»Richtiger Panch Ab genannt«, flocht der hakim ein, »und das
bedeutet Fünf Flüsse.«
»... hat sich aber gelohnt. Der Sultan war, wie der Shah von
Persien, eifrig darauf bedacht, dem Khakhan Geschenke zu
schicken, um ihn seiner Treue und Ergebenheit zu
versichern...«
»... Und jetzt haben wir noch ein Extrapferd, beladen mit
Kleinodien aus Gold, Kashmirstoffen, Rubinen und...«
»Weit wichtiger«, sagte mein Vater, »ist aber, wie es unserem
Patienten Mafio geht.«
»Völlig entleert«, murrte mein Onkel und kratzte sich am
Ellbogen. »Am einen Ende habe ich gehustet, bis ich allen
Schleim rausgehustet hatte, und am anderen Ende habe ich
auch noch das letzte Bißchen an Kot und Gas ausgestoßen
und zwischendurch sogar noch den letzten Tropfen Schweiß
ausgeschwitzt. Ich bin es daher höllisch leid, am ganzen Leib
mit Zaubersprüchen gespickt und wie eine bigne-Semmel mit
Mehl bestäubt zu sein.«
»Ansonsten ist sein Zustand unverändert«, sagte Hakim Khosro
nüchtern. »Meine Bemühungen, den Heilkräften der Natur auf
die Sprünge zu helfen, haben nicht viel gefruchtet. Ich freue
mich, daß ihr jetzt alle wieder zusammen seid, denn ich
möchte, daß ihr diese Stadt verlaßt und den Patienten noch
näher an die Natur heranbringt. Hoch hinauf in die Berge im
Osten, wo die Luft klarer und reiner ist als hier.«
»Aber auch kalt«, wandte mein Vater ein. »So kalt wie die
Mildtätigkeit. Meint Ihr, das tut ihm gut?«
»Kalte Luft ist die sauberste Luft, die es gibt«, sagte der hakim. »Zu diesem Schluß bin ich durch genaue Beobachtung und berufliches Studium gekommen. Beweis: Menschen, die ständig in kaltem Klima leben wie die Russniaken, haben eine rein weiße Hautfarbe; in heißen Klimazonen wie Hindu-Indien sind die Menschen schmutzigbraun oder schwarz. Wir Pakhtuni, die wir zwischen beiden Zonen angesiedelt sind, haben eine bräunliche Hautfarbe. Ich kann Euch nur raten, den Patienten hinzubringen, und zwar bald -hinauf in die kalten, klaren, weißen Bergeshöhen.«
Als der hakim und wir Onkel Mafio halfen, sich aufzusetzen, sich aus den Ziegenhäuten herauszuwickeln und zum erstenmal seit Wochen richtig anzuziehen, waren wir erschrocken, wie dünn er geworden war. In den plötzlich viel zu großen Kleidern sah er womöglich größer aus als zuvor, da er in seiner Vierschrötigkeit die Säume seiner Kleider fast zum Platzen gebracht hatte. Auch war seine gesunde rote Gesichtsfarbe einem fahlen, bleichen Ton gewichen, und die Hände zitterten ihm, da er sie solange nicht gebraucht hatte. Dennoch behauptete er, heilfroh zu sein, endlich wieder aufrecht zu stehen und sich zu bewegen. Später, in der Halle der karwansarai, als wir an diesem Abend beim Essen saßen, fragte er mit lauter Stentorstimme wie eh und je nach den letzten Neuigkeiten hinsichtlich der Wege, die nach Osten in die Berge hineinführten.
Reisende von mancherlei anderen karwans gingen darauf ein, berichteten uns von den augenblicklich herrschenden Verhältnissen und gaben uns so manchen guten Rat hinsichtlich des Reisens im Gebirge. Zumindest hofften wir, diesen guten Rat auch gebrauchen zu können, doch waren wir dessen nicht sicher, da keine zwei von denen, die sprachen, sich auch nur auf einen der Namen der östlich von hier ragenden Berge einigen konnten.
Einer sagte: »Das ist der Himalaya, die Wohnung des Schnees. Ehe ihr hinaufzieht, kauft ein Fläschchen Mohnsaft und tragt es immer bei euch. Werdet ihr dann mit Schneeblindheit geschlagen, genügt ein Tropfen in die Augen, die Schmerzen
zu vertreiben.« Ein anderer sagte: »Das sind die Karakoram, die Schwarzen Berge, die Kalten Berge. Und die Schmelzwasser dort oben sind das ganze Jahr hindurch eiskalt. Laßt eure Pferde nicht davon saufen, nur aus einem Eimer, den ihr zuvor erwärmt habt; sonst bekommen sie eine Kolik.«
Noch ein anderer sagte: »Diese Berge nennt man Hindu-Kush, Hindu-Töter. In diesem unwirtlichen Gelände wird so manches Pferd rebellisch und unlenkbar. Sollte das geschehen, schlingt einfach ein Haar vom Schweif des Tieres um seine Zunge; es wird sofort lammfromm sein.«
Und noch ein anderer sagte: »Diese Berge heißen Pai-Mir, was soviel bedeutet wie Weg zu den Gipfeln. Das einzige Futter, das eure Pferde dort oben finden werden, ist der schiefergraue, starkriechende kleine Burtsa-Strauch. Aber eure Pferde werden ihn immer für euch finden; er ist wichtig und dient auch als Brennmaterial, das von Natur aus mit Öl gesättigt ist. So merkwürdig es ist, aber je grüner es aussieht, desto besser brennt das Burtsa-Holz.«
Und noch einer sagte: »Diese Berge sind die Khwaja, die ›Herren‹. Und in so großer Höhe machen die Herren es euch unmöglich, die Richtung zu verlieren, selbst im dicksten Sturm nicht. Denkt immer nur daran, daß jeder Berg an seiner Südseite kahl ist. Seht ihr Bäume oder Büsche an den Hängen wachsen, habt ihr die Nordwand des Berges vor euch.«
Und noch einer sagte: »Diese Berge sind die Muztagh, die ›Hüter‹. Seid bemüht, sie vollständig hinter euch zu lassen, wenn aus dem Frühling Sommer wird, denn dann setzt der Bad-i-sad-o-bist ein, der schreckliche Wind der hundertzwanzig Tage.«
Und noch einer sagte: »Diese Berge sind der Salomons-Thron, der Takht-i-Sulaiman. Solltet ihr dort oben von einem Wirbelwind überrascht werden, könnt ihr sicher sein, daß er aus einer nahe gelegenen Höhle kommt, dem Zufluchtsort eines der vom guten König Salomon verbannten Dämons. Findet diese Höhle, wälzt Felsen vor den Eingang, und er wird aufhören zu
wehen.« Also packten wir, zahlten für unseren Unterhalt und verabschiedeten uns von denen, mit denen wir bekannt geworden waren. Dann zogen wir weiter, mein Vater und Onkel und Nasenloch und ich auf unseren vier Reitpferden voran und ein Packpferd sowie zwei Ersatz-Packpferde, die mit fürstlichen Reichtümern beladen waren, hinterher. Von Balkh aus ritten wir geradenwegs nach Osten und kamen durch Ortschaften namens Kholm und Qonduz und Talogan, die ausschließlich als Marktplätze für die Pferdezüchter zu dienen schienen, die in diesen mit Weideplätzen gesegneten Landstrichen lebten. Jedermann dort züchtet Pferde und verkauft ständig Zuchthengste und -Stuten an die Nachbarn. Es handelt sich um sehr schöne Pferde. Jeder Züchter behauptet, seine Herde stamme von Alexanders Streitroß Bucephalos ab. Und ein jeder behauptet, das gelte nur für seine Herde, was geradezu lachhaft ist, wenn man den schwunghaften Handel bedenkt, der hier mit Pferden getrieben wird. Auf jeden Fall habe ich dort nirgends Pferde mit dem Pfauenschweif gesehen, wie ihn der Bucephalos aus meinem Alexanderbuch schmückte, in das ich mich in meiner Kindheit so oft vertieft hatte.
Um diese Jahreszeit waren die Weiden mit Schnee bedeckt, weshalb wir nicht verfolgen konnten, wie das Grün immer spärlicher wurde, je weiter wir nach Osten kamen. Allerdings wußten wir, daß dies geschah, denn der Boden unter dem Schnee wurde erst steinig und dann felsig, es gab keine Dörfer mehr, und nur ganz gelegentlich tauchte eine karwansarai am Wege auf. Nachdem wir in den Vorbergen vor den eigentlichen Bergen das letzte Dorf hinter uns gelassen hatten -einen Haufen von Hütten aus übereinandergetürmten Steinen, der sich Ke-shem nannte, mußten wir drei von vier Malen unter freiem Himmel übernachten. Das war kein gerade idyllisches Dasein, in Eis und Kälte im Zelt unter unseren chapons liegend zu schlafen und von mehr oder weniger getrocknetem oder eingesalzenem Reiseproviant zu leben.
Wir hatten Angst gehabt, daß dieses Leben im Freien besonders Onkel Mafio schwerfallen würde. Doch der beschwerte sich nicht einmal, wenn wir Gesunden es taten. Er behauptete, in der scharfen, kalten Luft gehe es ihm einfach besser, so wie Hakim Khosro es vorausgesehen hatte. Auch hatte sein Husten sich gelegt, und in letzter Zeit spuckte er auch kein Blut mehr. Er überließ es uns anderen, die schwere Arbeit zu verrichten, die nun mal getan werden mußte, ließ aber nicht zu, daß wir die Tagesmärsche seinetwegen abkürzten. Tag für Tag saß er im Sattel oder ging auf unwegsamerem Gelände genauso unermüdlich neben seinem Reittier her. Aber wir beeilten uns auch nicht sonderlich, denn wir wußten ja, daß wir den Rest des Winters über ohnehin stilliegen mußten, sobald wir dem Wall des Hochgebirges selbst gegenüberstanden. Nachdem wir eine Zeitlang auf dieser harten Route dahingezogen waren und von den kärglichen Rationen des Reiseproviants gelebt hatten, waren wir genauso ausgemergelt wie Onkel Mafio und nicht besonders darauf erpicht, uns zu überanstrengen. Einzig Nasenloch behielt seinen Kugelwanst, nur sah der neuerlich mehr so aus, als gehörte er nicht recht zu ihm, gleichsam als trüge er unter seinen Kleidern eine Melone mit sich herum.
Als wir an den Ab-e-Panj-Fluß kamen, folgten wir seinem Lauf stromauf und in östlicher Richtung durch sein breites Tal und danach in womöglich noch größere Höhe über dem Rest der Erde. Spricht man von einem Tal, denkt man für gewöhnlich an eine Falte oder Furche in der Erde, doch dieses ist viele farsakhs breit und tiefer gelegen nur im Verhältnis zu den Bergen, die in der Ferne ringsumher aufragen. Läge es irgendwo sonst auf der Welt, würde das Tal nicht unter der Erde liegen, sondern hoch oben zwischen den Wolken, so daß menschliche Augen es nicht mehr sehen könnten und für sie unerreichbar wäre wie der Himmel. Nicht, daß das Tal dem Himmel in irgendeiner Weise ähnelte, wie ich mich beeilen möchte hinzuzusetzen, denn es ist kalt und unwirtlich und keineswegs balsamisch, milde und willkommen heißend.
Die Landschaft blieb sich immer gleich: das breite Tal, übersät mit heruntergebrochenen Felsen und strichweise mit Buschwerk bewachsen und all das unter einer Schneedecke verborgen; der Weiß-Wasser-Fluß, der hindurchfließt; und in der Ferne zu beiden Seiten die zahnweißen und zahnscharfen Berge. Nichts veränderte sich dort außer dem Licht, das vom goldgelben bis pfirsichfarbenen Sonnenaufgang bis zu rosenrot glühenden Sonnenuntergängen reichte -dazwischen Himmel von einer Bläue, daß sie schon fast violett zu nennen war, es sei denn, das Tal war von naßgrauen Wolken überspannt, die Hagel oder Sonne herniederregnen ließen.
Eben war der Boden nirgends: er bestand vielmehr aus einem Gewirr von großen und kleinen Felsen und Geröllflächen, zwischen denen wir uns den Weg suchen mußten. Aber abgesehen von dem ständigen Hin und Her und Auf und Ab, ging der eigentliche Aufstieg für unsere Augen unmerklich vonstatten; man hätte fast meinen können, daß wir uns immer noch unten auf der Ebene befänden. Denn jeden Abend, wenn wir haltmachten, um das Lager aufzuschlagen, schienen die Berge am Horizont genauso hoch wie den Abend zuvor. Doch das lag nur daran, daß die Berge immer höher wurden, je weiter wir das Tal hinaufstiegen. Es war, als stiege man eine Treppe hinauf, deren Geländer immer Schritt mit einem hielte, und wenn man nicht hinuntersähe, würde man nicht erkennen, daß alles dahinter weit in der Tiefe unter einem zurückbleibt.
Aber selbstverständlich gab es mehrere Möglichkeiten für uns festzustellen, daß wir die ganze Zeit über an Höhe gewannen. Da war zunächst einmal das Verhalten unserer Pferde. Wenn wir Zweibeiner gelegentlich absaßen, um eine Zeitlang zu Fuß zu gehen, nahmen wir körperlich vermutlich nicht wahr, daß jeder Schritt um ein weniges höher führte als der vorhergehende, doch die Tiere mit ihren zwei Vorder-und zwei Hinterbeinen wußten sehr wohl, daß sie sich die ganze Zeit über auf einer leicht geneigten Fläche bewegten. Und da Pferde sehr vernünftige Tiere sind, übertrieben sie schelmisch ihren schleppenden Gang, um ihn nach mühevoller Arbeit aussehen zu lassen und damit wir sie nicht antrieben, schneller
zu gehen. Ein weiteres Zeichen für das Ansteigen des Geländes war der Fluß, der uns das ganze Tal hindurch begleitete. Der Ab-e-Panj, hatte man uns gesagt, war einer der Quellflüse des Oxus, des großen Stroms, den Alexander immer wieder überqueren mußte und der in seinem Buch als unendlich breit und träge fließend und ruhig beschrieben wird. Der jedoch fließt weit im Westen und von uns aus gesehen tief unter uns. Der Ab-e-Panj neben unserer Route war weder breit noch tief, dafür rauschte er wie die endlose Jagd weißer Pferde mit wehenden Mähnen und Schweifen durchs Tal. Das Geräusch, das er machte, hörte sich in der Tat bisweilen mehr nach einer galoppierenden Pferdeherde an denn nach einem Fluß, denn das Brodeln des Wassers geht oft im Krachen und Knirschen und Grollen der kleineren Felsbrocken unter, die er in seinem Bett zu Tal rollen läßt und schiebt. Ein Blinder könnte sagen, daß der Ab-e-Panj sich zu Tal stürzte, und erkennen, daß der Quell dieses Flusses, der Gewalt der Wassermassen nach zu urteilen, irgendwo in noch sehr viel größerer Höhe liegen mußte. Da es Winter war, hätte der Fluß seinen Lauf auch für keinen Augenblick verlangsamen können, sonst wäre er festgefroren und es hätte weiter unten im Tal vielleicht keinen Oxus gegeben. Das konnte man daran erkennen, daß jeder Spritzer und jedes bißchen hochgeschleudertes Wasser auf den Felsufern augenblicklich zu blauweißem Eis erstarrte. Da dieses das Gehen in Flußnähe noch gefährlicher machte, als es auf dem schneebedeckten Boden ohnehin schon war -und da auch noch jeder Spritzer, der uns erreichte, an den Beinen und Flanken der Tiere oder an uns gefror -, hielten wir uns, wo immer das möglich war, ein ganzes Stück davon entfernt.
Ein weiterer Hinweis auf unseren stetigen Aufstieg war das merkliche Dünnerwerden der Luft. Man hat mir das oft nicht glauben wollen, ja, sich bisweilen darüber lustig gemacht, wenn ich Reiseunkundigen davon berichtete. Ich weiß genauso gut wie sie, daß Luft immer gewichtslos ist und man sie nur dann spürt, wenn sie sich als Wind bewegt. Wenn Ungläubige wissen wollten, wieso ein gewichtsloses Element dennoch noch schwereloser werden kann, kann ich ihnen nicht sagen, wieso oder warum das so ist. Ich weiß nur, daß dem tatsächlich so ist. Die Luft in diesen Bergeshöhen wird immer mehr entstofflicht, und das läßt sich nachweisen.
Zunächst einmal muß der Mensch dort oben tiefer atmen, um die Lungen zu füllen. Das hat nichts mit dem Keuchen zu tun, wie es durch schnelle Bewegung oder große körperliche Anstrengung hervorgerufen wird; auch wer mucksmäuschenstill steht, muß das tun. Strengte ich mich besonders an -beim Beladen der Pferde oder beim Hinwegklettern über einen Felsen, der uns den Weg versperrte -, mußte ich so hechelnd, hart und tief atmen, daß ich das Gefühl hatte, einfach nicht genug Luft in mich hereinzubekommen, wie ich sie brauchte, um am Leben zu bleiben. Das haben manche Zweifler als eine durch Überanstrengung und Strapazen hervorgerufene Einbildung abgetan, und damit mußten wir ja weiß Gott genug kämpfen; gleichwohl behaupte ich, daß die dünne Luft etwas höchst Wirkliches war. Zusätzlich möchte ich anführen, daß Onkel Mafio, der gleich uns tief zu atmen gezwungen war, nicht mehr so häufig und schmerzlich von Hustenanfällen heimgesucht wurde wie zuvor. Ganz offensichtlich lag ihm die dünne Luft des Hochgebirges nicht so schwer auf der Lunge und mußte daher auch nicht so oft gewaltsam ausgestoßen werden.
Aber ich kann auch noch andere Beweise anführen. Feuer und Luft sind beide schwerelos und außerdem die nächsten Verwandten unter den vier Elementen, das wird jeder zugeben. Aber wo im Hochgebirge die Luft schwächer ist, ist auch das Feuer schwächer. Es brennt mit bläulicherer, weniger heller, gelblicher Flamme. Das lag nicht nur daran, daß wir den heimischen Burtsa-Strauch als Brennmaterial benutzen mußten; ich experimentierte auch mit anderen, vertrauteren Dingen wie etwa Papier; die Fl amme, mit der dies brennt, ist gleichfalls viel schwächer und kraftloser als unten im Tal. Selbst wenn wir ein gut unterhaltenes und gut angelegtes Lagerfeuer brennen hatten, dauerte es länger, ein Stück Fleisch zu versengen oder einen Topf Wasser zum Kochen zu bringen, als dies im Tiefland der Fall gewesen wäre. Nicht nur das, es dauerte auch länger, etwas in diesem siedenden Wasser zu garen.
In dieser Winterzeit gab es keine großen karwans, die hier durchkamen; trotzdem begegneten wir gelegentlich Gruppen von Reisenden. Die meisten dieser Reisenden waren Jäger oder Fallensteller, die es auf Pelztiere abgesehen hatten und die von einem Ort in den Bergen zum anderen zogen. Der Winter war ihre Arbeitszeit; im milderen Frühling brachten sie dann ihre angesammelten Vorräte an Pelzen und Fellen hinunter auf den Markt in einer der Tieflandstädte. Ihre zotteligen kleinen Packpferde waren hochbeladen mit Ballen von Pelzen von Fuchs, Wolf, Pardel und Urial -einem wilden Schaf - und Goral, einem Mittelding zwischen Ziege und qazel. Diese Fallensteller und Jäger sagten uns, dies Tal, das wir hinaufstiegen, werde Wakhän oder manchmal Wakhän-Korridor genannt, weil nach allen Seiten eine Menge Bergpässe davon abgingen wie Türen von einem Korridor; außerdem stelle das Tal sowohl die Grenze als auch die Zugangsstraße zu all den dahin-terliegenden Ländern dar. Gen Süden, so sagten sie, führten Pässe aus dem Korridor hinaus in Lander hinein, die Chitral, Hunza und Kashmir hießen, im Osten in ein Land namens To-Bhot und im Norden in das Land Tazhikistan.
»Dann liegt Tazhikistan also jenseits dieser Berge7« sagte mein Vater und wandte den Kopf, um nach Norden zu blicken. »Dann können wir jetzt nicht allzu weit von der Route entfernt sein, die wir auf dem Heimweg eingeschlagen haben, Mafio.«
»Das ist wahr«, sagte mein Onkel, und das klang müde und erleichtert zugleich. »Wir brauchen ja bloß durch Tazhikistan zu ziehen und dann ein kurzes Stück nach Osten zur Stadt Kashgar, und wir befinden uns wieder in Kubilais Kithai.«
Auf ihren Packpferden führten die Pelztierjäger auch viele Hörner mit sich, die sie einer artak genannten Wildschafart abgenommen hatten. Da ich bis jetzt nur die Geweihe solcher Tiere wie der qazel sowie von Kühen und Hausschafen gesehen hatte, war ich tief beeindruckt von diesen mächtigen Hörnern. An der Wurzel waren sie so stark wie mein Schenkel, und von dort aus wand sich das Horn spiralförmig bis zur schmalen Spitze: wäre es jedoch möglich, die Spiralen ganz in die Länge zu ziehen, mußte jedes Horn so lang sein wie ein ausgewachsener Mensch. Sie waren so prachtvoll, daß ich annahm, die Jäger nähmen sie mit und verkauften sie als Schmuckgegenstände. Aber nein, sagten sie lachend; diese großen Hörner würden auseinandergesägt und zu allen möglichen nützlichen Dingen verarbeitet: Bechern, Steigbügeln und sogar zu Huf-›Eisen‹ für Pferde. Sie verbürgten sich dafür, daß Pferde, die mit solchem Hörn beschlagen würden, selbst auf der schlüpfrigsten Straße nicht mehr ausrutschten.
(Viele Monate später, in noch höheren Lagen des Hochgebirges, als ich zum erstenmal artak-Schafe auf freier Wildbahn erlebte, fand ich sie so überwältigend schön, daß es mich dauerte zu sehen, wie sie nur der daraus zu gewinnenden nützlichen Gegenstände wegen erlegt wurden. Mein Vater und mein Onkel, für die Nützlichkeit gleichbedeutend war mit Handel und denen der Handel alles bedeutete, lachten, wie die Jäger es getan hatten, und warfen mir meine Gefühlsseligkeit vor; von Stund an sprachen sie von den artak -Schafen nur per ›Marcos Schafe‹.
Während wir weiter an Höhe gewannen, blieben die Berge zu beiden Seiten genauso ehrfurchtgebietend hoch wie immer, nur daß sie jedes-mal, wenn es aufhörte zu schneien, so daß wir die Augen zu der Erhabenheit der Berge erheben konnten, merklich näher bei uns waren. Und die Eisufer zu beiden Seiten des Ab-e-Panj wurden dicker und dicker, nahmen eine zunehmend blauere Farbe an und zwangen das zwischen ihnen dahinrauschende Wasser in immer engere Bahnen, gleichsam als wollten sie deutlich machen, daß der Winter das Land immer fester in seinen Würgegriff bekam.
Die Berge rückten von Tag zu Tag näher an uns heran, bis plötzlich auch andere vor uns aufragten, wir rings von diesen Titanen umstanden waren und nur den Rücken noch frei hatten. Wir waren ans oberste Ende dies es Hochtals gelangt, der Schneefall hörte für kurze Zeit auf, die Wolken rissen auf, und wir konnten sehen, wie die weißen Berggipfel und der kalte blaue Himmel sich wunderbar in dem gewaltigen zugefrorenen Chaqmaqtin-See spiegelten. Unter seinem Eis am Westende sprudelte der Ab-e-Panj hervor, dessen Lauf wir bis hierher gefolgt waren; wir hielten den See daher für die Quelle dieses Flusses und damit letztlich auch für den Ursprung des legendären Oxus. Mein Vater und mein Onkel zeichneten dies entsprechend ihren Gepflogenheiten in die sonst ungenaue Karte des Kitab ein. Ich selbst konnte zur Bestimmung unserer Position nichts beitragen, da der Horizont viel zu hoch gelegen und auch viel zu gezackt war, als daß ich das kamäl hätte nutzen können. Doch als der Himmel nachts aufklarte, konnte ich zumindest an der Höhe des Polarsterns erkennen, daß wir uns jetzt weit nördlich von unserem Ausgangspunkt Suvediye an der Levanteküste befanden.
