NEUN

»Ich weiß, was du brauchst.«

Er sah in ihr zartes Gesicht, das zur Hälfte in Dunkelheit getaucht war. »Was?«

Sie fuhr mit ihren kleinen Händen über seine nackte Brust und reckte sich auf die Zehenspitzen. »Das hier.« Sie küsste ihn auf den Hals. Das heiße Saugen ihres feuchten Mundes an seiner Haut traf ihn wie ein Schlag, und ihm blieb die Luft weg. »Du brauchst das hier.« Ihr warmer Atem strich über seine Kehle, und er bebte vor Lust. Sein ganzer Körper war lebendig, jeder Zentimeter und jede erogene Zone empfänglich für ihre samtige Berührung.

»Ja.« Er vergrub die Finger in ihren blondrosa Haaren, bog ihren Kopf zurück und sah in ihre lusttrunkenen blauen Augen, während er den Mund zu ihr senkte. Auf ihre süßen, nassen Lippen. Sie schmeckte gut, nach der Leidenschaft, die ihm in seinem Leben gefehlt hatte. Nach Sex. Heißem, hungrigem Sex, der einen Mann zerriss. Der ihn schwer versehrt und blutüberströmt zurückließ, bereit, für mehr zu sterben.

Ihre Zunge glitt in seinen Mund, gekonnt und begierig. Er verschlang ihre ausgedehnten, hungrigen Küsse, während sie ihn am ganzen Körper streichelte. Ihre Finger kämmten durch seine kurzen Brusthaare und hinterließen kleine Feuerspuren.

Schwer atmend hob er den Kopf und sah ihr ins Gesicht, auf ihre Lippen, nass und geschwollen, und in ihre Augen, in denen das Verlangen brannte. Sie trat ein Stückchen zurück und zog sich ihr Kleid über den Kopf. Bis auf einen weißen Slip war sie darunter nackt. Er machte sich nicht die Mühe, sich zurückzuhalten, es langsam angehen zu lassen, sondern überließ sich den wilden, archaischen Trieben, die in seiner Brust und seinen Lenden wüteten, und stieß sie auf die Chaiselongue. Ihr Slip kam abhanden, seine Klamotten auch, und er legte sich auf ihren weichen, warmen Körper.

»Ja«, flüsterte sie, als er sich zurückzog und in sie hineinstieß. Sie wölbte sich ihm entgegen und lächelte selig. »Das ist es, was du brauchst.«

Mark riss die Augen auf und starrte an die dunkle Schlafzimmerdecke. Die schwarzen Flügel seines Ventilators wirbelten die Luft auf und wehten sie über sein Gesicht. Sein Herz hämmerte, und seine Eier schmerzten. Verlangen, heftig und dumpf zugleich, spannte seine Hoden, und er schob die Hände unter die Decke, um sich zu überzeugen, ob nicht auch das nur ein Traum war. Er legte die flache Hand auf seine Boxer-Shorts, ertastete einen beachtlichen Steifen und sog vor Lust und Schmerz Luft durch die Zähne ein. Die Erektion erhitzte den Baumwollstoff seiner Unterwäsche und wärmte seine Handfläche, als er die Finger um seinen langen, harten Penis legte. Ein erotischer Traum, in dem seine kleine Assistentin vorkam, hatte ihn knüppelhart gemacht. Er wusste nicht, ob er beunruhigt oder entsetzt sein sollte oder ob er vor dem Bett auf die Knie fallen und dem Herrgott danken sollte.

 

Chelsea kriegte nur mit Mühe die Augen auf und zuckte zusammen, als das Morgenlicht sie blendete. Kopfschmerzen legten sich um ihre Stirn wie ein Schraubstock, und ihr Mund schmeckte, als hätte sie Socken gegessen. Wie in ihrer Kindheit drehte sie sich fragend zu ihrer Schwester, die auf dem Kissen neben ihrem lag. Was war los gewesen? Wo waren sie gestern Abend versackt?

