seite haben. Wer weiß, wie sie ihnen helfen wird.“

„Stimmt nicht“, ergriff Torin zum ersten Mal das Wort. Er hatte Lautsprecher und Monitor in dem Zimmer installiert, sodass er an der Versammlung teilnehmen konnte, ohne den überfüllten Raum betreten zu müssen. „Ich habe mit Cronus gesprochen. Er will seine geliebte Frau heute so lange ablenken wie möglich. Deshalb habe ich Lucien und Sabin auch gebeten, das Treffen sofort einzuberufen. Alles, was wir heute unternehmen, können wir ohne göttliche Einmischung tun. Weder durch die Königin noch durch den König.“

Niemand, der ihnen entgegenstand, aber auch niemand, der sie unterstützte.

Ein Raunen ging durch die Menge. Und dann war aus aller Munde nur ein Wort zu hören: Ja.

„Wir können ja sowieso nicht schlafen“, grummelte Maddox. „Nicht solange Albtraum hier ist. Apropos: Wann werden wir sie eigentlich wieder los sein?“

Darauf wusste niemand eine Antwort. Dafür war die andere Frage schnell entschieden: Noch an diesem Abend würden sie angreifen.

22. KAPITEL

Gideon konnte hören, wie die Krieger über ihm hin und her liefen. Ihre Schritte klangen geschäftig, und er meinte, sogar das klickende Geräusch von Waffen zu vernehmen, die geladen und gesichert wurden, sowie das Sirren von Metall, das in lederne Scheiden gesteckt wurde. Es war ihm egal. Er rührte sich nicht. Fast vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit er den Kerker betreten hatte. Nachdem Scarlet verkündet hatte, was ihr auf dem Herzen lag – Lügen, endlich sind wir wieder vereint –, hatte sie ihn angezischt: „Und jetzt, da ich weiß, dass du es bist, kannst du gehen.“ Danach hatte sie ihm den Rücken zugekehrt, sich auf ihr Feldbett gelegt und ihn ignoriert. Und die ganze Zeit über hatte sie vor sich hin gesummt, als interessierte er sie nicht weiter. Bei Sonnenaufgang war sie eingeschlafen. Nichts, was er getan oder geschrien hatte, hatte sie wecken können, und erst als vor wenigen Minuten die Sonne wieder untergegangen war, war sie erwacht.

Mit einem Keuchen war sie hochgefahren und hatte sich gehetzt umgesehen. Als sie ihn erblickt hatte, war die Panik von ihr abgefallen und durch Ärger und Verachtung ersetzt worden – was er beides nicht verstand. Dann hatte sie sich zurück auf die Matratze fallen lassen.

„Ich kann nicht den ganzen Tag hierbleiben, weißt du“, sagte er. Torin, der ihn über die zahlreichen Kameras beobachtete, die hier installiert waren, hatte wohl Mitleid mit ihm gehabt, denn vor einiger Zeit hatte ihm Krankheit einen Stuhl gebracht. Einen Stuhl, den Gideon so nah wie möglich an Scarlets Zelle herangezogen hatte. Er hatte seine langen Beine ausgestreckt und die Füße gegen die Gitterstäbe gestützt. „Geh weg.“

Ihre Stimme nach der langen Zeit der Stille zu hören war, wie auf einen Whirlpool voller Säure zu stoßen, in dem bereits mehrere Jäger brutzelten: fantastisch. Er fing sogar zu zittern an. Den Göttern sei Dank, dass er nie in der Lage wäre, das laut zuzugeben. Oberpeinlich.

„Was ist? Hast du jetzt vor, mich zu ignorieren?“, grollte sie.

Wenn man bedachte, wie sie ihn hatte abblitzen lassen, wäre es ihr ganz recht geschehen. „Ja. Ich ignoriere dich.“ Selbst wenn er nicht hinsah – in jeder Zelle seines Körpers fing er jede ihrer Bewegungen auf. Er hätte sie gar nicht mit Missachtung strafen können – selbst wenn er gewollt hätte.

Beschämend. Männer sollten den Ton angeben, und Frauen sollten dankbar für jede Aufmerksamkeit sein. Männer sollten Befehle erteilen, und Frauen sollten sie ausführen.

Na ja, gut. Eigentlich war das noch nie seine Einstellung gewesen, aber jetzt dachte er eben so, verflucht. Da war es ihm keine große Hilfe, dass Lügen wie Wachs in ihren Händen war. Er schwieg und summte voller Anerkennung und glücklich, in ihrer Nähe zu sein, leise vor sich hin.

Wieder herrschte lange Zeit Schweigen, und er wusste, dass sie ihn bestrafte. Wofür allerdings wusste er nicht. Er war schließlich nicht derjenige gewesen, der sie eingesperrt hatte. Klar, er hatte sie auch nicht befreit, aber er war ja auch nicht dumm. Sie wäre doch nur weggelaufen.