Am Nordostende des Chaqmaqtin-Sees lag ein Ort, der sich Stadt nannte und Buzai Gumbad hieß, in Wirklichkeit jedoch nur eine einzige riesige, aus vielerlei Gebäuden bestehende karwansarai war, um die herum sich eine Zeltstadt samt Pferchen für die im Winter dort lagernden Tiere der karwans dehnte. Man konnte sich gut vorstellen, daß nach Einsetzen besseren Wetters fast die gesamte Einwohnerschaft von Buzai Gumbad sich aufmachen würde, über die verschiedenen Pässe den Wakhän-Korridor zu verlassen. Der Wirt der karwansarai war ein lustiger, überschwenglicher Mann namens Iqbal, was soviel heißt wie Glück und recht passend war für jemand, der dadurch reich wurde, daß ihm an diesem Abschnitt der Seidenstraße die einzige Herberge gehörte. Iqbal stamme aus Wakhani, sagte er, und sei hier in der karwansarai geboren. Doch als Sohn und Enkel und Urenkel von Generationen von Herbergswirten in Buzai Gumbad sprach er selbstverständlich die Handelssprache Farsi und kannte zumindest vom Hörensagen die Welt hinter den Bergen.
Die Arme weit ausgebreitet, hieß Iqbal uns überaus herzlich willkommen im »hochgelegenen Pai-Mir, dem Weg zu den Gipfeln, auf dem Dach der Welt«, um uns dann vertraulich zu verstehen zu geben, daß seine ungewöhnlichen Worte keine Übertreibung seien. Hier, sagte er, befänden wir uns genau einen farsakh hoch über dem Meeresspiegel und lägen damit zweieinhalb Meilen über Seehäfen wie Venedig, Acre und Basra. Wirt Iqbal erklärte nicht, wieso er die Höhe des Ortes so genau angeben könne. Doch in der Annahme, daß er die Wahrheit sprach -und weil die Berggipfel rings um uns her sichtbarlich noch einmal so hoch in die Höhe ragten -, wollte ich seiner Behauptung, daß wir nunmehr das Dach der Welt erreicht hätten, nicht widersprechen.
AUF DEM DACH DER WELT
Wir nahmen für uns - Nasenloch eingeschlossen -einen Raum im Hauptgebäude der Herberge, mieteten für unsere Pferde einen Pferch draußen und stellten uns darauf ein, solange in Buzai Gumbad zu bleiben, bis der Winter dem Frühling wich. Die karwansarai war nicht gerade ein elegantes Unternehmen, und da sämtliches Material und die meisten Vorräte von weit her jenseits der Berge hergeschafft werden mußten, knöpfte Iqbal seinen Gästen für ihren Unterhalt eine Menge Geld ab. Trotz allem war es hier jedoch behaglicher als nötig, denn schließlich gab es gar nichts anderes, und weder Iqbal noch seine Vorfahren hatten sich jemals die Mühe machen müssen, mehr als bloße Unterkünfte und einfaches Essen zur Verfügung zu stellen.
Das Hauptgebäude war zweistöckig gebaut -was ich bisher noch bei keiner karwansarai erlebt hatte -, wobei das Erdgeschoß Stallungen für Iqbals eigene Rinder und Schafe enthielt, die für ihn sowohl Ersparnis als auch Speisekammer bedeuteten. Der Oberstock war für die Menschen da und wurde von einem offenen Gang umgeben, der vor jeder Schlafkammer ein Kotloch enthielt, so daß die Ausscheidungen der Gäste zum Wohle einer mageren Hühnerschar hinunterfielen auf den Hof. Da die Wohnräume über den Stallungen gelegen waren, kamen wir in den Genuß der von den Tieren heraufsteigenden Wärme; der damit verbundene Gestank war weniger erfreulich, aber immer noch nicht so schlimm wie unser eigener und der anderer Gäste, die seit langer Zeit weder sich noch ihre Kleider hatten waschen können. Der Wirt verschwendete das aus getrocknetem Mist bestehende Brennmaterial ungern für etwas so Überflüssiges wie einen hammam oder heißes Wasser für die Wäsche.
Da ziehe er es vor, wie er sagte und auch wir Gäste es taten, unsere Schlafstätten nachts warm zu halten. Iqbals sämtliche Lagerstätten waren nach der überall im Osten kang genannten Art eingerichtet, stellten also eine hohle Plattform aus übereinandergelegten Steinen dar, auf die Bretter mit vielen Lagen Kamelhaardecken gelegt worden waren. Ehe man sich schlafen legte, hob man die Bretter hoch, streute etwas getrockneten Mist in den kang und verteilte diesen auf den wenigen verbliebenen Glutstücken. Ein Neuling machte dabei anfangs Fehler und fror danach entweder die ganze Nacht hindurch oder setzte die Bretter unter ihm in Brand. Doch mit einiger Übung lernte er, das Feuer so anzulegen, daß es die ganze Nacht hindurch schwelte und eine gleichmäßige Wärme verströmte, aber auch nicht soviel Rauch entwickelte, daß alle im Raum Befindlichen erstickten. Außerdem wies ein jeder Gastraum noch eine Lampe auf, die Iqbal eigenhändig hergestellt und wie ich sie nirgendwo sonst gesehen hatte. Um eine solche Lampe zu fertigen, nahm er eine Kamelblase, blies sie kugelförmig auf, bemalte sie dann mit einem Lack, der dafür sorgte, daß sie die Form behielt und nicht wieder schrumpfte, und überzog sie außerdem mit einem vielfarbenen Muster. Schnitt man ein Loch hinein, konnte man sie über eine Kerze oder eine Öllampe stülpen, was ein hübsches, sanft schimmerndes Licht ergab.
Die täglichen Mahlzeiten in der Herberge zeichneten sich durch muslimische Eintönigkeit aus: Hammel und Reis, Reis und Hammel, gekochte Bohnen, große Scheiben eines dünn ausgerollten, nur durch viel Kauen zu zerkleinerndes, nan genannten Brotes und als Getränk einen grünlichen cha, der unerklärlicherweise immer leicht nach Fisch schmeckte. Allerdings war Wirt Iqbal immer bemüht, wann immer er einen Vorwand hatte, etwas Abwechslung in diese Monotonie zu bringen: an jedem muslimischen Sabbath-Freitag sowie an den verschiedenen muslimischen Festen, die es diesen Winter gab. Ich habe keine Ahnung, was an diesen Tagen gefeiert wurde sie hießen etwa Zu-l-Heg-geh oder Yom Ashura -, doch bekamen wir an solchen Tagen Rindfleisch statt Hammel sowie einen Reis vorgesetzt, der pilaf hieß und rot oder gelb oder blau gefärbt war. Manchmal gab es auch kleine, samosa genannte Fleischpasteten und eine Art Sorbet aus Schnee mit Pistazienoder Sandelholzgeschmack, und einmal -aber auch wirklich nur dies eine Mal, doch habe ich den Geschmack heute noch auf der Zunge -gab es zum Nachtisch einen aus zerstoßenem Ingwer und Knoblauch bereiteten Pudding.
Nichts konnte uns davon abhalten, die verschiedenen Gerichte anderer Völker und Religionen zu essen, was wir sogar sehr oft taten. In den kleineren Außengebäuden der karwansarai und in den Zelten ringsum lebten Menschen aller möglichen Lander, Sitten und Gebräuche und Sprachen. Da gab es persische und arabische Kaufleute sowie Pakhtuni-Pferdehändler, die gleich uns aus dem Westen kamen, große blonde Russniaken aus dem hohen Norden und gelblichbraune, vierschrötige Tazhiken aus dem Land nicht ganz so hoch im Norden, plattnasige Bho aus dem weiter östlich gelegenen Land, das Hoher Hort der Bho oder in ihrer Sprache To-Bhot hieß, dunkelhäutige kleine Hindus und tamilische Cholas aus dem Süden Indiens, sodann grauäugige und hellhaarige Hunzukut und Kalash genannte Menschen nicht weit im Süden von hier, etliche Juden unbestimmter Herkunft und viele andere. Das war die bunt zusammengewürfelte Einwohnerschaft, die Buzai Gumbad zumindest im Winter - zu einem Ort von der Größe einer Stadt machte und die sich alle darum bemühten, sie zu einem gut funktionierenden Gemeinwesen zu machen, in dem man gern lebte. Ja, man muß wirklich sagen, daß hier ein wesentlich
angenehmeres und freundschaftlicheres
Nachbarschaftsverhältnis herrschte als in vielen ständigen
Siedlungen, die ich kennengelernt habe.
Zu den Mahlzeiten konnte ein jeder am Kochfeuer einer jeden Familie Platz nehmen und wurde willkommen geheißen - selbst wenn man außerstande war, eine für beide Seiten verständliche Sprache zu sprechen -, wobei man davon ausging, daß jeder auch am Kochfeuer des nächsten Nachbarn willkommen geheißen würde. Als der Winter zu Ende ging, hatten wir Polos vermutlich jede Art von Essen gekostet, das in Buzai Gumbad gekocht wurde, und, da wir selbst nicht kochten, viele Menschen in Iqbals Speisehalle zu Gast gehabt. Abgesehen
von den vielen Essenserfahrungen -von denen einige so köstlich waren, daß sie es wert waren, sich daran zu erinnern, andere hingegen nicht, da sie einfach furchtbar waren -, hatte das Gemeinwesen aber auch noch andere Abwechslungen zu bieten. Fast jeder Tag war für irgendeine Volksgruppe Festtag, und man freute sich, wenn alle anderen im Lager kamen, um zuzusehen, sich ihnen beim Musikmachen zuzugesellen, zu singen und zu tanzen und an ihren sportlichen Wettkämpfen teilzunehmen. Selbstverständlich hatte nicht alles in Buzai Gumbad Feiertagscharakter, doch gelang es, die unterschiedlichsten Leute auch noch bei ernsteren Anlässen zusammenzubringen. Da alle den unterschiedlichsten Gesetzesweisen anhingen, hatten sie einen Mann von jeder Hautfarbe, Zunge und Religion, die dort zusammengekomen waren, ausgewählt, gleichsam einen Gerichtshof zu bilden und Beschwerden über Betrügereien, Unruhestiftung und andere Vergehen anzuhören.
Ich habe Gerichtshof und Feste in einem Atemzug genannt, weil sie beide bei einem Zwischenfall eine Rolle spielten, der mich amüsierte. Die Kalash genannten, recht schönen Menschen waren schon ein streitsüchtiger Haufen -allerdings stritten sie ausschließlich untereinander und nie blindwütig; für gewöhnlich endeten ihre Auseinandersetzungen im allgemeinen Gelächter. Sie waren aber auch lustig und musikbegeistert und von anmutigem Wesen; sie kannten eine ganze Reihe von verschiedenen Kalash-Tänzen, die zum Beispiel kikli und dhamal hießen und die sie fast jeden Tag tanzten. Einer ihrer Tänze jedoch -luddi genannt -bleibt nach meinen Erfahrungen mit Tänzen einzigartig.
Als ich ihn das erste Mal erlebte, wurde er von einem Kalash-Mann getanzt, der vor den bunt zusammengewürfelten Gerichtshof von Buzai Gumbad gerufen und beschuldigt worden war, einem seiner Nachbarn -gleichfalls ein Kalash ein paar Kamelglocken gestohlen zu haben. Als das Gericht ihn mangels Beweises freisprach, hoben sämtliche anwesenden Kalash -der Kläger eingeschlossen -ein ohrenbetäubendes Konzert aus quietschenden und klirrenden Flöten und chimtaMundorgeln und Handtrommeln an, der Mann fing mit wirbelnden Armen springend den luddi-Tanz an zu tanzen, und schließlich schloß sich die gesamte Familie diesem Tanz an. Als nächstes sah ich den Mann den luddi-Tanz beginnen, dem die Kamelglocken gestohlen worden waren. Als es dem Gericht nicht möglich war, die Glocken wiederzubeschaffen, noch den Schuldigen zu finden, den man bestrafen konnte, gebot es, eine Sammlung bei allen Haushaltsvorständen im gesamten Lager zu veranstalten, um dem Bestohlenen den Verlust zu ersetzen. Das bedeutete zwar nur wenige Kupferlinge von jedem, doch war die Summe, die dabei zusammenkam, wahrscheinlich mehr wert als die gestohlenen Glocken. Als dem Bestohlenen das bei der Sammlung zusammengekommene Geld übergeben wurde, hob die gesamte Kalash-Gemeinde -der Beschuldigte eingeschlossen -wiederum ein ohrenbetäubendes Konzert von Flöten, Mundorgeln und Trommeln an, und dieser Mann tanzte den wirbelnden, springenden luddi-Tanz, dem sich gleich darauf die ganze Familie anschloß. Der luddi-Tanz, so erfuhr ich, ist ein Kalash-Tanz, den die glücklich streitenden Kalash ausschließlich und nur in der Absicht tanzen, einen Sieg bei einem Streit zu feiern. Ich wünschte, ich könnte für das streitsüchtige Venedig etwas Ähnliches einführen.
Ich fand, daß der bunt zusammengewürfelte Gerichtshof in diesem Falle sehr weise geurteilt hatte, wie er es meiner Meinung nach in den meisten Fällen tat, die immerhin häufig recht heikel waren. Von allen in Buzai Gumbad versammelten Menschen waren vermutlich keine zwei gewohnt, sich nach denselben Gesetzen zu richten (oder gegen sie zu verstoßen). Trunkenheit und Vergewaltigung schien unter den nestorianischen Russniaken genauso an der Tagesordnung zu sein wie die Sodomie unter den muslimischen Arabern; beides galt den heidnischen und religionslosen Kalash als Gipfel der Verworfenheit. Kleinere Diebereien gehörten für die Hindus zum täglichen Leben, was die Bho wiederum nachsichtig verziehen, die alles, was nicht ausdrücklich angebunden war, als niemandem gehörig und vogelfrei betrachteten. Den ebenso verdreckten wie aufrechten Tazhiken hingegen galt Diebstahl als großer Frevel. Infolgedessen mußten die Mitglieder des Gerichtshofs sich schon auf einem äußerst schmalen Pfad bewegen, um auf annehmbare Weise Gerechtigkeit walten zu lassen, ohne gegen die anerkannten Sitten und Gebräuche einer jeden Gruppe zu verstoßen. Dabei war nicht jedes vor Gericht gebrachte Vergehen so trivial wie die Sache mit den gestohlenen Kamelglocken.
Einer der Fälle, die vor dem Eintreffen von uns Polos in Buzai Gumbad vor diesem Gericht verhandelt wurden, wurde immer wieder leidenschaftlich diskutiert. Ein älterer arabischer Händler hatte der jüngsten und hübschesten seiner vier Frauen vorgeworfen, ihn verlassen zu haben und in das Zelt eines jungen und gutaussehenden Russniaken gezogen zu sein. Der Gatte war außer sich, wollte sie aber nicht zurückhaben; vielmehr wollte er, daß sie und ihr Liebhaber zum Tode verurteilt würden. Der Russniake machte geltend, daß nach den Gesetzen seiner Heimat eine Frau Freiwild sei und dem gehöre, der sie sich genommen habe. Außerdem, behauptete er, liebe er sie aufrichtig. Bei der Frau handelte es sich um eine Kirgisin, die erklärte, sie finde ihren rechtmäßigen Gatten abstoßend, da er nie anders als auf die unanständige arabische Weise in sie eindringe -nämlich in den Hintereingang -, und sie meine, ein Recht darauf zu haben, sich einen anderen Partner zu suchen, und sei es nur, um endlich einmal eine andere Position einnehmen zu können. Doch abgesehen davon, sagte sie, liebe sie den Russniaken aufrichtig. Ich fragte unseren Wirt Iqbal, was denn bei der Verhandlung herausgekommen sei. (Iqbal als einer der wenigen ständigen Bewohner Buzai Gumbads und führender Bürger wurde selbstverständlich in das neue Gericht eines jeden Winters gewählt.)
Achselzuckend meinte er: »Eine Ehe ist in jedem Land eine Ehe, und die Ehefrau ist der Besitz des Ehemanns. Das mußten wir dem gehörnten Ehemann in diesem Falle zugute halten. Infolgedessen erhielt er die Erlaubnis, die ungetreue Gattin zu töten. Nur versagten wir ihm jede Teilnahme, als es darum ging, das Schicksal des Liebhabers zu bestimmen.«
»Und wie wurde der bestraft?«
»Er wurde nur dazu gebracht aufzuhören, sie zu lieben.«
»Aber wo sie doch tot war... Welchen Sinn hatte es da...?«
»Wir beschlossen, auch seine Liebe zu ihr müsse sterben.«
»Ich... ich verstehe nicht ganz. Wie wollte man das anstellen?«
»Der nackte Leib der Toten wurde auf einem Berghang
hingelegt. Der überführte Ehebrecher wurde vor ihr angekettet,
aber so, daß er sie nicht berühren konnte. So überließ man sie
sich selbst.«
»Damit er neben ihr verhungerte7«
»Aber nein. Ihm wurde zu essen und zu trinken gereicht, und
überhaupt hatte er es ganz bequem, bis man ihn freiließ. Jetzt
ist er frei und auch noch am Leben, aber lieben tut er sie nicht
mehr.«
Ich schüttelte den Kopf. »Verzeiht, Mirza Iqbal, aber das
verstehe ich wirklich nicht.«
»Ein unbestatteter Leichnam bleibt nicht einfach so liegen. Er
verändert sich von Tag zu Tag. Am ersten Tag kommt es nur zu
einer kaum merklichen Verfärbung an jenen Stellen, an denen
zuletzt Druck ausgeübt wurde. Im Falle dieser Frau handelte es
sich um eine gewisse Marmorierung dort, wo die Hände des
Gatten sie gewürgt hatten. Der Liebhaber mußte dasitzen und
zusehen, wie die Flecken auf ihrem Fleisch erschienen.
Vielleicht war das noch nicht allzu schlimm. Aber einen Tag
später oder so beginnt der Leib einer Leiche aufgedunsen zu
werden, und noch später fängt er an zu rülpsen und auch sonst
dem in ihm entstandenen Druck auf höchst unziemliche Weise
nachzugeben. Später kommen dann die Fliegen...«
»Danke, ich fange an zu verstehen.«
»Ja, und all das mußte er mitansehen. In der Kälte dort oben
verlangsamt sich der Prozeß ein wenig, aber im Grunde ist die
Verwesung nicht aufzuhalten. Und während die Leiche verwest,
lassen die Aasgeier sich nieder, wagen sich die shaqal-Hunde
mutig näher heran und...«
»Ja, ja.«
»Innerhalb von zehn Tagen oder so, als die sterblichen Überreste sich auflösten und verflüssigten, war dem jungen Mann alle Liebe zu ihr vergangen. Jedenfalls nehmen wir das an. Er war inzwischen wahnsinnig geworden. Er ist mit einer karwan von Russniaken abgezogen, allerdings an einem Seil hinter ihrem letzten Wagen. Er lebt zwar immer noch, doch wenn Allah gnädig ist, lebt er vielleicht nicht mehr lange.«
Die karwans, die auf dem Dach der Welt überwinterten, führten alle möglichen Waren mit sich; viele davon -Seide und Gewürze, Edelsteine, Felle und Pelze -bewunderte ich, doch die meisten waren völlig neu für mich. Von einigen Handelsartikeln hatte ich bis dato noch nicht einmal gehört. Eine Samojeden-karwan zum Beispiel brachte aus dem hohen Norden in Ballen verpackte Scheiben dessen, was die Moskowiter Glas nannten. In der Tat sah es aus wie zu Rechtecken und Quadraten zurechtgeschnittenes Glas; eine jede Scheibe war armlang im Quadrat groß; nur war die Durchsichtigkeit der Scheiben durch Sprünge und andere Fehler beeinträchtigt. Ich erfuhr, daß es sich in der Tat nicht um richtiges Glas handelte, sondern um ein Produkt von noch einem weiteren merkwürdigen Gestein. Im Gegensatz zum Amiant oder Asbest, der ja zerfasert, lassen sich die Scheiben dieses Felsgesteins auseinandernehmen wie die Seiten eines Buches, nur daß diese Seiten dünn, spröde und von trüber Durchsichtigkeit waren. Dem echten Glas, wie es in Murano hergestellt wird, war es weit unterlegen, doch ist die Kunst der Glasherstellung ohnehin fast überall im Osten unbekannt, so daß das Moskowiter Glas einen annehmbaren Ersatz bot und den Samojeden, wie sie behaupteten, einen guten Preis eintrug.
Vom anderen Ende der Welt, also aus dem fernen Süden, brachte eine karwan von tamilischen Chola aus Indien schwere Säcke nach Balkh, die nichts weiter enthielten als Salz. Ich lachte über die dunkelhäutigen kleinen Männer. In Balkh hatte ich keinerlei Salzmangel bemerkt und hielt es infolgedessen für wenig ertragreich, etwas so allgemein Bekanntes wie Salz durch einen ganzen Kontinent zu schleppen. Die kleinen schüchternen Chola baten mich um Nachsicht in bezug auf ihre unterwürfige Erklärung: Es handele sich nämlich, wie sie sagten, um »Meersalz«. Ich kostete es und fand, daß es nicht anders schmeckte als anderes Salz auch. Wieder lachte ich. Da gingen sie mit ihrer Erklärung noch weiter: Meersalz besitze eine bestimmte Eigenschaft, die anderen Salzarten abgehe. Dieses Meersalz zum Würzen zu benutzen, verhindere, daß die Leute einen Kropf bekämen, und aus diesem Grund gingen sie davon aus, für ihr Meersalz einen Preis zu erzielen, der die Mühe des Transports lohne.
»Zaubersalz?« spottete ich, denn ich hatte eine Menge von diesen schrecklichen Kröpfen zu sehen bekommen und wußte, daß es mehr als eines bißchen Salzes bedurfte, um sie loszuwerden. Wieder lachte ich über die Leichtgläubigkeit und Torheit der Chola, und sie machten einen entsprechend gedemütigten Eindruck, woraufhin ich meiner Wege ging.
Die Reit-und Packtiere, die am Saum des Sees in Pferchen beisammenstanden, waren nahezu ebenso unterschiedlich und grundverschieden wie ihre Besitzer. Es gab selbstverständlich ganze Pferdeherden und auch ein paar sehr anständige Maultiere. Doch die vielen Kamele, die ich hier sah, waren von anderer Art als diejenigen, die ich zuvor gesehen hatte und wie man sie in den Tiefland-Wüsten benutzt. Diese waren nicht so groß und hatten nicht so lange Beine, sondern waren überhaupt massiger gebaut und sahen mit dem langen dicken Fell womöglich noch schwerfälliger aus. Auch hatten sie eine Mähne wie ein Pferd, nur, daß diese von der Wamme ihres langen Halses herunterhing und nicht von der Kruppe. Das Besondere an ihnen war jedoch, daß sie zwei Höcker aufwiesen statt nur einen; das machte es leichter, sie zu reiten, denn sie wiesen ja eine natürliche Sitzfläche zwischen den beiden Höckern auf. Man sagte mir, diese baktrischen Kamele seien am besten für winterliche Verhältnisse und bergiges Terrain geeignet, die einhöckerigen arabischen Kamel hingegen für Hitze, Durst und Wüstensand.
