Kapitel 45

»Verdammt noch mal!«, schimpfte Walt los. »Dieser Scheißtornado ist nur ein paar Kilometer weit weg und kommt genau auf uns zu. Wir haben fünfundsiebzig Psychos, die wir in den Keller schaffen müssen!«

Wie um das zu unterstreichen, begannen Tornadosirenen zu heulen, in die sich das maschinengewehrartige Prasseln von Regen und Hagel und ein Wind mischte, der wie ein Güterzug dröhnte.

»Wo sind die Ärzte und Schwestern?«, fragte Mason.

Walt lachte schnaubend. »Machen Sie Witze, Mister? Am Wochenende sind keine Ärzte da, und auf jedem Stockwerk gibt’s nur eine Schwester. Die werden unsere Hilfe brauchen.«

»Wie kann denn ein Krankenhaus mit nur einer Schwester auf jedem Stockwerk funktionieren?«, fragte Mason.

»Man setzt die Patienten unter Drogen, so macht man das«, entgegnete Walt. Er kam schneller aus seinem Stuhl hoch, als Mason ihm zugetraut hätte. »Sie nehmen das obere Stockwerk, ich das hier. Holen Sie alle aus den Zimmern und bringen Sie sie runter in den Keller.«

Der Wind heulte und rüttelte das Krankenhaus durch, als wäre es ein billiges Steckspielzeug, und ein gewaltiger Blitz fuhr herab, dessen grelles Licht hell genug schien, um sie zu beide verdampfen, gefolgt von einem Donnerschlag, der sie in Richtung der Patientenzimmer in Bewegung setzte.

Mason zog seinen Kartenschlüssel über den Sensor und riss die Tür zum Gang auf. Walt stürmte an ihm vorbei durch den Gang und hämmerte gegen die Türen. Mason nahm jeweils zwei Stufen auf einmal und platzte gerade in den zweiten Stock, als die Leute aus ihren Zimmern strömten.

Die Treppe ging in einen Sitzbereich in der Mitte des Stockwerks über. Die Fensterreihe, die normalerweise eine beruhigende Aussicht auf das ländliche Grundstück bot, erzitterte unter der Gewalt des Sturms.

Mitten im Raum stand eine Frau in weißer Hose und weißem Hemd, die die Namen der Patienten aufrief und sie zu sich heranwinkte. Sie war im mittleren Alter, stämmig, hatte kurz geschnittenes, schwarzes Haar und sah für Mason in der ständig größer werdenden Menschenmenge noch am ehesten wie eine Schwester aus.

»Wer sind Sie?«, schrie sie Mason an.

»Wartungsdienst«, rief er. »Wie kann ich helfen?«

»Holen Sie sie aus ihren Zimmern. Wenn wir sie unter Kontrolle bekommen, können wir sie runterbringen. Andernfalls müssen wir sie in die Gänge bringen, weg von den Fenstern, damit sie nicht von den Glasscherben getroffen werden.«

Das Licht begann zu flackern, und zu dem Geheul und Geschrei der verängstigten Patienten kam noch ein Stroboskopeffekt hinzu. Einige liefen auf Mason zu, die Hände ausgestreckt wie Bettler, und packten ihn an den Ärmeln. Andere drückten sich mit dem Rücken gegen die Fenster, ließen sich zu Boden gleiten, legten sich hin und rollten sich zusammen. Entlang der Gänge knallten Türen, als einige Patienten in ihre Zimmer flüchteten und sich verbarrikadierten.

Zwei Patientinnen klammerten sich an ihn, auf jeder Seite eine. Beides ältere Frauen, die Gesichter schlaff, die Augen weit aufgerissen. Sie trugen Nachthemden, obwohl es helllichter Tag war. Er führte sie zu einem Sofa und nötigte sie sanft, sich hinzusetzen. Er sammelte andere Patienten ein und platzierte einige von ihnen auf Stühle, die übrigen in einem Kreis auf dem Teppichboden.

