EINS
Nur weil man Schwein hatte, noch am Leben zu sein, hieß das noch lange nicht, dass man darüber glücklich sein musste.
»Gestern Abend hat Ihre Eishockeymannschaft ohne Sie den Stanley-Cup gewonnen. Wie fühlen Sie sich dabei?«
Mark Bressler, Ex-NHL-Superstar und in jeder Hinsicht ein knallharter Typ, ließ den Blick über die Mikrofonreihe und die Wand aus Kameras zu den etwa zwölf Reportern schweifen, die sich im Presseraum der Key Arena drängten. Er hatte in den vergangenen acht Jahren für Seattle gespielt und die letzten sechs davon als Mannschaftskapitän brilliert. Fast sein Leben lang hatte er sich geschunden, um den Stanley-Cup eines Tages in die Luft recken zu können und das kalte Silber in seinen Händen zu spüren. Er hatte sich dem Eishockey mit Leib und Seele verschrieben, seit er sein erstes Paar Schlittschuhe zugeschnürt hatte. Er hatte Blut, Schweiß und Tränen auf dem Eis gelassen und sich mehr Knochenbrüche zugezogen, als er zählen konnte. Eishockey als Profisport war sein Leben. Alles, was ihn ausmachte, und gestern Abend hatte sein Team ohne ihn gewonnen. Vom Wohnzimmersofa aus hatte er zusehen müssen, wie die elenden Mistkerle auf der Eisfläche mit seinem Pokal ihre Runden drehten. Was zum Henker glaubten die, wie er sich dabei fühlte? »Natürlich wünschte ich, ich hätte dabei sein können, aber ich freue mich riesig für die Jungs. Keine Frage.«
»Nach Ihrem Unfall vor sechs Monaten wurde der Mann engagiert, der jetzt neben Ihnen sitzt, um an Ihre Stelle zu treten«, meinte ein Reporter und nahm Bezug auf den erfahrenen Eishockeyspieler Ty Savage, der Mark als Kapitän der Chinooks nachgefolgt war. »Das war damals eine kontroverse Entscheidung. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie hörten, dass Savage Sie ersetzen würde?«
Es war kein Geheimnis, dass Savage und er sich nicht leiden konnten. Soweit Mark sich erinnerte, war er dem Mann zum letzten Mal so nahe gewesen, als er in der regulären Saison gegen ihn das Bully ausgeführt hatte. Damals hatte er Savage als überschätztes primadonnenhaftes Arschloch beschimpft und Savage ihn als zweitklassige Möchtegern-Möse. Ein ganz normaler Arbeitstag. »Als Savage unter Vertrag genommen wurde, lag ich im Koma. Ich glaube nicht, dass mir da irgendwas ›durch den Kopf‹ ging. Jedenfalls nichts, woran ich mich erinnern würde.«
»Und was denken Sie jetzt?«
Dass Savage ein überschätztes primadonnenhaftes Arschloch ist. »Dass das Management ein echtes Gewinnerteam zusammengestellt hat. Die Jungs haben hart trainiert und alles gegeben, um den Pokal nach Seattle zu holen. Zu Beginn der Play-offs lagen wir bei achtundfünfzig Punkten und vierundzwanzig Toren. Ich muss nicht extra darauf hinweisen, dass das beeindruckende Statistiken sind.« Er schwieg und überlegte sich den nächsten Satz gut. »Es versteht sich von selbst, dass die Chinooks von Glück sagen konnten, dass Savage frei und für den Transfer offen war.« Dass er ihm Dankbarkeit schuldete oder Savage für die Mannschaft der reinste Glücksfall gewesen war, käme ihm niemals über die Lippen.
Das überschätzte primadonnenhafte Arschloch lachte, und Mark fand den Kerl fast sympathisch. Aber nur fast.
Jetzt wandten sich die Reporter Ty zu. Während sie sich nach Savages überraschender Bekanntgabe, sich aus dem aktiven Sport zurückzuziehen, und nach seinen Zukunftsplänen erkundigten, senkte Mark den Blick auf seine Hand, die auf dem Tisch ruhte. Zwar hatte er die Schiene für die Pressekonferenz abgenommen, doch sein rechter Mittelfinger war so steif wie die Stahlstifte und die Nägel, mit denen er zu einem permanenten Stinkefinger zusammengeflickt war.
