FÜNF

Chelsea schlang ihr Schinkensandwich runter und war um zehn nach zwei wieder im Spitfire. Die zehnminütige Verspätung kam dadurch zustande, dass sie mit dem Mercedes direkt vor die Bar gefahren war, um Mr Bressler den Fußmarsch um den Block zu ersparen. Dafür wäre er ihr sicher dankbar.

Der Mittagsansturm hatte inzwischen nachgelassen, und sie winkte Colin im Vorbeigehen zu. Aus dem hinteren Teil der VIP-Lounge schallte ein tiefes Männerlachen, und erst als Chelsea Mark erblickte, wurde ihr klar, dass der Heiterkeitsausbruch von ihm kam. Donda saß, eine Hand auf seinem Knie, auf der Kante des roten Sofas, unterhielt sich angeregt mit ihm und gestikulierte heftig mit der anderen Hand. Auf dem Tisch vor ihnen standen diverse leere Vorspeisentellerchen und Gläser. Chelsea zog ihren BlackBerry hervor und gab vor, einen Terminkalender zu konsultieren. »Wir schaffen es gerade noch, Sie rechtzeitig zu Ihrem nächsten Termin zu bringen«, improvisierte sie. Promis liebten es, begehrt zu wirken. Als wären sie stets auf dem Sprung zu etwas Wichtigerem und Besseren. Was meist nicht ganz der Wahrheit entsprach.

»Nur noch ein paar Fragen«, flötete Donda.

Chelsea hob den Blick zu Mark. Er hatte die Stirn gerunzelt, als spräche sie irgendein Kauderwelsch. Wahrscheinlich verwirrte ihn die kleine Flunkerei. Schließlich hatte er noch nie eine persönliche Assistentin gehabt und war mit ihren Arbeitsmethoden und ihrem Leistungskatalog nicht vertraut. Doch schon bald würde er ein Loblied auf sie singen. »Der Wagen parkt in der zweiten Reihe, aber wenn Sie noch Zeit brauchen, komme ich später wieder.«

»Ich glaube, wir sind hier fertig.« Er griff nach seinem Stock.

»Danke für das Interview, Mark.« Donda ließ die Hand auf seinem Bein noch ein paar Zentimeter höher wandern, und Chelsea fragte sich, ob das für Sports Illustrated-Reporterinnen normales Prozedere war. Mit Sicherheit nicht. »Wenn ich noch Fragen habe, melde ich mich.«

Mit Hilfe der gesunden Hand stemmte er sich auf der Armlehne des Sofas hoch und stand auf. Er schnappte vor Schmerz nach Luft und biss die Zähne zusammen, und Chelsea fragte sich, wann er zum letzten Mal seine Medikamente genommen hatte. Wenn es am Morgen gewesen war, musste sie ihn schnell nach Hause schaffen. Obwohl er ganz bestimmt was dabeihatte. Doch als sie durch die Lounge liefen, waren seine Schritte einen Tick langsamer und gemessener als noch vor einer Stunde.

»Mach’s gut, Schätzchen«, rief Colin ihr nach. »Komm mal wieder, wenn du mehr Zeit hast.«

Sie ließ ein Lächeln aufblitzen. » Tschüs, Colin. Schufte nicht zu viel.«

Als sie ins Freie traten, fragte Mark sarkastisch: »Ihr Freund?«

»Ich bin erst seit knapp einer Woche in Seattle. Nicht annähernd lang genug, um einen Freund zu finden.« Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und lief zum Mercedes, der wie angekündigt in der zweiten Reihe parkte. »Geben Sie mir noch ein paar Tage«, witzelte sie, während sie ihm die Tür öffnete und mit Blick auf den Straßenverkehr zur Fahrerseite rannte, bevor er sich deshalb beschweren konnte. »Oder lieber eine Woche«, fügte sie scherzhaft hinzu, während sie sich in den Wagen gleiten ließ.

Er warf ihr einen ironischen Blick zu und schloss seine Tür. »Doch so lange?«

Er mokierte sich über sie, aber das war ihr egal. »Einen Mann zum Ausgehen zu finden ist kein Problem. Ein fester Freund braucht mehr Zeit«, erklärte sie geduldig, während sie das Warnblinklicht ausschaltete. »Heiße Typen wie Colin gibt es wie Sand am Meer. Kerle, die in Jeans und Muskelshirt eine gute Figur machen. Die sind amüsant, aber für was Festes nicht geeignet.« Sie schnallte sich an.

