Kapitel 22
Mason schlenderte um die Baustelle herum zur Schule und hatte dabei Gelegenheit, sich die Architekturzeichnung des Baus, der dort errichtet wurde, näher anzusehen. Der Haupteingang zur Schule war abgesperrt. Ein Schild verkündete, dass das neue Verwaltungsgebäude vom Christopher King Treuhandfonds und dessen Treuhänder Whitney King ermöglicht wurde. Ein weiteres Schild gab bekannt, dass die Baufirma King der Auftragnehmer war. Mason kam zu dem Schluss, dass Whitney sich hier gerade ein Treppchen in den Himmel baute.
Die Bauleute hatten einen provisorischen Eingang zur Schule eingerichtet, und ein nachlässiger Arbeiter hatte ihn nach Arbeitsschluss unverschlossen gelassen. Mason machte sich das zunutze und duckte sich hinein. In den Gängen war es stickig, da man sich die Klimatisierung außerhalb des Schuljahres sparte. Die Beleuchtung war ausgeschaltet, aber das Sonnenlicht reichte von den großen Fenstern der Klassenzimmer bis zu den rechteckigen Fenstern, die an der Gangwand von einem Ende bis zum andern wie Dominosteine über den Schließfächern aufgereiht waren, und tauchte die Gänge in ein düsteres, graues Licht.
Mason hatte seinen Abschluss auf der Southwest Highschool gemacht, die zwei oder drei Kilometer von seinem Haus entfernt lag, eine typische öffentliche Großstadtschule mit den dort üblichen Problemen – zu wenig Geld, zu wenig motivierte Schüler, zu wenig engagierte Eltern. Mason hatte es dennoch zu einer anständigen Schulbildung gebracht. Claire hatte ihm gesagt, die vier Jahre zusammen mit Menschen, die weder so aussahen, lebten noch dachten wie er, würden seine Persönlichkeit bereichern.
Die Turnhalle quetschte sich an die hintere Schulmauer. Es war ein Anbau, der 1955 hinzugekommen war. In einer Vitrine waren die über Jahre angesammelten Pokale ausgestellt; an der Mauer außerhalb der Turnhalle hingen Tafeln mit den eingravierten Namen der Basketballmannschaften. Mason ging die aus zehn Mitgliedern bestehenden Mannschaften der Reihe nach durch und stieß auf das Team von Ryan Kowalczyk und Whitney King. Whitneys Name war zusammen mit denen von acht anderen Jungen aufgeführt. Ryans Name fehlte. Wo er einmal gestanden hatte, war ein leerer Fleck.
»Für die Schule war es leichter, so zu tun, als wäre er nie hier gewesen, als zu vergessen, was passiert war«, sagte Father Steve. Mason drehte sich um und sah, dass der Priester hinter ihm stand. Dieser entschuldigte sich. »Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken, Mr Mason. Man bringt uns im Priesterseminar bei, leise zu gehen.« Er lächelte über seinen Scherz, und Mason erwiderte das Lächeln.
»So erwischt man die Sünder leichter«, sagte Mason.
»Oh, deswegen muss ich mir keine Sorgen machen. Irgendwann erwischt Gott alle Sünder«, sagte Father Steve. »Genau wie mich bei dieser hässlichen Angewohnheit«, fuhr er fort und zog ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche. »In der Kirche kann ich nicht heimlich rauchen, also tue ich es in der Schule. Was soll man dazu sagen?«
Wieder musste Mason lächeln. Father Steve war klein, untersetzt und konnte über seine Schwächen scherzen. Eine gutmütige, angenehme Kombination, die, da war Mason sich sicher, auf die Gemeindemitglieder entspannend wirkte. Bei Ryans Hinrichtung und ihrer letzten, unschönen Auseinandersetzung vor Marys Haus hatte Father Steve nicht diese liebenswerte Bescheidenheit an den Tag gelegt. Inzwischen war Mary verschwunden, und Nick Byrnes war vor seinen Augen angeschossen worden, Dinge, die eigentlich alles andere als beruhigend waren.