Sehr passend.
Nachdem die Reporter auch den Rest der Chinooks an dem langen Pressetisch mit Fragen bombardiert hatten, wandten sie sich wieder an Mark. »Planen Sie ein Comeback, Bressler?«, wollte ein Journalist wissen.
Mark blickte lächelnd auf, als würde diese Frage nicht Salz in seine tiefste Wunde streuen. Er sah dem Mann ins Gesicht und rief sich in Erinnerung, dass Jim – für einen Zeitungsfritzen – ganz okay und bisher immer fair gewesen war. Nur aus dem Grund reckte Mark nicht die rechte Hand hoch, um ihm seine Verachtung zu zeigen. »Die Ärzte sagen nein.« Obwohl es gar keiner Ärzte bedurft hatte, um ihm zu bestätigen, was er schon von dem Moment an gewusst hatte, als er auf der Intensivstation die Augen aufschlug. Der Unfall, der die Hälfte der Knochen in seinem Körper zertrümmert hatte, hatte sein Leben zerstört. Ein Comeback war ausgeschlossen. Selbst wenn er erst achtundzwanzig gewesen wäre statt achtunddreißig.
Geschäftsführer Darby Hogue trat vor. »In der Chinooks-Organisation wird es für Mark immer einen Platz geben.«
Als was? Er konnte nicht einmal die Eismaschine lenken. Aber es spielte auch keine Rolle. Wenn Mark nicht Eishockey spielen konnte, wollte er sich lieber ganz von der Eisbahn fernhalten.
Die Pressemeute widmete sich wieder dem Spiel vom Vorabend, und Mark lehnte sich zurück. Mit der gesunden Hand umfasste er den Griff seines Stocks, der an seinem Schenkel lehnte, und strich mit dem Daumen über das glatte Walnussholz. Schon an guten Tagen hasste Mark Pressekonferenzen. Und obwohl heute kein guter Tag war, saß er trotzdem hier, tief im Inneren der Key Arena, weil er nicht wie ein Spielverderber aussehen wollte. Wie ein Arsch, der nicht damit klarkam, seiner Mannschaft dabei zusehen zu müssen, wie sie ohne ihn die begehrteste Eishockeytrophäe errang. Außerdem hatte Faith Duffy ihn am Morgen angerufen und um sein Kommen gebeten, und es fiel ihm schwer, der Frau etwas abzuschlagen, die noch immer seine Rechnungen beglich.
In der nächsten halben Stunde beantwortete Mark mit Engelsgeduld Fragen und schaffte es sogar, über ein paar miese Witze zu lachen. Er wartete, bis auch der letzte Reporter aus dem Raum marschiert war, bevor er seinen Stockgriff fester umfasste und sich hochdrückte. Savage räumte ihm einen Stuhl aus dem Weg, und Mark murmelte ein Dankeschön. Es gelang ihm sogar, aufrichtig zu klingen, während er einen Fuß vor den anderen setzte und langsam den Raum durchquerte. Er fand sein gewohntes, gleichmäßiges Tempo und schaffte es bis zur Tür, bevor sich der erste stechende Schmerz in seiner rechten Hüfte festsetzte. Er hatte am Morgen keine Medikamente genommen, weil er nicht wollte, dass ihm irgendwas die Sinne vernebelte; deshalb zirkulierte in seinem Blutkreislauf nichts, das den Schmerz hätte lindern können.
Seine Teamkameraden klopften ihm auf den Rücken und versicherten ihm, wie sehr sie sich freuten, ihn zu sehen. Vielleicht meinten sie es auch so. Ihm war es völlig egal. Er musste hier raus, bevor er noch ins Straucheln geriet. Oder noch schlimmer, auf den Arsch fiel.
»Es ist schön, dich zu sehen.« Im Flur holte ihn Stürmer Daniel Holstrom ein.
Marks Oberschenkel krampfte so, dass ihm vor Schmerz der Schweiß auf der Stirn stand. »Gleichfalls.« In den vergangenen sechs Jahren hatte er Seite an Seite mit Daniel in der Angriffslinie gekämpft. Und Daniel als Rookie eingeführt. Das Letzte, was er wollte, war, vor dem Stromster oder sonst wem zusammenzubrechen.