»Oh Gott«, stöhnte sie auf, als der Karaoke-Wettbewerb im Ozzie’s Roadhouse vor ihren schmerzenden Augen aufblitzte, eine schreckliche Erinnerung daran, wie Bo und sie aus vollem Halse Like a Virgin und I’m Too Sexy geschmettert hatten. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, dessen Stimme noch schlechter war als Chelseas. Bo. Bo sang noch falscher, und Chelsea war erschüttert, dass die Horde im Ozzie’s Roadhouse sie nicht ausgebuht und rausgeworfen hatte.

Sie setzte sich auf und wartete, bis das Hämmern in ihrem Kopf nachließ, bevor sie die Füße über die Bettkante schwang. Mit noch halb geschlossenen Augen schlich sie über den Flur ins Bad. Der Vinylboden unter ihren nackten Füßen fühlte sich kühl an, und sie hielt den Mund unter den Hahn und drehte das kalte Wasser auf. Sie soff wie eine Kuh und richtete sich wieder auf, um sich im Spiegel zu betrachten. Ihre Mascara war verschmiert, ihre Haare auf einer Seite zerzaust. Sie sah so aus, wie sie sich fühlte. Chelsea griff nach den Paracetamol-Tabletten, schluckte drei Kapseln und trottete zurück zum Schlafzimmer.

»Guten Morgen, meine Liebe.«

Chelsea blieb wie angewurzelt stehen und starrte entgeistert durch den Flur zu dem halbnackten Mann, der in der Küche stand. »Was machst du da?«

»Frühstücken«, gab Jules trocken zurück und goss sich Milch über eine Schüssel Müsli.

»Warum frühstückst du hier?«

»Mich wundert nicht, dass du keine Erinnerung mehr hast. Bo hat mich gestern Abend angerufen, und wir sind zu dritt ausgegangen. Ich war der Einzige, der noch fahrtüchtig war.«

Chelsea marschierte wieder zurück, schnappte sich einen Frottee-Morgenmantel vom Haken an der Badezimmertür und begab sich in die Küche. Nach und nach kamen winzige Erinnerungsfetzen zurück. »Warum bist du noch hier?«, fragte sie misstrauisch, während sie den flauschigen Gürtel um ihre Taille zuband.

»Da ich in Kent wohne und es schon nach zwei war, habt ihr mir erlaubt, in Bos Zimmer zu pennen.« Er griff in eine Schublade und nahm sich einen Löffel.

Jammerschade, dass sie einen Kater hatte und ihr die Augen weh taten, denn in dem Zustand konnte sie Jules’ definierte Brust und seinen Waschbrettbauch nicht gebührend würdigen. Sie zeigte auf seine enge Lederhose. »Eiferst du Tom Jones oder Slash nach?«

»Das haben wir gestern Abend schon mal durchgekaut, als du mir vorgeworfen hast, ich würde einen metrosexuellen Supergau durchmachen.« Er aß einen Happen. »Andererseits wundert es mich nicht, dass du es nicht mehr weißt. Du warst total hinüber.«

»Klar erinnere ich mich.« Leider fiel ihr nach und nach noch mehr ein als nur Bruchstücke. Die Singerei. Die Sauferei. Die Flirterei mit Studenten und Touristen.

Jules zeigte mit dem Löffel auf sie. »Du siehst scheiße aus.«

»Perfekt. Ich fühl mich auch so.«

»Willst du Müsli?«

»Mal sehen.« Sie lief an ihm vorbei und holte sich eine Cola aus dem Kühlschrank. Nichts half besser gegen einen Kater als die zuckrige Brause. Bis auf einen Hamburger Royal TS mit extrafettigen Fritten. Der reinste Kater-Himmel.

»Wie geht es Bo heute Morgen?«

Chelsea hob die Cola an die Lippen und trank die halbe Dose auf ex. »Schläft noch«, murmelte sie, als sie das koffeinhaltige Getränk wieder sinken ließ. Sie erinnerte sich vage, dass ihre Schwester und Jules rumgeknutscht hatten, während Chelsea damit beschäftigt war, mit einem irischen Touristen zu flirten. Sie würde Bo später danach fragen. Sie schüttete sich Müsli in eine Schüssel und gesellte sich zu Jules an den Küchentisch.

