Kapitel 47
Keiner der beiden Frauen sagte etwas. Mary schaute Victoria an, das Gesicht voller Fragen. Victoria erwiderte Marys Blick, doch in ihrem leeren Gesichtsausdruck lag keine Spur des Erkennens. Nach einem Moment schaute Victoria weg. Die Landschaft, die an ihrem Fenster vorbeizog, interessierte sie mehr.
»Sie weiß nicht, wer ich bin«, sagte Mary leise.
Mason blickte im Rückspiegel zu Victoria hin. »Ich bin mir nicht sicher, wie viel sie überhaupt weiß. Sie wirkt ziemlich weggetreten.«
»Wo fahren wir hin?«, fragte sie.
»Das weiß ich, wenn wir ankommen«, sagte er.
Mason jagte auf der 87th Street Parkway nach Osten, bog auf eine Nebenstraße nach Norden ab und arbeitete sich durch ein Gewirr von Wohnsiedlungen, um Whitney King auszuweichen. Das Nachspiel des Sturms führte zu weiteren Umwegen. Manche Straßen waren wegen unterbrochener Stromleitungen gesperrt, andere von umgestürzten Bäumen blockiert. Die Menschen waren bereits in den Gärten, mit Kettensägen bewaffnet, und räumten auf. Niemand verschwendete einen zweiten Blick auf sie, und in Masons Rückspiegel kamen keine schwarzen BMW in Sicht.
So gern er auch mit Mary darüber gesprochen hätte, was ihr zugestoßen war, er wollte das nicht in Gegenwart von Victoria tun. Vermutlich war Mary nicht aus gesundheitlichen Gründen im Golden Years gewesen, was bedeutete, dass er sie auf keinen Fall heimfahren konnte. Wo Victoria vor ihrem Aufenthalt im Golden Years gewohnt hatte, wusste er nicht, aber er hätte sie ohnehin nicht dorthin bringen wollen. Sie war sein Trumpf, auch wenn er nicht recht wusste, wie er ihn ausspielen sollte.
Whitney King wusste, dass beide Frauen mit Mason zusammen waren. King konnte Mason nicht wegen der Entführung seiner Mutter anzeigen, ohne sich selbst mit Marys Verschwinden in Zusammenhang zu bringen.
Was die Sache noch besser machte: King hatte hinsichtlich seiner Mutter einiges zu erklären. Sandra Connelly hatte den Verdacht gehabt, dass Victoria King nicht ins Golden Years gehörte. Falls Sandra recht gehabt hatte, war Victoria gar nicht verrückt, und Whitney King hatte seine Mutter aus einem anderen Grund in die Klapsmühle verfrachtet. Mason konnte nur vermuten, dass Victoria von Whitneys Schuld an den Byrnes-Morden wusste. Da, wie sich wieder einmal erwies, in jedem Menschen ein Funken Gutes steckte, hatte Whitney es nicht über sich gebracht, seine Mutter um die Ecke zu bringen. Stattdessen hatte er sie eingelagert.
Eines störte Mason an seiner Theorie: Victoria wirkte verwirrt und faselte davon, dass sie nach Hause und nicht mehr telefonieren wollte. Mason war zwar kein Psychiater, aber auf ihn machte Victoria den Eindruck, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf.
Kings anderes Problem war, dass die Cops nach ihm suchten. Wenn er seine Mutter zurückhaben wollte, würde er sie sich holen müssen. Bis dahin brauchte Mason einen Ort, wo beide Frauen bleiben konnten, bis er sich die nächsten Schritte zurechtgelegt hatte.
Mason stellte Mary und Victoria Claire vor, die sagte, sie sei erfreut, sie kennenzulernen, und sonst keine Fragen stellte. Sie wusste genug, um zu begreifen, wer sie waren, und kannte Mason gut genug, um zu wissen, dass er sie nicht ohne Not zu ihr gebracht hatte. Harry stand hinter ihr vor ihrem Büro im Erdgeschoss.