»Dann ist der arme Colin von Ihrer Liste gestrichen?« »Nee, ausgehen würde ich mit ihm.« Sie zuckte mit den Achseln. »Er findet mich frech.«

»Das ist eine Bezeichnung für Sie.« Er zog seine Sonnenbrille vom Kragen seines T-Shirts. »Eine andere ist Pitbull.«

»Ja.« Sie schaltete das Automatikgetriebe auf »Drive« und fuhr los. »Aber ich bin Ihr Pitbull.«

»Ich Glückspilz.« Er setzte die Brille auf und schnallte sich ebenfalls an.

Das klang, als meinte er es nicht so, aber das würde er schon noch. Nach einem Blick auf das Navi fuhr sie weiter nach Nordosten. »Haben Sie schon die erste Seite des Sportteils in der Seattle Times gesehen?«

Er wandte sich ab und sah aus dem Beifahrerfenster. »Leider nein.«

Was sie ziemlich erstaunlich fand, da er noch bis vor sechs Monaten Kapitän der Chinooks gewesen war. »Die Hälfte der Seite wird von einem Foto eingenommen, auf dem ein paar Typen irgendwo auf einer Yacht rumstehen und einer aus dem Stanley-Cup Bier auf Frauen in Bikinis gießt.«

Keine Reaktion. Vielleicht hatte er zu große Schmerzen. Sie hatte sich mal bei einem Sturz von einem Tisch das Steißbein gebrochen. Damals hatte sie einen Cherry Bomb zu viel intus gehabt und war überzeugt davon gewesen, eine Art exotische Bauchtänzerin zu sein. Was absurd war, da sie nie Bauchtanzunterricht genommen hatte und ungefähr so gut tanzte, wie sie sang. Am nächsten Morgen hatte ihr Steißbein so höllisch weh getan, dass sie sich nur noch unter Flüchen bewegen konnte. Deshalb konnte sie Marks Stimmung irgendwie nachempfinden. »Zuerst war ich ziemlich entsetzt, aber Jules hat mir erklärt, dass es in Ordnung ist und sogar erlaubt. Alle in der Mannschaft kriegen den Pokal für einen Tag und dürfen damit machen, was sie wollen. In angemessenem Rahmen natürlich. Es gibt Regeln. Auch wenn ich die ganz schön lax finde.« Sie warf einen Blick auf das Navi und bog leicht nach rechts ab. »Aber vermutlich wissen Sie das alles schon.«

»Ja. Das weiß ich schon.«

»Also, an welchem Tag wollen Sie den Stanley-Cup haben? Sagen Sie mir nur Bescheid, dann regele ich das.«

»Ich will den Scheißpokal nicht«, antwortete er ohne jede Gefühlsregung.

Sie warf einen irritierten Blick auf seinen dunklen Hinterkopf. »Sie machen Witze! Warum? Jules sagt, Sie hatten großen Anteil daran, dass die Mannschaft es bis ins Endspiel geschafft hat.«

»Wer zum Teufel ist Jules?«

»Julian Garcia. Er ist Mrs Duffys Assistent. So wie ich Ihre Assistentin bin. Nur, dass Jules eine Menge über Eishockey weiß und ich so gut wie nichts.« Sie zuckte mit den Achseln. »Jules sagt, Sie haben mehr Anerkennung für den Aufbau der Mannschaft verdient als jeder andere.« Okay, vielleicht übertrieb sie ein kleines bisschen. Aber Promis Zucker in den Hintern zu blasen gehörte zu ihrem Job. In diesem Sinne setzte sie noch einen drauf. »Mehr als Ty Savage.«

»Den Namen dieses Arschlochs will ich nicht hören.«

Na schön. Da klang aber jemand verbittert. »Sie haben sich den Pokal-Tag genauso verdient wie die anderen. Vielleicht sogar noch mehr, weil Sie der Kapitän waren und weil Sie …«

»Ich muss auf dem Heimweg bei einer Apotheke haltmachen«, unterbrach er sie rüde und deutete nach links. »Da ist ein Bartell Drugstore.«

Sie fuhr langsamer, bretterte über drei Spuren und hielt auf dem Parkplatz.