»Wie läuft’s denn so mit Bressler?«, fragte er.

»Noch genauso. Er nimmt mir übel, dass ich da bin, und halst mir Scheißaufgaben auf.« Sie aß einen Löffel voll, und das Krachen beim Kauen war so laut, dass sie vor Schmerz kaum denken konnte. »Gestern kam eine Horde Eishockeyspieler auf ein Bier vorbei.«

»Das hast du gestern schon erwähnt, aber nicht gesagt, wer dabei war.«

Chelsea dachte an die vielen kräftigen Kerle in einem Raum und musste zugeben, dass sie leicht eingeschüchtert gewesen war. Gar nicht so sehr durch ihre Körpergröße. Schließlich überragten die meisten Menschen Bo und sie. Schon eher, weil sie die Männer auf dem Eis in Aktion erlebt hatte. Sie hatte gesehen, wie sie so heftig gegen die Bande knallten, dass die Wand aus Holz und Plexiglas erbebte. Sie hatte miterlebt, wie sie genauso hart gegen andere Spieler prallten. Als sie gestern den Raum betreten hatte, war es ihr vorgekommen, als liefe sie gegen eine Testosteronwand. Aber Chelsea war Schauspielerin. Sie hatte schon vor unzähligen Besetzungsleitern und Produzenten vorgesprochen und schon vor langer Zeit gelernt, ihre Nervosität unter Kontrolle zu halten. Nach außen hin ruhig und cool zu wirken, egal, wen sie vor sich hatte. »Da war der große Russe, Vlad«, antwortete sie.

»Hat er die Hose runtergelassen?«

»Nein.«

»Gut. Ich hab gehört, er macht das nicht mehr so oft. Wer noch?« Jules aß einen Happen und wartete.

»Mal überlegen. Ein Typ mit ’nem blauen Auge.« Schon in wenigen Sekunden hatte sie festgestellt, dass die Spieler privat eigentlich nicht einschüchternd waren. Sie schienen nette Kerle zu sein. Außer Mark. Obwohl er in Gesellschaft seiner Kumpels entspannter gewesen war. Und ja, auch netter. Für seine Verhältnisse.

»Da sind einige mit blauen Augen dabei.«

»Ich glaub, er hieß Sam.«

»Sam Leclaire. Er hat in dieser Saison sechsundsechzig Tore gemacht. Zehn davon …«

»Halt.« Chelsea hielt abwehrend die Hand hoch. »Erspar mir die Statistiken.« Schon den ganzen Heimweg vom Ozzie’s Roadhouse hatte sie Bo und ihm dabei zuhören müssen, wie sie über Tore, Punkte und Strafminuten diskutierten, und hätte die zwei am liebsten erschossen.

Jules lachte. »Du erinnerst mich an Faith.«

»An wen?«

»Die Besitzerin der Chinooks. Sobald jemand mit Statistiken anfängt, wird ihr Blick glasig, und sie schaltet ab.«

Jetzt fiel es Chelsea wieder ein. Die schöne Blondine, die vom neuen Kapitän einen langen, ausgiebigen Zungenkuss bekommen hatte, mitten in der Key Arena, während ein Stadion voller Fans vor Begeisterung schrie und sie anfeuerte. »Sollte die Eigentümerin des Teams nicht über Statistiken und so weiter Bescheid wissen?« Chelsea versuchte ihr Glück noch einmal; diesmal kaute sie langsam.

»Sie hat die Mannschaft erst im April geerbt. Davor war sie wie du und wusste null über Eishockey. Aber das Wichtigste hat sie sich sehr schnell angeeignet.« Er zuckte mit den Achseln. »Und jetzt hat sie ja Ty, der ihr dabei helfen kann.«

»Den Kapitän?«

»Ja. Sie sind auf den Bahamas.«

»Wozu?«

Jules hob den Blick von seiner Müslischüssel und sah sie nur vielsagend an.