»Ein paar von uns gehen gleich zu Floyd’s. Komm doch mit.«
»Ein andermal.«
»Wir ziehen heute Abend wahrscheinlich um die Häuser. Ich ruf dich an.«
Klar zogen sie um die Häuser. Schließlich hatten sie den Pokal gewonnen. »Ich hab schon was vor«, log er. »Aber wir treffen uns bald mal.«
Daniel blieb stehen. »Ich komm drauf zurück«, rief er Mark nach.
Mark nickte und atmete tief durch. Lieber Gott, dachte er, lass es mich noch bis zum Auto schaffen, bevor mein Körper schlappmacht.
Er glaubte schon, dass Gott ihn erhörte, als ihn am Ausgang eine kleine dunkelhaarige Frau einholte.
»Mr Bressler«, legte sie los und heftete sich ihm an die Fersen. »Ich bin Bo aus der PR-Abteilung.«
Sein Verstand mochte vor Schmerzen getrübt sein, aber er wusste, wer sie war. Die Jungs aus der Mannschaft nannten sie den Mini-Pitbull, kurz Mini-Pit, und das aus gutem Grund.
»Ich möchte mit Ihnen reden. Haben Sie ein paar Minuten? «
»Nein.« Er lief weiter. Setzte einen Fuß vor den anderen. Als er mit der schlimmen Hand nach der Tür griff, stieß Mini-Pit sie für ihn auf, und er hätte sie dafür knutschen können. Stattdessen murmelte er seinen Dank.
»Die Personalabteilung schickt Ihnen eine neue Betreuerin ins Haus. Sie kommt heute noch vorbei.«
Was hatte eine Betreuerin mit PR zu tun?
»Ich glaube, diese werden Sie mögen«, fuhr Bo fort, während sie ihm ins Freie folgte.
Eine leichte Sommerbrise kühlte den Schweiß auf Marks Stirn, doch die frische Luft half nicht, das Hämmern in seinem Kopf zu mildern und die Schmerzen in seinem Körper zu lindern. Am Straßenrand wartete ein schwarzer Lincoln auf ihn, und er verlangsamte seine Schritte.
»Sie kommt auf meine persönliche Empfehlung.«
Der Chauffeur stieg aus und öffnete ihm die hintere Beifahrertür. Mark ließ sich vorsichtig in den Wagen gleiten und biss die Zähne zusammen, so sehr schmerzte sein verkrampftes Bein.
»Wenn Sie ihr eine Chance geben könnten, wüsste ich es sehr zu schätzen«, rief Bo noch, als der Fahrer die Tür zuschlug und sich zurück zum vorderen Teil des Wagens begab.
Mark griff in seine Hosentasche und zog ein Röhrchen mit Schmerztabletten heraus. Mit einem Plopp öffnete er den Deckel, warf sechs Pillen ein und kaute. Wie Jose Cuervo war Vicodin pur nur was für Kenner.
Bo rief ihm noch etwas zu, als der Wagen in Richtung SR 520 losfuhr. Er hatte keinen Schimmer, warum die Personalabteilung ihm ständig neue Betreuerinnen auf den Hals hetzte. Er wusste nur, dass es was mit dem Nachsorgeprogramm der Organisation zu tun hatte, aber Mark brauchte kein Kindermädchen. Er verabscheute es, von anderen abhängig zu sein. Zum Teufel, er hasste es schon, auf den Fahrservice angewiesen zu sein, der ihn durch die Gegend kutschierte.
Er legte den Kopf zurück und atmete tief durch. Die ersten drei Betreuerinnen hatte er schon wenige Sekunden nach Dienstantritt gefeuert. Er hatte ihnen nahegelegt, aus seinem Haus zu verschwinden, und die Tür hinter ihnen zugeknallt. Danach hatte die Chinooks-Organisation ihn wissen lassen, dass die Pflegerinnen in ihrem Auftrag arbeiteten. Dass die Organisation nicht nur für ihr Gehalt, sondern auch für Marks Behandlungskosten aufkam, die nicht von der Versicherung abgedeckt waren. Was gewaltige Summen waren. Kurz gesagt, er durfte niemanden feuern. Aber das hieß natürlich nicht, dass er den Mädels nicht beim Kündigen unter die Arme greifen konnte. Die letzten zwei Betreuerinnen, die ihm geschickt worden waren, hatten es nicht mal eine Stunde ausgehalten, und er ging jede Wette ein, dass er die nächste in der Hälfte der Zeit rausekeln konnte.