»Himmelherrgott! Sie bringen uns noch um.«

»Sie wollten zu Bartell.«

»Ja, aber ich dachte, Sie würden an der Ampel wenden wie jeder normale Mensch.«

»Ich bin ein normaler Mensch.« Sie parkte direkt vor dem Eingang und warf einen Blick auf ihr Spiegelbild in seinen Sonnenbrillengläsern. Er biss die Zähne zusammen, als hätte sie etwas falsch gemacht. So scharf hatte sie die anderen Wagen nun auch wieder nicht geschnitten, und schließlich wusste jeder, dass knapp daneben auch vorbei war. Sie erinnerte sich ziemlich deutlich, diese Regel in der Fahrschule gelernt zu haben. »Ich dachte, Sie wollten vielleicht ein Rezept einlösen. Und zwar sofort!«

Er zog seine Geldbörse aus der Gesäßtasche. »Ich lasse mir meine Medikamente ins Haus liefern.« Er nahm zwei Zwanziger heraus und reichte sie ihr.

Das hieß wohl, dass sie allein reingehen sollte. Was okay war. Wenn er aus dem Wagen steigen musste, würde es viel länger dauern. »Was brauchen Sie denn? Zahnpasta? Deodorant? Hämorrhoidensalbe?«

»Eine Schachtel Kondome.«

Sie schloss entsetzt die Augen und schlug im Geiste mit dem Kopf aufs Lenkrad. Zehntausend Dollar. Zehntausend Dollar. »Sind Sie auch sicher, dass Sie sich die nicht selbst holen wollen?«

Er schüttelte den Kopf und lächelte. Im Dunkel des Mercedes sahen seine geraden weißen Zähne ungewöhnlich weiß aus. »Wie Sie mich ständig erinnern, sind Sie meine Assistentin. Sie Glückspilz.«

Kondome zu kaufen war superpeinlich. Noch schlimmer als Maxi-Binden und nur unwesentlich besser, als für eine gewisse junge Schauspielerin aus einer bekannten Sitcom das allmonatliche Valtrex-Rezept einzulösen. Gegen Herpes-Viren. »Welche Größe?«

»XXL. Gerippt.«

XXL? Na klar brauchte er XXL. Schließlich war er auch ein Riesenwichser. Zum hundertsten Mal an jenem Tag zwang sie sich zu einem Lächeln und sah ihn freundlich an. »Noch etwas?«

»Von diesem KY-Gleitgel mit Wärmeeffekt und einen Vibrationsring. Und achten Sie drauf, dass es ein großer ist.« Er hob eine Hüfte an und schob die Geldbörse zurück in die Gesäßtasche. »Er darf nicht zu eng sein, sonst schnürt er mir das Blut ab.«

»Nein. Das wollen wir ja nicht.« Das war das längste Gespräch, das sie bisher geführt hatten, und dann auch noch über die Blutzufuhr seines besten Stücks. Sie hatte fast Angst zu fragen. »Ist das alles?«

»Eine Tüte Red Vines.« Nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: »Vielleicht doch lieber auch noch eine Packung Tic Tac.«

Ja, denn Gott bewahre, dass sein Atem nicht frisch und minzig wäre.

 

Als Mark endlich zu Hause war, pochte der Schmerz in seinen Knochen, und die Muskeln taten ihm weh. Seine kleine Assistentin war er zum Glück schon nach wenigen Minuten losgeworden; wahrscheinlich war sie heilfroh, endlich gehen zu können. Mit etwas Glück käme sie auch nicht wieder. Wenn ihre Miene nach dem Kondomkauf irgendwelche Rückschlüsse erlaubte, war sie jetzt schon dabei, mit Feuereifer die Stellenanzeigen auf Craigslist zu studieren und Vorstellungstermine zu vereinbaren. Sie zu Bartell zu schicken war verdammt komisch gewesen. Eine brillante Eingebung. Geistesgegenwärtig.

Mark schluckte sechs Vicodin direkt aus dem Plastikbehälter, schnappte sich seine Tüte Red Vines und begab sich in das Zimmer im hinteren Teil des Hauses, das der Grundstücksmakler »Freizeitraum« genannt hatte. Er nahm die Fernbedienung zu dem 60-Zoll-Flachbildschirmfernseher in die Hand und ließ sich auf der großen Lederchaiselongue nieder, die Chrissy irgendwo aufgetrieben hatte. Die meisten anderen Möbel, die sie gekauft hatte, waren schon längst über die Wupper, aber die Chaiselongue hatte er behalten, weil sie groß genug für ihn und bequem war.