Möglicherweise, überlegte Mason, fühlte der Priester sich in seinem Revier eben wohler, wo er so etwas wie den Heimvorteil der Kirche genoss.
»Vermutlich gibt es schlimmere Sünden«, sagte Mason.
»Wollen Sie eine Liste?«, fragte Father Steve.
»Nein, danke. Ich habe schon mit Mord alle Hände voll zu tun.«
Father Steve zog eine Zigarette aus dem Päckchen, klopfte damit gegen die Hand, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. Dünne Rauchfäden stiegen ihm aus Mund und Nase. »Da haben Sie sich eine der schlimmsten Sünden ausgesucht – einem anderen Menschen das Leben zu nehmen.«
»Als Graham und Elizabeth Byrnes getötet wurden, war das Mord. Als Ryan Kowalczyk hingerichtet wurde, war es Gerechtigkeit. Mit der Sünde ist schon eine ziemlich verzwickte Sache.«
»Im Grunde nicht, Mr Mason. Töten ist Töten. Die Kirche lehnt die Todesstrafe ab, es sei denn, man kann die Gesellschaft vor einem unbilligen Angriff nur schützen, indem man den Täter hinrichtet, was nach Auffassung des Papstes praktisch nie vorkommt. Es gibt immer eine Möglichkeit, die Menschen zu schützen. Dafür sind schließlich die Gefängnisse da.«
»Ist es eine schlimmere Sünde, wenn der Staat einen Unschuldigen hinrichtet?«, fragte Mason.
»Kein Leben ist mehr wert als ein anderes, aber Ryan Kowalczyk war nicht unschuldig. Er hat vor mir die Beichte abgelegt, wie Sie ja bei meinem Gespräch mit seiner Mutter mit angehört haben.«
»Ich glaube, Ryan war unschuldig«, sagte Mason.
»Dann sind wir wohl beide Männer des Glaubens, Mr Mason. Wir glauben nur einfach an verschiedene Dinge. In meiner Welt genügt der Glaube als Beweis für die Existenz Gottes. In Ihrer Welt reicht es nicht, an die Unschuld eines Menschen zu glauben, um ein Geschworenenurteil infrage zu stellen.«
»Geschworene machen Fehler. Das hat nichts mit dem Glauben zu tun. Es ist eine Tatsache«, sagte Mason.
»Diese Jury hat so lange um die Wahrheit gerungen, bis sie sie gefunden hat. Whitneys Vater sagte mir, die Geschworenen hätten sich zwei Tage lang nicht einigen können, bis sie schließlich am dritten Tag zu einem Urteil kamen. Aber Sie haben natürlich das Recht, selbst um die Wahrheit zu ringen.«
Mason forschte im Gesicht des Priesters nach einem Anzeichen dafür, dass er die Tragweite seiner eigenen Worte erkannte. Ryans Anwältin, Nancy Troy, wusste von dem Patt, ebenso Harry Ryman. Durch Father Steves Worte hatten nun er und Whitneys Vater sich in diesen Kreis eingereiht. Rachels Frage, woher Nancy und Harry es wussten, wurde immer bedeutsamer.
»Die Geschworenen wollten mit niemandem über ihre Beratungen sprechen. Woher wusste Whitneys Vater, was passiert war?«
Der Priester schnippte die Asche von seiner Zigarette. Es war ein unwillkürliches Zusammenzucken, das zu seiner gestammelten Antwort passte. »Er hat es nicht … gesagt. Vielleicht hat er es ja … nur angenommen«, sagte er und sah auf den Fußboden, um Masons Blick auszuweichen.
»Waren Sie bei dem Prozess dabei? Haben Sie mit den Geschworenen gesprochen?«, bohrte Mason weiter.
Father Steves Schultern sackten nach unten. »Ich habe Ryan und Whitney geistlich betreut, und auch ihre Familien.«
Mason ging auf den Priester zu, sodass dieser nach hinten zur Mauer ausweichen musste. »Ich bin mir sicher, Sie waren ihnen eine große Stütze, Father. Aber mich interessieren mehr die Geschworenen und warum Sie sich solche Mühe geben, meine Frage nicht zu beantworten. Die Geschworenen konnten sich zwei Tage lang nicht einigen. Irgendetwas ist passiert, wodurch sie Ryan verurteilten und Whitney freisprachen. Was wissen Sie darüber?«
»Die Geschworenen haben Ryan für schuldig befunden. Er hat vor mir die Beichte abgelegt«, sagte der Priester automatisch, als würde er den Katechismus aufsagen.