»Oh.« Sie legte ihren Löffel weg, weil sie nicht so recht wusste, ob ihr Magen noch mehr vertragen konnte. »Machst du dir Sorgen um deinen Job, wenn sie jetzt Hilfe von Ty kriegt?«

Er schüttelte den Kopf und zuckte wieder mit den Achseln. »Eigentlich nicht. Ich glaube, Ty wird einen Job als Talent-Scout annehmen oder Verantwortung in der Spielerentwicklung übernehmen; deshalb wird sie noch immer einen Assistenten brauchen. Nach ihrer Rückkehr werde ich das mit ihr besprechen.«

»Wann wird das sein?« Sie persönlich hätte nur ungern das Gefühl, dass ihr Job in der Schwebe wäre. Na ja, noch mehr in der Schwebe als bei Mark Bressler sowieso schon.

»Hoffentlich noch vor der großen Meisterschaftsfeier.«

»Es gibt eine Meisterschaftsfeier?«

Jules lehnte sich zurück. »Die Pokalfeier im Four Seasons nächsten Monat. Am vierundzwanzigsten, glaub ich. Sie haben es erst letzte Woche organisiert, aber Bressler hat bestimmt eine Einladung bekommen. Oder bekommt bald eine.«

Davon hatte er kein Sterbenswort gesagt.

»Falls du keine kriegst: Jeder darf noch jemanden mitbringen. Du kannst ja mit Bo hingehen.«

Apropos Bo: Ihre Schwester stöhnte lang und laut, während sie durch den Flur auf sie zugeschlappt kam.

»Himmelherrgott, Chelsea«, krächzte sie. »So ’nen Kater hatte ich nicht mehr, seit ich dich das letzte Mal in L.A. besucht hab.« Sie schlurfte zum Tisch und setzte sich schwerfällig. »Hast du Kaffee gemacht?«

Chelsea schüttelte den Kopf und reichte ihr stattdessen eine Cola.

»Aber ich.« Jules sprang eifrig auf und schenkte Bo eine Tasse ein.

»Wir sind langsam zu alt für so was«, jammerte Bo und legte den Kopf auf den Tisch.

Insgeheim stimmte Chelsea ihr zu. Sie waren jetzt beide dreißig, und irgendwann im Leben verlor es an Reiz zu feiern, bis der Arzt kam. Dann war es nur noch armselig, und bevor man sich’s versah, gehörte man zu den Frauen, die ihr Leben auf einem Barhocker fristeten. Sie versuchte es mit einem weiteren Löffel Müsli und kaute vorsichtig. Chelsea wollte keine von diesen Frauen mit rauen Stimmen und überstrapazierten Haaren werden. Sie wollte keine schlechten Zähne, keine lederne Haut und keinen Freund namens Cooter, der wegen bewaffneten Raubüberfalls fünfzehn Jahre im Knast saß.

Jules stellte Bo den Kaffee hin und setzte sich wieder auf seinen Platz ihr gegenüber. »Ihr Mädels stinkt wie die alte Rainier-Brauerei, bevor sie dichtgemacht wurde.«

Bo hob den Kaffee an ihre Lippen. »Du darfst zwei Tage nicht mehr über Bier sprechen.«

»Okay.« Jules lachte. »Mini-Pit.«

Als Chelsea Bo gestern Abend erzählt hatte, die Spieler würden sie Mini-Pit nennen, hatte Jules so sehr gelacht, dass er sich verschluckt hatte. Von den Zwillingen hatte es keine ganz so lustig gefunden, aber um Bo zu trösten, hatte Chelsea ihr anvertraut, dass ihr Spitzname Kleiner Boss war.

»Heute nicht, Jules.« Bo stellte ihre Kaffeetasse wieder ab. »Wo ist dein Hemd?«

Grinsend hob Jules die Arme und ließ die Muskeln spielen wie beim Bodybuilding-Wettbewerb. »Ich dachte, euch Mädels gefällt die Muckischau.«

»Bitte«, stöhnte Chelsea. »Uns ist schon schlecht.«

»Mir ist gerade alles hochgekommen«, fügte ihre Schwester hinzu.