Noch ein Tier, das ich nicht kannte, war das Lasttier der Bho, von ihnen yyag von den meisten anderen Menschen yak genannt. Bei diesem Tier handelte es sich um ein kräftig und gedrungen gewachsenes Geschöpf mit dem Kopf eines Rinds und dem Schweif eines Pferdes -vorn und hinten an einem Körper, der dem Umriß und der Größe nach an einen Heuhaufen erinnerte. Der yak mag am Widerrist mannshoch sein, doch den Kopf trägt er tief unten, etwa in der Höhe des menschlichen Knies. Das Tier ist zottig, hat rauhes Haar schwarz oder grau oder hell und dunkel gefleckt -, und dieses Fell hängt bis auf den Boden herunter und verbirgt die Hufe dem Blick, die für den massigen Körper eigentlich zu zierlich aussehen. Dabei sind diese Hufe erstaunlich trittsicher und besonders für den Marsch über schmale Bergpfade geeignet. So ein yak grunzt und brummt wie ein Schwein und bewegt im Gehen unentwegt mahlend die Kiefer.
Später erfuhr ich, daß das yak-Fleisch ebenso gut schmeckt wie das beste Rindfleisch, doch während unseres Aufenthaltes dort hatte kein yak-Besitzer in Buzai Gumbad Gelegenheit, eines seiner Tiere zu schlachten. Allerdings molken die Bho die yackühe ihrer Herden, ein Unterfangen, das angesichts der gewaltigen Größe und der Unberechenbarkeit dieser Tiere nicht wenig Mut erfordert. Diese Milch, von der die Bho soviel hatten, daß sie freigebig anderen davon abgaben, wäre lobenswert köstlich gewesen, hätte sie nicht so viele yak-Haare enthalten. Das yak liefert auch noch andere brauchbare Dinge: aus dem rauhen Haar lassen sich Zelte herstellen, die so widerstandsfähig sind, daß sie selbst heftigen Gebirgsstürmen standhalten, und sehr viel feinere Schweifhaare, aus denen sich ausgezeichnete Fliegenwedel herstellen lassen.
Unter den kleineren Tieren in Buzai Gumbad sah ich viele von den rotbeinigen Rebhühnern, die ich andernorts in freier Wildbahn erlebt hatte; diesen hier waren die Flügel beschnitten worden, damit sie nicht davonflogen. Ich nahm an, daß sie entweder als Spieltiere oder als Insektenvertilger dienten - denn jedes Zelt und jedes Gebäude wimmelte von Ungeziefer. Bald jedoch erfuhr ich, daß diese Rebhühner für die Frauen der Kalash und Hunzukut einen ganz anderen und besonderen Zweck erfüllten.
Sie hackten diesen Vögeln die Beine ab, steckten das Vogelfleisch in den Topf und verbrannten die Beine zu einer feinen Asche, die in Form eines violetten Pulvers aus dem Feuer herauskam. Dieses Pulver benutzten sie so, wie andere Frauen im Orient al-kohl benutzen -als Schönheitsmittel, die Lider und Schatten unter den Augen zu vertiefen und die Augen damit vorteilhafter zur Geltung zu bringen. Die Kalash-Frauen bestrichen darüber hinaus ihr Gesicht über und über mit einer Salbe, die aus dem gelben Samen der bechu genannten Blumen hergestellt wurde, und ich kann bezeugen, daß Frauen mit einem vollständig leuchtend gelb geschminkten Gesicht, aus denen nur die violett umrandeten Augen hervorstachen, schon einen ganz besonderen Anblick bieten. Zweifellos meinten diese Frauen, die Bemalung mache sie sexuell attraktiver, denn ihr sonstiger Lieblingsschmuck bestand aus einer Kappe oder Haube und einem knappen Umhang aus unzähligen kleinen, kauri genannten Muscheln, und die kauri-Muschel ist, wie jedermann leicht erkennt, ein vollkommenes Abbild der weiblichen Geschlechtsorgane, nur winzig klein.
Übrigens: voller Freude hörte ich, daß Buzai Gumbad einen Ausweg aus sexueller Bedrängnis bot, der nichts mit Vergewaltigung bei Trunkenheit, Sodomie und besonders sträflichem Ehebruch zu tun hatte. Wieder war es Nasenloch, der das herausbekommen hatte, kaum daß wir einen oder zwei Tage hier gewesen waren; wieder schob er sich seitlich an mich heran wie zuvor in Balkh und tat so, als sei er entsetzt über seine Entdeckung.
»Ein schändlicher Jude, diesmal, Mirza Marco. Er hat das hinterste kleine Gebäude der karwansarai gemietet, welches am weitesten vom See entfernt ist. Nach außenhin ist es ein Laden, in dem Messer und Schwerter und Werkzeuge geschliffen und geschärft werden. Hinten im Haus hält er jedoch eine Schar von Frauen aller Rassen und Hautfarben. Als guter Muslim sollte ich diesen Aasgeier, der sich hier auf dem Dach der Welt niedergelassen hat, anzeigen, doch werde ich das nicht tun, es sei denn, Ihr verlangt es von mir, nachdem Ihr ein christliches Auge auf diese Einrichtung geworfen habt.«
Ich sagte ihm, das werde ich tun, und so tat ich es denn auch
ein paar Tage später, nachdem wir ausgepackt und uns
eingerichtet hatten. Vorn im Laden hockte zusammengekauert
ein Mann und hielt ein Sichelblatt an einen Schleifstein, den er
mit Hilfe eines Tretmechanismus in Gang gesetzt hatte. Hätte
er kein Scheitelkäppchen getragen, man hätte ihn für einen
khers-Bären halten können, denn er war im Gesicht stark
behaart, und diese Locken und Barthaare schienen
überzugehen in einen ebenso bauschigen wie flauschigen
Pelzüberwurf. Mir fiel gleich auf, daß es sich bei dem Pelz um
kostbaren Karakul handelte -ein überaus elegantes
Kleidungsstück, wenn man so tat, als wäre man nichts weiter
als ein Scherenschleifer. Ich wartete auf eine Unterbrechung im
knirschenden Surren des Schleifsteins und des Funkenregens,
den er versprühte.
Dann sagte ich, so wie Nasenloch es mir eingeschärft hatte:
»Ich habe ein besonderes Werkzeug, das ich gern geschärft
und eingeölt hätte.«
Der Mann hob den Kopf, und ich blinzelte. Haar, Bart und
Augenbrauen sahen nach krusseligem rotem Pilzwuchs aus,
der anfing, grau zu werden, seine Augen waren wie
Brombeeren und seine Nase wie die . Klinge eines shimshir-
Säbels.
»Ein Dirham«, sagte er, »oder zwanzig shahi oder hundert
kauri-Muscheln. Wer als Fremder zum ersten Mal
hierherkommt, bezahlt im voraus.«
»Ich bin aber kein Fremder«, sagte ich gefühlvoll. »Kennt Ihr
mich denn nicht?«
»Ich kenne niemand. Auf diese Weise bleibe ich im Geschäft an
einem Ort, in dem es höchst widersprüchliche Gesetze gibt.«
»Aber ich bin Marco.«
»Hier legt Ihr Euren Namen ab, sowie Ihr das Untergewand
ablegt. Werde ich von irgendeinem naseweisen Mufti ins Verhör
genommen, kann ich wahrheitsgemäß sagen, daß ich keine
Namen kenne außer meinem eigenen, und der lautet Shimon.«
»Der Tzaddik Shimon?« fragte ich frech. »Einer von den
Lamed-vav? Oder alle sechsunddreißig zusammen?«
Er schien weder erschrocken noch mißtrauisch. »Ihr sprecht
Iwrith! Jude seid Ihr nicht! Was wißt Ihr von den Lamed-vav?«
»Nichts weiter, als daß ich ihnen offenbar immer wieder
begegne.« Ich seufzte. »Eine Frau namens Esther hat mir
gesagt, wie sie genannt werden und was sie tun.«
Voller Abscheu sagte er: »Genau kann sie es Euch nicht erzählt
haben, wenn Ihr einen Bordellbesitzer für einen Tzaddik haltet.«
»Sie sagte, die Tzaddikim täten Gutes für die Menschen. Das
tut ein Bordell meiner Meinung nach auch. -Aber wollt Ihr mich
denn nicht warnen, wie sonst auch immer?«
»Das habe ich gerade getan. Die karwan-Muftis können höchst
unangenehm werden. Posaunt Euren Namen hier also nicht so
heraus.«
»Ich sprach von der Blutrünstigkeit der Schönheit.«
Er stieß die Luft durch die Nase. »Wenn Ihr in Eurem Alter die
Gefahren der Schönheit noch nicht kennengelernt habt,
Fremder, will ich es nicht unternehmen, einen Narren
aufzuklären. Jetzt einen Dirham oder den Gegenwert davon,
oder verschwindet.«
Ich ließ die Münze in seine schwielige Hand fallen und sagte:
»Ich möchte gern eine Frau, die keine Muslim ist. Zumindest
nicht tabzir. Und falls möglich, hätte ich zur Abwechslung gern
mal eine, mit der ich auch reden kann.«
»Dann nehmt das Domm-Mädchen«, grunzte er. »Die hört nie
auf zu reden. Durch die Tür da, zweiter Raum rechterhand.« Er
beugte sich wieder über die Sichel, und das schabende
Geräusch und das Funkensprühen setzten wieder ein.
Wie das Bordell in Balkh bestand auch dieses aus einer Anzahl
von Räumen, die man besser Zellen genannt hätte und die vom
Korridor abgingen. Die Zelle des Domm-Mädchens war kärglich
eingerichtet: das Kohlenbecken mit getrocknetem Mist lieferte
Wärme und Licht -und Rauch und Gestank -und fürs
Gewerbliche gab es eine hindora genannte Art Bett. Dabei
handelt es sich um ein Lager, das nicht auf Füßen steht, sondern an vier Seilen vom Deckenbalken herunterhängt und von sich aus Bewegungen denen hinzufügt, die auf ihm gemacht werden.
Da ich das Wort Domm nie zuvor gehört hatte, wußte ich nicht, was für eine Art Mädchen mich erwartete. Diejenige, die müßig auf der hindora hockte und hin und her schwenkte, entpuppte sich als eine neue Erfahrung für mich: ein Mädchen von so dunkler Hautfarbe, daß sie fast schwarz genannt werden könnte. Doch abgesehen davon war sie durchaus annehmbar und von angenehmer Gestalt und hübschem Gesicht. Sie hatte feingeschnittene, keineswegs äthiopisch-grobe Züge, und ihr Leib war zwar klein und schlank, aber wohlgeformt. Sie sprach mehrere Sprachen, unter anderem Farsi, und so konnten wir uns unterhalten. Ihr Name, sagte sie, sei Chiv, was in der Romm-Sprache, ihrer Muttersprache also, Klinge bedeute.
»Romm? Der Jude hat gesagt, du wärest eine Domm.«
»Nichts da von Domm!« begehrte sie wütend auf. »Ich bin eine Romni! Ich bin eine Romm-juvel!« Da ich keine Ahnung hatte, weder was ein Domm noch was ein
Romm sei, ging ich einem Streit aus dem Wege, indem ich zur Tat dessen schritt, weswegen ich hergekommen war. Deshalb entdeckte ich bald, daß, was immer das Juwel Chiv sonst sein mochte -und sie behauptete, der muslimischen Religion anzugehören -, sie in jedem Fall ein vollständiges Juwel war, jedenfalls kein auf Muslim-Art versehrtes. Ihre weiblichen Geschlechtsteile waren -nachdem ich durch den dunkelbraunen Zugang eingetreten war -ebenso hübsch rosig wie die jeder anderen Frau. Auch erkannte ich, daß Chiv ihr Entzücken keineswegs nur spielte, sondern das Ganze genauso sehr genoß wie ich auch. Als ich mich hinterher träge danach erkundigte, wie sie denn zu dieser Bordelltätigkeit gekommen sei, erzählte sie mir keine tränenreiche Geschichte, wie sie so tief hatte fallen können, sondern sagte munter:
»Ich würde sowieso zina machen, das, was wir surata nennen, denn es macht mir Spaß. Wenn man dann für das surataMachen auch noch bezahlt wird, um so besser. Würdet Ihr denn einen Lohn dafür zurückweisen, falls Euch angeboten würde, Ihr bekämet welchen für jedesmal, da Ihr das Vergnügen habt, Wasser zu lassen?«
Nun, dachte ich, Chiv war vielleicht kein Mädchen blumiger Gefühle, aber sie war ehrlich. Ich gab ihr sogar einen Dirham, den sie nicht mit dem Juden zu teilen brauchte. Und beim Verlassen der Scherenschleiferwerkstatt bereitete es mir ein diebisches Vergnügen, diesem gegenüber eine bissige Bemerkung zu machen.
»Ihr hattet unrecht, alter Shimon. Wie ich das schon des öfteren
bei Euch erlebt habe. Das Mädchen ist eine Romm.« »Romm. Domm. Diese Unseligen legen sich jeden Namen zu, nach dem ihnen der Sinn steht«, sagte er gleichmütig. Doch gleich danach zeigte er sich ein wenig gesprächiger, als er es bei meinem Kommen gewesen war. »Ursprünglich hießen sie Dhoma und stellten eine der tiefststehenden Klassen der Dschat dar, eines Hindu-Volkes in Indien. Die Dhoma gehörten zu den Unberührbaren, den Verabscheuten und Verachteten. Deshalb verlassen sie in kleinen Gruppen Indien, um woanders bessere Lebensbedingungen zu suchen. Mag der Himmel wissen, wie sie das anstellen wollen, denn außer Tanzen und Huren, Kesselflicken und Stehlen können sie nichts. Und Sichverstellen. Wenn sie sich Romm nennen, tun sie das nur, um damit anzudeuten, sie stammten von den Caesaren des Abendlands ab. Nennen sie sich jedoch Atzigän, tun sie das, um durchblicken zu lassen, sie stammten von dem Eroberer Alexander ab. Und nennen sie sich Egypsies, wollen sie, daß man sie für Abkömmlinge der Pharaonen hält.« Er lachte. »Dabei stammen sie nur von den schweinischen Dhoma ab; dafür sind sie bemüht, alle Länder der Erde mit ihrer Anwesenheit zu beglücken.«
Ich sagte: »Ihr Juden lebt doch auch über die ganze Welt verstreut. Wie kommt Ihr dazu, auf sie herabzublicken, bloß weil sie das gleiche tun?«
Er schaute mir in die Augen, antwortete dann jedoch wohlüberlegt, so als hätte ich diese bissige Bemerkung nicht gemacht. »Gewiß, wir Juden passen uns den Umständen an, die wir vorfinden, wenn wir irgendwohin kommen. Aber die Domm tun etwas, das wir nie tun würden: Anerkennung dadurch suchen, daß wir die Religion der Völker annehmen, unter denen wir lebten.« Und wieder lachte er. »Seht Ihr? Ein verachtetes Volk findet immer noch ein unter ihm stehendes, auf das es herabblicken und das es verachten kann.«
Die Nase rümpfend sagte ich: »Daraus folgert ja wohl, daß auch die Domm noch jemand haben, auf den sie herabblicken können.«
»O, ja. Auf jeden anderen in der Welt. In ihren Augen seid Ihr und bin ich und sind alle anderen Menschen Gazhi, was nichts anderes heißt als ›Gimpel, Opfer‹, diejenigen, die man belügen und betrügen darf.«
»Nun, ein hübsches Mädchen wie Eure Chiv da hinten braucht
doch nicht zu betrügen...« Unwirsch schüttelte er den Kopf. »Als Ihr hier hereinkamt, habt Ihr was von Schönheit gesagt, und daß man ihr gegenüber Mißtrauen bewahren sollte. Habt Ihr irgend etwas von Wert bei Euch getragen, als Ihr kamt?«
»Meint Ihr, ich sei ein Esel, daß ich irgendwas von Wert in ein Hurenhaus mitbrächte? Nur ein paar Münzen und meinen Dolch. Wo ist mein Dolch?«
Shimon setzte ein mitleidiges Lächeln auf. An ihm vorüber stürmte ich in den Hinterraum und ertappte Chiv dabei, wie sie glücklich eine Handvoll Kupferlinge zählte.
»Euren Dolch? Schon verkauft -habe ich nicht rasch gehandelt?« sagte sie, als ich schäumend über ihr stand. »Ich habe nicht erwartet, daß Ihr ihn so rasch vermissen würdet. Ich habe ihn eben an einen tazhikischen Hirten verkauft, der gerade an der Hintertür vorbeikam, und so ist er jetzt fort. Nur seid nicht böse auf mich. Ich werde jemand anders eine bessere Klinge stehlen und sie aufbewahren, bis Ihr wiederkommt; dann werde ich sie Euch geben. Ja, das werde ich tun -als Zeichen meiner Hochachtung vor Eurem guten Aussehen, Eurer Großmut und Eurem ungewöhnlichen Können beim surata.«.
So über die Maßen gelobt zu werden, half selbstverständlich, meinen Zorn zu beschwichtigen, und so erklärte ich, ich würde sie bald wieder besuchen. Gleichwohl, als ich mich das zweite Mal auf den Heimweg machte, schlich ich mich genauso heimlich an Shimon an seinem Schleifstein vorüber, wie ich bei anderer Gelegenheit in Frauenkleidern ein anderes Bordell verlassen hatte.
Wenn wir es von ihm verlangt hätten, Nasenloch wäre imstande gewesen, einen Fisch in der Wüste aufzutreiben. Als mein Vater ihn beauftragte, einen Arzt zu suchen, daß er uns seine Meinung darüber sage, ob Onkel Mafios tisichezza sich wirklich gebessert habe, hatte Nasenloch keine Schwierigkeiten, einen solchen aufzutreiben, selbst auf dem Dach der Welt. Und zwar einen sehr tüchtigen Arzt, der etwas von seiner Kunst verstand, denn diesen Eindruck machte der bereits etwas betagte und kahlköpfige Hakim Mimdad. Er war Perser, was allein ihn schon als gebildeten Mann auswies. Als Gesundheitsbewahrer begleitete er eine karwan persischer quali-Händler. Schon während der ganz allgemeinen Unterhaltung zu Beginn unserer Bekanntschaft bewies er mehr als reines Routinewissen in der Heilkunst. Ich erinnere mich noch, daß er sagte:
»Mir persönlich liegt mehr daran, Krankheiten zu verhüten, als sie heilen zu müssen, auch wenn sich durch reine Verhütung meine Börse nicht füllt. So lege ich zum Beispiel allen Müttern hier im Lager ans Herz, ihren Kindern nur abgekochte Milch zu geben. Ob es sich nun um yak-Milch, Kamelmilch oder sonst welche Milch handelt -ich rate ihnen dringend, sie zunächst in einem eisernen Topf zum Kochen zu bringen. Wie alle Welt weiß, fühlen die bösartigeren jinni und andere Dämonen sich von Eisen abgestoßen. Durch Experimente bin ich
dahintergekommen, daß durch das Abkochen die Eisensäfte
des Topfes an die Milch abgegeben werden, sich mit ihr
vermischen und auf diese Weise alle jinni abwehren, die nur
darauf lauern, die Kleinen mit irgendwelchen Kinderkrankheiten
heimzusuchen.«
»Das klingt einleuchtend«, sagte mein Vater.
»Ich trete nachdrücklich für Experimente ein«, fuhr der alte
hakim fort. »Es ist alles schön und gut mit den anerkannten
Regeln und Vorschriften in der Heilkunst, nur habe ich durch
eigene Versuche eine ganze Reihe von neuen Heilkuren
gefunden, die durchaus im Widerspruch zu den herkömmlichen
Regeln stehen. Nehmen wir nur das Meersalz. Nicht einmal der
größte aller Heilkundigen, der Weise Ibn Sina, scheint je
bemerkt zu haben, daß es irgendeinen feinen Unterschied gibt
zwischen Meersalz und solchem, das aus Salzlagerstätten im
Inland gewonnen wird. Keinem der altehrwürdigen Traktate
kann ich entnehmen, welch ein Grund für einen solchen
Unterschied besteht. Aber irgendetwas am Meersalz verhindert
die Entstehung des Kropfes und anderer Schwellungen dieser
Art im Körper, und es heilt sie auch. Das habe ich durch
Experimente bewiesen.«
Insgeheim tat ich den kleinen Chola-Salzhändlern, über die ich
mich so lustig gemacht hatte, Abbitte.
»Nun, dann kommt, Dotor Balanzon!« rief mein Onkel
dröhnend, wobei er ihn boshaft mit dem Namen einer
komischen Gestalt des venezianischen Theaters belegte.
»Bringen wir dies hinter uns, damit Ihr Euch schlüssig werdet,
was Ihr mir für meine verdammte tisichezza verschreiben wollt -
Meersalz oder gekochte Milch.«
Der hakim machte sich also an die Untersuchung, drückte
Onkel Mafio hier und klopfte ihn dort ab und stellte ihm Fragen.
Nach einiger Zeit sagte er:
»Selbstverständlich weiß ich nicht, wie schlimm der Husten
vorher war. Aber wie Ihr selbst sagtet, im Augenblick ist er nicht
besonders schlimm, und ich höre auch kaum Rasseln in seiner
Brust. Habt Ihr hier Schmerzen'«
»Nur hin und wieder«, sagte mein Onkel. »Aber das, meine ich, ist verständlich nach dem vielen Gehuste, unter dem ich gelitten habe.«
»Nun gestattet, daß ich mutmaße«, sagte Hakim Mimdad. »Ihr fühlt diesen Schmerz nur an einer Stelle. Unter Eurem linken Schlüsselbein.«
»Hm, ja. Ja, das stimmt.«
»Auch fühlt sich Eure Haut ziemlich heiß an. Habt Ihr dies Fieber ständig?« »Es kommt und geht. Es kommt, ich schwitze, es geht
vorüber.« »Öffnet den Mund, bitte.« Er spähte hinein, hob dann die Lippen in die Höhe, um sich das Zahnfleisch anzusehen. »Und jetzt haltet die Hände vor Euch hin.« Er betrachtete sie, vorn und hinten. »Und gestattet jetzt, daß ich Euch ein Haar vom Kopf rupfe?« Er tat es, und Onkel Mafio zuckte nicht zusammen. Der Arzt betrachtete es genau und bog es hin und
her. Dann fragte er: »Verspürt Ihr häufig das Bedürfnis, kut zu machen?« Mein Onkel lachte und rollte vielsagend mit den Augen. »Ich
verspüre vielerlei Bedürfnisse, und das häufig. Wie macht man
kut?«
Nachsichtig, als hätte er es mit einem Kind zu tun, klopfte der
hakim sich bedeutsam auf das Hinterteil. »Ach, dann ist kut merda«,, röhrte mein Onkel immer noch lachend. »Ja, das stimmt, ich muß es oft machen. Und zwar seit der Zeit, da der hakim in Balkh mir dies Abführmittel gegeben hat. Ich leide am cagasangue, deshalb muß ich häufig den
Abort aufsuchen. Aber was hat all das mit einer
Lungenkrankheit zu tun?«
»Ich meine, Ihr habt gar kein hasht nafri.«
»Was, keine tisichezzal« ließ mein Vater sich verwundert
vernehmen. »Aber er hat die ganze Zeit über Blut gehustet.« »Aber das stammt nicht aus der Lunge«, sagte Hakim Mimdad. »Es ist das Zahnfleisch, das Blut absondert.«
»Nun«, sagte Onkel Mafio, »wer wird schon böse darüber sein
zu hören, daß an seinen Lungen nichts is t. Allerdings vermute
ich, daß Ihr an eine andere Krankheit denkt.«
»Ich werde Euch bitten, Wasser in diesen kleinen Krug zu
lassen. Und nachdem ich den Urin auf Krankheitszeichen
untersucht habe, kann ich Euch mehr sagen.«
»Experimente«, murmelte mein Onkel.