Sobald er sie untergebracht hatte, machten sie sich wieder davon. Die Frau in Weiß rief beständig weiter Namen aus. Es dauerte ein bisschen, bis Mason merkte, dass sie ständig dieselben Namen wiederholte und niemand sie weiter beachtete. Die Patienten liefen an ihr vorbei, als wäre sie eine von ihnen. Mason begriff schließlich, dass sie das in der Tat war, denn jetzt breitete sie die Arme aus, drehte sich um die eigene Achse und ließ sich dabei langsam zu Boden sinken.

Ob verrückt oder nicht, sie hatte den richtigen Einfall gehabt. Auf keinen Fall konnte er die Patienten nach unten in den Keller schaffen, also musste er sie in die Gänge bringen, weg vom Glas. Aber er hatte keine Ahnung, wie er die Verweigerer dazu bringen sollte, ihre Zimmer zu verlassen.

Er packte zwei Patienten, die auf der Couch saßen, einen Mann und eine Frau, und führte sie auf den Westflügel zu. Als er zur Treppe kam und Schritte hörte, blieb er kurz stehen und sah Adrienne, die gerade um den Treppenabsatz herumkam. Sie war durchnässt, und das Tanktop klebte auf eine Art an ihr, die ihn den Sturm beinahe vergessen ließ.

»Was soll das, zum Teufel?«, fragte sie.

Mason zuckte die Schultern. »Die Gummizelle klang bei Ihnen so verlockend. Willkommen bei der Party.«

Sie gesellte sich zu ihm und sah sich im Raum um, wo zwanzig Menschen außer Rand und Band waren. Einige weinten, andere brabbelten, manche drückten nur stumm die Gesichter gegen die Scheibe.

»Oh mein Gott!«, sagte sie und zog jedes Wort in die Länge, als wäre es ein Absatz für sich. »Wir müssen diese Menschen in den Keller bringen.«

»Dafür ist keine Zeit«, sagte Mason. »Das hier sind nicht mal alle. Manche sind wieder zurück auf ihre Zimmer gegangen. Wenn sie die Türen abgeschlossen haben, weiß ich nicht, wie wir sie herausholen können. Die beste Möglichkeit ist noch, alle in einen Gang zu bringen und das Ganze auszusitzen.«

Adrienne griff in die Seitentasche ihrer Jeans und zog einen Kartenschlüssel heraus. »Der Hauptschlüssel«, sagte sie. »Unbezahlbar. Sie bringen alle in den Westflügel. Ich überprüfe die Zimmer im Ostflügel. Dann komme ich zurück und helfe Ihnen.«

Die nächsten paar Minuten waren ein einziges Durcheinander. Mason brachte Patienten in den Gang des Westflügels, und er konnte die Auswirkungen ihres geistigen Zustandes, ihrer Angst und ihrer Medikamentierung nicht auseinanderhalten. Er wusste nur, dass die Erklärungen, die er ihnen gab, genauso gut Chinesisch hätten sein können.

Adrienne führte drei Patienten vom Ostflügel zu seinem Gang, dann überprüfte sie sämtliche Räume. Zufrieden, dass sie alle gefunden hatten, stand sie am Eingang zur Lobby und hinderte alle am Gehen, während Mason im Gang patrouillierte und die verängstigten Patienten beruhigte.

Am anderen Ende des Ganges gab es einen Ausgang. Mason öffnete die Tür und vergewisserte sich, dass niemand sich im Treppenhaus verbarg. Als er sich davon überzeugt hatte, sah er eine Patientin neben der Tür an der Wand sitzen, die Knie an die Brust gezogen, das Gesicht in den Armen vergraben. Sie war klein, hatte dunkles Haar mit grauen Strähnen und war eine der wenigen Patientinnen, die normale Kleidung statt eines Pyjamas trug. Sie war so ruhig, dass Mason nicht sicher war, ob sie überhaupt atmete. Er ging in die Knie und berührte sie sanft an der Schulter.

»Ma’am«, sagte er leise. »Ist alles in Ordnung?«

Beim Klang seiner Stimme regte sich die Frau und hob den Kopf. Sie blinzelte und wischte sich über die Augen. »Sie sind es«, sagte Mary Kowalczyk.

Noch ehe Mason antworten konnte, erzitterte das Gebäude, als hätte jemand es aus dem Fundament gerissen und auf den Kopf gestellt. Die Glaswände in der Lobby zersplitterten, und der Tornado fuhr kreischend durch ihren Korridor und wehte Adrienne wie eine Puppe über die eingezogenen Köpfe der Patienten hinweg.