»Ryan war unschuldig. Das werde ich beweisen.«
»Und dann?«, fragte Father Steve und sah Mason an.
»Sagen Sie es mir, Father. Ist es eine Sünde, einen Unschuldigen sterben zu lassen?«
Der Priester zog an seiner Zigarette. »Wenn man weiß, dass jemand unschuldig ist und trotzdem schweigt, ist das eine schwere Sünde.«
»Die Sünde des Schweigens. An welcher Stelle Ihrer Liste steht sie?«, fragte Mason.
»Es ist eine der schwersten Sünden«, sagte der Priester, und es klang traurig. Er trat ein Stück von der Mauer weg und brachte so ein wenig Abstand zwischen sich und Mason. »Sünden spiegeln unsere menschlichen Schwächen. Viele davon haben ihre Ursache in unseren Wünschen. Sex, Geld, Macht. Bei der Sünde des Schweigens ist es etwas anderes. Sie entsteht durch Furcht und verdammt den Unschuldigen, weil die Schuldigen sich vor seiner Rettung fürchten.«
»Ist es das, was passiert ist, als Whitney King auf meinen Mandanten, Nick Byrnes, geschossen hat? Hatten Sie Angst, ihn zu retten?«
Der Priester nahm einen letzten Zug. Der Tabak glühte rot auf, der Rauch trieb von seinem Gesicht weg. »Ich dachte, Mary wäre Ihre Mandantin.«
»Beide sind meine Mandanten, und beide wollen das Gleiche: nämlich beweisen, dass Whitney King Graham und Elizabeth Byrnes umgebracht hat.«
»Und jetzt wollen Sie den Schuss auf Nick Byrnes auf die Liste von Whitneys Verbrechen setzen?«
»Nick war Whitney nicht gewachsen, nicht einmal mit einer Pistole. Sie waren doch dort. Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Oh, mit der Pistole war der Junge jedem durchaus mehr als gewachsen«, sagte Father Steve. »Er brüllte Whitney an und drohte, ihn umzubringen. Ich bin Zeuge, und er hätte auch mich umgebracht. Wenn Whitney ihn nicht daran gehindert hätte, wären wir beide jetzt tot.«
»Erzählen Sie mir genauer, was passiert ist, Father. Schildern Sie es ganz genau.«
Father Steve seufzte. »Ich bin nicht gut in genauen Schilderungen, Mr Mason. Besonders, wenn ich Todesangst hatte.«
»Versuchen Sie es, Father«, sagte Mason.