»Richtig. Und in der Zwischenzeit, wenn Wirt Iqbal so freundlich
ist, mir ein paar Eidotter zu bringen, möchte ich, daß Ihr noch
ein paar von den Quran-Zitaten aufgeklebt bekommt.«
»Helfen die denn?«
»Zumindest schaden sie nicht. Viel von der Heilkunst besteht
eben darin: nicht zu schaden.«
Als der hakim, den kleinen Krug Urin mit der Hand zuhaltend,
damit er nicht verunreinigt werde, ging, verließ auch ich die
karwansarai. Zuerst begab ich mich zu den Zelten der
tamilischen Cholas, entschuldigte mich bei ihnen und wünschte
ihnen großen Gewinn - was sie offenbar noch nervöser machte,
als sie ohnehin immer waren -und suchte danach das Haus
des Juden Shimon auf.
Wieder bat ich, mein Werkzeug einfetten zu lassen, und bat
auch, daß wieder Chiv es tue. Wie versprochen, schenkte sie
mir einen guten neuen Dolch, und um meine Dankbarkeit zu
erkennen zu geben, bemühte ich mich, mich beim surata-
Machen selbst zu übertreffen. Hinterher, beim
Nachhausegehen, hielt ich abermals inne, um den alten
Shimon zu verspotten.
»Ihr und Eure niederträchtige Denkungsweise. Da habt Ihr all dies Abträgliche von den Komm von Euch gegeben, aber seht, was für ein wunderbares Geschenk die Frau mir im Austausch für meine alte Klinge gemacht hat.«
Gleichmütig schnaubte er und sagte: »Seid froh, daß sie ihn
Euch nicht zwischen die Rippen gestoßen hat.« Ich zeigte ihm den Dolch. »So einen habe ich noch nie gesehen. Aussehen tut er wie ein gewöhnlicher Dolch, ja? Mit
einer einzigen breiten Klinge. Aber schaut! Wenn ich ihn in eine Beute hineingejagt habe, drückte ich auf den Griff: so. Und die breite Klinge teilt sich, es werden zwei daraus, und hervor schießt diese dritte, verborgene innere und durchbohrt das Opfer noch tiefer. Ist das nicht eine herrliche Erfindung?«
»Jawohl. Jetzt erkenne ich ihn wieder. Ich habe ihn vor noch gar nicht langer Zeit ausgiebig geschliffen. Und würde vorschlagen, daß -falls Ihr ihn behalten wollt -Ihr ihn immer griffbereit habt. Der frühere Besitzer ist ein sehr großer Hunzuk aus den Bergen, der gelegentlich hereinschaut. Wie er heißt, weiß ich nicht, doch nennt alle Welt ihn den Drücker-Dolch-Mann -weil er so trefflich damit umgehen kann und blitzschnell damit bei der Hand ist, wenn die Wut mit ihm durchgeht... Müßt Ihr so plötzlich fort?«
»Mein Onkel ist krank«, sagte ich beim Hinausgehen. »Ich
sollte ihn wirklich nicht so lange allein lassen.« Ich weiß nicht, ob der Jude bloß einen groben Scherz gemacht hat, jedoch wurde ich zwischen dem Haus von Shimon und der karwansarai nicht von einem großen wutschnaubenden Hunzuk gestellt. Um ein solches Zusammentreffen zu vermeiden, hielt ich mich die nächsten paar Tage vorsichtshalber immer in der Nähe des Hauptgebäudes auf und lauschte zusammen mit meinem Vater oder Onkel den verschiedenen Ratschlägen, die Wirt Iqbal verteilte.
Als wir laut die gute Milch der yackühe priesen und uns nicht minder laut über den Mut der Bho ausließen, die es wagten, diese Ungeheuer zu melken, sagte Iqbal uns: »Es gibt einen einfachen Trick, eine yackuh zu melken, ohne dabei eine böse Überraschung zu erleben. Man braucht ihr nur ein Kalb zum Ablecken und Beschnüffeln zu geben. Dann hält sie beim Melken ganz still.«
Doch nicht jeder uns erteilte Rat war uns willkommen. Der Hakim Mimdad kam wieder, um sich mit Onkel Mafio zu besprechen, und zwar, wie er ernst erklärte, unter vier Augen mit ihm. Mein Vater, Nasenloch und ich standen dabei und
erhoben uns, um die Kammer zu verlassen, doch mit einer
herrischen Handbewegung hieß mein Onkel uns bleiben.
»Was meine karwan-Partner betrifft, habe ich keine
Geheimnisse. Was immer Ihr mir zu sagen habt, Ihr könnt es
uns allen sagen.«
Der hakim zuckte die Achseln. »Wenn Ihr dann Euren pai
jamah fallen ließet...«
Mein Onkel tat, wie ihm geheißen, und der hakim betrachtete
den unbehaarten Schritt und seinen großen zab. »Die
Unbehaartheit, ist die natürlich, oder rasiert Ihr Euch da unten'«
»Ich entferne das Haar mit einer Enthaarungscreme namens
mumum. Warum«1«
»Ohne Behaarung ist die Verfärbung gut zu erkennen«, sagte
der hakim und zeigte darauf. »Schaut Euch Euren Unterleib an.
Seht Ihr den metallisch-grauen Schimmer der Haut?«
Mein Onkel sah hin. Wir alle sahen hin. Er fragte: »Kommt das
vom mumum?«
»Nein«, sagte Hakim Mimdad. »Diese Verfärbung ist mir auch
auf der Haut Eurer Hände aufgefallen. Wenn Ihr jetzt Eure
chamus-Stiefel auszieht, werdet Ihr sie auch an den Füßen
feststellen. All diese Dinge bestätigen mir meinen Verdacht, der
mir bei der ersten Untersuchung gekommen ist und der auch
auf der Urinprobe beruht, die ich genommen habe. Hier, ich
habe sie in einen weißen Krug gegossen, damit Ihr es selbst
sehen könnt. Die Rauchfarbe des Urins.«
»So?« sagte Onkel Mafio, als er sich wieder ankleidete.
»Vielleicht habe ich an dem Tag graugefärbten pilaf gegessen.
Ich weiß es nicht mehr.«
Langsam, aber unbeirrbar schüttelte der hakim den Kopf-»Ich
habe zu viele andere Zeichen gesehen, wie ich schon gesagt
habe. Eure Fingernägel sind glanzlos. Das Haar ist spröde und
bricht leicht. Es fehlt nur eine Bestätigung, doch die müßt Ihr
irgendwo am Körper haben. Eine schwärende Geschwulst, die
nicht heilen will.«
Onkel Mafio sah ihn an, als wäre der hakim ein Zauberer, und
sagte erschrocken: »Ein Insektenstich, den ich mir schon in
Kashan geholt habe. Nichts als ein Insektenstich.«
»Zeigt ihn mir!«
Mein Onkel rollte den linken Ärmel hoch. Nahe dem Ellbogen
hatte er eine rotleuchtende kleine Stelle. Der hakim faßte sie
fest ins Auge und sagte: »Wenn ich mich irre, sagt es mir.
Zuerst ist der Insektenstich geheilt; dann hat sich eine kleine
Narbe gebildet, ganz natürlich. Doch dann brach die Schwäre
wieder auf, und zwar neben der Narbe, heilte wieder, brach
erneut auf, immer neben der alten Narbe...«
»Ihr irrt Euch nicht«, sagte mein Onkel leise. »Und was folgert
daraus?«
»Es bestätigt nur meine Diagnose -daß Ihr am kala-azar
erkrankt seid. Der Schwarzen Krankheit, der Bösen Krankheit.
Die in der Tat von einem Insektenstich ausgeht. Nur ist dieses
Insekt selbstverständlich die Verkörperung eines bösen jinni.
Eines jinni, der so hinterhältig ist, daß er die Form eines
winzigen Insekts annimmt, daß man nie auf den Gedanken
käme, es könnte soviel Unglück anrichten.«
»Ach, so groß, daß ich es nicht ertragen könnte, ist er auch
wieder , nicht. Etwas marmorierte Haut, ein wenig Husten, ein
bißchen Fieber, eine kleine Schwäre...«
»Nur, daß es leider nicht dabei bleiben wird. Die Anzeichen
werden sich vervielfältigen und immer schlimmer werden. Euer
sprödes Haar wird brechen und Ihr werdet am ganzen Körper
die Haare verlieren. Das Fieber bringt Auszehrung, Mattigkeit
und Schwäche mit sich; zuletzt werdet Ihr keine Lust mehr
haben, Euch überhaupt noch zu bewegen. Der Schmerz unterm
Schlüsselbein breitet sich von einem Milz genannten Organ im
ganzen Körper aus. Er wird sich verschlimmern und die Milz
wird sich ausbeulen, sich verhärten und wird aufhören zu
funktionieren. Die Verfärbung wird sich über die ganze Haut
ausbreiten, aus Grau wird Schwarz werden, überall werden sich
Geschwulste und Furunkel, Pusteln und Schuppen bilden, bis
Ihr am ganzen Körper - auch im Gesicht - aussehen werdet wie
über und über mit schwarzen Rosinen bedeckt. Inzwischen werdet Ihr keinen sehnlicheren Wunsch haben als den zu sterben. Und das werdet Ihr auch, sobald die Milz ihre Funktion ganz einstellt. Wenn Ihr nicht augenblicklich und fortlaufend behandelt werdet, sterbt Ihr mit Sicherheit.«
»Aber gibt es denn eine Behandlung?« »Doch. Mit diesem hier.« Hakim Mimdad zog ein kleines Stoffbeutelchen hervor. »Diese Arznei setzt sich zur Hauptsache aus dem Antimon genannten Metall zusammen, und zwar in Pulverform. Damit wird der böse jinni mit Sicherheit vertrieben; deshalb ist es ein zuverlässig wirkendes Heilmittel für die kala-azar. Wenn Ihr jetzt damit beginnt, es einzunehmen, und zwar in winzig kleinen Dosen, und es weiterhin nach Vorschrift einnehmt, wird es Euch bald bessergehen. Ihr werdet das Gewicht zurückgewinnen, das Ihr
verloren habt. Eure Kraft wird sich wieder einstellen. Ein anderes Heilmittel jedoch als dieses Antimon gibt es nicht.« »Ja und? Mehr als einmal will ich ja gar nicht geheilt werden.
Deshalb bin ich mit diesem vollauf zufrieden.« »Leider muß ich Euch aber darauf hinweisen, daß das Antimon einerseits das kala-azar zwar zum Stillstand bringt, andererseits jedoch schadet.« Er legte eine Pause ein. »Seid Ihr sicher, daß
Ihr dies Gespräch nicht doch lieber unter vier Augen führen möchtet?« Onkel Mafio sah zaudernd von einem zum anderen, straffte
dann jedoch die Schultern und sagte: »Was immer es ist - sagt
es frei heraus!« »Das Antimon ist ein Schwermetall. Nimmt der Körper es auf, sinkt es vom Magen aus in den Verdauungstrakt hinunter, übt unterwegs seine wohltätige Wirkung aus und unterdrückt den jinni des kala-azar. Da es jedoch schwer ist, sinkt es weiter in den unteren Körperbereich, das heißt, in jenen Sack, der die Kräfte der Männlichkeit birgt.«
»Dann wird mein Gemächt eben schwerer herabhängen. Ich bin kräftig genug, es zu tragen.«
»Ich nehme an, ihr seid ein Mann, der diese Manneskraft - hm gern unter Beweis stellt. Wo die Schwarze Krankheit Euch
befallen hat, ist keine Zeit zu verlieren. Solltet Ihr noch keine
Freundin in diesem Lager gefunden haben, empfehle ich, daß
Ihr Euch beeilt, Euch in das von dem Juden Shimon betriebene
Bordell zu begeben.«
Onkel Mafio ließ ein mißtönendes Lachen ertönen, das mein
Vater vielleicht besser zu deuten wußte als Hakim Mimdad.
»Ich sehe den Zusammenhang nicht. Warum sollte ich das
tun?«
»Um Eure Manneskraft zu genießen, solange Ihr noch dazu in
der Lage seid. Ich an Eurer Stelle, Mirza Mafio, würde mich
beeilen, soviel zina zu bekommen, wie ich könnte. Es gibt für
Euch nur zwei Möglichkeiten: vom kala-azar furchtbar entstellt
zu werden und schließlich daran zu sterben, oder aber -wenn
Ihr geheilt werden und am Leben bleiben wollt -ungesäumt
damit anzufangen, das Antimon zu nehmen.«
»Was soll das heißen -wenn! Selbstverständlich möchte ich
geheilt werden.«
»Überlegt es Euch gut. Manche würden lieber an der
Schwarzen Krankheit sterben.«
»In Gottes Namen -warum? Sprecht unverblümt und klar,
Mann!«
»Weil das Antimon, sobald es sich in Eurem Hodensack
sammelt, beginnt, seine andere und verderbliche Wirkung zu
zeigen, die darin besteht, Eure Hoden zu Stein werden zu
lassen. Bald werdet Ihr vollständig impotent sein - und zwar für
den Rest Eures Lebens.«
»Gesu!«
Niemand sagte einen Ton. Ein schreckliches Schweigen erfüllte den Raum, und offensichtlich traute sich niemand, es zu brechen. Schließlich ergriff Onkel Mafio selbst das Wort wieder und sagte kläglich: »Ich habe Euch Dotor Balanzon genannt, ohne zu ahnen, wie nahe ich der Wahrheit damit gekommen bin. Daß Ihr mir wirklich einen üblen Streich spielen würdet.
Mich vor eine so lachhafte Wahl zu stellen: entweder
elendiglich zugrunde zu gehen oder entmannt weiterzuleben.«
»Aber das ist die Entscheidung, vor der Ihr steht. Lange könnt
Ihr sie nicht mehr hinausschieben.«
»Ich werde zum Eunuchen?«
»Was die Wirkung betrifft - ja.«
»Keinerlei Fähigkeit mehr in der Beziehung?«
»Keine.«
»Aber... vielleicht... dar mafa'ul be-vasilé al-badám?'«
»Nakher. Das badám, der sogenannte dritte Hoden, versteinert
gleichfalls.«
»Dann gibt es also keinen Ausweg. Capón mal caponá. Und
wie... steht es mit dem Verlangen?«
»Nakher! Nicht einmal das.«
»Ach was!« Onkel Mafio erstaunte uns alle, als das so heiter
kam wie eh und je. »Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt?
Warum sich deswegen Sorgen machen, wenn ich doch nicht
mehr den Wunsch haben werde, es zu tun? Überlegt doch nur!
Kein Begehren -infolgedessen auch keine Notwendigkeit mehr,
infolgedessen keine Plage mehr, infolgedessen keine
komplizierten Folgen. Jeder Priester, der je von einer Frau,
einem Chorknaben oder einem succubo in Versuchung geführt
worden ist, sollte mich beneiden.« Für mich kam ich zu dem
Schluß, daß Onkel Mafio keineswegs so heiter gestimmt war,
wie er es gern hingestellt hätte. »Außerdem sind längst nicht
alle meine Wünsche in Erfüllung gegangen. Der jüngste
Gegenstand meines Verlangens ist in der Salzwüste versunken
und verschwunden. Man kann daher von Glück sagen, daß
dieser jinni der Entmannung sich nicht auf jemand gestürzt hat,
den würdigere Sehnsüchte beherrschen.« Er ließ noch ein
blökendes Lachen vernehmen, das schrecklich aufgesetzte
Heiterkeit verriet. »Aber hört mich an -der ich hier wüte und
dummes Zeug schwätze. Wenn ich mich nicht vorsehe,
entwickle ich mich womöglich noch zu einem Moralphilosophen
-der letzten Zuflucht des Eunuchentums. Da sei Gott vor!
Einem Moralisten sollte man noch mehr aus dem Weg gehen
als einem Sensualisten, no xe vero? Aber wirklich, guter hakim,
ich entscheide mich fürs Leben. Beginnen wir damit, das
Heilmittel einzunehmen -aber morgen reicht auch noch, nicht
wahr?« Mit diesen Worten hob er seinen weitgeschnittenen
chapon-Mantel auf und zog ihn über. »Wie Ihr mir gleichfalls
verschrieben habt -solange es mich noch gelüstet, sollte ich
dieser Lust nachgehen. Solange noch Säfte in mir sind, sie
verschwenden, ja? Deshalb entschuldigt mich, meine Herren.
Ciao.« Mit diesen Worten verschwand er und schlug mit Macht
die Tür hinter sich zu.
»Der Patient macht gute Miene zum bösen Spiel«, murmelte
der hakim.
»Vielleicht ist es aber auch ehrlich von ihm gemeint«, sagte
mein Vater, ohne sich festzulegen. »Der unerschrockenste
Seemann kann, nachdem viele Schiffe unter ihm versunken
sind, dankbar sein, wenn er zuletzt an einen heiteren Strand
geworfen wird.«
»Das hoffe ich nicht!« entfuhr es Nasenloch -um hastig
hinzuzufügen: »Nur meine persönliche Meinung, gute Herren.
Aber kein Seemann kann glücklich sein, wenn ihm plötzlich der
Mast fehlt. Zumal, wenn er noch in den besten Jahren steht,
wie Mirza Mafio -er dürfte ungefähr so alt sein wie ich.«
»Verzeiht, Hakim Mimdad, ist dieses schauerliche kala-azar
womöglich... ansteckend?«
»O, nein. Es sei denn, auch du wärest zufällig von dem jinni-
Insekt gestochen.«
»Und trotzdem«, sagte Nasenloch voller Unbehagen, »man...
man möchte es gern genau wissen. Wenn die Herren daher
keine Befehle mehr für mich haben, bitte auch ich um
Entschuldigung.«
Fort war er, und kurz darauf auch ich. Wahrscheinlich hatte der
ängstliche und abergläubische Sklave der Versicherung des
Arztes nicht geglaubt. Ich glaubte ihm zwar, aber dennoch...
Wie schon gesagt, wer einem Sterbenden beisteht, betrauert
hinterher selbstverständlich den Verlust, doch mehr noch -und
wenn auch nur insgeheim, ja, wenn vielleicht auch nur unbewußt -, noch mehr freut er sich darüber, noch am Leben zu sein. Da ich gerade Zeuge von etwas gewesen war, das man vielleicht als teilweises Sterben bezeichnen könnte, freute ich mich innerlich, eben die Teile, um die es hier ging, noch zu besitzen; und wie Nasenloch war mir daran gelegen, mich zu vergewissern, daß ich sie wirklich noch besaß. So begab ich mich schnurstracks zum Hause von Shimon.
Dort begegnete ich weder Nasenloch noch meinem Onkel; höchstwahrscheinlich war der Sklave unterwegs auf der Suche nach einem zugänglichen Knaben der kuch-i-safari, und vielleicht tat das auch Onkel Mafio. Ich selbst fragte den Juden wieder nach dem dunkelbraunen Mädchen Chiv und bekam sie
-und nahm sie mit einem Schwung, daß sie freudig überrascht Romm-Worte ausstieß -»yilo!« und »friska!« und »alo! alo! alo!« -, bei denen mich Trauer und Mitleid mit allen Eunuchen und Sodomiten und castróni und jedem anderen Krüppel erfüllte, der nie das köstliche Vergnügen kennenlernte, eine Frau den süßen Sang singen zu lassen.
Bei einem jeden meiner folgenden Besuche in Shimons Haus zu denen es ziemlich oft kam, ein-oder zweimal die Woche -, fragte ich nach Chiv. Ich war es höchlichst zufrieden, wie sie surata machte, nahm die qahwah-Farbe ihrer Haut kaum noch wahr und hatte keine Lust, die Frauen anderer Hautfarbe und Rasse auszuprobieren, die der Jude in seinem Stall hielt, denn diese konnten -was Gesicht und Farbe betraf -Chiv einfach nicht das Wasser reichen. Doch das surata-Machen war in diesem Winter nicht die einzige Abwechslung. In Buzai Gumbad ges chah immer etwas, das für mich neu und von Interesse war. Wann immer ich einen Ausbruch von Geräusch vernahm, der entweder daher rührte, daß jemand einer Katze auf den Schwanz trat, oder aber anfing, die hier übliche Musik zu spielen, nahm ich an, es sei letzteres und ging hin, um nachzusehen, was für eine Art der Unterhaltung mir winkte. Es konnte sein, daß ich auf einen mirasi oder najhaya malang stieß, doch sehr häufig war es etwas, das anzusehen schon mehr lohnte.
Ein mirasi ist nichts weiter als ein Sänger, allerdings ein Sänger besonderer Art: er trug mit seinem Gesang nichts anderes als Familiengeschichten vor. Auf Anforderung nebst zugehöriger Bezahlung hin hockte er sich vor sein sarangi -ein tW/«ähnliches Streichinstrument, das allerdings flach auf den Boden gelegt wurde -und kratzte über seine Saiten; zu dieser wimmernden Begleitung sagte er im Bibbergesang die Namen sämtlicher Vorfahren des Propheten Muhammad oder Alexander des Großen oder irgendwelcher anderer historischen Persönlichkeiten auf. Doch nach dieser Art von Vorführung verlangte es nur wenige; offenbar kannte jeder den Stammbaum der allgemein anerkannten Größen bereits auswendig. Weit häufiger wurde so ein mirasi von einer Familie in Dienst genommen, damit er die Geschichte eben dieser Familie vortrage. Manchmal, nehme ich an, leisteten sie sich diese Ausgabe nur, um die Freude zu erleben, ihren Stammbaum in Töne umgesetzt zu hören, und bisweilen auch nur, um sämtliche Nachbarn in Hörweite zu beeindrucken. Doch für gewöhnlich versicherte man sich der Künste eines mirasi, wenn man überlegte, ob man sich durch Heirat nicht mit einer anderen Familie verbinden solle -und alles daransetzte, das ehrwürdige Erbe des jungen Mannes oder des jungen Mädchens hinaussingen zu lassen, der oder die verlobt werden sollte. In einem solchen Fall schrieb das Familienoberhaupt die gesamte Ahnenliste für den mirasi auf oder diktierte sie ihm, und diesem oblag es dann, die Namen in Reim und Rhythmus zu bringen - zumindest hat man mir das so gesagt; ich selbst konnte nie etwas anderes als einen ziemlich eintönigen Lärm in dem stundenlangen Gesang und sarangi-Gekratze erkennen. Ich nehme an, das erfordert eine ganze Menge Können, doch nachdem ich einmal zugehört hatte, wie »Reza Feruz zeugte Lotf Ali und Lotf Ali zeugte Rahim Yadollah« und so weiter von Adam bis zum heutigen Tag, machte ich mir nicht noch einmal
die Mühe, einer solchen Darbietung zu folgen. Was ein najhaya malang zu bieten hat, verblaßte nicht ganz so schnell. Ein malang ist das gleiche wie ein darwish, ein heiliger Bettler, und selbst auf dem Dach der Welt gab es Bettler, einheimische wie durchziehende. Einige von ihnen boten immerhin etwas, ehe sie bakhshish heischten. Ein malang hockt sich im Schneidersitz vor einen geflochtenen Korb und dudelt auf einer einfachen Rohr-oder Tonflöte. Dann hebt eine najhaya-Schlange den Kopf aus dem Korb, spreizt hutförmig die Nackenrippen und bewegt sich anmutig hin und her, daß es aussieht, als wiege und tanze sie sich im Takt des heiseren Gedudels. Bei der najhaya handelt es sich um eine tückische Giftschlange, und jeder malang behauptet, niemand außer ihm besitze eine solche Macht über die Schlange -eine durch okkulte Mittel erworbene Macht. So handele es sich zum Beispiel bei dem Korb um eine besondere, khajur genannte Art, die ausschließlich ein Mann flechten dürfe; die einfache Flöte müsse mystisch geweiht sein, und bei der Musik handele es sich um eine nur Eingeweihten bekannte Melodie. Ich jedoch bekam bald heraus, daß den Schlangen die Giftzähne ausgebrochen und sie daher harmlos waren. Und da Schlangen keine Ohren haben, merkte man, daß die najhaya nur hin-und herschwankte, um - ohnmächtig, wie sie war - ihr Ziel -die sich hin-und herbewegende Flöte -nicht aus den Augen zu verlieren. Der malang hätte genausogut eine wohlklingendmelodische venezianische furlána aufspielen können.