Ihm fielen die Augen zu, und während der zwanzigminütigen Autofahrt nach Medina döste er. Im Traum blitzten Bilder durch sein müdes Hirn. Er beim Eishockeyspielen, die Wangen vom Fahrtwind gekühlt, der ihm das Trikot hochpeitschte. Er konnte das Eis riechen, das Adrenalin auf der Zunge schmecken; er war wieder der Mann, der er vor dem Unfall gewesen war. Ein richtiger Mann.
Das unmerkliche Wechseln des Lincoln auf die Abfahrtsspur weckte ihn, und wie immer erwachte er voller Schmerz und Enttäuschung. Er schlug die Augen auf und blickte durchs Fenster auf die von Bäumen gesäumten Straßen, die nach Geld und Überheblichkeit stanken. Er war fast daheim. In einem leeren Haus und einem Leben, das er nicht mehr wiedererkannte und hasste.
Landschaftsgärtner mähten und kanteten in Grüppchen die makellosen Rasenflächen in dem kleinen Seattler Vorort. Ein paar der reichsten Menschen der Welt lebten in Medina, doch Reichtum allein öffnete keine Türen und garantierte keinen Zutritt zu einem elitären Zirkel. Sehr zur Bestürzung seiner Exfrau. Christine hatte sich so verzweifelt gewünscht, der exklusiven Gruppe von Frauen anzugehören, die sich in ihren St. John- und Chanel-Kostümen im Country Club zum Lunch trafen. Die älteren, perfekt frisierten Damen und die jüngeren Gattinnen von Microsoft-Millionären, die sich in ihrem Snobismus suhlten. Egal, wie viel von Marks Kohle Chrissy für ihre guten Zwecke stiftete, sie ließen sie nie vergessen, dass sie aus einer Arbeiterfamilie in Kent stammte. Selbst darüber hätten sie vielleicht noch hinweggesehen, wenn ihr Mann seine Millionen als Geschäftsmann oder im Finanzwesen gescheffelt hätte. Aber Mark war Sportler, und das in keinem akzeptablen Sport wie Wasserpolo. Er spielte Eishockey!
In den Augen der Bewohner von Medina hätte er genauso gut mit Drogen dealen können. Ihm persönlich war es immer völlig egal gewesen, was die Leute von ihm hielten. Das war es noch immer, aber Chrissy hatte es kirre gemacht. Sie war dem Mammon derart verfallen und so überzeugt davon, man könnte für Geld alles kaufen, dass sie ihm die Schuld gegeben hatte, als sie das Einzige, was sie sich so verzweifelt wünschte, dafür doch nicht bekam. Klar, es gab da so einiges, was er in seiner Ehe falsch gemacht hatte oder hätte besser machen können, aber er hatte nicht vor, die Schuld dafür auf sich zu nehmen, dass sie nicht zu den Cocktail-Partys der Nachbarn eingeladen und im Country Club brüskiert wurde.
Als er an seinem fünften Hochzeitstag nach einer fünftägigen Reise nach Hause kam, war seine Frau weg. Sie hatte ihr ganzes Zeugs mitgenommen, ihm aber aufmerksamerweise ihr Hochzeitsalbum dagelassen, das auf der zentralen Kücheninsel aus Granit auf ihn wartete. Es war bei einem Foto von ihnen beiden aufgeschlagen, auf dem eine zauberhafte Chrissy in ihrem Vera-Wang-Kleid strahlte, während er im Armani-Smoking neben ihr stand. Das Küchenmesser in seinem Kopf hatte das Bild vom trauten Eheglück irgendwie verdorben. Für ihn jedenfalls.
Sollte man ihn ruhig einen Romantiker schimpfen.