Lachend ließ Jules die Arme wieder sinken. »Dann eben später.«

»Gott, ich hasse es, wenn du so fröhlich bist. Warum bist du nicht auch verkatert?«, wollte Bo wissen.

»Weil ich als Fahrer auserkoren war. Weißt du nicht mehr?«

»Nicht so richtig.«

Chelsea fragte sich, ob ihre Schwester sich an die Knutscherei mit Jules erinnerte. Und ob sie es lieber nicht ansprechen sollte. Niemals. Es gab Zeiten, da war Vergessen das Beste. Wie vor Jahren, als sie auf einer Party in den Hollywood Hills als Nackt-Flitzerin rumgelaufen war. Chelsea war noch nie gerannt wie eine Gazelle, und es war kein schöner Anblick gewesen. Nur schade, dass ihr das erst am nächsten Morgen aufgegangen war. Heiliger Strohsack, wenn sie es sich recht überlegte, war sie vielleicht doch impulsiv. Vor allem, wenn sie ein paar intus hatte.

»Weißt du noch, dass ihr Kiss gesungen habt?«

»Den Prince-Song?«, fragte Chelsea ungläubig. Sie erinnerte sich nicht, was von Prince gesungen zu haben. Madonna und Celine Dion waren schon schlimm genug gewesen.

»Ja. Und bei I Will Survive seid ihr richtig abgegangen.«

Ihr Repertoire war ganz schön umfangreich gewesen. Warum hatte sie niemand aufgehalten? Sie hatten mit Sicherheit schrecklich geklungen. Chelsea wandte sich an ihre Schwester. »Erinnerst du dich an I Will Survive

»Nein. Ich hasse den Song. Warum sollte ich ihn singen?«

»Ihr habt euch wirklich reingehängt.« Jules streute noch Salz in ihre Wunden. »Ihr habt das Lied geschmettert wie ’ne persönliche Hymne.«

Bo flüsterte: »Wahrscheinlich ist es gut, dass der Abend gestern zum Teil aus meiner Erinnerung gelöscht ist.«

»Ja«, pflichtete Chelsea ihr eifrig bei.

»Erzählt mir nicht, dass ihr alles vergessen habt.« Jules nahm seinen Löffel wieder in die Hand und futterte weiter. »An den flotten Dreier müsst ihr euch erinnern. Mit zwei heißen Zwillingen ’ne Nummer zu schieben war schon immer ’ne geheime Fantasie von mir.« Er blickte grinsend auf. »Eine, die ich, wie ich wohl behaupten kann, mit fast allen Männern auf der Welt teile. Ich hab euch nach allen Regeln der Kunst beglückt und wäre am Boden zerstört, wenn sich keine von euch daran erinnert.«

Bo hielt sich die Stirn. »Lass mich nicht zur Mörderin werden, Jules«, bat sie mit einem gequälten Seufzer. »Nicht heute. Ich bin einfach nicht in der Lage, deine Leiche zu entsorgen. «

Als Jules weg war, zogen die Mädels aufs Sofa um und machten es sich für ein bisschen R&R gemütlich. Regenerations-und Reality-TV. Auf dem Couchtisch stand eine kleine Kühlbox voller Cola-Dosen, und sie legten die Füße hoch und stellten sich mental auf die Volksverdummung von New York Goes to Work ein.