Der Priester atmete tief ein, seine Zigarette war zu einem Stummel heruntergebrannt. »Also gut. Wir kamen aus dem Bürogebäude, und da war der Junge, als hätte er auf Whitney gewartet. Zuerst wedelte er mit der Pistole herum und redete unaufhörlich, wie schon gesagt. Ich erkannte ihn von der Hinrichtung wieder. Ich sagte ihm, ich verstünde seinen Schmerz, aber er mache es nur schlimmer, nicht besser. Ich wollte, dass er sich beruhigte, aber er ließ sich nicht beruhigen. Er wurde nur noch aufgebrachter. Dann richtete er die Pistole direkt auf Whitney. Whitney packte ihn am Arm. Sie kämpften. Die Pistole ging los.«
Mason wusste noch nicht genug über die Geschehnisse, um zu widersprechen. Er wollte nur, dass der Priester sich auf eine Version festlegte, bei der er dann bleiben musste. »Wieso waren Sie gestern Abend bei Whitney King?«
»Sie fragen mich das, als wäre ich irgendwie ebenfalls verdächtig. Gehöre ich in Ihren Augen zur Verschwörung, Mr Mason? Haben Sie mich deswegen nach den Leuten gefragt, die geschwiegen haben und zuließen, dass Ryan hingerichtet wurde? Ein Junge, den ich getauft habe? Das Kind einer Frau, die mir seit dreißig Jahren zur Seite steht?«
»Ich kenne Menschen, die Schlimmeres getan haben, Father. Mit oder ohne Gott an der Seite. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich meine Arbeit mache. Entweder Sie antworten mir jetzt oder vor Gericht.«
Einen Augenblick lang verhärtete sich das Gesicht des Priesters, und seine Augen verengten sich, dann entspannte er sich, und ein leichtes Lächeln erschien um seine Mundwinkel. »Geld, Mr Mason. Die Kirche braucht es, und Whitney hat es. Ich hatte die Aufgabe, ihn darum zu bitten. Es ist demütigend, aber notwendig. War das nun alles?«
»Fast. Diese Frau, die Ihnen seit dreißig Jahren zur Seite steht, ist verschwunden. Wissen Sie etwas darüber?«
»Mary ist verschwunden?«, fragte Father Steve. Er stemmte die Arme in die Hüften, sein Mund stand offen. »Was meinen Sie damit?«
»Sie wird vermisst. Sie ist gestern von zu Hause weggegangen, in einen Bus gestiegen, um hierher zu Ihnen zu kommen, und ist nicht nach Hause zurückgekehrt.«
»Glauben Sie etwa, ich habe sie verschwinden lassen? Also bitte, Mr Mason.«
»War Mary gestern hier?«
»Natürlich war sie hier. Sie arbeitet mittwochs immer ehrenamtlich. Sie hilft im Büro, macht alles, was so anfällt.«
»Dann haben Sie sie also gesehen?«
Father Steve ließ die Zigarette auf den Boden fallen und drückte sie mit dem Absatz aus. »Ja, Mr Mason«, antwortete er mit wachsender Ungeduld. »Ich habe Mary gesehen. Ich habe mit Mary gesprochen. Ich habe gesehen, wie Mary gegangen ist. Also, was soll das heißen, sie ist nicht heimgegangen?«
Mason betrachtete den Priester, als wäre er ein Zeuge wie jeder andere. Er taxierte sein Auftreten, schätzte seine Motivation ein, die Wahrheit oder auch die Unwahrheit zu sagen, sein Interesse am Ausgang des Prozesses, und musste zugeben, dass seine Priesterkleidung ihn glaubwürdiger wirken ließ.
»Nur«, sagte Mason immer noch eindringlich, »dass sie verschwunden ist und Sie der Letzte waren, der sie lebend gesehen hat.«
»Hoffentlich sehen Sie nicht bei allen ihren Mandanten so schnell schwarz«, sagte Father Steve. »Mary sagte mir, sie werde für ein paar Tage wegfahren. Sie meinte, sie werde vielleicht ihren Mann besuchen. Die beiden haben sich niemals scheiden lassen, wissen Sie. Nach Ryans Tod hat er sie angerufen.«
»Hat sie gesagt, wo ihr Ehemann wohnt?«, fragte Mason.
»Omaha, hat sie gesagt, glaube ich.«
»Nun, dann kommt sie ja bestimmt bald wieder«, sagte Mason, doch sein Sarkasmus ging bei dem Priester ins Leere.
»Natürlich kommt sie wieder«, sagte Father Steve. »Ich muss wieder zurück. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden.«
»Noch eine letzte Frage. Ein bestimmter Punkt behagt mir nicht«, sagte Mason.
Father Steve steckte die Hände in die Taschen und wippte auf den Absätzen nach hinten. Sein Lächeln und seine Geduld ließen sichtlich nach. »Nur los, Mr Mason. Ich bin Priester. Solche Fragen sind meine Stärke.«
»Warum, glauben Sie, hat Mary ihren Koffer unter dem Bett gelassen, als sie nach Omaha gefahren ist?«
Father Steve hörte auf zu wippen, legte den Kopf schief und zog einen Mundwinkel nach innen. »Ich nehme an«, antwortete er sanft, »sie besitzt zwei Koffer.«