Mit dem Daumen zappte er lustlos durch die Kanäle. Er hatte einen Termin beim Arzt gehabt, einen beim Frisör, und ein einstündiges Interview gegeben. Und obwohl es noch nicht mal drei war, war er platt. Vor dem Unfall war er jeden Tag acht Kilometer gelaufen und hatte Gewichte gestemmt, und das alles, noch bevor er zum Training aufs Eis ging. Er war jetzt achtunddreißig und fühlte sich wie achtundsiebzig.

Auf dem Bildschirm flimmerte Dr. Phil auf, und Mark hielt inne und sah zu, wie der Klugscheißer einen Typen zur Sau machte, weil der seine Frau zur Sau machte. Mark riss seine Red Vines auf und zog ein paar Lakritz-Spiralen aus der Tüte. Solange er denken konnte, hatte er rote Lakritze geliebt. Sie erinnerte ihn an die Sonntagsmatineen im Heights Filmtheater in Minneapolis. Seine Großmutter war ein großer Kinofan und hatte ihn früher mit Red Vines und Limonade bestochen. Er würde es zwar nie zugeben, aber in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren hatte er ganz schön viele Frauenfilme gesehen. Alles von Kramer gegen Kramer bis hin zu Das darf man nur als Erwachsener. Seine Oma und er hatten immer die Sonntagsmatineen besucht, weil er samstags normalerweise Eishockeyspiele hatte, und außerdem war an Sonntagen die Gefahr geringer, dass seine Freunde ihn dabei ertappten, wie er in einen rührseligen Weiberfilm ging. Derweil arbeitete sein Dad normalerweise in einem seiner zwei Nebenjobs, um den Unterhalt für seine Großmutter und ihn zu sichern und dafür zu sorgen, dass Mark immer die besten Eishockeyschlittschuhe und die beste Ausrüstung bekam. Einer der schönsten Tage in Marks Leben war der Tag gewesen, an dem er seinen ersten millionenschweren Vertrag unterschrieb und seinem Dad so viel Geld geben konnte, dass der alte Mann nicht mehr zu arbeiten brauchte.

Nachdenklich biss Mark ein Stück Lakritze ab und kaute. Seine Mutter hatte er nicht gekannt. Sie war noch vor seinem dritten Geburtstag abgehauen und nur wenige Jahre später Tausende von Meilen entfernt bei einem Autounfall in Florida ums Leben gekommen. Er hatte nur noch vage Erinnerungen an sie, verblasster als die wenigen Postkarten, die sie ihm geschickt hatte. Sie schrieb ihm immer, dass sie ihn über alles liebte, doch er hatte sich nicht zum Narren halten lassen. Sie hatte Drogen mehr geliebt als ihn. Ihr Mann und ihr Sohn hatten ihr nicht genügt, und sie hatte Crack ihrer Familie vorgezogen. Sogar ihrem Leben, was einer der Gründe war, warum er nie in Versuchung geraten war, selbst Drogen zu nehmen.

Bis jetzt jedenfalls. Klar, er war nicht süchtig. Noch nicht, aber er konnte jetzt besser nachvollziehen, wie leicht es so weit kommen konnte. Wie Drogen Schmerzen lindern und das Leben erträglich machen konnten. Wie leicht es wäre, die Kontrolle zu verlieren und richtiggehend abhängig zu werden. Aber so weit war er noch nicht.

Er hatte den ganzen Tag gegen die Schmerzen angekämpft, und als das Vicodin jetzt langsam wirkte, spürte er, wie seine Muskeln sich lockerten. Er entspannte sich und dachte an das Foto im Sportteil, von dem ihm seine kleine Assistentin erzählt hatte. Es klang, als hätten die Jungs einen Riesenspaß gehabt, und wenn er den Pokal gemeinsam mit ihnen gewonnen hätte, wäre er wahrscheinlich mit von der Partie gewesen. Aber das hatte er nicht, und er wollte nicht aus dem Pokal trinken und feiern, als wäre es so. Dass man ihm trotzdem einen Tag mit dem Pokal schenken wollte, kam ihm vor wie eine Mitleidsgeste.