Er wusste nach wie vor nicht so recht, was sie eigentlich so erbost hatte. Schließlich war er gar nicht oft genug zu Hause gewesen, um sie so richtig zu vergrätzen. Sie hatte ihn verlassen, weil er und sein Geld ihr nicht genügten. Sie hatte mehr gewollt und es weiter unten an der Straße gefunden, bei einem Sugar-Daddy, der fast doppelt so alt war wie sie. Die Tinte auf den Scheidungspapieren war kaum getrocknet, da war sie schon in ein Haus ein paar Straßen weiter gezogen, wo sie jetzt unweit von Bill Gates am Seeufer wohnte. Doch trotz der nobleren Adresse und des akzeptablen Ehemanns bezweifelte Mark, dass die Mädels im Country Club jetzt plötzlich netter zu ihr waren. Höflicher, ja. Netter, nein. Aber das machte Chrissy bestimmt nicht mal viel aus. Solange sie ihr Küsschen auf die Wange hauchten und ihr Komplimente über ihre Designer-Klamotten machten, war sie glücklich.
Als die Scheidung vor einem Jahr rechtsgültig geworden war, hatte Mark »Nichts wie weg aus Medina« ganz oben auf seine Prioritätenliste gesetzt. Gleich hinter dem Stanley-Cup-Gewinn. Doch Mark war kein Multitasking-Talent. Er machte immer schön eins nach dem anderen, dafür aber gründlich. Die Suche nach einem neuen Zuhause stand noch immer auf Platz zwei der Liste, nahm derzeit allerdings auf der Wichtigkeitsskala hinter »Drei Meter ohne Schmerzen gehen« nur den zweiten Rang ein.
Der Lincoln bog in Marks kreisrunde Einfahrt und hielt hinter einem ramponierten Honda CR-V mit kalifornischem Kennzeichen. Vermutlich die Betreuerin. Mark umklammerte seinen Stock und sah durchs Fenster zu der Frau, die auf seiner Verandatreppe hockte. Sie hatte eine große Sonnenbrille auf und trug eine Jacke in knalligem Orange.
Der Chauffeur kam zu ihm nach hinten und öffnete ihm die Tür. »Darf ich Ihnen heraushelfen, Mr Bressler?«
»Ich komme zurecht.« Als er aus dem Wagen stieg, krampfte seine Hüfte und die Muskeln schmerzten. »Danke. « Er gab dem Fahrer ein Trinkgeld und konzentrierte sich auf den Backsteinbürgersteig, der zu seiner Veranda führte, und die Flügeltür aus Mahagoni. Er kam langsam, aber stetig voran, da das Vicodin jetzt endlich wirkte und den Schmerz linderte. Die Frau mit der orangefarbenen Jacke stand auf und beobachtete hinter ihrer großen Sonnenbrille, wie er sich näherte. Unter der Jacke trug sie ein Kleid in allen erdenklichen Farben, aber der buntscheckige Alptraum beschränkte sich nicht auf ihre Kleidung. Ihre Haare waren oben auf dem Kopf blond, wiesen jedoch weiter unten einen unnatürlichen rötlich-rosa Farbton auf. Er schätzte sie auf Ende zwanzig/Anfang dreißig, womit sie jünger war als ihre Vorgängerinnen. Und hübscher, trotz der Haare. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter und war ziemlich dünn.
»Hallo, Mr Bressler«, begrüßte sie ihn, als er brüsk an ihr vorbeilief und die Treppe hinaufstieg. Sie hielt ihm die Hand hin. »Ich bin Chelsea Ross. Ihre neue Betreuerin.«
Aus der Nähe betrachtet war die Jacke der Frau auch nicht schöner. Sie war aus Leder und sah aus, als hätte sie höchstpersönlich drauf rumgekaut. Er ignorierte die ausgestreckte Hand und durchwühlte seine Tasche nach seinen Schlüsseln. »Ich brauche keine Betreuerin.«
»Ich hab schon gehört, dass Sie schwierig sind.« Sie schob ihre Brille hoch auf den Kopf und lachte. »Sie werden mir doch das Leben nicht schwer machen, oder?«
Er steckte den Schlüssel ins Schloss und sah über die Schulter in ihre strahlend blauen Augen. Er hatte nicht viel Ahnung von Damenmode, doch selbst er wusste, dass man nie zu viele grelle Farben auf einmal tragen sollte. Es war, als würde man zu lange in die Sonne gucken, und er fürchtete schon zu erblinden. »Ich versuche nur, Ihnen Zeit zu sparen.«
»Ich weiß es zu schätzen.« Sie folgte ihm ins Haus und schloss die Tür. »Offiziell fange ich erst morgen an. Ich wollte nur schon mal vorbeischauen und mich vorstellen. Nur kurz hallo sagen.«
Er schlenzte seine Schlüssel auf den Flurtisch, die über die Tischplatte schlitterten und neben einer Kristallvase liegen blieben, die schon seit Jahren nicht mal mehr flüchtig Bekanntschaft mit echten Blumen gemacht hatte. »Na schön, dann können Sie ja jetzt wieder gehen«, brummte er und lief weiter über den Marmorboden, an der Wendeltreppe vorbei in die Küche. Von den vielen Schmerzmitteln, die er auf leeren Magen genommen hatte, wurde ihm jetzt langsam übel.