Manchmal ertönte plötzlich irgendwo Musik, ich ging dem Klang nach und stieß auf eine Gruppe stattlicher Kalash-Männer, die im Bariton »Dhama dham mast qalandar...« sangen und ihre utzar genannten roten Schuhe anzogen, die sie nur trugen, wenn sie loslegen wollten, ihren dhama genannten Stampf-und Hüpftanz zu tanzen. Oder ich vernahm das dumpfe Getrommel und wilde Gepfeife, das einen noch aufregenderen hinreißenden Wirbeltanz begleitete, den sie attan nannten und an dem das gesamte Lager, Männer wie Frauen, teilnehmen
konnten. Als ich einmal mitten in der Dunkelheit der Nacht Musik anschwellen hörte, folgte ich dem Klang bis zu einem kreisrund aus Wagen angelegten Sindi-Lager, wo ausschließlich Frauen tanzten und dabei sangen: »Sammi meri warra, ma'in wa'ir...« Unter den Zuschauern entdeckte ich auch Nasenloch, der lächelnd mit den Fingern den Takt auf seinen Bauch klopfte, denn das hier waren Frauen seiner Heimat. Für meinen Geschmack waren sie zu füllig und neigten auch dazu, einen Oberlippenbart zu bekommen, doch der Tanz im Mondenschein war hübsch anzusehen. Ich setzte mich neben Nasenloch, der sich gegen das Rad eines der Planwagen lehnte, und er übersetzte und deutete mir den Tanz. Die Frauen erzählten eine tragische Liebesgeschichte, sagte er -die Geschichte der Prinzessin Sammi, die sterblich in den jungen Prinzen Dhola verliebt war. Als die beiden herangewachsen waren, ging er fort und vergaß sie und kehrte nie zurück. Eine traurige Geschichte, doch konnte ich einiges an Verständnis für Prinz Dhola aufbringen, denn bestimmt hatte Prinzessin Sammi beim Erwachsenwerden einen Schnurrbart bekommen und war dick geworden.
Jede Sindi-Frau muß an diesem Tanz teilgenommen haben, denn in dem Wagen, gegen den Nasenloch und ich uns lehnten, greinte und schrie ein kleines unruhiges Kind so laut, daß es selbst die volltönende Sindi-Musik übertönte. Ich ertrug das eine Zeitlang, immer in der Hoffnung, daß das Kind schließlich einschlafen -oder ersticken -würde, was, war mir ziemlich gleichgültig. Als jedoch nach langer Zeit weder das eine noch das andere eintraf, machte ich meiner Wut knurrend Luft.
»Erlaubt, daß ich es zur Ruhe bringe, Herr«, sagte Nasenloch,
stand auf und kletterte in den Wagen. Die Schreie des Kindes gingen erst in ein Gurgeln über, um dann ganz zu verstummen. Dankbar richtete ich meine ganze Aufmerksamkeit auf den Tanz. Das Kind blieb Gott sei Dank still, doch Nasenloch blieb eine Weile drinnen. Als er schließlich
wieder herauskletterte und sich wieder neben mir niederließ, dankte ich ihm und sagte aus Spaß: »Was hast du gemacht? Es umgebracht und verscharrt?«
Selbstgefällig entgegnete er: »Nein, Herr, mir ist da von einem Augenblick auf den anderen ein Einfall gekommen. Ich habe das Kind mit einem schönen neuen Schnuller und einer Milch, die sahniger ist als die seiner Mutter, zur Ruhe gebracht.«
Mir dämmerte erst langsam, was er gemeint hatte. Doch als ich begriffen hatte, fuhr ich entsetzt zurück und rief: »Himmelherrgott -das hast du nicht getan!« Er machte nicht im geringsten den Eindruck, als ob er sich schämte, sondern schien nur gelinde verwundert über meinen Ausbruch. »Gesu! Dein kümmerliches kleines Dingdong hat eine eklige Erkrankung hinter sich, ist in Tiere und Kehrseiten hineingesteckt worden und -und jetzt in ein kleines Kind! Noch dazu deines eigenen Volkes!«
Achselzuckend meinte er: »Ihr wünschtet, daß es Ruhe gäbe, Mirza Marco. Und seht, es schläft immer noch den Schlaf der Befriedigten. Und mir selbst könnte es gar nicht bessergehen.«
Er hätte es verdient, bis aufs Blut durchgeprügelt zu werden, und es wäre ihm wohl Schlimmeres von den Eltern des Kindes widerfahren. Doch da ich ihn in gewisser Weise angestiftet hatte, schlug ich den Sklaven nicht. Ich beschimpfte ihn nur, überhäufte ihn mit Schmähungen und hielt ihm sogar die Worte Unseres Herrn Jesus -oder Nasenlochs Prophet Isa -vor, daß wir uns Kindern gegenüber immer zartfühlend verhalten sollten, »denn ihrer ist das Himmelreich«.
»Aber ich bin sogar sehr zartfühlend vorgegangen, Herr. Und
Ihr könnt jetzt den Rest des Tanzes ungestört genießen.« »Mitnichten werde ich das! Jedenfalls nicht in deiner Gesellschaft, elende Kreatur! Ich könnte den tanzenden Frauen nicht gerade in die Augen blicken in dem Bewußtsein, daß eine von ihnen die Mutter des armen, unschuldigen Wesens ist!« Und so entfernte ich mich, ehe der Tanz zu Ende war.
Doch glücklicherweise kam es nicht oft vor, daß solche Erlebnisse durch unangenehme Zwischenfälle wie diesen gestört wurden. Bisweilen führten mich die Klänge der Musik jedoch nicht zu einem Tanz, sondern zu einem Spiel. Es gab zwei Arten von Sport im Freien, die in Buzai Gumbad getrieben wurden, und beide hätten nicht auf wesentlich engerem Raum gespielt werden können, denn bei beiden spielten eine ganze Menge Menschen zu Pferde mit, und es ging nicht gerade sanft dabei zu.
Das eine Spiel spielten die Hunzukut-Männer, denn ursprünglich war es in ihrem Heimattal Hunza irgendwo südlich von diesen Bergen aufgekommen. Die Berittenen schwangen bei diesem Spiel langstielige, hammerartige Schläger und schlugen damit nach etwas, das sie pulu nannten, ein abgerundetes Stück Weidenholz, das ballgleich über den Boden rollte. Zu jeder Mannschaft gehörten sechs berittene Hunzukut, die versuchten, den pulu mit ihren Schlägern zu treffen -dabei jedoch häufig ihre Gegner, ihre Pferde oder ihre eigenen Mannschaftskameraden trafen -, um den pulu an der Verteidigung der sechs schlägerschwingenden Gegner vorbeizutreiben, bis er über die am hintersten Ende des Spielfeldes gezogene Siegerlinie rollte oder hinüberflog.
Mir fiel es häufig schwer, dem Spielverlauf zu folgen, da es mir nicht so ohne weiteres gelang, die beiden gegnerischen Mannschaften auseinanderzuhalten. Alle trugen sie eine schwere Ausrüstung aus Leder und Pelzen nebst dem typischen Hunzuk-Hut, der bewirkt, daß es aussieht, als ob der Träger zwei dicke Pasteten auf dem Kopf balancierte. Dieser Hut besteht aus einer langen Röhre aus rauhem Tuch, das von beiden Enden aus aufgerollt wird, bis die beiden Rollen aufeinander-treffen und man sich das Ganze auf den Kopf stülpt. Beim pulu-Spiel trug die eine Mannschaft rote Pastetenhüte und die andere blaue. Doch nach kurzer Zeit des Spiels konnte man die beiden Farben kaum noch unterscheiden.
Meistens verlor ich auch den hölzernen pulu selbst unter den achtundvierzig donnernden Pferdehufen, dem aufspritzenden Schnee und Schlamm und Schweiß sowie den zusammenprallenden Schlägern aus den Augen; und nicht selten kam es vor, daß irgendwelche abgeworfenen Spieler gleichfalls getroffen und hin-und hergestoßen wurden. Doch die erfahreneren Zuschauer, und das waren praktisch alle anderen in Buzai Gumbad, besaßen schärfere Augen. Jedesmal, wenn sie den pulu über die Siegerlinie hinwegfliegen sahen, erscholl es von der ganzen Menge: »Go! Go-o-o!« -ein Hunzuk-Wort, das besagte, daß eine Mannschaft einen Punkt gewonnen hatte -, und gleichzeitig setzte eine Gruppe von Musikanten mit einem schrilltönenden Durcheinander von Trommelwirbeln und Flötentrillern ein.
Zu Ende war ein Spiel erst dann, wenn es einer der beiden Mannschaften gelungen war, den pulu neunmal über die Siegerlinie hinwegzutreiben. Infolgedessen konnte es passieren, daß die aus zwölf Pferden bestehende Herde einen ganzen Tag über den immer weicher und tückischer werdenden Boden des Spielfelds dahindonnerte, wobei die Spieler schrien und fluchten und die Zuschauer aufmunternd brüllten, die Schläger aufeinanderprallten und nicht selten dabei zersplitterten und im aufgeweichten Gelände Spieler und Pferde und Zuschauer und Musikanten mit Schlamm bespritzt wurden, Reiter aus dem Sattel fielen, sich in Sicherheit zu bringen versuchten und fröhlich von ihren Kameraden über den Haufen geritten wurden, und gegen Ende des Tages, wenn das Feld nur mehr ein zähflüssiger Morast war, rutschten auch die Pferde aus und gingen zu Boden. Es war jedesmal ein herrliches Ereignis, und ich versäumte keine Gelegenheit, es zu verfolgen.
Das andere Spiel ging ähnlich; auch dieses wurde von vielen Reitern gespielt, doch spielte es hierbei keine Rolle, wie viele es waren, denn es gab keine Mannschaften. Jeder Reiter spielte für sich selbst gegen alle anderen. Das Spiel hieß bouskashia, was, wie ich meine, ein tazhikisches Wort ist; dabei ist dieses Spiel keine Besonderheit irgendeines Volkes oder Stammes; irgendwann einmal spielte jeder mit. Statt um einen pulu ging es beim bous-kashia um den Kadaver einer Ziege, der man gerade den Kopf abgehackt hatte.
Das frisch getötete Tier wurde einfach zwischen die Pferdehufe auf den Boden geworfen, woraufhin viele Reiter ihren Pferden die Sporen gaben und darauf zudrängten, sich gegenseitig wegstießen und beiseite drängten, schoben und schubsten und versuchten, hinunterzulangen und die Ziege vom Boden hochzureißen. Wem das gelang, der mußte den Ziegenkadaver im Galopp quer durchs Feld über die Linie am anderen Ende des Feldes tragen. Aber selbstverständlich wurde er von allen anderen dabei verfolgt, die versuchten, ihm seine Trophäe zu entreißen, oder sein Pferd abzudrängen oder gar zum Straucheln zu bringen oder ihn aus dem Sattel zu stoßen. Wer immer es schaffte, das tote Tier an sich zu bringen, wurde daraufhin zum Opfer aller anderen Reiter. Infolgedessen geriet das ganze Spiel schließlich zu einer Rauferei zu Pferde, aus der nur wenige heil herauskamen; auch viele Zuschauer bekamen einen Tritt von der dahinstiebenden Pferdeherde ab, wurden umgeritten und verloren das Bewußtsein, wenn die durch die Luft fliegende Ziege oder auch nur eine ihr herausgerissene Keule sie traf.
In diesen langen Wintermonaten auf dem Dach der Welt, wenn ich nicht gerade diesen Spielen oder Tänzen zusah oder mich mit Chiv auf dem hindomh-Bett vergnügte oder anderem Zeitvertreib nachging, verbrachte ich auch manch eine ernstere Stunde im Gespräch mit Hakim Mimdad.
Onkel Mafio legte es nicht darauf an, daß man irgend etwas zu seiner Krankheit oder zu den damit verbundenen anderen Mißlichkeiten sagte. Er nahm das zerstoßene Antimon nach Vorschrift ein, und wir sahen, daß er wieder zunahm, was er zuvor abgenommen hatte, und überhaupt von Tag zu Tag kräftiger wurde; doch wir versagten es uns, neugierig nachzufragen, wann genau diese Arznei ihn zu einem Eunuchen machte, und er selbst rückte von sich aus auch nicht damit heraus. Da ich ihm während unseres Aufenthaltes in Buzai Gumbad nie in Begleitung eines Knaben oder irgendeines anderen Partners antraf, vermag ich auch nicht zu sagen, wann er schließlich davon Abstand nahm, derlei Beziehungen zu suchen. Trotzdem suchte der hakim uns in regelmäßigen Abständen auf, um sich routinemäßig von Onkel Mafios Fortschritten zu überzeugen und die Dosis des Antimons, die er zu sich nahm, entweder zu verringern oder zu vergrößern. Nach der Untersuchung seines Patienten saßen er und ich oft zusammen und unterhielten uns, denn ich fand, daß er ein ausnehmend interessanter Bursche sei. Wie jeder andere medego, den ich erlebt habe, betrachtete Mimdad seine tägliche Arbeit als Arzt nur als notwendiges Übel, dem er sich unterziehen mußte, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und zog es vor, den größten Teil seiner Energie und seines Strebens seinen privaten Studien zu widmen. Wie jeder andere medego träumte er davon, etwas Neues und medizinisch Wunderbares zu entdecken, die Welt damit zu erstaunen und seinen Namen für immer neben den Göttern der Heilkunst leuchten zu lassen wie Asklepios, Hippokrates und Ibn Sina, den das Abendland unter dem Namen Avicenna kennt. Gleichwohl widmen sich die meisten Ärzte meiner Bekanntschaft -zumindest in Venedig -nur solchen Studien, wie die heilige Mutter, die Kirche, sie gutheißt oder zumindest duldet, das heißt Studien, die geeignet sind, neue Wege zu finden, um die Dämonen der Krankheit zu vertreiben oder zu vernichten. Mimdads Studien und Experimente, so erfuhr ich, bewegten sich weniger im Bereich der Heilkunst als vielmehr in dem des Hermes Trismegistus, dessen Künste an Zauberei grenzten.
Da die hermetischen Künste ursprünglich und sehr lange hindurch von Heiden wie Griechen, Arabern und Alexandrinern ausgeübt wurden, ist es den Christen selbstverständlich verboten, in sie einzutauchen. Gleichwohl hat jeder Christ schon von ihnen gehört. Ich selbst zum Beispiel wußte, daß die Hermetiker des Altertums wie der neuen Zeit -die Adepten, wie sie sich gern nennen - fast immer und alle miteinander danach getrachtet haben, ein oder zwei der ganz großen Geheimnisse zu enthüllen: das Elixier der Unsterblichkeit und den Stein der Weisen zu finden, durch dessen Berührung gewöhnliche Metalle in Gold verwandelt werden. Deshalb war ich nicht wenig erstaunt, als Hakim Mimdad nur Hohn und Spott für diese beiden Ziele übrig hatte, die er »unrealistische Aussichten«
nannte. Gewiß, auch er sei ein Adept der uralten Geheimwissenschaft, gab er zu. Er nannte sie al-kimia und behauptete, Allah habe sie als erster den Propheten Musa und Haroun offenbart, womit er Moses und Aaron meinte, von denen sie über die Jahre auf andere berühmte Experimentatoren wie den großen arabischen Weisen Jabir übergegangen seien. Desgleichen gab Mimdad zu, jawohl, wie jeder andere Adept auch, jage er einem äußerst flüchtigen Wild nach, allerdings einem weniger grandiosen denn Unsterblichkeit oder unermeßlichen Reichtums. Was er zu entdecken -oder vielmehr zu Wiederentdecken -hoffte, war das, was er den »Liebestrank von Majnun und Laila« nannte. Eines Tages, als der Winter im Hochland anfing, seinen Griff zu lockern, und die karwan-Führer begannen, nach dem Himmel aufzuschauen, um sich schlüssig zu werden, wann sie es wagen konnten, vom Dach der Welt hinabzusteigen, erzählte Mimdad mir die Geschichte dieses bemerkenswerten Liebestranks.
»Majnun war ein Dichter und Laila eine Dichterin, und sie lebten vor langer, langer Zeit in einem fernen Land. Kein Mensch weiß wo oder wann. Bis auf die Gedichte, die sie überlebt haben, weiß man nur dieses von Majnun und Laila: Sie besaßen die Fähigkeit, ihre Gestalt nach Belieben zu ändern. Sie konnten jünger oder älter werden, schöner oder häßlicher, und sich auch aussuchen, welchen Geschlechts sie sein wollten. Oder aber sie konnten jemand ganz anderes werden, riesige Vögel Rock zum Beispiel oder gewaltige Löwen und schreckliche mardkhora. Oder, in verspielterer Stimmung, etwa ein sanftes Reh, ein edles Pferd oder ein bezaubernder Schmetterling...«
»Eine nützliche Gabe«, sagte ich. »Dann mußte ihre Dichtung imstande sein, diese fremden Lebensweisen genauer wiederzugeben, als jeder andre Dichter es zuvor getan hatte.«
»Ohne Zweifel«, meinte Mimdad. »Aber sie waren nie bemüht, Kapital aus ihrer besonderen Gabe zu schlagen oder dadurch berühmt zu werden. Sie nutzten sie nur zum Spiel, und ihr Lieblingsspiel war die Liebe. Der körperliche Akt des Liebens.«
»Dio me varda! Es hat ihnen Spaß gemacht, Pferde und so zu lieben? Ach, dann muß unser Sklave Dichterblut in den Adern haben!«
»Nein, nein, nein! Majnun und Laila haben immer nur einander geliebt. Überlegt doch, Marco -was brauchten sie denn einen anderen oder anderes?«
»Hm... ja«, sagte ich sinnend. »Überlegt die unendliche Vielfalt der ihnen offenstehenden Erfahrungen! Sie konnte der Mann werden und er die Frau. Oder sie konnte Laila sein und er konnte sie als Löwe besteigen. Er konnte Majnun sein und sie eine zarte qazel. Oder sie konnten beide jemand völlig anderes sein. Oder sie konnten beide taufrische Kinder sein, oder beide Männer oder beide Frauen, oder der eine erwachsen und der andere ein Kind. Oder beide Mißgeburten, die ein groteskes Paar abgaben.«
»Gesu...«
»Wurden sie der menschlichen Liebe -mochte sie noch so
vielfältig und launisch sein -überdrüssig, konnten sie sich an
den wiederum ganz anderen Lüsten ergötzen, wie sie Tieren
und Schlangen, den dämonischen jinn und den lieblichen peri
gegeben sind. Sie konnten zwei Vögel sein, die es mitten in der
Luft im Fluge triebe, oder zwei Schmetterlinge, die es im Kelch
einer duftenden Blüte taten.«
»Welch bezaubernde Vorstellung!«
»Oder aber sie konnten auch die Gestalt von zwei
Hermaphroditen annehmen, so daß Majnun und Laila
gleichzeitig ak-fa'il und al-mafa'ul füreinander waren. Die
Möglichkeiten müssen unendlich gewesen sein, und sie
müssen eine jede ausprobiert haben, denn das war es, was sie
ihr Leben lang taten -bis auf die Zeit, da sie vorübergehend
gesättigt waren und innehielten, um ein oder zwei Gedichte zu
schreiben.«
»Und Ihr hofft es ihnen gleichzutun?«
»Ich? O, nein, ich bin alt und längst über jedes fleischliche Begehren hinaus. Außerdem sollte ein Adept sich nie um des eigenen Vorteils willen mit der al-kimia beschäftigen. Mir ist daran gelegen, den Liebestrank und seine Kraft allen Männern und Frauen zugänglich zu machen.«
»Woher wollt Ihr wissen, daß es wirklich ein Liebestrank war, der sie zu allem instand setzte? Angenommen, es war ein Zauberspruch oder ein Gedicht, das sie vor jeder Verwandlung sprachen?«
»In dem Fall bin ich geschlagen. Ich bin außerstande, ein Gedicht zu schreiben oder auch nur eines beredt vorzutragen. Bitte, kommt mir jetzt nicht mit entmutigenden Vorschlägen, Marco. Einen Liebestrank hingegen kann ich unter Beschwörungen aus Essenzen und Pulvern zusammenbrauen.«
Für meine Begriffe war die Hoffnung, das zu schaffen, nur gering. Trotzdem fragte ich: »Nun? Habt Ihr denn schon irgendwelchen Erfolg gehabt?«
»Einigen, ja. Daheim in Mosul. Eine meiner Frauen starb, nachdem sie einen meiner Tränke genossen hatte -aber sie starb mit einem beseligten Lächeln auf den Lippen. Eine Variante dieses Tranks schenkte einer anderen meiner Frauen einen ungemein lebendigen Traum. Sie fing im Schlaf an, ihre mihmb zu liebkosen und zu streicheln, ja, an ihr förmlich herumzureißen, und das war vor einer ganzen Reihe von Jahren, und sie hat bis jetzt nicht mehr aufgehört, das zu tun, denn sie ist nie aus diesem Traum erwacht. Jetzt lebt sie im Mosuler Haus der Enttäuschung in einem Raum, dessen Wände mit weichem Stoff bespannt sind, und jedesmal, wenn ich dorthin reise, um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen, sagt mir mein dort zuständiger hakim-Kollege, sie sei immer noch in ihrer unendlichen Selbsterregung befunden. Ich wünsche, ich wüßte, wovon sie träumt.«
»Gesu! Und das nennt Ihr einen Erfolg!« »Jedes Experiment, aus dem man etwas lernt, ist ein Erfolg. So habe ich seither die Schwermetallsalze aus meinem Rezept
herausgelassen, denn ich bin zu dem Schluß gekommen, daß
sie es sind, die das tiefe Koma oder auch den Tod hervorrufen.
Heute neige ich den Forderungen des Anaxagoras zu und
verwende nur organische und homöopathische Ingredienzien.
Yohimbin, Kanthariden, Stinkmorcheln und dergleichen.
Austern pulv., Nuß v. Onosm., Pip. nig., Heuschreckenkrebse...
Daß der Behandelte nicht mehr erwacht, steht heute nicht mehr
zu befürchten.«
»Ich bin überglücklich, das zu hören. Und jetzt?«
»Nun, da war ein kinderloses Paar, das alle Hoffnung
aufgegeben hatte, je eine Familie zu gründen. Sie haben jetzt
vier oder fünf stramme Jungen, und die Zahl ihrer weiblichen
Nachkommen haben sie meines Wissens nie gezählt.«
»Da kann man wohl in gewisser Weise wirklich von Erfolg
sprechen.«
»In gewisser Weise schon. Aber alle ihre Kinder sind
Menschen. Und normal. Sie müssen auf die übliche Weise
empfangen und gezeugt worden sein.«
»Ich verstehe, was Ihr meint.«
»Und das waren die letzten, die sich freiwillig erboten haben,
meinen Liebestrank auszuprobieren. Ich argwöhne, daß jener
hakim vom Haus der Enttäuschung in Mosul dort in der Gegend
Gerüchte in Umlauf gesetzt hat, obwohl das gegen den Eid der
Ärzte verstößt. Deshalb besteht meine Hauptschwierigkeit nicht
im Herstellen neuer Varianten des Liebestranks, sondern darin,
Personen zu finden, die sich dem Versuch unterziehen, ihn
auszuprobieren. Ich selbst bin dafür zu alt, und meine mir noch
verbliebenen beiden Frauen würden es ohnehin ablehnen, sich
an den Experimenten zu beteiligten. Ihr werdet einsehen, daß
es am besten ist, wenn Mann und Frau den Trank gleichzeitig
zu sich nehmen. Insbesondere ein junger, kräftiger Mann und
eine ebensolche Frau.«
»Ja, das liegt auf der Hand. Gewissermaßen ein Majnun und
eine Laila.«
Auf meine Feststellung folgte ein langes Schweigen.