»Das ist Harry«, sagte sie zu Mary und Victoria, ohne weitere Erklärungen abzugeben. »Ich bringe Sie beide nach oben.«
Mason und Harry sahen ihnen nach, wie sie die Treppe hinaufgingen.
»Wo hast du sie gefunden?«, fragte Harry ihn.
»Im Golden Years.«
»Warst du etwa dort, als der Tornado einschlug, oder sind sie einfach wie Dorothy und Toto vom Himmel gefallen?«, fragte Harry mit gedämpfter Stimme.
»Ich war dort«, antwortete Mason. »Und die beiden auch. Ich habe nach Victoria gesucht. Mary war ein Bonus.«
»Was hat Mary denn dort gemacht?«, fragte Harry.
»Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, sie zu fragen. Wir waren ziemlich beschäftigt.«
»Glaubst du, Whitney King wird nach seiner Mama suchen?«
»Das glaube ich in der Tat«, sagte Mason und erzählte Harry kurz, was passiert war.
»Was hast du vor?«, fragte Harry.
»Es war ein langer Tag«, sagte Mason. »Ich glaube, ich unterhalte mich mal mit Mary und dann mit Victoria. Danach nehme ich mir das restliche Wochenende frei und warte bis Montag ab.«
»Erst sorgst du für Aufruhr, und jetzt willst du abwarten, was passiert? Tatsächlich?«, fragte Harry.
»Manchmal kann ich eben besser für Aufruhr sorgen als Probleme lösen.«
»Na, dann geh mal lieber nach oben. Claire hat wahrscheinlich schon die Bestellungen fürs Frühstück aufgenommen.«
»Bietet sie zu ihren Zimmern amerikanisches oder kontinentales Frühstück an?«, fragte Mason.
»Macht keinen Unterschied. Du weißt doch, dass die Frau nicht kochen kann.«
Als Claire ihr Haus gekauft hatte, hatte sie das Erdgeschoss zu Büroräumen umgebaut und dabei die vorhandene Zimmeraufteilung beibehalten. Im Obergeschoss hatte sie alle Wände herausgerissen, nur die Außenmauern übrig gelassen und alles ganz neu gestaltet. Die Offenheit des Lofts, in dem sie in der City gewohnt hatte, hatte ihr gefallen, aber sie wollte nicht ganz so viel Platz. Hier bildete die Küche zusammen mit Ess- und Wohnbereich einen einzigen Raum. Es gab zwei Schlafzimmer, jedes mit eigenem Bad, die nebeneinander auf der einen Seite des Raumes lagen. Die Wände waren weiß, die Fußböden aus Parkett, aber Claire hatte mit Pflanzen, indianischer Kunst und ihrer Persönlichkeit eine gemütliche Atmosphäre geschaffen.
Sie saß allein an ihrem Küchentisch und genoss die ersten Sonnenstrahlen, die nach dem Sturm durch das Fenster hereinfielen. Es war schon spät, und die Sonne wurde bereits schwächer, wodurch das Licht einen warmen Glanz auf die Scheibe warf. Die Tür zum Gästezimmer war geschlossen. Harry setzte sich zu ihr an den Tisch.
»Wo sind sie?«, fragte Mason, der mitten im Wohnzimmer stand.
»Dort drin«, antwortete Claire und zeigte mit dem Kopf auf die geschlossene Tür.
»Ich muss mit ihnen reden«, sagte Mason und ging einen Schritt auf das Zimmer zu.
Claire hob die Hand. »Noch nicht, Lou.«
»Es ist wichtig«, sagte er.
»Bestimmt. Vielleicht ist es sogar so wichtig wie das, worüber sie sprechen, aber das bezweifle ich. Lass sie in Ruhe. Sie laufen dir nicht weg.«
Mason atmete tief ein und sah lange zu dem Gästezimmer hin, bevor er einen ungeduldigen Seufzer ausstieß.