»Das Haus ist wunderschön. Ich hab schon in einigen schönen Häusern gearbeitet und weiß, wovon ich rede.« Sie folgte ihm, als hätte sie es überhaupt nicht eilig, sich endlich vom Acker zu machen. »Eishockey war gut zu Ihnen.«
»Man kann davon leben.« »Wohnen Sie allein hier?«
»Ich hatte mal einen Hund.« Und eine Frau.
»Was ist passiert?«
»Er ist gestorben«, antwortete er und hatte plötzlich das komische Gefühl, sie von irgendwoher zu kennen, war sich aber sicher, dass er sich an diese Haare erinnern würde. Obwohl er bezweifelte, dass er es ihr besorgt hätte, selbst wenn sie eine andere Frisur gehabt hätte. Sie war nicht sein Typ.
»Haben Sie schon zu Mittag gegessen?«
Er überquerte den Marmorboden zu dem Kühlschrank aus Edelstahl, öffnete ihn und zog eine Flasche Wasser heraus. »Nein.« Klein mit großer Klappe war noch nie sein Typ gewesen. »Kennen wir uns irgendwoher?«
»Gucken Sie Reich und Schön?«
»Gucke ich was?«
Sie lachte. »Wenn Sie Hunger haben, könnte ich Ihnen ein Sandwich machen.«
»Nein.«
»Auch wenn ich offiziell erst morgen anfange, könnte ich eine Suppe hinkriegen.«
»Ich sagte nein.« Er neigte die Wasserflasche an seine Lippen und musterte die Frau über den durchsichtigen Plastikrand. Ihre Haare hatten unten echt einen seltsamen Farbton. Nicht ganz rot und nicht ganz rosa, und ihm drängte sich die Frage auf, ob sie sozusagen den Teppich gefärbt hatte, damit er zu den Vorhängen passte. Vor ein paar Jahren hatte sich eine Chinooks-Anhängerin mal die Schamhaare blaugrün gefärbt, um ihre Unterstützung zu demonstrieren. Mark hatte sich die Frau zwar nicht persönlich und aus nächster Nähe angesehen, dafür aber die Fotos.
»Tja, Sie haben gerade eine einmalige Chance verpasst. Ich koche sonst nie für meine Arbeitgeber. Das schafft nur unnötige Präzedenzfälle, und um ganz ehrlich zu sein, bin ich in der Küche eine absolute Niete«, gestand sie mit einem breiten Grinsen, das sogar süß hätte sein können, wäre es nicht so nervtötend gewesen.