Klar, er kannte diverse Spieler, die aus dem ein oder anderen Grund nicht am Pokalendspiel teilgenommen und trotzdem mitgefeiert hatten. Prima. Schön für sie. Aber Mark empfand nicht so. Den Pokal anzusehen, ihn zu berühren und daraus zu trinken wäre für ihn eine große, glänzende Erinnerung an alles, was er verloren hatte. Vielleicht konnte er seine Bitterkeit eines Tages überwinden, aber heute noch nicht. Und morgen sah auch nicht sehr gut aus.

Die Reporterin von Sports Illustrated hatte ihn nach seinen Zukunftsplänen gefragt. Er hatte geantwortet, dass er jeden Tag so nahm, wie er kam. Was auch stimmte. Was er ihr nicht gesagt hatte, war, dass er keine Zukunft für sich sah. Sein Leben war ein großes leeres Nichts.

Vor dem Unfall hatte er sich Gedanken über seinen Rückzug aus dem Sport gemacht. Klar hatte er das. Er hatte genug Kohle, um für den Rest seines Lebens nicht mehr arbeiten zu müssen, aber er hatte keineswegs vorgehabt, nichts zu tun. Er hatte geplant, irgendwo als Offensiv-Coach zu arbeiten. Das entsprach seinen Fähigkeiten. Im Geiste Spielzüge vorauszusehen, noch bevor sie ausgeführt wurden, das war seine Stärke. Gassen durchs Gemenge zu finden und Tore zu schießen war sein Talent gewesen, das ihn zu einem der zehn besten Torjäger der letzten sechs Jahre gemacht hatte und das er an seine Mannschaftskameraden hatte weitergeben wollen. Aber um Offensiv-Coach zu sein, und im Grunde auch Defensiv-Coach, musste man Schlittschuhlaufen können. Da führte kein Weg dran vorbei, und Mark konnte nicht mal dreißig Meter ohne Schmerzen gehen.

Er aß noch ein paar Lakritzspiralen und warf die Tüte auf den Tisch neben der Chaiselongue. Als ein Burger-King-Werbespot über den Bildschirm flimmerte, schloss Mark die Augen, und bevor Dr. Phil weiterlief, sank er, die Fernbedienung noch in der Hand, mit Hilfe seiner Schmerzmittel in einen friedlichen Schlaf. Wie meist in seinen Träumen war er wieder in der Key Arena und focht in den Ecken Zweikämpfe aus. Wie immer hörte er das Geschrei der Zuschauer, den Aufprall der Graphitschläger auf dem Eis und das Schsch messerscharfer Kufen. Er roch Schweiß und Leder und den einzigartigen Duft des Eises. Der kalte Fahrtwind strich ihm über Hals und Wangen, während Tausende von Augenpaaren ihn beobachteten. Die gespannte Erwartung und Begeisterung in den Gesichtern der Zuschauer nahm er nur verschwommen wahr, während er vorbeisauste. Adrenalin brannte in seiner Kehle, während sein Herz heftig pumpte und seine Beine über das Eis hämmerten. Er schaute auf den Puck auf der Schaufel seines Schlägers, und als er wieder hochblickte, sah er sie. Ein klar erkennbares Gesicht in einer schemenhaften Menge. Ihre großen blauen Augen erwiderten seinen Blick, ihr zweifarbiges Haar reflektierte das Licht, und er drehte die Schlittschuhe abrupt zur Seite und stoppte. Alles um ihn herum schwand, während er sie weiter durch die Plexiglas-Einfriedung fixierte.

»Warum sind Sie hier?«, fragte er, mehr als nur verärgert, dass sie aufgekreuzt war und das Spiel zum Erliegen gebracht hatte.

Sie lächelte – das Verziehen ihrer vollen Lippen, das er schon nach einem Tag in ihrer Nähe so gut kannte –, antwortete aber nicht. Er glitt näher zur Plexiglas-Bande und ließ den Schläger fallen. »Was wollen Sie?«

»Dir geben, was du brauchst.«

Es gab so viel, was er brauchte. So viel. Beginnend mit dem Wunsch, etwas anderes zu spüren als den ständigen dumpfen Schmerz und die Leere in seinem Leben.

