Kapitel 21

Um genau vier Uhr parkte Gaylon Dickensheets seinen Bus auf dem Betriebsparkplatz. Mason war vor einer Viertelstunde eingetroffen und wartete seither in seinem Wagen. Er erkannte Gaylons Bus an der Nummer auf der Seite, 451, was der Legende auf dem Routenplan entsprach, den er sich mitgenommen hatte.

Gaylon hatte eine Tour von Osten nach Westen und fuhr dabei von der östlichen Stadtgrenze mit Independence in Missouri und der West Side über den Southwest Boulevard bis zur Staatsgrenze von Kansas. Die Route führte südlich vom Missouri River und nördlich des Stadtzentrums durch eine städtische Hauptverkehrsader, mit einer Luftlinie von etwa fünfundvierzig Kilometern, doch wegen des Zickzackverlaufs der Straßen war die Strecke länger.

Mason war vorhin noch einmal in Marys Haus gewesen und hatte ein Foto von ihr gefunden und mitgenommen, um es Leuten zu zeigen, die sie möglicherweise gesehen hatten. Es war ein Schnappschuss, auf dem sie am Küchentisch saß und eine Tasse Kaffee in der Hand hielt. Sie posierte nicht für die Kamera, und ihr nüchterner Gesichtsausdruck verriet nichts von der Vitalität, die Mason bei ihr wahrgenommen hatte. Auf dem Foto stand ein Datum – es war im letzten Jahr aufgenommen worden. Er hatte es in der Küche unter der Glasabdeckung einer kleinen Ablage gefunden, zusammen mit anderen Fotos, davon einem, auf dem sie, Ryan und ihr Mann zu sehen waren. Der Rest bestand aus Fotos von Ryan vor seiner Verhaftung.

Gaylon kletterte aus dem Bus, ein kleiner, dürrer Mann mit zerknautschtem Gesicht, kaum fünfundfünfzig Jahre alt, der sich neben dem Ungetüm, das er fuhr, wie ein Zwerg ausnahm. Mason stieg aus dem Wagen und überquerte den Parkplatz.

»Mr Dickensheets«, rief Mason. Der Fahrer drehte sich um und beschattete sich die Augen mit der Hand.

»Klar bin ich der«, sagte Gaylon, als Mason ihn erreichte.

»Ich bin Lou Mason«, sagte er und streckte die Hand aus. Der Fahrer wischte sich die Hand an der Hose ab und ergriff die von Mason.

»Na klar sind Sie das. Die Zentrale hat gesagt, Sie wollten wegen einem Fahrgast mit mir sprechen, stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte Mason und zeigte ihm Marys Foto. »Kennen Sie diese Frau?«

»Na klar. Das ist Mary Kay.«

»Mary Kowalczyk?«, fragte Mason.

»Genau die. Ich gebe meinen Stammgästen gern Spitznamen, wissen Sie. Macht die Fahrt ein bisschen netter. Ich neck sie manchmal ein bisschen und tu so, als wäre sie diese Kosmetiktante. Sag ihr dann, sie müsste einen von diesen großen rosa Cadillacs fahren, anstatt den Bus zu nehmen. Daran hat sie immer ihren Spaß.«

»Ist sie gestern bei Ihnen mitgefahren?«

»Na klar. Während meiner Vormittagstour zwischen neun und fünf.«

»Wo ist sie ausgestiegen?«, fragte Mason.

»In der Stadtmitte, wie immer. Ecke Zehnte Straße und Main Street. Da steigt sie immer in einen Bus nach Süden um.«

»Sie hat wohl nicht zufällig gesagt, wo sie hinfuhr, oder?«

»War nicht nötig«, sagte Gaylon. »Gestern war Mittwoch. Mittwochs geht sie immer in die Kirche. St. Mark’s.«

»Was tut sie dort?«, fragte Mason.