Dann sagte er leise, scheu und hoffnungsvoll tastend: »Marco, habt Ihr vielleicht Zugang zu einer willfährigen Laila?« Schönheit der Gefahr.
Die Gefahr der Schönheit. »Ich schlage vor, daß ihr den Dolch
hierlaßt«, sagte Shimon, als ich durch seinen Laden ging. »Das
Domm-Weib ist in einer bösen Stimmung. Aber vielleicht wollt
Ihr ja heute auch mal eine von den anderen? Jetzt, wo das
Lager im Begriff steht, sich aufzulösen, werdet wohl auch Ihr
Euch bald mit Eurer karwan auf den Weg machen. Vielleicht
wollt Ihr am Schluß doch noch etwas Neues ausprobieren. Eine
andere Frau und nicht die Domm?«
Nein, ich wollte, daß Chiv die Laila für meinen Majnun spielte.
Doch in Anbetracht der Tatsache, daß man bei diesem Spiel
nicht wußte, wie es ausging, hielt ich mich an den Rat des
Juden und ließ mein Drückmesser auf dem Ladentisch liegen.
Desgleichen legte ich einen kleinen Stapel Dirhams hin, um für
die ganze Zeit bezahlt zu haben, die ich möglicherweise dort
blieb - und damit seine Unterbrechungen zu vermeiden, die sich
ergaben, wenn er anklopfte, um zu sagen, meine Zeit sei um.
Dann begab ich mich in Chivs Raum und sagte beim Eintreten:
»Ich hab' was für dich, mein Mädchen.«
»Ich hab' auch was für dich«, sagte sie. Sie saß nackt auf der
hindora und ließ das Lager leise an den Seilen schwingen,
während sie die runden, dunkelbraunen Brüste und den flachen
Bauch einölte, damit er schön glänzte. »Oder werde doch bald
etwas haben.«
»Noch einen Dolch?« fragte ich müßig und fing an, mich zu
entkleiden.
»Nein. Hast du deinen schon verloren? Offenbar hast du das.
Nein, diesmal handelt es sich um etwas, von dem du nicht so
ohne weiteres sagen kannst, es sei nicht deins. Ich bekomme
nämlich ein Kind.«
Ich hörte auf, mich zu bewegen, stand stocksteif da und machte
vermutlich einen lächerlichen Eindruck, denn ich war halb aus
meinem pai-jamah und stand storchengleich auf einem Bein da.
»Was soll das heißen, ich könnte nicht so ohne weiteres sagen,
es sei nicht meins? Warum sagst du mir das?«
»Wem sollte ich es sonst sagen?«
»Warum nicht dem Hunzuk aus den Bergen? Um nur einen
anderen zu nennen?«
»Das würde ich schon tun, wenn es von einem anderen wäre.
Aber das ist es nicht.«
Das erste Erstaunen hatte ich inzwischen verdaut und war
wieder Herr meiner fünf Sinne. Also zog ich mich weiter aus,
allerdings nicht ganz so eifrig wie zuvor, und sagte vernünftig:
»Ich komme jetzt seit etwa drei Monaten hierher. Woher willst
du es da so genau wissen?«
»Ich weiß es eben. Ich bin eine Romni juvel. Wir von den
Romm wissen solche Dinge.«
»Dann solltest du auch wissen, wie man so etwas verhütet.«
»Weiß ich auch. Für gewöhnlich stecke ich vorher immer einen
mit Walnußöl befeuchteten Salzpfropf hinein. Und wenn ich
diese Vorsichtsmaßnahme unterlassen habe, dann nur
deshalb, weil dein vyadhi, dein ungestümes Begehren, mich
überwältigt hat.«
»Gib mir jetzt keine Schuld und schmeichle mir auch nicht womit immer du versuchen willst, mich zu gewinnen. Ich will
keine dunkelbraunen Sprößlinge.«
»Oh?« war alles, was sie darauf sagte; allerdings verengte sie
die Augen, als sie mich ansah.
»Aber wie auch immer, ich kann dir nicht glauben, Chiv. Ich
kann nicht die geringste Veränderung an deinem Körper
wahrnehmen. Er ist immer noch sehr hübsch und straff.«
»Das stimmt wohl; und mein beruflicher Erfolg hängt davon ab,
daß ich ihn auch so behalte. Nicht von einer Schwangerschaft
verunstaltet und unnütz für die surata. Also, warum glaubst du
mir nicht?«
»Ich glaube, du tust nur so. Um mich für dich zu behalten. Oder
um mich dazu zu bringen, dich mitzunehmen, wenn ich Buzai
Gumbad verlasse.«
Leise: »Du bist so begehrenswert.«
»Jedenfalls bin ich kein Einfaltspinsel. Es überrascht mich, daß
du meinst, auf einen so alten, gewöhnlichen Frauentrick würde
ich reinfallen.«
Leise: »Gewöhnlichen Frauen...«
»Und wenn du wirklich schwanger wärest, würde eine
erfahrene, eine kluge Romni juvel Mittel und Wege finden, das
Kind loszuwerden.«
»O, ja. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Ich dachte nur,
du solltest ein Wörtchen dabei mitzureden haben.«
»Worüber streiten wir dann? Dann sind wir uns doch völlig
einig. Aber jetzt paß auf, ich habe was für dich. Für uns beide.«
Ich ließ mein letztes Kleidungstück fallen und warf ihr ein in
Papier eingewickeltes Päckchen sowie ein kleines
Tonfläschchen hin.
Sie wickelte das Päckchen aus und sagte: »Das ist nur
gewöhnlicher bhang. Und was ist in dem Fläschchen?«
»Chiv, hast du jemals von Majnun, dem Dichter, und Laila, der Dichterin, gehört?« Ich setzte mich neben sie und berichtete ihr, daß der Hakim
Mimdad mir von diesem Liebespaar aus alter Zeit und ihrer Möglichkeit erzählt hatte, so viele verschiedene Arten von Liebe zu genießen. Nicht allerdings band ich ihr auf die Nase, was der hakim mir gesagt hatte, als ich mich erbot, gemeinsam mit Chiv seine letzte Variante des Liebestranks auszuprobieren. Er hatte nämlich ein zweifelndes Gesicht gemacht und gebrummt: »Eine Romm? Dieses Volk behauptet, selbst über Zauberkünste zu verfügen. Und die könnten mit der al-kimia in Widerstreit liegen.« Ich schloß meinen Bericht mit den Instruktionen, die er mir gegegeben hatte. »Wir trinken gemeinsam aus dem Fläschchen. Und während wir darauf warten, daß es anfängt zu wirken, verbrennen wir den Haschisch. Den bhang, wie du ihn
nennst. Wir atmen den Rauch ein, und das erheitert uns und
schaltet unseren Willen aus, macht uns also den Kräften des
Liebestranks noch zugänglicher.«
Sie lächelte, als wäre sie sanft belustigt. »Du willst eine Gazho-
Magie an einer Romni ausprobieren? Es gibt ein Sprichwort,
Marco. Das handelt von einem Toren, der sich eigens Mühe
gibt, das Feuer des Teufels zu entfachen.«
»Aber es ist kein törichter Zauber. Es handelt sich um al-kimia,
um einen sorgsam von einem weisen und gelehrten Arzt
gebrauten Trank.«
Das Lächeln wich nicht aus ihrem Gesicht, nur belustigt sah es
nicht mehr aus. »Du hast gesagt, du hättest keine Veränderung
an meinem Körper bemerkt, aber jetzt bist du bereit, unser
beider Körper zu verändern. Du hast mir Vorwürfe gemacht, ich
täte nur so als ob, und jetzt sollen wir, wenn es nach dir geht,
beide so tun als ob.«
»Das hier ist keine Verstellung, sondern ein Experiment, Schau,
ich erwarte von einer einfachen... ich erwarte nicht von dir, daß
du hermetische Philosophie verstehst. Verlaß dich auf mein
Wort, daß es sich hier um etwas unendlich Erhabeneres und
Edleres handelt als um irgendeinen barbarischen
Aberglauben.«
Sie zog den Pfropfen aus dem Fläschchen und schnupperte
daran. »Das riecht aber widerlich.«
»Der hakim sagt, die Haschischdämpfe vertreiben die Übelkeit.
Und er hat mir sämtliche Ingredienzien des Tranks genannt:
Farnsamen, Blätter der Seide, die Wurzel des chob -i-kot,
zerstoßenes Hirschhorn, Ziegenwein... und andere harmlose
Dinge, von denen keines schädlich ist. Ich würde doch das
Zeug nicht selber schlucken oder dich darum bitten, wenn dem
nicht so wäre.«
»Nun denn«, sagte sie, und jetzt bekam ihr Lächeln etwas
Verschmitztes, sie hob das Fläschchen und nahm einen
Schluck. »Jetzt werde ich den bhang auf das Kohlenbecken
streuen.«
Das meiste vom Inhalt des Fläschchens überließ sie mir -»Dein Körper ist größer als meiner, vielleicht ist es schwerer, ihn zu verwandeln« -und ich trank ihn aus. Es dauerte nicht lange, und der Raum füllte sich mit dickem blauem, unangenehm süßem Haschischrauch; denn Chiv streute den Haschisch auf die Glut und murmelte dabei Unverständliches -in ihrer Muttersprache, wie ich annahm. Ich selbst streckte mich in voller Länge auf der hindern aus und schloß die Augen, um die Überraschung auszukosten, die es bedeuten würde, wenn ich sie wieder aufschlug, um nachzusehen, in was ich nun verwandelt worden sei.
Vielleicht fiel ich in einen vom Haschisch hervorgerufenen Dämmerzustand, doch glaubte ich das nicht. Als ich das das letzte Mal getan, waren die Geschehnisse im Traum verworren und verschwommen gewesen. Diesmal kamen mir die aufeinanderfolgenden Geschehnisse klar umrissen und wirklich vor.
Mit geschlossenen Augen lag ich da und spürte überall auf dem nackten Körper die Hitze, die von dem Kohlenbecken ausging, in dem Chiv gestochert hatte. Kraftvoll atmete ich den süßen Rauch ein und wartete auf irgendwelche Veränderungen an mir. Was ich erwartete, weiß ich nicht: Vielleicht, daß mir aus den Schulterblättern Vogelschwingen, Schmetterlings-oder peri-Flügel erwüchsen; vielleicht aber auch, daß mein Glied, das sich bereits erwartungsvoll reckte, zur machtvollen Größe eines Stierglieds auswuchs. Doch das einzige, was ich wahrnahm, war, daß Hitze und Rauch im Raum sich auf unangenehme Weise immer mehr verstärkten, und dann das nicht zu übersehende Bedürfnis, meine Blase zu leeren. Das hatte etwas von der üblichen Morgenerfahrung, da man mit dem candeloto-steif gerecktem Glied erwacht, obwohl es nur prall mit gewöhnlichem Urin gefüllt ist, was in der Erfüllung beider natürlicher Funktionen peinlich ist. Man hat keine Lust, es sexuell zu betätigen, hat aber auch etwas dagegen, es durch Wasserlassen erschlaffen zu lassen, weil der Strahl während dieser Erektion für gewöhnlich steil in die Höhe geht und man fast immer irgendeine Schweinerei anrichtet.
Das war alles andere als ein vielversprechender Beginn, und so blieb ich weiter mit geschlossenen Augen liegen und hoffte, diese Empfindungen würden vergehen. Das taten sie nicht. Sie verstärkten sich vielmehr, genauso wie die Hitze im Raum, bis es regelrecht unangenehm wurde und ich mich darüber ärgerte. Dann schoß mir plötzlich ein heftiger Schmerz durch die Lenden, wie man ihn manchmal erlebt, wenn man den Harndrang zu lange zurückhält, nur so unendlich schmerzlich, daß ich unwillentlich einen kleinen Spritzer Urin ausstieß. Wieder eine Weile lag ich einfach da, schämte mich und hoffte, daß Chiv nichts bemerkt hätte. Doch dann ging mir auf, daß ich keinerlei Feuchtigkeit auf dem bloßen Bauch gespürt hatte, wie ich es hätte tun müssen, wenn mein gerecktes Glied in die Luft hineingeschossen hätte. Statt dessen spürte ich es feucht die Innenseite meiner Schenkel hinunterlaufen. Ungewöhnlich. Kurze Verwirrung. Ich schlug die Augen auf. Rings um mich her war nichts zu erkennen als der blaue Rauch: Die Wände, das Kohlenbecken, das Mädchen -alles wurde davon verschluckt und war unsichtbar. Ich schickte den Blick nach unten, um nachzusehen, warum mein candeloto sich so sonderbar benommen hatte, doch wurde mir der Blick durch meine Brüste versperrt.
Brüste! Ich hatte die Brüste einer Frau, und zwar sehr schöne: wohlgeformt und hochstehend, die Haut elfenbeinfarben mit schönen, großen, rehfarbenen Höfen um die hochgereckten Brustwarzen herum, dazu das Ganze mit einer seidigen Schweißschicht bedeckt, während ein kleines Rinnsal durch das Tal dazwischen hinabrann. Der Liebestrank wirkte! Ich veränderte mich! Ich stand im Begriff, die aberwitzigste Entdeckungsreise anzutreten, die ich bisher unternommen hatte!
Ich hob den Kopf, um zu sehen, wie mein candeloto sich mit dieser Neuerwerbung vertrug, doch konnte ich ihn gar nicht sehen, denn plötzlich hatte ich auch einen gewaltigen runden Bauch, wie ein Berg, zu dem meine Brüste gleichsam das Vorgebirge bildeten. Jetzt brach mir ernstlich der Schweiß aus. Gewiß, es würde schon eine interessante Erfahrung bedeuten, für eine Weile eine Frau zu sein -aber ausgerechnet eine dickleibige, fette Frau? Vielleicht war ich sogar eine mißgebildete, denn mein Nabel, bisher nichts weiter als eine völlig bedeutungslose Delle, bildete jetzt im Gegenteil eine Ausbuchtung, saß gleichsam wie ein kleiner Leuchtturm auf meinem Berg von Bauch.
Außerstande, mein Glied zu sehen, griff ich mit der Hand danach. Doch das einzige, dem ich begegnete, war das Haar auf meiner Artischocke, das allerdings üppiger und drahtiger schien, als es sich sonst anfühlte. Als ich daran vorbeilangte, entdeckte ich -was jetzt kaum noch überraschend war -, daß der candeloto ebenso verschwunden war wie mein Hodensack. Statt dessen besaß ich die Organe einer Frau.
Ich sprang nicht schreiend auf. Schließlich hatte ich die Verwandlung selbst herbeigeführt und sie auch erwartet. Wäre ich zu einem Vogel Rock geworden, würde mich das vermutlich mehr erschreckt und entsetzt haben. Doch wie dem auch sei, ich war schließlich überzeugt, daß diese Verwandlung nicht ewig bleiben würde. Aber richtig glücklich war ich auch nicht. Das Organ einer Frau hätte meiner forschenden Hand vertraut vorkommen müssen - doch wies es nun einen beunruhigenden Unterschied auf. Für meine Finger fühlte es sich fest und hart und heiß an -und scheußlich feucht von dem unwillkürlichen Urinspritzer. Es fühlte sich bei der Berührung mitnichten nach der weichen, gehätschelten und aufnahmewilligen Börse an nach dem mihrab, dem kus, der pota oder mona -, in die ich so oft Finger und anderes hineingesteckt.
Und ganz abgesehen davon, für mich selber fühlte es sich...
wie dies nur ausdrücken? Man sollte doch erwartet haben, daß ich - wäre ich eine Frau, an deren Geschlechtsorgan herumgefingert wurde, und sei es von der eigenen Hand -irgendeine angenehme Empfindung verspürte, irgendein inneres Jucken oder zumindest irgend etwas Altvertrautes. Aber jetzt war ich eine Frau und verspürte nichts weiter als den Druck der Finger, wodurch ich mich höchstens belästigt fühlte, und das einzige, was sich dabei innerlich regte, eine Zorneswelle war. Langsam ließ ich einen Finger in mich hineingleiten, doch kam er nicht weit, und dann stieß die sanfte Hülle um ihn herum ihn zurück -spie ihn förmlich aus, könnte ich sagen. Da saß irgend etwas in mir. Vielleicht ein Meersalzpfropf, der vorsichtshalber hineingeschoben worden war? Doch das Herumtasten weckte mehr Ekel als Neugier in mir, und ich hatte keine Lust, den Finger nochmals hineinzuschieben. Selbst als ich absichtlich einen Finger leicht meinen zambur, meine lumagheta streifen ließ -jenen zartesten Teil meiner neuen Teile, der so empfindlich auf jede Berührung reagiert wie ein Augenlid -, verspürte ich nichts weiter als eine Verstärkung meines Grolls und den Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden.
Ich fragte mich: erlebt eine Frau, wenn sie gestreichelt wird, nie mehr als dies? Das kann doch nicht sein, sagte ich mir. Aber vielleicht erlebt eine fette Frau nichts anderes. Zwar hatte ich bis jetzt noch nie eine wirklich fette Frau gestreichelt, doch bezweifelte ich das. Und überhaupt -in meiner neuen weiblichen Gestalt -, war ich da wirklich eine fette Frau? Ich setzte mich auf, um nachzusehen.
Nun, ich hatte immer noch diesen gewaltig geschwollenen Bauch, und jetzt erkannte ich, daß er durch eine Verfärbung der straff gespannten elfenbeinfarbenen Haut noch häßlicher wurde, als er ohnehin schon war -daß eine braune Linie sich von dem hochstehenden Nabel bis auf meine Artischocke hinunterzog. Doch schien der Bauch das einzig Fette an mir zu sein. Meine Beine waren annehmbar schlank und unbehaart und hätten hübsch genannt werden können, wären nicht die Adern darauf so geschwollen und sichtbar so gewunden, daß es aussah, als hätte ich unmittelbar unter der Haut ein ganzes Netz von Wurmlöchern sitzen. Auch die Hände und Arme sahen recht schlank aus und mädchenhaft weich. Doch als ich sie anfühlte, kamen sie mir nicht mehr so weich vor, sondern knotig und voller Schmerzen. Noch als ich sie betrachtete, sie zur Faust ballte und die Finger wieder streckte, verkrampften beide Hände sich, und ich stöhnte.
Ich stöhnte so laut auf, daß Chiv eigentlich irgendeine Reaktion hätte zeigen müssen, doch tauchte sie nicht aus dem blauen Rauch um mich herum auf, auch dann nicht, als ich mehrere Male ihren Namen rief. Was mochte der Liebestrank aus ihr gemacht haben? Einfach nach dem Grundsatz der Umkehrung hätte ich erwartet, daß Chiv sich in einen Mann verwandelt hätte. Nur hatte der hakim gesagt, Majnun und Laila hätten sich bisweilen auch als Angehörige ein und desselben Geschlechts miteinander vergnügt. Manchmal hätte der eine oder andere es auch vorgezogen, unsichtbar zu bleiben. Gleichviel -Hauptzweck des Liebestranks war es, die Kraft zu erhöhen, mit der der Partner einen liebte, und in dieser Beziehung schien er sich als Mißerfolg zu erweisen. Gewiß hatte kein Partner gleich, ob männlich, weiblich oder unsichtbar -Lust, sich mit einem so grotesken Wesen zu paaren wie dem, in das ich mich verwandelt hatte. Und dennoch -was war aus Chiv geworden? Immer und immer wieder rief ich nach ihr... und dann schrie ich.
Ich schrie, weil mein Körper von einem anderen Gefühl geschüttelt wurde -einem Gefühl weit schrecklicher als bloßer Schmerz. Irgend etwas hatte sich bewegt -etwas, das nicht ich war, sich gleichwohl in mir bewegt hatte, im Inneren dieses monströs gedunsenen Ballons, der mein Bauch war. Ich wußte, das kam nicht von irgend etwas, das mir im Magen lag, denn es geschah viel tiefer als nur im Bauch. Und es war auch nichts Schlechtverdautes, das in meinen Därmen zu Gas wurde, denn dieses Gefühl kannte ich schon von früher. Es kann durchaus unangenehm sein und bisweilen erschreckend, auch dann, wenn es nicht mit irgendwelchen Geräuschen oder anderen Peinlichkeiten verbunden ist. Diesmal handelte es sich um etwas anderes, etwas, das mir nie zuvor widerfahren war. Es fühlte sich an, als hätte ich irgendein kleines schlafendes Tier verschluckt, dies sei tief in meine Eingeweide hinabgezogen worden und dort plötzlich erwacht, hätte sich gestreckt und gegähnt. Mein Gott, dachte ich, was ist, wenn es versucht, sich seinen Weg freizukämpfen?
In diesem Augenblick bewegte es sich erneut, und wieder schrie ich auf, denn es schien drauf und dran, genau das zu tun
-sich freizukämpfen. Doch tat es das nicht. Die Bewegung ließ nach, und ich schämte mich, geschrien zu haben. Vielleicht hatte das im Schlaf zusammengerollte Tier sich nur ein wenig anders hingelegt, vielleicht, um auszuprobieren, wie weit es sich überhaupt bewegen konnte! Wieder spürte ich es zwischen meinen Beinen feucht werden und meinte, mich in meiner Angst neuerlich naß gemacht zu haben. Doch als ich mit der Hand dort unten herumfühlte, spürte ich etwas Schlimmeres als Urin. Ich hob mir die Hand vor die Augen und sah, daß die Finger sich in einer scheußlichen Substanz verfangen hatten, die sich in Fäden zwischen Schritt und Hand zogen und feucht dahingen und träge ausein-anderrissen. Diese Substanz war feucht, aber nicht flüssig; es handelte sich um einen grauen Schleim, wie Nasenschleim, und dazwischen Blutgerinnsel. Ich fing an, über den Hakim Mimdad und seinen unheiligen Liebestrank zu schimpfen. Nicht nur, daß ich durch ihn zu der Gestalt einer häßlichen Frau gekommen war, sondern auch noch zu der einer Frau, mit deren Geschlechtsteilen irgend etwas nicht stimmte, die in irgendeiner Weise krank war und da unten scheußliche Ausscheidungen absonderte.
Wenn ich in meiner neuen Hülle wirklich krank oder verletzt war, dachte ich, wagte ich es besser nicht, sie sich erheben und nach Chiv Ausschau halten zu lassen. Da blieb ich besser so liegen, wie ich lag. Daher rief ich noch ein paarmal nach ihr, allerdings ohne Erfolg. Ich fing sogar an, nach Shimon zu rufen, obwohl ich mir vorstellen konnte, wie der Jude feixen und in sich hineinkichern würde, wenn er mich in weiblicher Gestalt daliegen sah. Doch auch er kam nicht, und jetzt bedauerte ich, ihn im voraus für einen so langen Besuch bezahlt zu haben. Welche Geräusche und Rufe er auch von hier innen hörte wahrscheinlich hielt er alles für den Ausdruck ausgelassenen Liebesspiels, in das er sich nicht einmischen wollte.