»Du Glückspilz«, flüsterte sie.

Mark riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Er setzte sich so ruckartig auf, dass die Fernbedienung zu Boden fiel. Ihm drehte sich alles, als er unten links auf dem Fernsehbildschirm die Uhrzeit ablas. Er hatte eine Stunde geschlafen. Herrgott, sie hatte schon von seinem Leben Besitz ergriffen. Und jetzt auch noch von seinen Träumen. Warum war in der gesichtslosen Menge ausgerechnet sie ganz klar zu erkennen gewesen?

Er hob seinen Stock vom Boden auf. Gott sei Dank war es kein erotischer Traum gewesen. Er wollte nicht mal dran denken, wegen seiner Assistentin einen Steifen zu kriegen. Nicht mal im Traum.

Die Aluminiumschiene an seiner Hand juckte. Er riss den Klettverschluss auf und warf das Ding beiseite. Dann stand er langsam auf und verließ den Raum. Warum ausgerechnet sie? Süß war sie schon, seine kleine Assistentin. Und bei Gott, sie hatte einen Körper, der den Verkehr zum Erliegen bringen konnte. Aber verdammt nervtötend war sie auch. Die Gummispitze seines Stocks klopfte auf dem Steinboden, während seine Flip-Flops gegen seine Fersen klatschten. Da er sich ausgeruht hatte und seine Schmerzen ein wenig betäubt waren, lief er jetzt relativ mühelos.

Auf der Granitinsel in der Küche lag die Bartell-Tüte mit den Kondomen, dem Gleitgel und dem Vibrationsring. Er wusste nicht, was zum Henker er mit dem Zeug anstellen sollte. Schließlich sah es nicht so aus, als würde er es in unmittelbarer Zukunft benutzen. Er zog eine Schublade auf und verstaute die Sachen darin.

Was er mit seiner Assistentin anstellen sollte, wusste er genauso wenig. Jammerschade, dass er sie nicht auch in einer Schublade verstauen und darin einsperren konnte. Er musste daran denken, wie sie seinen neuen Mercedes fuhr, als wäre sie allein auf der Straße. Er sah ihr Gesicht vor sich, als sie sich zum ersten Mal auf den Fahrersitz hatte gleiten lassen und dabei ausgesehen hatte, als ob sie gleich käme. Unter anderen Umständen hätte er sie vielleicht auf seinen Schoß gezogen. Unter anderen Umständen hätte er vielleicht gefunden, dass die Art und Weise, wie sie seine Lederausstattung streichelte, so ziemlich das Heißeste war, was er je gesehen hatte. Doch wie die Dinge lagen, war es nur noch ein Faktor mehr gewesen, der ihn genervt hatte.

Dieses Weib stünde morgen bestimmt wieder auf der Matte. Sein anfänglicher Optimismus schwand. Aus Gründen, die er nicht mal annähernd verstand, schien sie wirklich seine Assistentin sein zu wollen. Vielleicht war sie nicht ganz dicht. Nein, sie war bestimmt nicht ganz dicht. Warum sonst sollte sie Gleitgel und Kondome für ihn kaufen, obwohl es ihr eindeutig gegen den Strich ging?

 

Für zehntausend Dollar ließe Chelsea sich eine Menge bieten. »Er hat mich genötigt, ihm Kondome zu kaufen«, informierte sie ihre Schwester, die sie nur von hinten sah. »Und Wärme-Gleitgel.«

Bo warf ihr einen Blick über die Schulter zu und griff nach einer Zwei-Liter-Packung Milch. »Tja, er ist eben Eishockeyspieler«, meinte sie, als sei das Erklärung und Entschuldigung zugleich. »Und er hatte oft wechselnde Freundinnen. Wenigstens schützt er sich.«

»Und einen Vibrationsring.«

»Was ist das denn?«

»Ein Schwanzring, der vibriert.«

Verstohlen sah sich Bo in der Milchabteilung des »Safeway«-Supermarkts um, ob ihnen jemand zuhörte, und stellte die Milch in den Einkaufswagen. »Gibt’s so was auch?«

»Anscheinend, und falls du je einen brauchst, im Bartell Drugstore gibt’s ihn in drei verschiedenen Ausführungen. In Duo, Magnum und Intense Pleasure. Das Duo-Modell verfügt über zwei Lustknöpfe, einen auf jeder Seite. Das Magnum-Modell erklärt sich von selbst, und das Modell ›Intensive Pleasure‹ vibriert schneller, für, na, du weißt schon, intensivere Lust.«

»Du hast dir alle Packungsaufschriften durchgelesen?«

»Das ist mein Job.« Obwohl sie die Produktbeschreibungen mehr aus Neugier als aus sonstigen Gründen studiert hatte. Schließlich war sie keine Vibrationsringkoryphäe.