»Ehrenamtliche Mitarbeit. Hilft einem der Priester, glaube ich. Father Steve, hat sie mal gesagt. Mary ist ein richtig nettes Frauchen. Hat eine schwere Zeit hinter sich, klar, aber man merkt es ihr nicht an. Hat immer ein freundliches Wort für mich übrig.«

»Fährt sie auf dem Heimweg bei Ihnen im Bus mit?«

»Kommt drauf an, wann sie heimfährt. Manchmal ist es mein Bus, manchmal einer von den anderen. Wir sind hier auf der Route zu sechst, und alle kennen Mary.«

»Während Sie vielleicht so freundlich, bei den anderen Fahrern nachzufragen? Fragen Sie sie bitte, ob Mary gestern mit ihnen nach Hause gefahren ist«, sagte Mason und händigte Gaylon seine Visitenkarte aus. »Rufen Sie mich an und geben Sie mir Bescheid, wenn Sie mit den anderen gesprochen haben, ja?«

»Na klar. Hören Sie, mit ihr ist doch alles in Ordnung, oder?«

»Ja«, erwiderte Mason. »Na klar.«

Die katholische Kirche von St. Mark’s befand sich an der Ecke zwischen der Einundvierzigsten Straße und der Main Street. Hier standen eine Kathedrale aus Kalkstein, ein Pfarrhaus und eine Highschool auf einem Grundstück von vier Hektar, das von einem hohen, schmiedeeisernen Zaun umgeben war. Mary gehörte seit dreißig Jahren zur Gemeinde, hatte sie Mason erzählt. Ryan Kowalczyk und Whitney King waren auf diese Highschool gegangen und hatten ihr letztes gemeinsames Basketballspiel hier auf dem Sportplatz ausgetragen.

Eine in Stein gefasste Bronzeplakette am Eingang gab Auskunft darüber, dass die Kathedrale im Jahr 1937 vollendet worden war. Das Schulgebäude war eine Mischung aus Altem und Neuem. Der jüngste Anbau war noch nicht fertig, und ein farbenfrohes Schild versprach, dass er zu Beginn des Schuljahres bereit sein werde.

Es war schon spät am Tag. Mitglieder der Gemeinde kamen, um an der Messe teilzunehmen, und Mason, der nicht recht wusste, wohin er gehen sollte, folgte ihnen in die Kirche. Die meisten Menschen nickten ihm freundlich zu, aber ein paar warfen ihm argwöhnische Blicke zu, die sie Fremden vorbehielten. Mason wurde sich plötzlich bewusst, dass er Jude war.

Er ging selten zur Synagoge und gehörte nicht einmal einer Gemeinde an – ein weiteres heikles Thema zwischen ihm und Abby, die ihm das Versprechen abgenommen hatte, am jüdischen Neujahrstag und an Yom Kippur, dem jüdischen Sühnefest, zum Gottesdienst zu gehen, den hohen Feiertagen im Herbst. Das war gewesen, bevor Abby sich dem Wahlkampfteam angeschlossen hatte. Ein wenig Sühne hätte ihm zwar gewiss nicht geschadet, aber er bezweifelte, dass Abby ihm einen Platz freihalten würde.

Masons Erfahrung mit katholischen Kirchen beschränkte sich auf Hochzeiten und Beerdigungen. Er war noch nie zur Messe gegangen, und bei der Aussicht, es jetzt zu tun, nur um Father Steve ausfindig zu machen, fühlte er sich wie ein Eindringling.

An der Eingangstür blieb er für einen Augenblick stehen, während ein junger Priester die Hereinkommenden begrüßte und das Sonnenlicht, das durch das farbige Glas fiel, sich in allen Farben brach. Die Leute nahmen auf Holzbänken mit roten Samtkissen Platz, die dieselbe Farbe hatten wie der dicke Teppich. Mason zog sich nach draußen zurück, um das Ende des Gottesdienstes abzuwarten. Er wollte den Priester fragen, wo er Father Steve finden konnte.

Father Steve war Marys Priester. Außerdem war er der Priester von Whitney King und seiner Familie. Zwei Familien, eine reich, eine arm. Es war verständlich, dass Father Steve sowohl mit Mary als auch mit Whitney Kontakt hielt, trotz allem, was geschehen war.

Dennoch störte Mason sich an Father Steves hartnäckiger Behauptung, dass Ryan den Mord an Graham und Elizabeth Byrnes gebeichtet hatte – eine Beichte, die weder von Ryans letzten Worten, Ryans Mutter noch Masons Gefühl beim Lesen der Prozessprotokolle gestützt wurde. Und jetzt war Father Steve der einzige Zeuge von Whitneys Behauptung, er habe Nick in Notwehr angeschossen. Nahm man die Tatsache hinzu, dass der Priester Mary Kowalczyk als Letzter gesehen hatte, strapazierte das den Zufall erheblich. Er war noch nicht so weit, Father Steve zu beschuldigen, aber er hatte Fragen an den Priester, und er würde ihm die Antworten nicht gutgläubig abnehmen.