Gott, er hasste fröhliche Menschen. Zeit, ihr so richtig auf den Schlips zu treten, um sie loszuwerden. »Sie klingen gar nicht wie eine Russin.«
»Ich bin auch keine.«
In Zeitlupe setzte er die Flasche ab, während er den Blick demonstrativ auf ihre orangefarbene Lederjacke senkte. »Warum sind Sie dann angezogen, als kämen Sie geradewegs von der Fähre?«
Sie blickte verdutzt an sich herab und erklärte: »Das ist meine Pucci.«
Mark war sich relativ sicher, dass sie nicht »meine Muschi« gesagt hatte, aber es hatte verdammt noch mal so geklungen. »Ich verliere bei Ihrem Anblick noch mein Augenlicht. «
Sie blickte auf und kniff die blauen Augen zu Schlitzen zusammen. Er konnte nicht sagen, ob sie gleich lachen oder ihn anschreien würde. »Das ist nicht besonders nett.«
»Ich bin auch nicht besonders nett.«
»Politisch korrekt auch nicht gerade.«
»Na, das wird mir den Schlaf rauben.« Er trank noch ein paar Schlucke. Er war müde und hungrig und wollte sich setzen, bevor er noch stürzte. Vielleicht vor der Glotze bei einer Gerichtssoap einnicken. Tatsache, er verpasste gerade Judge Joe Brown. Er deutete zum Ausgang. »Da geht’s raus. Passen Sie auf, dass Ihnen nicht die Tür ins Kreuz fällt.«
Wieder lachte sie, als hätte sie einen Sprung in der Schüssel. »Ich mag Sie. Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen.«
Sie hatte mehr als nur einen Sprung in der Schüssel. »Sind Sie …« Er schüttelte den Kopf, als ob er nach dem richtigen Ausdruck suchte. »Was ist die politisch korrekte Bezeichnung für zurückgeblieben?«
»Ich glaube, das Wort, das Sie suchen, ist ›geistig behindert‹. Und nein. Ich bin nicht geistig behindert.«
Er deutete mit der Flasche auf ihre Jacke. »Sind Sie auch sicher?«
»Ganz sicher.« Achselzuckend stieß sie sich von der Theke ab. »Auch wenn ich an der Uni mal beim Komasaufen gestürzt bin. Hab mich selbst mit dem Bierfass bewusstlos geschlagen. An dem Abend sind mir vielleicht ein paar Gehirnzellen abhandengekommen.«
»Zweifellos.«
Sie griff in die Tasche ihrer hässlichen Jacke und zog ein Schlüsselbund mit einem kleinen herzförmigen Anhänger heraus. »Ich bin morgen um neun hier.«
»Da schlaf ich noch.«
»Ach, schon okay«, sagte sie heiter-beschwingt. »Ich klingele so lange, bis Sie aufwachen.«
»Ich hab ’ne geladene Schrotflinte«, log er.
Ihr Lachen war noch zu hören, als sie den Raum schon längst verlassen hatte. »Ich freue mich darauf, Sie wiederzusehen, Mr Bressler.«
Wenn sie auch nicht »geistig behindert« war, so war sie doch durchgedrehter als Hackepeter. Oder noch schlimmer, eins von diesen permanent fröhlichen Weibern.
Was für ein Riesenarschloch. Chelsea schüttelte ihre Lederjacke ab und öffnete die Tür ihres Honda CR-V. Eine Schweißperle rann zwischen ihre Brüste und durchnässte den Formbügel ihres BHs, während sie die Jacke ärgerlich nach hinten schleuderte und sich in den Wagen gleiten ließ. Sie schlug die Tür zu und durchwühlte die Hobo Bag, die auf dem Beifahrersitz lag. Sie schnappte sich ihr Handy, tippte die Nummer ein und wurde direkt zur Mailbox durchgestellt. »Vielen Dank auch, Bo«, schnauzte sie ins Telefon, während sie den Schlüssel in die Zündung steckte. »Als du mich gewarnt hast, dass der Typ schwierig sein könnte, hättest du ruhig gleich dazu sagen können, dass er ein ausgesprochenes Arschloch ist!« Sie klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter, startete mit einer Hand den Wagen und kurbelte mit der anderen das Fenster herunter. »Ein bisschen mehr Vorbereitung wäre schön gewesen. Er hat mich zurückgeblieben genannt und meine Pucci beleidigt!« Sie klappte das Telefon zu und pfefferte es auf den Beifahrersitz. Sie hatte zwei Monate gespart, um sich diese Pucci-Jacke zu kaufen. Was wusste der Typ schon von Mode? Schließlich war er Eishockeyspieler.
Sie steuerte den Wagen auf die Straße und fuhr an den Häusern der Reichen und Versnobten vorbei. Eine kräftige Brise wehte durchs Fenster, und Chelsea lupfte ihr Kleid und ließ ihre Haut von der kühlen Luft trocknen. Wahrscheinlich würde sie unter den Brüsten Ausschlag bekommen, und das war alles Mark Bresslers Schuld. Na gut, er hatte sie nicht gezwungen, an einem heißen Junitag eine Lederjacke zu tragen, aber sie hatte trotzdem Lust, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben. Schließlich war er Sportler. Das war Grund genug.