Lange lag ich auf dem Rücken, und es geschah nichts weiter, als daß der Raum immer heißer wurde, ich immer verschwitzter und zum Drang des Wasserlassens jetzt auch noch der kam, meine Notdurft zu verrichten. Möglich, daß das eingebildete kleine Tier in mir mit seinem ganzen Gewicht auf meine Blase und die Eingeweide drückte und sie über Gebühr belastete. Ich mußte mich bewußt anstrengen, nicht einfach alles laufen zu lassen, schaffte das allerdings, denn ich wollte mich nicht im Liegen entleeren und das ganze Lager beschmutzen. Dann, unversehens, so als wäre die Tür auf den tauenden Schnee draußen geöffnet worden, überfiel mich ein Kälteschauer. Die Schweißschicht auf meinem Leib wurde zu Eis, ich zitterte an allen Gliedern, ich mußte mit den Zähnen klappern, ich bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut, und meine ohnehin schon hochstehenden Brustwarzen standen noch strammer. Ich hatte nichts, mich zuzudecken; wenn meine Kleider noch auf dem Boden lagen, so konnte ich sie weder sehen noch erreichen, und ich hatte Angst; aufzustehen und nachzusehen. Doch dann war das Frösteln plötzlich vorüber, der Raum so feuchtheiß wie zuvor, und wieder brach mir der Schweiß aus und rang ich nach Luft.
Da ich sonst nicht viel hatte, darüber nachzusinnen, versuchte ich eine Bestandsaufnahme meiner Gefühle vorzunehmen. Es waren ihrer viele und sehr unterschiedlicher Art. Ich verspürte ein bestimmtes Maß an Erregung: Der Liebestrank hatte gewirkt, zumindest teilweise. Auch so etwas wie Erwartung verspürte ich: der Liebestrank mußte noch mehr bewirken, vielleicht erwies sich das, was noch kam, als interessant. Doch die meisten Gefühle, die mich bewegten, waren alles andere als angenehm. Ich fühlte mich unbehaglich: meine Hände verkrampften sich immer wieder, und das Bedürfnis, den Darm zu entleeren, war übermächtig geworden. Ekel befiel mich: da flöß immer noch dieser eiterähnliche Brei aus meiner mihrab heraus. Ärger durchlief mich: in diese Situation gebracht worden zu sein -und ich hatte Selbstmitleid: gezwungen worden zu sein, diese Situation ganz allein über mich ergehen lassen zu müssen. Da war nagendes Schuldgefühl: von Rechts wegen hätte ich in der karwansarai sein sollen, um meinen Gefährten beim Packen und den Vorbereitungen für die Weiterreise zu helfen und nicht einfach meiner Neugier zu folgen. Ich empfand Angst: nicht wirklich zu wissen, was der Liebestrank mir womöglich noch alles bringen würde -und Besorgnis: daß das, was mir jetzt noch widerfuhr, sich auch als nicht besser erwies denn das, was ich bereits erfahren hatte.
Dann, in einem lähmenden Augenblick, fielen alle Gefühle von mir ab, wurden hinweggewischt und ausgelöscht von dem einen, das Vorrang hat vor jedem anderen -Schmerz. Es war ein Schmerz, der wie ein Riß durch meine niederen Regionen ging, und ich hätte wohl glauben können, das Geräusch zu hören, den das machen mußte, als wenn ein kräftiger Stoff auseinandergerissen würde -nur, daß ich ausschließlich meinen eigenen Angstschrei hörte. Ich hätte meinen sollen, mit meinem Betrügerbauch bersten zu müssen, doch wurde dieser dermaßen von dem Schmerz geschüttelt, daß ich mich an den Seiten der sich wiegenden hindora halten mußte, um nicht hinausgeworfen zu werden.
Jedesmal, wenn Angst einen überfällt, versucht man sich instinktiv zu bewegen in der Hoffnung, Bewegung könne sie beschwichtigen; und die einzige Bewegung, die ich machen konnte, war, die Beine anzuziehen. Da das ganz jählings geschah, verlor ich die Beherrschung über andere, feinere Muskeln, und in plötzlicher feuchter Wärme schoß der Urin aus mir heraus, über mich hinweg und lief mir die Hinterbacken herunter. Statt nun rasch abzuklingen, nahm der Schmerz nur ganz langsam Abschied und ging auf in einem Wechselbad von Hitze und Kälte. Ich zuckte jedesmal zusammen, wenn ein Fieberanfall einem Kälteschauder wich und dieser wieder der Fieberhitze. Nachdem dies Geschütteltwerden allmählich verebbte und ich in Schweiß und Urin gebadet dalag, fühlte ich mich schlaff und schwach und keuchte, als wäre ich gegeißelt worden, und da ich nunmehr Worte von mir geben konnte, rief ich laut: »Was geschieht mit mir?«
Und plötzlich wußte ich es. Schau: auf diesem Lager liegt eine Frau flach auf dem Rücken, und zum größten Teil ist ihr Körper auch flach und nur dort gewölbt und gerundet, wo es ein Frauenkörper sein soll -bis auf den grauenhaft aufgetriebenen Bauch. Sie liegt mit angewinkelten und auseinanderklaffenden Beinen da und legt ihre mihrab bloß, die fest geschlossen und fühllos ist vor lauter Spannung. Irgend etwas ist dort oben in ihr. Das ist es, was den Bauch so dick macht, und es lebt, und sie hat gespürt, wie es sich regt, und sie hat die ersten Stiche verspürt, die kommen, wenn es dort herauswill, und wo sonst soll es herauskommen, wenn nicht durch den mihrab-Kanal zwischen ihren Beinen! Ganz offensichtlich handelt es sich um eine Frau in fortgeschrittener Schwangerschaft, eine Frau, die im Begriff steht zu gebären.
Alles schön und gut, diese unbeteiligte, kühle Betrachtungsweise. Nur war ich keine Zuschauerin; ich war es. Nämlich jenes bemitleidenswerte, langsam sich windende Wesen auf dem Lager, das in seiner absurden Haltung Ähnlichkeit aufwies mit einem auf dem Rücken liegenden Frosch - das war ich.
Gesu, Maria, Isepo, dachte ich -und ließ den Rahmen der hindern los, um mich zu bekreuzigen -, wie war es möglich, daß der Liebestrank zwei Wesen aus mir gemacht und dann noch ein drittes in mich hineingesteckt hatte? Was immer das in mir war, mußte ich jetzt den ganzen Geburtsvorgang durchstehen7 Wie lange dauert so etwas? Was macht man, um ihn voranzubringen? Und außer diesen Dingen dachte ich noch manches von dem Hakim Mimdad, das sich nicht so ohne weiteres wiederholen läßt und womit ich ihn zur Hölle wünschte. Das war vielleicht unklug von mir, denn wenn ich jemals einen hakim brauchte, dann jetzt. Nie hatte ich näher etwas mit einer Geburt zu tun gehabt als bei dem einen oder anderen Mal, da ich erlebt hatte, wie ein blauviolettes, wie geschunden aussehendes Kind in Venedig aus dem Wasser gezogen worden war. Ich hatte noch nicht einmal eine Straßenkatze jungen sehen. Die venezianischen Hafenrangen, die in derlei Dingen mehr Erfahrung besaßen als ich, hatten gelegentlich über dieses Thema geredet, doch das einzige, woran ich mich erinnerte, war das Wort »Wehen«, das in diesem Zusammenhang gefallen war, und was die Wehen betraf, so brauchte ich jetzt keine Unterweisung. Selbstverständlich wußte ich auch, daß Frauen im Kindbett oft starben. Angenommen, ich starb in diesem fremden Körper! Es würde ja nicht einmal jemand wissen, wer ich war. Als namenlose, wahrscheinlich unverheiratete Dirne, die niemand haben wollte und die von ihrem eigenen Wechselbalg zu Tode
gebracht worden war, würde ich verscharrt werden... Allerdings gab es über Dringenderes nachzudenken als darüber, was mit meinen unrühmlichen Überresten zu geschehen habe. Der schneidende Schmerz setzte wieder ein, genauso heftig wie zuvor, doch diesmal biß ich die Zähne zusammen, schrie nicht, sondern bemühte mich sogar, den Schmerz zu untersuchen. Er schien tief in meinem Bauch einzusetzen, irgendwo hinten, in der Nähe der Wirbelsäule, und von dort aus nach vorn durchzustoßen. Dann gab es eine Pause, in der ich wieder Atem schöpfen konnte, ehe der Schmerz mich wieder anfiel. Obwohl der Schmerz mit keiner der aufeinanderfolgenden Wellen abnahm, schien ich jedesmal ein wenig besser damit fertig zu werden als zuvor. Infolgedessen versuchte ich, die Wehen und die dazwischenliegenden Pausen abzumessen. Jeder Anfall dauerte so lange, daß ich langsam bis dreißig oder vierzig zählen konnte, doch als ich versuchte, die Pausen dazwischen abzuzählen, kam ich in so hohe Zahlen, daß ich durcheinandergeriet und nicht mehr mitkam.
Es gab noch anderes, das zu meiner Verwirrung beitrug. Entweder ich selbst oder aber der Raum wechselten ab zwischen Fieberglut und Eiseskälte; ich wurde entweder geröstet, daß ich völlig erschlaffte, oder aber mich fror, daß ich eine einzige Verkrampfung war. Irgendwie fand mein Bauch zwischen all seinen anderen Beschwerden auch noch Zeit, Brechreiz auszulösen. Ich stieß auf, rülpste verschiedentlich und mußte mehrere Male dagegen ankämpfen, mich zu übergeben. Meine Blase konnte ich immer noch nicht wieder kontrollieren, und so ließ ich bei jedem Schmerzanfall Wasser und konnte nur durch entschlossenes Zusammenziehen von Muskeln verhindern, daß sich auch noch mein Darm leerte. Der Urin mochte ätzend gewirkt haben, jedenfalls bewirkte er, daß Schenkel, Schritt und Gesäß sich roh und abgeschürft anfühlten. Rasender Durst quälte mich, was vermutlich daran lag, daß ich so sehr geschwitzt und Wasser gelassen und damit viel von meiner Körperflüssigkeit von mir gegeben hatte. Immer wieder verkrampften sich meine Hände, jetzt geschah das gleiche mit den Beinen, und das in der häßlichen Haltung, in der ich sie hochgezogen hatte. Daß ich die hindora unterm Rücken fühlte, war nicht angenehm. Eigentlich tat es mir überall weh, selbst im Mund; ich hielt ihn dermaßen verzerrt aufgerissen, daß mir selbst die Lippen weh taten. Ich konnte fast froh darüber sein, wenn die Wehen durch meine Eingeweide wühlten; denn die Wehen waren so unendlich viel schrecklicher als alles andere, daß ich die kleineren Schmerzen darüber vergaß.
Ich hatte mich mit der Erkenntnis abgefunden, daß der Liebestrank mir keinerlei Freude bringen würde. Jetzt, da die Stunden sich endlos in die Länge zogen, versuchte ich, mich damit abzufinden zu ertragen, was der Trank mir statt dessen beschert hatte - Durst und Ekel und Selbstbeschmutzung und allgemeines Elend und dazwischen immer wieder Schmerzanfälle -entweder, bis dies sich verflüchtigte und ich wieder zu dem wurde, der ich zuvor gewesen war, oder bis ich von irgendwelchem neuen und anderen Elend niedergedrückt wurde.
Und genau das geschah. Als die Schmerzen keine Spritzer Urin mehr aus mir herauspreßten, dachte ich, mein Körper wäre endlich aller Flüssigkeit entleert. Doch plötzlich fühlte ich mich in den unteren Regionen von noch mehr Feuchtigkeit förmlich hinweggeschwemmt, einer Flut, als hätte jemand einen Krug Wasser zwischen meinen Beinen ausgegossen. Wie warmer Urin war das Wasser, doch als ich den Kopf hob, um hinzusehen, sah ich, daß die Lache, die sich dort unten ausbreitete, farblos war. Auch begriff ich, daß das Wasser nicht aus meiner Blase stammte und nicht durch das kleine weibliche Harnloch herausgeströmt war, sondern aus dem mihrab -Kanal. Ich mußte annehmen, daß diese neue Überschwemmung nur eine neue Phase in dem wirklich alles andere als appetitlichen Geburtsvorgang ankündigte.
Die Unterleibsschmerzen folgten jetzt in immer kürzeren Abständen und ließen mir kaum Zeit, vom einen zum anderen Mal zu Atem zu kommen und darauf vorbereitet zu sein, wenn die nächsten einsetzten. Da dachte ich bei mir: Vielleicht liegt es daran, daß du dich gegen jeden Schmerz wehrst und versuchst, ihm auszuweichen -vielleicht ist es das, warum es so entsetzlich weh tut. Wer weiß, wenn du dich mutig jedem stelltest und dich auf ihn einließest... Folglich versuchte ich das, aber das »sich darauf einstellen« in dieser Situation war gleichbedeutend damit, denselben Muskeldruck auszuüben, wie er beim Notdurft-Verrichten gefordert wird, und hatte den gleichen Erfolg. Als dieser ganz besonders mahlende Schmerz einmal für einen kurzen Augenblick nachließ, entdeckte ich, daß ich zwischen meinen Beinen eine ganze Menge stinkender merda herausgedrückt hatte. Doch inzwischen machte mir das schon nichts mehr aus. Ich dachte nur bei mir: Daß das menschliche Leben in merda endet, hast du immer gewußt; jetzt weißt du, daß es auch in merda beginnt.
»Denn ihrer ist das Himmelreich.« Plötzlich fiel mir ein, dies vor noch gar nicht langer Zeit unserem Sklaven Nasenloch gepredigt zu haben. »Lasset die Kindlein zu mir kommen!« sprach ich und stieß ein klägliches Lachen aus.
Das Lachen währte nicht lange. Obwohl es kaum zu glauben ist, wurde plötzlich alles womöglich noch schlimmer. Die Wehen kamen jetzt nicht mehr in Wellen oder Schüben, sondern in rascher Folge, und eine jede dauerte länger als die vorhergehende, bis es zu einem ständigen Todesschmerz in meinem Bauch wurde, der unerbittlich weiterwütete und sich dermaßen steigerte, daß ich ohne jede Scham schluchzte und wimmerte und stöhnte und fürchtete, es nicht mehr aushalten zu können, mich danach sehnte, daß mir gnädig die Sinne schwänden. Hätte jemand sich in diesem Zustand über mich gebeugt und zu mir gesagt: »Das ist nichts. Es kann noch schlimmer weh tun und wird es auch tun« -ich hätte selbst in dieser unerträglichen Qual zwischen meinen Schluchzern noch aufgelacht. Und doch hätte dieser Jemand nur recht gehabt.
Ich spürte, wie meine mihrab sich öffnete und sich weitete wie ein gähnender Mund, und wie die Lippen sich immer weiter öffneten, bis sie die Öffnung zu einem Kreis ausgebildet hatten, der aussah wie ein schreiender Mund. Und als ob das noch nicht qualvoll genug gewesen wäre, schien das ganze Kreisrund plötzlich wie von flüssigem Feuer bestrichen. Ich langte mit der Hand hinunter, um verzweifelt das Feuer auszuschlagen, spürte jedoch nichts Brennendes, sondern nur etwas Bröckeliges. Wieder hielt ich die Hand vor die tränenüberströmten Augen und sah wie durch einen Schleier hindurch, daß meine Finger mit einer käsigen, hellgrünen Masse bestrichen waren. Wie konnte die nur dermaßen brennen?
Und selbst dann noch konnte ich neben dem rasenden Schmerz in meinem Bauch und dem sengenden Feuer unten andere schreckliche Dinge spüren. Ich schmeckte den Schweiß, der mir das Gesicht herunter in den Mund lief, schmeckte das Blut, das dort hervortrat, wo ich mir die Lippen zerbissen hatte. Ich konnte mich grunzen hören, stöhnen und verzweifelt nach Luft schnappen. Ich roch den Gestank des schändlich herausgedrückten Kots und Urins. Wieder spürte ich das Wesen in mir sich regen, ja, sich offensichtlich hin-und herwerfen, mit Armen und Beinen strampeln, während es sich nachdrücklich durch die Schmerzen im Leib bis zum Brennen unten vorschob. Während es sich bewegte, drückte es noch unerträglicher auf meine Blase und die Därme dort unten, und irgendwie fand sich noch etwas darin, das sich austreiben ließ. Und dann kam zusammen mit diesen letzten Kot-und Urinresten das Wesen heraus. Und ach, mein Gott, als der Herrgott gebot: »Unter Schmerzen sollst du deine Kinder gebären!« sorgte Gott auch dafür, daß dem tatsächlich so werde. Zuvor hatte ich belanglose Schmerzen kennengelernt, und jetzt, in diesen Stunden, hatte ich echte Schmerzen erlitten und seither andere Schmerzen kennengelernt, doch bin ich der Meinung, daß es in der ganzen Welt keinen Schmerz gab, wie ich ihn in diesem Augenblick durchmachte. Ich habe gesehen, wie Männer, die sich auf ihr grausiges Handwerk verstanden, andere Männer folterten, aber ich glaube, kein Mensch ist so grausam und erfinderisch und fähig auf dem Gebiet des Schmerzes wie Gott.
Jetzt setzte der Schmerz sich aus zwei Arten von Schmerz zusammen. Der eine rührte daher, daß das Fleisch meiner mihrab vorn und hinten riß. Man nehme ein Stück Haut und zerschneide es, langsam, aber unerbittlich, und versuche sich vorzustellen, wie das der Haut weh tut; und dann versuche man sich vorzustellen, daß es die Haut zwischen den Beinen ist, von der Artischocke bis zum After. Während mir das widerfuhr und mich schreien machte, zwängte der Kopf des Geschöpfes in mir sich durch die es umschließenden Knochen dort unten, und das ließ mich zwischen den Schreien aufbrüllen. Die Knochen dort unten sitzen dicht beieinander; sie müssen unter Mahlen und Knirschen auseinandergezwängt und beiseite geschoben werden wie von einem Felsen, der unerbittlich einen schmalen Felsgrat herunterkommt. So empfand ich es, und zwar die ganze Zeit über: die krank machende Bewegung und der Schmerz in mir, das Knirschen und Knacken sämtlicher Knochen zwischen meinen Beinen, das Auseinandergerissen-Werden und Brennen des Fleisches außen. Und Gott erlaubt selbst in dieser tiefsten Not nur Schreie und Gebrüll: er gewährt keine Ohnmacht, um sich vor unerträglichem Schmerz zu schützen.
Bewußtlos wurde ich erst, als das Geschöpf mit einem letzten brutalen Pressen und Anschwellen und einem Schmerzaufwallen wie einem hörbaren Schrei herauskam - der tiefbraune Kopf sich blutverschmiert und voller Schleim zwischen meinen Beinen erhob und boshaft mit Chivs Stimme sagte: »Etwas, wovon du nicht so ohne weiteres sagen kannst, es sei nicht deins...« Da war mir, als stürbe ich.
Als ich wieder zu mir kam, war ich wieder ich selbst. Zwar lag ich immer noch rücklings auf der hindora, aber ich war wieder ein Mann, und der Körper, den ich hatte, schien wieder mein eigener zu sein. Getrockneter Schweiß lag mir leicht flockig auf der Haut, und meine Kehle war schrecklich ausgedörrt, ich hatte Durst und Kopfschmerzen, daß ich meinte, der Schädel müsse mir zerspringen. Sonst jedoch tat mir nirgend etwas weh. Ich lag auch nicht in meinem eigenen Kot; das Lager sah reinlich aus wie immer. Der Rauch aus dem Raum war fast abgezogen, und ich sah meine Kleider dort auf dem Boden liegen, wo ich sie achtlos hatte fallen lassen. Auch Chiv war da
- vollständig bekleidet. Sie hatte sich hingekauert und wickelte etwas Hellblaues und Violettes in das Stück Papier, in dem ich den Haschisch mitgebracht hatte.
»Habe ich das alles nur geträumt, Chiv?« fragte ich. Sie gab
mir keine Antwort und blickte auch nicht auf, fuhr jedoch fort mit
dem, was sie tat. »Was ist mit dir denn inzwischen geschehen,
Chiv?« Wieder keine Antwort. »Ich dachte, ich bekäme ein
Baby«, sagte ich und tat das leichthin lachend ab. Keine
Reaktion. Daraufhin setzte ich noch hinzu: »Du warst da. Du
warst es.«
Woraufhin nun endlich sie den Kopf hob und ihr Gesicht
ziemlich den gleichen Ausdruck hatte wie im Traum oder was
immer es gewesen war. Sie fragte:
»War ich dunkelbraun?«
»Wieso, ja.«
Sie schüttelte den Kopf. »Die Kinder der Romm werden aber
erst später braun. Bei der Geburt sind sie von der gleichen
Farbe wie die Kinder weißer Frauen.«
Damit stand sie auf und trug ihr kleines Päckchen hinaus. Als
die Tür aufging, war ich verwundert über das helle Tageslicht.
War ich denn die ganze Nacht und bis in den nächsten Tag
hinein hier drin gewesen? Meine Gefährten waren bestimmt
ungehalten, daß ich ihnen alle Arbeit überlassen hatte. Eilends
fing ich an, mich anzuziehen. Als Chiv ohne das Bündel
zurückkehrte, sagte ich wie im Plauderton:
»Ich kann mir um alles in der Welt nicht vorstellen, daß eine
Frau den Wunsch haben sollte, diese Schrecken
durchzumachen. Du etwa, Chiv?«
»Nein.«
»Dann habe ich recht gehabt? Du hast vorhin nur so getan, als
ob? Du bist gar nicht schwanger?«
»Ich bin es nicht.« Für jemand, der für gewöhnlich eher redselig
war, gab sie sich sehr wortkarg.
»Nur keine Angst. Ich bin ja nicht böse auf dich. Ich bin froh,
schon um deinetwegen. Und jetzt muß ich zurück in die
karwansarai. Ich gehe.«
»Ja, gehe!«
Das wiederum sagte sie in einem Tonfall, der durchblicken ließ:
»Komm nur nicht zurück!« Ich sah keinen Grund dafür, daß sie
sich so kratzbürstig zeigte. Ich war es schließlich gewesen, der
all dies durchlitten hatte, und ich hatte den starken Verdacht,
daß sie auf irgendwelche vertrackte Weise dazu beigetragen
hatte, daß der Liebestrank so ganz anders als erwartet gewirkt
hatte.
»Sie ist in schlechter Stimmung, wie Ihr gesagt habt, Shimon«,
erklärte ich dem Juden beim Fortgehen. »Aber ich vermute, ich
schulde Euch noch mehr Geld - so lange, wie ich hiergeblieben
bin.«
»Aber nein«, sagte er. »Ihr seid ja nicht lange geblieben. Mein
Gewissen treibt mich sogar, Euch einen Dirham
zurückzugeben. Und hier habt Ihr auch Euer Drückmesser
wieder. Shaloml«
Dann war es also immer noch derselbe Tag und noch nicht
einmal spät am Nachmittag; offenbar war mir die ganze Qual
nur unendlich lang vorgekommen. Ich kehrte zurück in die
Herberge, wo mein Vater und mein Onkel und Nasenloch
immer noch dabei waren, unsere Habseligkeiten
zusammenzupacken, jedoch durchaus nicht auf meine sofortige
Mithilfe angewiesen waren. So ging ich hinunter an den See,
wo die Wäscherinnen von Buzai Gumbad immer eine Stelle
eisfrei hielten. Das Wasser war so blaukalt, daß es sich ins
Fleisch zu fressen schien, und so lief mein Bad recht
oberflächlich ab. Ich wusch mir nur Hände und Gesicht und zog
nur flüchtig das Obergewand aus, um mir ein paar Tropfen auf
die Brust und unter die Arme zu spritzen. Es war das erste Mal
in diesem Winter, daß ich das überhaupt tat; wahrscheinlich wäre ich vor meinem eigenen Gestank zurückgeschreckt, nur, daß alle anderen auch und noch schlimmer stanken. Zumindest hatte ich jetzt das Gefühl, um ein weniges sauberer und den Schweiß losgeworden zu sein, der in Chivs Raum auf meiner Haut getrocknet war. Und wie der Schweiß verdünnt wurde, verwässerten auch meine Erinnerungen. So ist das mit dem Schmerz; es ist eine Qual, ihn zu erdulden, doch leicht, ihn zu vergessen. Ich bin fest überzeugt, das ist der einzige Grund, warum eine Frau, nachdem sie die Schmerzen einer Geburt durchlitten hat, auch nur daran denken kann, womöglich noch ein Kind zu bekommen.