Chelsea zeigte auf das Sternchen aus dem Reality-Fernsehen, das seinen Ruhm Flavor of Love zu verdanken hatte. »Sie hat mal einen so schönen Körper gehabt und ihn sich mit diesen großen Stripper-Implantaten total verdorben.«

Bo nickte. »Sister Patterson hätte ihr eine Ohrfeige geben sollen. Warum sollte eine Frau sich das antun?«

Es war eine rhetorische Frage. »Brustverkleinerung dagegen kann ich total nachvollziehen.« Chelsea beschloss, das Thema mal anzuschneiden, um zu testen, ob sich die Meinung ihrer Schwester geändert hatte. »Meine Titten sind immer im Weg.«

»Schon, aber hast du mal gesehen, wie diese Verkleinerungen durchgeführt werden?«, fragte Bo, während New York einen Stall ausmistete. »Es ist eine Form der Verstümmelung. «

Was ihre Frage vermutlich beantwortete. »So schlimm ist es gar nicht. Nicht mehr so wie früher. Die Narben sind kaum noch zu sehen.«

»Jetzt erzähl mir nicht, dass du schon wieder mit dem Gedanken spielst! Sie kratzen dir Riesenstücke Fleisch raus. Wie bei einem Kürbis.«

Bo klang genau wie ihre Mutter. Mit ihr war nicht zu reden, also beließ Chelsea es dabei.

»Weißt du noch, wie wir das Probeband für The Real World eingeschickt haben?«

Chelsea lachte. Sie waren damals neunzehn und hatten erfahren, dass die MTV-Reality-Show auf Hawaii gedreht werden sollte. Dort hinzufahren war ihr sehnlichster Wunsch gewesen. »Klar. Wir waren uns so sicher, dass sie uns nehmen würden, weil wir Zwillinge sind.«

»Wir waren uns so sicher, dass wir uns schon Badeanzüge ausgesucht haben.«

»Ich sollte die böse Zwillingsschwester sein, die mit den Männern in der WG flirtete, und du solltest mich immer ermahnen, mich für die Ehe aufzusparen.« In dem Glauben, sie bräuchten einen Aufhänger, um sich bei den Besetzungschefs ins Gedächtnis einzugraben, hatten sie das Guter Zwilling/Schlechter Zwilling-Szenario auf dem Bewerbungstape ganz schön übertrieben. Bo hatte sich die Haare züchtig hochgesteckt und sich eine falsche Brille aufgesetzt, um glaubwürdiger zu wirken, während Chelsea sich die Haare violett gefärbt und sich von einer Freundin eine Motorradjacke geborgt hatte. Für Außenstehende mochte es wirken, als spielten sie diese Rollen noch immer, aber Chelsea verstellte sich nicht. Sie war einfach sie selbst. Chelsea Ross. Zwillingsschwester und liebevolle Tochter. Schauspielerin und Assistentin eines Eishockeystars mit Grantelei im Endstadium. Während sie New York dabei zusah, wie sie ein Schwein künstlich besamte, fragte sie sich, wie ihr Leben in einem Jahr aussähe. Wenn sie verkatert war, kriegte sie immer schlechte Laune und zog alles in Zweifel.

In einem Jahr würde sie wieder in L.A. leben und zu Castings gehen. Sie würde weiter ihrem Traum nachjagen, doch diesmal sollte alles ein bisschen anders laufen, damit sie nicht wieder ausbrannte. Als Assistentin von Promis wollte sie jedenfalls nicht mehr arbeiten.

Vielleicht könnte sie sich als Event-Planerin selbstständig machen. Selbst eine Assistentin einstellen, die sie rumkommandieren konnte. Natürlich ohne dabei gemein oder anmaßend zu werden. Sie wusste ja, wie das war. Sie hatte schon für viele Event-Planer gearbeitet, und es machte ihr Spaß, Fun-Events zu arrangieren und zu organisieren. Sie war gut darin und hatte im Allgemeinen auch gern Umgang mit Menschen. Für eine solche Existenzgründung bräuchte sie nicht viel Startkapital, und es würde ihr hoffentlich mehr Zeit lassen, um zu Castings zu gehen.

Und nächstes Jahr um die Zeit hätte sie in ihrem Leben gern einen Mann. Einen netten Mann mit einem durchtrainierten Körper. Ein Bild von Mark Bressler spukte ihr durch den Kopf. Nein, einen netten Mann.

Bos Gedanken mussten in dieselbe Richtung abgeschweift sein. Was Chelsea nicht weiter verwunderte. »Fragst du dich manchmal, ob wir je einen Partner finden?«, fragte ihre Zwillingsschwester nachdenklich.