Gott, sie hasste Typen wie Mark Bressler. Unverschämte Kerle, die sich für was Besseres hielten. In den letzten zehn Jahren war sie permanent von solchen Männern umgeben gewesen. Sie hatte ihre Termine gemanagt, ihre Hunde ausgeführt und ihre Partys organisiert. Sie hatte als persönliche Assistentin von Filmstars und Multimillionären gearbeitet. Von Promis der Kategorien A-D, bis sie endlich die Nase voll gehabt hatte.
»Die Nase voll« hatte sie letzte Woche im Gästehaus eines zweitklassigen Schauspielers gehabt, der über Nacht mit einer Hauptrolle in einer HBO-Serie groß rausgekommen war. Sie hatte fünf Monate für ihn gearbeitet, im Gästehaus gewohnt, dafür gesorgt, dass er pünktlich zu seinen Terminen erschien, und seine Besorgungen erledigt. Alles war glattgegangen, bis er an jenem Abend zu ihr ins Gästehaus gekommen war und ihr befohlen hatte, sich hinzuknien und ihm einen zu blasen oder sich nach einem anderen Job umzusehen.
Zehn Jahre aufgestaute Wut und Ohnmacht hatten sie die Hand zur Faust ballen lassen. Zehn Jahre voller mieser Jobs und Enttäuschungen, in denen sie sich für nichts und wieder nichts den Arsch aufgerissen hatte. Zehn Jahre, in denen sie dabei hatte zusehen müssen, wie andere anmaßende, talentfreie, eklige Typen Erfolg hatten, während sie auf ihre große Chance wartete. Zehn Jahre schmierige sexuelle Avancen und undankbare Jobs ließen sie ausholen und ihm eins aufs Auge hauen. Danach hatte sie ihre Siebensachen in den Honda CR-V gepackt und ihre zweitklassige Agentin angerufen, um ihr zu sagen, dass sie die Nase vollhatte. Sie war 1600 Kilometer von Hollywood weggezogen, weg von den Egos und der Arroganz, nur um bei einem der größten Arschlöcher auf Erden eine Anstellung zu bekommen. Auch wenn Mark Bressler streng genommen nicht ihr Arbeitgeber war. Ihr Gehalt zahlten die Seattle Chinooks – den dicken, fetten Bonus inklusive.
»Drei Monate«, murmelte sie beschwörend vor sich hin. Wenn sie es drei Monate aushielt, hatte die Chinooks-Organisation ihr einen Zehntausend-Dollar-Bonus versprochen. Nachdem sie Mr Bressler kennengelernt hatte, wusste sie, wofür dieser Bonus war.
Bestechung.
Sie schaffte das. Immerhin war sie Schauspielerin. Sie hatte schon vieles für viel weniger ertragen. Sie fuhr auf die SR 520 in Richtung Bellevue, wo ihre Schwester eine Eigentumswohnung besaß. Sie wollte diese zehn Riesen. Und aus keinem noblen Beweggrund wie Kranken zu helfen oder der Kirche oder der städtischen Essensausgabe eine Spende zukommen zu lassen. Sie hatte nicht vor, ihre Familie zu beglücken und endlich doch noch einen Abschluss in Krankenpflege, Technischem Zeichnen oder Grafikdesign zu machen. Genauso wenig wie eine Anzahlung auf ein Haus oder ein neueres Auto zu leisten. Sie hatte keinerlei Absicht, irgendeinen dieser Schritte zu tätigen, der ihr eine Zukunft hätte sichern oder etwas für ihren Geist hätte tun können.
Nach Ablauf der drei Monate wollte sie die zehn Riesen dafür verwenden, etwas für ihren Körper zu tun. Noch bis vor wenigen Tagen hatte sie überhaupt keinen Plan gehabt. Aber jetzt schon, und sie hatte alles bis ins Detail ausgeklügelt. Sie wusste, was zu tun war und wie sie es anpacken musste, und nichts und niemand würde ihr dabei im Weg stehen. Weder das drohende Gesundheitsrisiko noch die Missbilligung ihrer Familie würde sie von ihrem Vorhaben abhalten.
Schon gar nicht ein stinkiger, zu groß geratener, arroganter Eishockeyspieler mit einer fiesen Ader und einem Riesenkomplex.