Scarlet – der Name gefiel ihm. Er passte zu ihr. Er passte zur Form ihrer sinnlichen Lippen, zu der Leichtigkeit, mit der sie ihm das Fell über die Ohren zog, und zu ihrer finsteren Persönlichkeit. Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Geh einfach, okay. Ich bin fertig mit dir.“

Endlich. Sie sprach. Er wäre für immer hier geblieben, nur um ihr nah zu sein. Was verdammt noch mal keinen Sinn ergab! „Ich heiße nicht Gideon.“ So. Schlicht und einfach. Und hoffentlich würde sie im Gegenzug auch persönliche Informationen von sich preisgeben. Wie zum Beispiel, woher sie ihn kannte. Wie zum Beispiel, weshalb er sie kannte, sich aber nicht an sie erinnerte.

„Was du nicht sagst“, war alles, was sie erwiderte.

Sie wusste es? Woher? Da er bezweifelte, dass sie es ihm verraten würde, fragte er erst gar nicht nach. „Ich weiß eine Menge von dir. Zum Beispiel, dass du nicht in die Träume anderer eindringen kannst.“

„Was du nicht alles weißt“, sagte sie voller Ironie.

Doch nicht so schlicht und einfach. „Ich fände es wirklich beschissen, wenn du meine Freunde in Frieden lassen würdest.“

„Na dann – ist geritzt. Ich werde sie die ganze Nacht ärgern, nur um dich glücklich zu machen.“

Einen Moment lang starrte er an die Decke und bat die Götter um Geduld. „Bitte lass es nicht.“ Verflucht. Es störte ihn nur selten, dass er nur in Lügen sprechen konnte, aber im Augenblick machte es ihn fuchsteufelswild.

„Oder fändest du es besser, wenn ich mich ganz allein auf dich konzentrieren würde?“

„Nein.“ Ja. Obwohl er seinen Freunden von Herzen gönnte, friedlich zu schlafen, war das nicht der eigentliche Grund dafür, dass er sich wünschte, diese Frau hielte sich aus ihren Träumen fern. Er wollte sie für sich. Alles an ihr, sogar ihre dämonische Fähigkeit. Zumindest so lange, bis er endlich klar sähe.

Das alles ergab trotzdem noch keinen Sinn. Er war kein besitzergreifender Mann. Außerdem hatte er keinen Grund, Besitzansprüche an diese Frau zu stellen.

„Tut mir leid“, sagte sie zynisch. „Das kann ich dir nicht versprechen.“

„Sie werden nicht in Erwägung ziehen, dir Medikamente zu verabreichen.“

„Was denn für Medikamente? Kann ich Vicodin kriegen?“

Dann nahm sie also von Menschen hergestellte Medikamente. Er konnte es ihr nicht verübeln. Er selbst hatte sich schon ein-oder zwanzigmal welche gegönnt. Auch wenn er nicht viel davon spürte – ein bisschen war doch besser als nichts. „Woher wusstest du, dass ich Spinnen so liebe?“

„Igitt, du bist ja geschwätzig. Wenn ich dir was verrate, hältst du dann die Klappe? Ich werte dein Schweigen mal als ein Ja. Woher ich wusste, dass du Spinnen magst? Weil ich in den Kopf eines anderen eindringen und Ängste einfach spüren kann. Daher. Und jetzt sei still, im Namen der Götter.“

Sie sagte die Wahrheit. Sein Dämon erkannte Wahrheit immer, wie einen einsamen Jäger in einer Reihe unsterblicher Herren. Normalerweise hasste Lügen es, ihr zu begegnen, und war angewidert von ihr, auch wenn Gideon es immer genoss. Heute jedoch hüllte sich sein Dämon in glückliches Schweigen. Ganz gleich, was aus dem hübschen Mund des Mädchens kam.

„Kennst du deshalb meinen Namen nicht?“

„Wie ich sehe, gehört Feilschen nicht gerade zu deinen Stärken.“ Sie schlug so hart gegen die Wand, dass eine Staubwolke aufstieg und sie einhüllte. „Und jetzt, was? Willst du mich so lange nerven, bis ich dir alles verrate, was ich weiß?“

Da er nicht zugeben wollte, dass er einfach nur bei ihr sein wollte, hielt er seine bandagierten Hände hoch und schwenkte sie hin und her. „Es gibt so vieles, was ich im Augenblick tun könnte. Zum Beispiel mit meinen Freunden kämpfen.“

„Ein wahrer Krieger lässt sich von Verletzungen nicht aufhalten.“

Autsch. „Genau, weil es einem wahren Krieger gefällt, jedem im Weg zu sein und dem Feind zu helfen.“

„Ein wahrer Krieger siegt trotz seines Handicaps.“ Sie schnaubte belustigt. „Huch, ich habe Handicap gesagt, und du hast keine Hände.“