Mason warf sich über Mary, während das Gebäude weiter bebte und es ungewiss schien, ob es unter ihnen zusammenbrechen würde. Der Wind heulte durch den Gang wie ein Teufel auf der Jagd nach einer armen Seele und entwich mit einem qualvollen Kreischen, als das Dach sich vom Krankenhaus hob und mehrere Tonnen Stahl und Zement in der Finsternis verschwanden.

Unvermittelt war alles vorbei. Der Wind flaute ab, der Regen wurde zu einem Nieseln und hörte dann ganz auf. Die Luft war kühl, aber rein. Sirenen heulten durch den Nachmittag, und am Himmel wurde es heller, wenn auch immer noch zu dunkel für einen Spätnachmittag im Sommer.

Mason stemmte sich von Mary hoch. »Sind Sie in Ordnung?«, fragte er sie. Sie nickte, und er drückte ihre Schulter. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er.

Sechs Meter vom Durchgang zur Lobby entfernt sah er Adrienne auf dem Rücken liegen. Aus einem Riss in ihrer Kopfhaut sickerte Blut, und ihre Arme waren von einem Muster aus stecknadelgroßen Schnitten verunstaltet, das die herumfliegenden Scherben verursacht hatten. Er kniete sich neben sie auf den Boden und war froh, dass ihre Augen offen und nicht starr waren.

»Wo tut es weh?«, fragte er sie.

»Wo nicht?«, fragte sie zurück. »Ich kann alles bewegen, und es fühlt sich nichts gebrochen an. Helfen Sie mir hoch.«

Mason gab zwei Patienten ein Zeichen, zur Seite zu gehen und Platz zu machen. Es überraschte ihn, wie ruhig die Patienten waren. Entweder standen sie unter Schock, oder sie waren geheilt, entschied Mason. Er half Adrienne zum Sitzen auf, zog sein Hemd aus und gab es ihr, damit sie es auf den Riss in ihrer Kopfhaut drücken konnte.

»Vorsichtig«, sagte er zu ihr. »Sie könnten eine Gehirnerschütterung haben.«

»Ich dachte, derjenige, den Sie besuchen wollten, wäre in Lakewood Gardens«, sagte sie und atmete tief ein.

»Ich bin auf dem Weg dorthin falsch abgebogen«, sagte er. »Zum Glück. Warum sind Sie hierhergekommen und nicht im Besucherzentrum geblieben?«

»Ich wusste, dass wir heute unterbesetzt sind. Die Schwester, die eigentlich dieses Stockwerk betreut, ist krank. Als die Sirenen losgingen, wusste ich, dass mein Dad Hilfe brauchen würde.«

»Ihr Dad?«, fragte Mason. »War das der Mann unten am Tresen?«

»Das ist er. Walt. Mann, der wird vielleicht schlechte Laune haben. Auf dieses Footballspiel hat er sich wirklich gefreut.«

Weitere Sirenen kündigten die Ankunft der Rettungsteams an. Die ersten Feuerwehrmänner erreichten die Lobby des zweiten Stocks. Mason gab ihnen ein Zeichen.

»Die Kavallerie ist da«, sagte er zu Adrienne. »Man wird sich gut um Sie kümmern.«

»Wo gehen Sie hin?«, fragte sie.

»Nirgendwohin. Ich war doch nie hier. Schon vergessen?«

»Ach ja«, sagte sie, nickte und drückte sich sein Hemd auf die Kopfhaut. »Na klar. Ich hab Sie nicht mehr gesehen, seit Sie vom Besucherzentrum weggegangen sind. Wie macht sich das als Gehirnerschütterung?«

»Perfekt.«

Er küsste sie auf die Wange, und ein Feuerwehrmann kam zu ihnen, während andere sich der übrigen Patienten annahmen. Mason machte ihnen Platz und kehrte zu Mary zurück, die am Ende des Ganges neben dem Schild mit der Aufschrift »Ausgang« stand.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mason sie.

»Jedenfalls bin ich nicht verrückt«, sagte sie.