»Bestimmt.«

»Wie kannst du dir so sicher sein?«

Nach kurzem Überlegen meinte Chelsea: »Wenn die Frauen in My Big Fat Redneck Wedding alle Partner finden, können wir das auch.«

Bos blaue Augen nahmen einen entsetzten Ausdruck an. »Diese Kerle ringen mit Schweinen, essen totgefahrene Tiere und tragen Tarnkleidung von 24/7.«

Chelsea winkte ab. »Ich kann wohl mit Sicherheit behaupten, dass keine von uns in einer Gartenlaube aus Bierdosen mit einem Proleten in Tarnkleidung getraut wird, der ›Gib’s ihr!‹ schreit. Schließlich haben wir gewisse Ansprüche.«

Bo biss sich auf die Lippe. »Immerhin hast du gestern Abend mit einem Typen mit einer ›Gib’s ihr‹-Truckerkappe geflirtet.«

»Ich hab nicht mit ihm geflirtet, und ein Prolet war er auch nicht.« Sie wusste es, weil sie seine Zähne inspiziert hatte. Keiner davon war fleckig gewesen oder gar ausgefallen. Er war bloß ein Typ gewesen, der auf tragische Weise versuchte, hip zu sein. »Und rumgeknutscht hab ich auch nicht mit ihm, wie du mit Jules.«

»Ich würde nie mit Jules rumknutschen«, sagte Bo konsterniert und konzentrierte sich auf die Glotze. »Guck mal. New York fängt mit dem Lasso eine Ziege ein.«

»Oh nein! Versuch nicht, mich abzulenken. Ich hab euch gesehen.«

»Wahrscheinlich irgend ’ne andere Brünette.«

»Du hast recht. Es muss ’ne andere gewesen sein, die meiner Zwillingsschwester bis aufs Haar gleicht.«

»Na schön.« Bo seufzte. »Ich hab mich schon öfter betrunken und Jules angerufen.«

»Wie oft?«

»Zwei- oder dreimal.«

»Warum musst du ihn betrunken anrufen, wenn du ihn magst?«

»Dass ich ihn mag, hab ich nicht gesagt.« Bo zog ein finsteres Gesicht, als wären sie wieder zehn und Jungs was voll Ekliges. »Jules hat ein Riesenego und geht mit vielen Frauen aus. Wir sind nur Freunde. Sozusagen.«

Chelsea fiel ein, was er einmal über Frauen gesagt hatte, die er mochte, sie ihn aber nicht. »Vielleicht will er ja mehr von dir, als nur mit dir befreundet sein.«

»Warum hat er mich dann nie angerufen und sich mit mir verabredet? Nein. Der will bloß ’ne Nummer schieben.«

Chelsea klappte die Kinnlade herunter. »Du hast mit ihm ’ne Nummer geschoben?«

»Noch nicht, aber ich fürchte bald.« Sie strich sich ihr kurzes Haar hinters Ohr. »Hast du seinen Körper gesehen? Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalte, bevor sein megageiler Arsch mich dazu bringt, mich aufzuführen wie in Basic Instinct

»Du willst ihn mit einem Eispickel erstechen?«

»Nein. Ihn aufs Bett werfen und mich auf ihn stürzen.«

Sie mochte Jules. »Vielleicht solltest du ihm sagen, was du fühlst.«

»Ich weiß nicht, was ich fühle.« Bo griff in die Kühlbox und zog eine Cola heraus. »Manchmal mag ich ihn nicht mal. Und dann wieder sehr. Aber es spielt auch keine Rolle. Ich könnte sowieso nie was mit Jules anfangen.«

»Warum nicht?«

Bo öffnete die Dose. »Weil wir zusammen arbeiten. Und mit Kollegen darf man nichts anfangen.«

Chelsea verdrehte die Augen, vergaß ihren Kater und zuckte vor Schmerz zusammen. »Das ist doch lächerlich.«