»Weißt du«, sagte Claire, »dieses Geseufze von dir ist wirklich irritierend. Diese beiden Frauen leben schon viel länger als du mit dem, was mit ihren Söhnen passiert ist. Ich nehme an, bis heute haben sie noch nie miteinander darüber gesprochen. Nach ihren Gesichtern bei eurer Ankunft hier zu schließen, ist das nötig. Du wirst einfach warten müssen.«
Mason zuckte ergeben die Achseln und setzte sich zu seiner Tante und Harry. »Dann warte ich eben.«
»Warum hast du sie hierher gebracht?«, fragte Claire.
»Ich kann Mary nicht mit zu mir nehmen, bevor ich weiß, ob sie dort sicher ist. Solange King und mein Anwalt frei herumlaufen, würde ich mich darauf nicht verlassen.«
»Dein Anwalt?«, fragte Claire. »Wieso sollte Mary sich vor deinem Anwalt fürchten?«
Mason schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Sandra Connelly hat Dixon Smith gebeten, herauszufinden, ob Victoria King überhaupt ins Golden Years gehörte. Vermutlich hatte Sandra einen guten Grund, danach zu fragen. Vielleicht wusste Victoria ja, dass ihr Sohn ein Mörder war. Vielleicht hat Whitney sie ins Golden Years gesteckt, um sie dort unter Drogen zu setzen und sie ruhigzustellen.«
»Bei so viel Sohnesliebe wird mir ganz warm ums Herz«, sagte Harry.
»Aber wie konnte Whitney all die Jahre damit davonkommen?«, fragte Claire. »Zu viele Menschen wussten doch, dass sie dort war. Ärzte, Schwestern, die Mitarbeiter der Fürsorge. Er hätte es unmöglich geheim halten können. Die Versicherungsgesellschaft, die die Rechnung bezahlt hat, hätte doch nach einer Weile Verdacht geschöpft.«
»Es wäre schwierig gewesen, aber nicht unmöglich«, sagte Mason. »Möglicherweise hat Whitney die Kosten selbst übernommen. Was ärztliche Betreuung angeht, ist Golden Years ein bisschen unterbesetzt. Außerdem wurde die ganze Einrichtung von Kings Firma gebaut, die Whitney gehört. Das hat ihn in Kontakt mit Damon Parker gebracht, dem Golden Years gehört.«
»Lag es dann nicht nahe, mit Parker zu reden?«, fragte Claire.
»Falls Sandra das in den Sinn gekommen ist, muss sie aus gutem Grund darauf verzichtet haben«, erwiderte Mason. »Stattdessen hat sie Dixon Smith gebeten, Nachforschungen anzustellen, da sie wusste, dass Dixon der Anwalt von Parker und Golden Years war.«
»Was hat Dixon herausbekommen?«, fragte Harry.
»Dixon zufolge rein gar nichts. Außerdem hat Parker ihn laut Dixon wegen seiner Fragen entlassen.«
»Was von alldem bringt dich zu der Annahme, dass dein Anwalt für Mary eine Bedrohung darstellt?«, fragte Claire.
»Ich bin heute zum Golden Years gefahren, um mit Victoria zu reden«, sagte Mason. »Dixon Smith hatte Anweisungen hinterlassen, ihn zu benachrichtigen, falls ich dort auftauchte. Offenbar hat er gelogen, als er sagte, Parker hätte ihn gefeuert. Nach dem Sturm lief er vor dem Golden Years herum, als wäre ein Tornado seine geringste Sorge. Ich glaube, er hat Mary und mich gesucht.«
»Und der ist dein Verteidiger«, sagte Claire. »Du solltest ihn feuern!«
»Noch nicht. Er weiß nicht, dass ich ihm auf die Schliche gekommen bin. So erfahre ich mehr.«
»Vergisst du nicht vielleicht die winzige Kleinigkeit, dass du unter Mordanklage stehst?«, fragte Claire. »Du brauchst einen Anwalt, auf den du dich verlassen kannst.«
»Vielleicht nicht. Vielleicht brauche ich nur einen Anwalt, dem ich nachweisen kann, dass er Sandra getötet hat.«
»Du glaubst, dass es Dixon war?«, wollte Claire wissen.