»Hast du schon mal …« – Bo senkte die Stimme und sah sich noch einmal um – »einen benutzt?«

»Nein.« Würde sie aber vielleicht, wenn sie je wieder einen Freund hätte. Dieser Kondomkauf heute hatte ihr schmerzlich bewusst gemacht, dass ihre letzte Beziehung schon sieben Monate zurücklag.

Und weil Bo ihrer Zwillingsschwester in Neugier um nichts nachstand, fragte sie: »Und welchen hast du für Mark gekauft?«

»Ich musste ihm das Magnum-Modell kaufen, weil er sonst Angst hat, sich die Blutzufuhr abzuschnüren.«

Bo zog die Augenbrauen bis zum Anschlag hoch. »Magnum? Das ist beängstigend.«

Chelsea schob den Einkaufswagen am Kühlregal weiter. »Hast du schon mal einen gesehen?«

»Nicht in natura.« Bo schüttelte den Kopf. »Nur in den Pornos, die David sich immer reingezogen hat«, fügte sie hinzu und bezog sich auf einen ihrer Exfreunde. »Glaubst du, er hat echt die Magnum-Ausstattung, oder wollte er dich nur schocken?«

»Keine Ahnung, und ich will auch gar nicht drüber nachdenken. Es ist zu verstörend.«

»Allerdings«, stimmte ihre Schwester sarkastisch zu. »Immerhin musst du morgen für ihn arbeiten, und das ist das Letzte, woran du denken willst, wenn du sein Haus betrittst. « Sie liefen weiter durch die Milchprodukte-Abteilung, und Bo konsultierte die Einkaufsliste. »Ich weiß ja, dass Mark schlecht zu Fuß ist, aber dich zum Kondomkauf und so weiter zu zwingen war echt daneben.«

»Fand ich auch, doch ich bin Schlimmeres gewöhnt.«

Bo griff nach dem Einkaufswagen und hielt ihn vor der Butter an. Sie zog ihre Stirn vor Sorge in Falten. »Ich trau mich ja fast nicht zu fragen, aber was zum Beispiel?«

»Na ja, Designer-Kleider mit Schweißflecken unter den Achseln in Läden wie Saks zurückzubringen war immer peinlich. Rezepte für diverse Geschlechtskrankheiten einzulösen war beschämend, und für jemanden mit dem Freund oder der Freundin Schluss zu machen war traurig.«

»Oh.« Bo seufzte und griff nach einer Packung Hüttenkäse.

Ihre Schwester wirkte so erleichtert, dass Chelsea einfach nachfragen musste: »Was hattest du denn für Horrorvorstellungen? Dass ich in den Hollywood Hills für eine Puffmutter gearbeitet hab?«

»Nein.« Sie liefen unter der Neonbeleuchtung weiter. »Ich hab nur gehofft, dass du nie was Illegales tun musstest.«

Es gab Illegales, und es gab Illegales. Sie hatte meist nur ganz normales illegales Zeug gemacht. Wie bei Rot über die Ampel fahren. Das Tempolimit überschreiten. Auf Partys Marihuana rauchen. »Brauchen wir Butter?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln, bevor ihre Schwester nachhaken konnte.

Bo schüttelte den Kopf und strich Milch und Hüttenkäse von der Liste. »Jules ist nach der Mittagspause nicht mehr aufgetaucht.«

»Hm.« Chelsea nahm sich ein paar Becher fettfreien Kirschjogurt.