Sehr komisch. Wirklich. „Wenn ich nicht alle Finger hätte, würde ich dir jetzt nicht den Stinkefinger zeigen.“

„Hunde, die bellen, beißen nicht. Sieht ganz so aus, als würdest du unter diese traurige Kategorie fallen.“

Was ist dein Problem? hätte er am liebsten gefragt, doch der Satz wäre ungefähr so herausgekommen: Warum hast du kein Problem mit mir? Und er wollte nicht, dass sie antwortete: Dämliche Frage, ich habe doch ein Problem mit dir. Darauf hätte er nämlich erwidert: Aha, dann möchte ich nicht wissen, was es ist, und sie hätte gesagt: Gut, denn ich hatte auch nicht vor, es dir zu verraten.

Ähnliche Unterhaltungen hatte er in der Vergangenheit schon öfter geführt. Da er auch so schon frustriert, verwirrt und neugierig war, wäre jede zusätzliche Emotion Gift für ihn gewesen. Denn das hätte ihn noch ein Stückchen weiter an den Abgrund getrieben, der ihn immer zwang, Dinge zu sagen, die er nicht meinte, und Dinge zu tun, die er nicht rückgängig machen konnte.

„Wie hast du deine Hände eigentlich verloren?“, fragte sie widerwillig, als gefiele es ihr nicht, dass sie es wissen wollte.

Ihre Neugier freute ihn, und sein Frust ließ etwas nach. „Die Hände, also, ich habe sie nicht bei der Folter verloren.“

„Hast du geredet?“

„Natürlich.“ In seiner Stimme schwang Stolz mit. Er war nicht eingebrochen. Nicht ein einziges Geheimnis hatte er verraten.

„Genau wie ich dachte.“

Er biss die Zähne aufeinander. Sie wusste, dass er Lügen war. Hatte es die ganze Zeit gewusst. Sie wusste auch, dass er nicht die Wahrheit sagen konnte, und trotzdem tat sie permanent, als nähme sie seine Worte für bare Münze. Wollte sie ihn ärgern? Weil sie wütend auf ihn war? Auch wenn er noch immer nicht verstand, weshalb.

„Waren das die Jäger?“, fragte sie.

„Nein.“

„Wie läuft es eigentlich? Der Krieg gegen sie, meine ich.“

Auch davon wusste sie also, während er nie von ihren Aktivitäten gehört hatte. Wie ging das? Sie wusste verdammt vieles, was eigentlich geheim sein sollte. „Wir sind dabei, zu verlieren.“ Sie standen vor einem Sieg, wenn auch nur vor einem knappen. Zwei Artefakte gegen eins. Die Befreiung dieser Halblingkinder, die die Jäger mit abscheulichen Mitteln gezüchtet hatten. Die Entdeckung ihres Verstecks in Buda. Doch all das konnte er Scarlet nicht erzählen. „Da du mich offenbar nicht kennst, frage ich mich nicht, ob du meinetwegen hergekommen bist.“

„Wie du meinst“, blaffte sie. „Sieh mal, ich habe deinem Kumpel gesagt, dass ihr Jungs mich in Ruhe lassen sollt. Ich wusste, dass ihr auf der Suche nach mir wart. Ich wollte, dass ihr aufhört. Das ist alles.“

Nein. Das war nicht die Wahrheit. Unmöglich. Nur dass er es nicht beweisen konnte. Lügen verweigerte ihm immer noch jegliche Hilfe. „Wieso kennst du mich nicht? Wieso habe ich das Gefühl, dich nicht zu kennen, obwohl ich dir schon mal begegnet bin?“

Sie sah ihn an und kniff leicht die Augen zusammen. Ihr Blick füllte sich mit Wut. „Du erinnerst dich nicht an mich?“ Okay. Wut traf es nicht ganz. Jedes einzelne Wort vibrierte vor Empörung. „Du erinnerst dich nicht an Details?“

„Ich weiß ni…“ Lügen, lügen. Jetzt musste er sich auch schon daran erinnern, verdammt. Das durfte doch nicht wahr sein! „Doch, das tue ich.“ Aber er konnte ihr unmöglich schon mal begegnet sein. Eine Frau wie sie hätte er doch nicht vergessen. Sie war wunderschön und wild, wie ein Raubtier. Unverblümt, hart und doch irgendwie verletzlich.

Während all der Jahre war er mit vielen Frauen zusammen gewesen. Meist waren es One-Night-Stands gewesen. Frauen kamen nicht wieder, wenn der Mann, mit dem sie zusammen waren, ihnen ständig sagte, wie hässlich und dumm sie waren. Oder wenn der Mann überhaupt nichts sagte. Natürlich erinnerte er sich nicht an jedes einzelne Gesicht, aber trotzdem: Das war keine Frau, die er vergessen hätte.