»Sandra wurde umgebracht, um sie daran zu hindern, dass sie mir etwas über Whitney King oder seine Mutter erzählte. Sie wollte es mir gerade sagen, als sie einen Anruf von Dixon Smith bekam. Sandra muss ihm gesagt haben, dass wir gerade zusammen waren. Möglicherweise hat sie ihm sogar erzählt, dass wir uns mit King in seinem Büro treffen wollten.«
»Laut Whitney weiß er nichts von einem Treffen mit dir und Sandra«, sagte Harry. »Außerdem hat er seine Mutter als Alibi. Dixon ist der Einzige, der außer euch noch wusste, wo ihr sein würdet.«
»Genau«, sagte Mason. »Zudem hatte niemand sonst genug Zeit, um es zu tun.«
»Aber wie erklärst du dir den Anruf?«, fragte Harry. »Warum hätte Sandra dir erzählen sollen, King habe angerufen und euch gebeten zu warten, wenn der Anrufer Dixon war?«
Mason runzelte die Stirn. »Vielleicht war es gar nicht King. Vielleicht war es Dixon, der eine schlechte Verbindung hatte oder seine Stimme verstellt hat. Ich weiß es nicht. Dixon hat mir gesagt, es gibt keinen Nachweis dafür, dass Whitney bei Sandra angerufen hat. Es wurde ein Anruf aufgezeichnet, aber ohne die Nummer des Anrufers.«
»Dann kann er nicht von Dixons Telefon gekommen sein«, sagte Claire. »Diese Nummer würde auf dem Verbindungsnachweis auftauchen.«
»Fall Dixon so dumm war, sein eigenes Telefon zu benutzen«, meinte Harry. »Wahrscheinlicher ist es, dass er jemand anderem das Handy gestohlen hat.«
»In diesem Fall würde die Nummer des gestohlenen Handys auftauchen und uns zu seinem Besitzer führen. Dixon hat mir gesagt, man habe alle Nummern auf Sandras Verbindungsnachweisen zuordnen können, abgesehen von dem nicht identifizierten Anruf. Dixon würde in diesem Punkt nicht lügen, weil er weiß, dass ich die Verbindungsnachweise bekomme.«
»Eins sag ich dir«, sagte Harry. »Du solltest lieber herausfinden, von wem dieser anonyme Anruf kam, sonst werden die Geschworenen glauben, dass du dir die ganze Geschichte ausgedacht hast.«
»Kein Plan ist eben perfekt«, sagte Mason schob den Stuhl zurück, stand auf und warf erneut einen langen Blick zu dem geschlossenen Gästezimmer.
»Geh nach Hause«, sagte Claire. »Lass sie. Komm morgen früh wieder und bring eine Tüte Bagels und Frischkäse mit.«
Mason nickte und stand auf. »Also gut«, sagte er. »Wir haben ebenfalls über einiges zu reden.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Es ist an der Zeit.«
Mason sah sie an und war sich nicht ganz sicher, ob das Licht ihm einen Streich spielte. Eine Traurigkeit, die er bisher nie an ihr gesehen hatte, war in ihre Augen getreten und legte sich über ihr Gesicht. Er wandte sich Harry zu.
»Bleibst du hier?«
»Ich bleibe«, erwiderte Harry.
»Fühlst du dich besser?«, fragte Claire. »Und jetzt kein Gerede darüber, dass Whitney King nach Mary und seiner Mutter sucht. Wir kommen schon zurecht. Harry bewahrt eine Waffe hier auf, von der ich nichts wissen soll, und ich habe immer noch die kugelsichere Weste, die er mir zum Valentinstag geschenkt hat«, fügte sie hinzu und klopfte Harry auf den Oberschenkel.
Mason sah die beiden an. Seine Tante war wehrhaft. Harry war ein Fels in der Brandung. Er bezweifelte, dass es King einfallen würde, hier zu suchen – viel eher würde er bei Mason zu Hause auf ihn warten. Aber selbst wenn King bei Claire auftauchte, hatten sie gute Chancen.
»Wir sehen uns morgen«, sagte Mason.