»War er mit dir im Spitfire?«

»Nein.« Sie ließ den Joghurt in die Karre fallen. »Willst du Käsestreifen? Die haben wir früher geliebt.«

»Ich will keine.« Bo ging zu den Eiern. »Was hältst du von Jules?«

»Ich glaube, er trainiert hart für seine Figur.« Sie schnappte sich noch Limettenjogurt. »Daran ist nichts auszusetzen.«

»Außer, dass er sehr von sich eingenommen ist.«

Den Eindruck hatte Chelsea nicht. »Wenn man hart für seinen Körper trainiert, hat man auch das Recht, damit anzugeben. Ich würde das jedenfalls, wenn ich trainieren würde. Aber ich mach’s nicht, weil ich mich nur ungern schinde.«

»Unverschämt ist er auch.« Bo klappte den Eierkarton auf und prüfte, ob auch kein Ei angeknackst war. »Und unausstehlich. «

Eine gestresste Mutter, aus deren Einkaufswagen sich drei Gören lehnten, karrte vorbei, und Chelsea sah ihre Schwester an. »Find ich nicht. Vielleicht ein bisschen zynisch.«

Bo warf ihr einen ungläubigen Blick zu und schloss den Karton wieder. »Warum hältst du ihn für zynisch?«

»Weil er was darüber gesagt hat, dass Liebe allein nicht ausreicht. Wahrscheinlich ist ihm schon ein paar Mal das Herz gebrochen worden.« Sie beugte sich vor und stützte sich mit den Unterarmen auf den Griff des Wagens. »Aber geht uns das nicht allen so?«

»Er war mal übergewichtig, und ich glaube, er sieht sich noch immer als das dicke Kind, das auf dem Schulhof gehänselt wurde.«

»Du machst Witze. Er hat kein Gramm Fett zu viel«, schwärmte Chelsea, während Bo die Eier vorsichtshalber in das vordere Fach zu ihren Handtaschen stellte. »Er hat einen muskulösen Körper und wunderschöne grüne Augen. Du solltest mit ihm ausgehen.«

»Mit Jules?« Bo stieß ein Würgegeräusch aus.

»Doch. Er ist unheimlich süß, und ihr zwei habt viel gemeinsam. «

»Was steht morgen auf deinem Programm?«, fragte ihre Schwester, um das Thema zu wechseln.

»Ich weiß nicht so recht.« Chelsea durchschaute das Manöver und ließ es durchgehen. »Ich hab noch nie für jemanden gearbeitet, der nicht eine Auftragsliste hat, die so lang ist wie mein Arm, und das Unmögliche von mir verlangt. Mark hat was in der Richtung erwähnt, dass er aus Medina wegziehen will. Also sehe ich mich vielleicht mal nach Immobilien für ihn um. Sein Haus ist für eine Person sowieso viel zu groß.«

»Die meisten Sportler hier in Seattle wohnen in der Innenstadt, in der Mercer Street oder in Newport Hills.« Sie schob den Wagen zur Fleischabteilung. »Wenigstens glaube ich, dass viele Spieler der Seahawks und Chinooks noch immer in Newport Hills leben. Deshalb wird es auch Jock Rock, der Sportlerfelsen, genannt.«

Chelsea nahm sich vor, die Immobilienverzeichnisse dieser Viertel unter die Lupe zu nehmen. »Welchen Film ziehen wir uns heute Abend rein?«

»Wie wär’s mit irgendwas mit Aliens?«, schlug Bo vor und schnappte sich ein Paket mit Hamburgern.

Chelsea griff nach einer Plastiktüte über dem Hühnerfleisch. »Etwas, das gar nicht abgedreht ist, wie Independence Day? Oder nur ein bisschen, wie Men in Black? Oder ganz dick aufgetragen, wie in Critters – Sie sind da!

»Ganz dick aufgetragen, wie bei Mars Attacks!«

»Gute Entscheidung. Ein bisschen schwarze Komödie mit einer Prise politische Satire, alles verpackt in einer B-Movie-Parodie. Man muss Tim Burton einfach lieben.«

»Du wirst doch nicht während des ganzen Films die Dialoge mitsprechen, oder?« Bo seufzte. »Wenn du das machst, würde ich dich am liebsten umbringen.«

Chelsea schnappte sich eine Packung mit Hähnchenschenkeln. In L.A. hatten sie und ihre Freundinnen immer die Dialoge mitgesprochen. Das war das Beste am ganzen Film gewesen. Für sie zumindest. »Du meinst wie: ›Ihr lieben kleinen Freunde, wieso können wir nicht einfach alle miteinander glücklich sein?‹«