»Nein. Ist es nicht. Es wäre, als würdest du was mit Mark Bressler anfangen.«

»Zwischen mit jemandem zu arbeiten und für jemanden zu arbeiten besteht ein Unterschied.« Sie könnte nie mit ihrem griesgrämigen Arbeitgeber rumknutschen, ganz zu schweigen davon, was mit ihm anzufangen. Er war ein rüpelhafter Kotzbrocken, und das waren noch seine guten Eigenschaften. Der Gedanke an eine Nummer mit Mark war … war …

Nicht so verstörend, wie er sein sollte. Die Vorstellung, wie sie die Hände über seine Muskeln gleiten ließ, sollte sie verstören. Tat sie aus irgendeinem Grund aber nicht. Stattdessen löste der Gedanke, ihn zu berühren, in ihr den Wunsch aus, Zungenküsse mit ihm auszutauschen. In seine dunkelbraunen Augen zu sehen, während sie ihm mit den Fingern durchs Haar fuhr. Ihre Lippen auf seinen warmen Hals zu drücken und ihre heiße, verschwitzte Haut an seine zu pressen.

Dass diese Gedanken sie nicht verstörten, verstörte sie noch mehr. Klar, er sah gut aus, aber sie hatte noch nie eine Schwäche für große Kerle gehabt. Machotypen, die ihre Körperkraft einsetzten und sich gegenseitig auf den Kopf kloppten. Klar, Eishockeyspieler trugen Helme, aber sie hatte die TV-Clips gesehen, auf denen Mark auf gegnerische Spieler einprügelte und selbst Prügel einstecken musste.

Und sie hatte ganz sicher noch nie eine Schwäche für Stars und Athleten gehabt. Und schon gar nicht für Star-Athleten. Athleten waren die schlimmsten Stars überhaupt. Viele von ihnen ließen es außerhalb der Saison richtig krachen und machten ihrem schlechten Ruf alle Ehre. Über Mark hatte sie zwar noch nichts Schlechtes gelesen, aber wenn sie lange genug suchte, würde sie vermutlich auch fündig. Er war bestimmt kein Engel gewesen.

Dass Mark kein aktiver Eishockey-Profi mehr war, spielte keine Rolle. Wenn er in der Öffentlichkeit auftrat, wurde er noch immer wie ein Star-Athlet behandelt. Ihm wurde die Art Ehrerbietung zuteil, die sie schon immer zum Kotzen gefunden hatte.

Warum also verstörte sie der Gedanke nicht, ihre Hände über seinen steinharten Körper gleiten zu lassen? Sie hatte keine Ahnung. Vielleicht, weil es schon eine Weile her war, seit sie die Hände über jemand anders als sich selbst hatte gleiten lassen. Vielleicht machte ja Bo gerade dasselbe Dilemma durch. Oder vielleicht übertrug sich Bos sexuelle Frustration auf Chelsea. Es stimmte wirklich, dass sie manchmal die Schmerzen ihrer Schwester fühlen konnte. Als sie noch klein waren, hatte die eine es gespürt, wenn die andere vom Fahrrad gefallen war. In letzter Zeit passierte es zwar nicht mehr so oft, aber letztes Jahr, als Bo sich beim Skifahren das Schlüsselbein gebrochen hatte, hatte Chelsea den Schmerz in ihrer Schulter gespürt, obwohl sie sich damals nicht mal im selben Staat aufhielten. Deshalb war es durchaus möglich, dass ihre Antennen auf Bos heiße, angestaute Lust ausgerichtet waren. Insbesondere, weil sie sich gemeinsam auf derselben Couch fläzten.

Sie drehte den Kopf und sah ihre Schwester an, die ganz unschuldig vor der Glotze saß, sich den letzten Mist reinzog und eine Cola schlürfte. »Du musst dich von einem x-beliebigen Fremden flachlegen lassen.«

Bo deutete auf den Fernseher. »Darf ich noch auf die Werbung warten, oder muss ich’s ihm sofort ›geben‹?«

»Du darfst warten.«