Am Vorabend unserer Abreise vom Dach der Welt suchte uns der Hakim Mimdad, dessen eigene karwan auch fortziehen wollte, allerdings in eine andere Richtung, in unserer karwansarai auf, um uns allen Lebewohl zu sagen und Okel Mafio einen Vorrat seiner Medizin für unterwegs zu geben. Und dann, während mein Vater und mein Onkel ziemlich gespannt lauschten, berichtete ich dem hakim, wieso sein Liebestrank ein Fehlschlag -oder aber weit über das hinaus, was er beabsichtigt hatte, erfolgreich -gewesen sei. Ich beschrieb ihm eingehend, was geschehen war -freilich alles andere als begeistert, eher sogar ein wenig vorwurfsvoll.
»Dann hat das Mädchen die Finger im Spiel gehabt«, sagte er. »Davor hatte ich ja gleich Angst. Aber kein Experiment ist ein vollständiger Fehlschlag, wenn man etwas daraus lernt. Habt Ihr etwas daraus gelernt?«
»Nur, daß das Menschenleben nicht nur in merda oder kut endet, sondern auch darin beginnt. Nein, noch etwas anderes: in Zukunft werde ich bei der Liebe vorsichtig vorgehen. Ich will nie eine Frau, die ich liebe, dazu verdammen, ein so grauenhaftes Schicksal wie das Mutterwerden zu erdulden.«
»Nun, da habt Ihr es denn. Ihr habt etwas gelernt. Vielleicht möchtet Ihr es noch einmal ausprobieren? Ich habe hier noch ein Fläschchen, das eine weitere Variante des Rezeptes enthält. Nehmt es mit und probiert es mit irgendeiner Frau, die nicht gerade eine Romni-Zauberin ist.«
Kläglich brummte mein Onkel: »Wenn das kein Dotör Balanzön
ist! Gibt mir ein Mittel ein, das alles auslöscht, und um es
auszugleichen, gibt er jemand, der viel zu jung und spritzig ist,
es zu gebrauchen, einen Liebesverstärker.«
Ich sagte: »Ich werde den Trank annehmen, Mimdad, als
Andenken. Die Vorstellung ist reizvoll -die Liebe in allen
Formen zu erleben. Nur liegt noch ein langer Weg vor mir, ehe
ich alle Möglichkeiten dieses Körpers ausgeschöpft habe, den
ich jetzt zu behalten gedenke. Doch sobald Ihr Euren Trank bis
zur Vollkommenheit verfeinert habt, wird diese Nachricht überall
in der Welt verbreitet werden -vielleicht, daß meine
Möglichkeiten sich dann erschöpfen. Dann werde ich Euch
aufsuchen und Euch bitten, den reinen Trank auszuprobieren.
Bis dahin jedoch wünsche ich Euch Erfolg und sage salaam
und lebt wohl.«
Nicht einmal auf diese Weise konnte ich mich von Chiv
verabschieden, als ich sie noch am selben Abend in Shimons
Haus aufsuchte.
»Schon am Nachmittag«, sagte er gleichmütig, »hat die Domm
um ihren Anteil an den bisherigen Einnahmen gebeten, sich
von hier verabschiedet und sich einer usbekischen karwan
angeschlossen, die nach Balkh losgezogen ist. So etwas tun
Domm. Sind sie nicht faul, treibt es sie umher. Ach, Ihr habt ja
immer noch das Drückmesser, Euch an sie zu erinnern.«
»Jawohl. Und mich an ihren Namen zu erinnern. Denn Chiv
heißt Klinge.«
»Was Ihr nicht sagt! Und dabei hat sie nie eine in Euch
hineingestoßen.«
»Da bin ich mir nicht so ganz sicher.«
»Es gibt auch noch andere Frauen. Wollt Ihr eine haben, für
diese letzte Nacht?«
»Ich glaube nicht, Shimon. Nach dem, was ich von ihnen
gesehen habe, kommen sie mir ausgesprochen unschön vor.«
»Aber der Denkweise entsprechend, die Ihr einmal zum
Ausdruck gebracht habt, sind sie angenehm ungefährlich.«
»Wißt Ihr was? Der alte Mordecai hat das zwar nie gesagt, aber das mag etwas sein, was gegen unschöne Menschen spricht jedenfalls nicht für sie. Ich glaube, ich werde die schönen immer vorziehen und sehen, wie ich mit der Gefahr zurechtkomme. Jetzt danke ich Euch für Eure guten Dienste, Tzaddik Shimon, und sage Euch lebt wohl!«
»Sakaná aleichem, noséyah.«
»Das klang aber anders als Euer übliches Friede-sei-mit-
Euch.«
»Ich dachte, Ihr würdet es zu schätzen wissen.« Damit
wiederholte er die Iwrith-Worte, um sie dann in Farsi zu
übersetzen: »Die Gefahr sei mit Euch, Reisender!« Wiewohl es in Buzai Gumbad immer noch reichlich Schnee gab, hatte sich die gesamte Oberfläche des Chaqmantin-Sees aus blauweißem Eis in eine bunte Decke aus Wasservögeln verwandelt -unzählige Scharen von Gänsen, Enten und Schwänen waren von Süden her heraufgeflogen und fielen immer noch weiter ein. Ihr zufriedenes Geschnatter wollte nicht aufhören, und es rauschte wie ein Sturm im Wald, sobald Tausende von ihnen sich plötzlich auf einmal aus dem Wasser emporschwangen, um fröhlich eine Runde um den See zu fliegen. Auch lieferten sie uns eine schöne Abwechslung unseres Speiseplans, und ihr Eintreffen hatte ganz allgemein als Signal für die karwans gegolten, die Sachen zu packen, die Tiere aufzuzäumen oder zusammenzutreiben, ihre Wagen hintereinander aufzustellen und einer nach dem anderen langsam in Richtung Horizont zu verschwinden.
Die ersten, die sich auf den Weg machten, waren diejenigen karwans, die nach Westen, nach Balkh oder noch weiter zogen, denn der langsam abfallende Wakhän-Korridor stellte die leichteste Route vom Dach der Welt hinab dar und war deshalb auch die erste, die im Frühling zu bewältigen war. Diejenigen, die weiterziehen wollten nach Norden, Süden oder Osten, warteten klüglich noch eine Weile länger, denn wohin sie auch immer wollten, zunächst galt es, die Buzai Gumbad von drei Seiten einschließenden Bergzüge zu überwinden, ihre Hochpässe zu benutzen und weitere hinter ihnen liegende Bergzüge zu erklimmen. Und die Hochpässe, die nach Norden, Osten und Süden führten, so sagte man uns, waren selbst im Hochsommer nie ganz ohne Schnee.
Aus diesem Grunde warteten wir Polo, die wir nach Norden wollten und keinerlei Erfahrung mit Reisen in solchem Gelände und unter diesen Bedingungen hatten, auf die Klugen anderen. Wir hätten vielleicht sogar länger als nötig gewartet, wäre nicht eines Tages eine Abordnung der tamilischen Chola zu uns gekommen, über die ich mich einst lustig gemacht und bei denen ich mich später dafür entschuldigt hatte. In der Handelssprache Farsi, die sie nur schlecht beherrschten, setzten sie uns auseinander, sie hätten beschlossen, ihr Meersalz nicht nach Balkh zu bringen; sie hätten nämlich zuverlässige Kunde erhalten, daß sie in einer Stadt namens Murghab, einer an der Ost-West-Route zwischen Ki-thai und Samarkand gelegenen Handelsstadt in Tazhikistan, einen besseren Preis dafür erzielen würden.
»Samarkand liegt nordwestlich von hier«, meinte Onkel Mafio. »Murghab aber direkt im Norden«, sagte einer der Chola, ein spindeldürres Männchen namens Talvar. »Es liegt auf Eurem Weg, oh, Zweimal-Geborener, und Ihr werdet die schlimmsten Bergzüge hinter Euch haben, wenn Ihr dorthin kommt. Die Reise durchs Gebirge bis nach Murghab wird leichter für Euch sein, wenn Ihr in unserer karwan mitzieht. Wir wollten Euch nur sagen, daß Ihr Euch uns gern anschließen könnt; wir würden das sogar gern sehen, denn wir sind tief beeindruckt von den guten Manieren dieses zweimal geborenen Saudara Marco. Wir
meinen, Ihr könntet genau die richtigen Reisegefährten für uns sein.« Mein Vater und mein Onkel, ja sogar Nasenloch machten ein
ziemlich dummes Gesicht, als man sie zweimal geboren nannte und Fremde mich meiner guten Manieren wegen priesen. Wir alle stimmten darin überein, der Einladung der Chola zu folgen, und bedankten uns sehr. So kam es, daß wir in ihrer karwan aus Buzai Gumbad hinausritten und uns aufmachten, zu den abweisenden Bergen im Norden zu gelangen.
Unsere karwan war nur klein verglichen mit manchen, die wir im Lager gesehen hatten und zu denen Dutzende von Menschen und Hunderte von Tieren gehörten. Die Chola waren alles in allem nur ein Dutzend, dazu ausschließlich Männer, keine Frauen und Kinder; und sie hatten auch nur ein halbes Dutzend kleiner ausgemergelter Reitpferde, was sie veranlaßte, sich im Reiten und Zufußgehen abzuwechseln. Als Gefährt hatten sie nur drei klapprige, zweirädrige Karren, vor die sie je ein kleines Zugpferd gespannt hatten. In diesen Karren transportierten sie ihr Bettzeug, ihren Proviant, das Tierfutter, Schmiedewerkzeug und andere für die Reise notwendige Dinge. Bis Buzai Gumbad hatten sie ihr Salz auf zwanzig oder dreißig Packeseln geschafft, diese jedoch dort gegen ein Dutzend Yaks eingetauscht, die imstande waren, dieselbe Last zu tragen und dabei besser für das nördliche Gelände geeignet waren.
Die Yaks waren ausgezeichnete Wegbahner. Ihnen machten weder Schnee noch Kälte oder Unbequemlichkeiten etwas aus, und sie waren selbst schwerbeladen noch trittsicher. Da sie die Spitze unserer karwan bildeten, suchten sie nicht nur den besten Weg, sondern pflügten ihn auch noch frei von Schnee und trampelten ihn für uns, die wir ihnen folgten, fest. Schlugen wir abends das Lager auf und pflockten wir die Tiere rund um uns her an, zeigten die Yaks den Pferden, wie man im Schnee herumscharrt, um die unansehnlichen und zusammengeschrumpften, aber eßbaren burtsa-Sträucher zu finden, die von der letzten Wachstumsperiode noch übriggeblieben waren.
Ich nehme an, daß die Chola uns nur deshalb aufgefordert hatten, uns ihnen anzuschließen, weil wir große Männer waren
-zumindest im Verhältnis zu ihnen; und sie müssen sich gedacht haben, daß wir wohl gute Kämpfer wären, sollten wir auf dem Weg nach Murghab Räubern begegnen. Wir stießen aber auf keine, und so wurde unsere Muskelkraft nicht in irgendeinem Notfall gebraucht. Allerdings kam sie gelegen bei den häufigen Gelegenheiten, da auf dem unebenen Gelände ein Wagen umkippte, ein Pferd in einen Felsspalt fiel oder ein Yak eine seiner Lasten abstreifte, wenn er sich an einem Felsen vorbeizwängte. Außerdem halfen wir abends beim Essenbereiten, doch taten wir das mehr aus Eigennutz denn aus Gefälligkeit.
Die Chola aßen ihr Fleisch, nachdem sie es sehr reichlich mit einer Sauce von grauer Farbe und schleimiger Beschaffenheit übergössen hatten, die sich aus zahlreichen unterschiedlichen Gewürzen zusammensetzte und von ihnen käri genannt wurde. Das hatte zur Folge, daß -was immer man auch aß -alles gleich schmeckte, nämlich nur nach käri. Das war zugegebenermaßen ein Segen, wenn das Gericht aus einem faden Stück getrockneten oder eingesalzenen Fleisches bestand oder dies auch bereits grünlich schillerte und halb verwest war. Wir, die wir keine Chola waren, wurden es bald überdrüssig, immer nur käri zu schmecken und nie zu wissen, ob das, was darunter lag, Hammel oder Geflügel war oder was genausogut hätte sein können -Heu. Zunächst baten wir um Erlaubnis, die Sauce zu verbessern, indem wir eine Prise von unserem zafrän dazugaben, einer Zutat, welche den Chola bisher unbekannt gewesen war. Sie waren hocherfreut über den neuen Geschmack und die goldene Färbung, die der käri jetzt annahm, und mein Vater schenkte ihnen ein paar Brutknöllchen, die sie mitnehmen sollten nach Indien. Als selbst die verbesserte Sauce uns nicht mehr reizen konnte, erboten ich und Nasenloch sowie mein Vater uns, sich mit den Chola abends beim Essenkochen abzulösen, und Onkel Mafio holte Pfeil und Bogen hervor und versorgte uns von nun an mit frisch erlegtem Wild. Für gewöhnlich handelte es sich nur um Niederwild wie Schneehasen und rotbeinige Rebhühner, doch ab und zu schoß er auch etwas Größeres wie einen goral oder eine Ziegenantilope oder einen urial. Waren wir an der Reihe mit dem Kochen, gab es einfache Gerichte aus gebratenem oder gesottenem Fleisch - und zwar Gott sei Dank ohne Sauce.
Abgesehen davon, daß die Chola käri über die Maßen liebten, waren diese Männer gute Reisegefährten. Sie waren selbst dann schüchtern, mit einem zu sprechen, wenn sie zuvor angesprochen worden waren, hielten sich also dermaßen zurück, um nicht lästig zu fallen, daß wir anderen die ganze Reise bis Murghab hätten zurücklegen können, ohne viel von ihnen zu merken. Obwohl die Chola Tamil und nicht Hindi sprachen, gehörten sie doch der Hindu-Religion an und kamen auch aus Indien; infolgedessen mußten sie die ganze Verachtung und den Hohn ertragen, mit dem andere Völker die Hindus zu Recht betrachten. Unser Sklave Nasenloch war der einzige Nichthindu, von dem ich wußte, daß er sich die Mühe gemacht hatte, die tief stehende Hindi-Sprache zu erlernen, und nicht einmal er hatte je Tamil gelernt. Infolgedessen konnte sich keiner von uns in ihrer Muttersprache mit diesen Chola unterhalten, und ihre Beherrschung des Farsi ließ sehr zu wünschen übrig. Nachdem wir ihnen jedoch deutlich gemacht hatten, daß wir den Kontakt mit ihnen nicht scheuten und uns auch nicht offen über sie lustig machten oder über ihr schleppendes Farsi lachten, zeigten sie sich uns gegenüber geradezu schmeichlerisch zuvorkommend und überboten sich förmlich, uns Interesantes über diesen Teil der Welt zu berichten und uns klarzumachen, welche Vorteile es habe, gerade diese Route eingeschlagen zu haben.
Dies ist das Land, das die meisten Abendländer die Ferne Tatarei nennen und von dem sie meinen, es stelle den östlichsten Rand der Erde dar. Doch diese Bezeichnung ist doppelt mißverständlich. Die Welt dehnt sich auch im Osten noch weit über die Ferne Tatarei hin aus, und der Name Tatarei könnte nicht falscher gewählt sein. Ein Mongole heißt in dem in Persien gesprochenen Farsi Tatar, unter dieser Bezeichnung haben die Abendländer daher zum ersten Mal vom Mongolenvolk gehört. Später, als dann die Mongolen genannten Tataren wie ein Sturm über die Grenzen Europas dahinfegten und das gesamte Abendland vor Angst und Haß auf sie zitterte, war es vielleicht natürlich, daß viele Abendländer das Wort Tatar mit dem alten klassischen Namen für die Unterwelt - Tartarus -verwechselten. So kam es, daß die Abendländer von den »Tataren aus der Tatarei« genauso sprachen wie von den »Teufeln aus der Hölle«.
Doch selbst Menschen aus dem Osten, die doch die richtigen Namen für diese Landstriche hätten kennen sollen, Männer, die schon mit so mancher karwan durch diese Lande gezogen waren, belegten Berge, durch die wir uns gerade hindurchquälten, mit allen möglichen Namen: Hindu-Kush, Himalaya, Karakorum und so weiter. Ich kann bezeugen, daß es dort in der Tat genug einzelne Berge und ganze Bergzüge, ja, ganze Völker von Bergen gab, um alle möglichen Bezeichnungen zu rechtfertigen. Doch um unseres Kartenzeichnens willen fragten wir unsere Chola-Gefährten, ob sie uns über die ganze Angelegenheit aufklären könnten. Sie hörten zu, als wir all die uns genannten Namen wiederholten, und dann höhnten sie keineswegs über die Menschen, die sie uns genannt hatten - denn kein Mensch, so bestätigten sie, könne genau sagen, wo eine Bergkette und ein Name dafür aufhörten und wo eine andere beginne.
Doch um möglichst genau zu bestimmen, wo wir uns befänden, sagten sie, im Augenblick zögen wir durch das Pai-Mir genannte Hochland gen Norden; die Kette des Hindu-Kush hätten wir im Südwesten hinter uns gelassen und den Himalaya irgendwo weit in der Ferne im Südosten. Bei den anderen Namen, die wir gehört hatten -die Bewahrer, die Herren, Salomons Thron -, sagten die Chola, handele es sich vermutlich um lokale Bezeichnungen aus der engeren Umgebung, gegeben und benutzt nur von den Menschen, die zwischen den verschiedenen Gebirgszügen lebten. Infolgedessen trugen mein Vater und mein Onkel die Namen entsprechend in den Karten des Kitab ein. Für mich sah ein Berg aus wie der andere: hochragende Klippen, schartige Felsen, schwindelerregende Abgründe und das heruntergebrochene Gestein der Geröllhalden. Alles Gestein wäre eintönig grau, braun oder schwarz gewesen, hätte es nicht unter einer dicken Schneedecke begraben dagelegen und wäre es nicht von Eiszapfen geschmückt gewesen. Meiner Meinung nach hätte der Name Himalaya -Wohnstatt des Schnees -genausogut auf jede andere Bergkette in der Fernen Tatarei gepaßt.
Doch trotz aller Ödnis und trotz des Fehlens lebhafterer Farben handelte es sich um die großartigste Landschaft, durch die ich auf meinen Reisen je gekommen bin. Unbekümmert ob uns wenigen Unruhegeistern, diesen winzigen Insekten, die sich da den Weg über ihre mächtigen Hänge suchten, ragten die Berge des Pai-Mir majestätisch und unerschütterlich fest in gewaltiger Höhe und bildeten eine Bergkette nach der anderen. Doch wie soll ich in ohnmächtigen Insektenworten die überwältigende Majestät dieser Berge wiedergeben? Man lasse mich folgendes sagen: wie hoch und großartig die Alpen in Europa sind, weiß jeder Reisende und jeder Gebildete im Abendland. Und ich möchte noch folgendes hinzufügen: gäbe es so etwas wie eine ausschließlich aus Alpen bestehende Welt, dann wären die Gipfel des Pai-Mir die Alpen dieser Welt.
Noch etwas anderes möchte ich zu diesen Pai-Mir-Bergen bemerken, etwas, das ich nie von einem anderen Reisenden gehört habe, der von dorther zurückgekommen ist. Die Männer, die schon ihr Leben lang mit den karwans zogen, hatten uns freigebig guten Rat über das erteilt, was wir erleben würden, wenn wir erst einmal dort wären. Keiner von ihnen hat jedoch von einer Seite der Berge gesprochen, die ich als besonders interessant und erinnerungswürdig empfinde. Sie redeten zwar von den schrecklichen Wegeverhältnissen im Pai-Mir und von dem Wetter, das eine Strafe sei, und sie hatten uns auch gesagt, wie ein Reisender am besten mit diesen Schwierigkeiten fertig wurde. Niemals jedoch haben die Männer von dem gesprochen, was mir am lebhaftesten in der Erinnerung steht: von dem unablässigen Lärm, den diese Berge machen.
Dabei meine ich nicht das Heulen von Winden, Schnee-und Sandstürmen, obgleich ich das weiß Gott oft genug gehört habe. Wir hatten häufig mit einem Wind zu kämpfen, in den man sich buchstäblich hineinfallen lassen konnte, ohne zu Boden zu gehen -man hing dann eben schräg in der Luft, vom starken Wind so gehalten. Und zum Heulen dieses Windes kam noch das Gebrodel des treibenden Schnees oder das Prasseln des dahinjagenden Sands oder Staubs, wie das in Höhen vorkam, in denen der Winter immer noch nicht ganz weichen wollte, oder in den tiefen Schluchten, in denen jetzt später
Frühling war. Nein, das Geräusch, an das ich mich so gut erinnere, waren die Laute, die vom Zerfall der Berge ausgingen. Ich hätte nie vermutet, daß Berge von so gewaltiger Größe ständig zerfallen, auseinanderbersten und zu Tal rutschen. Als ich dieses Geräusch das erste Mal hörte, dachte ich, es sei ein Donner, der zwischen den Schroffen hallte, und darüber wunderte ich mich, denn Wolken waren in dem tiefblauen Himmel keine zu sehen. Außerdem konnte ich mir auch nicht vorstellen, daß bei so kristallklarem und kaltem Wetter ein Gewitter aufziehen sollte. Ich ließ mein Reittier halten, saß still im Sattel und lauschte.
Das Geräusch begann als tiefes Grollen irgendwo weit vor uns, steigerte sich zu einem fernen Brüllen, und dann setzte sich dieses Geräusch aus den vielen Echos zusammen, die das ergab. Andere Berge hörten es und gaben es zurück wie ein Sängerchor, bei dem ein Sänger nach dem anderen das Thema eines einzeln singenden Baßsängers aufnahm. Die Stimmen wälzten das Thema aus und erweiterten es, fügten den Widerhall von Tenören und Baritonen hinzu, bis der Klang mal von da und dann wieder von dort, von hinter mir und von überallher um mich herum auf mich eindrang. Wie verzaubert von dem trommelnden Widerhall blieb ich stehen, bis aus dem Donner ein Summen und Brummen wurde und es schließlich vollends verstummte. Doch taten dies die Bergstimmen nur höchst zögernd, eine nach der anderen, so daß ein menschliches Ohr den Augenblick, da der Klang in Schweigen erstarb, nicht genau mitbekam.
Der Talvar genannte Chola ritt auf seinem struppigen kleinen Pferd neben mich, sah mich an und brach meine Verzauberung, indem er in seiner Muttersprache Tamil sagte: »Lawine.« Ich nickte, als hätte ich es die ganze Zeit über gewußt, dann ließ ich mein Pferd die Schenkel spüren und ritt weiter.
Das war nur das erste von ungezählten Malen, daß ich es erlebte: eigentlich konnte man das Geräusch fast jederzeit Tag und Nacht hören. Manchmal kam es aus so großer Nähe unseres Weges, daß wir es über dem Knarren und Klirren unseres Zaumzeugs und der Karrenräder und dem Mahlen und Zähneknirschen unserer Yakherde hören konnten. Hoben wir rasch den Blick, ehe die Echos es unmöglich machten, die Richtung zu erkennen, aus der es kam, sahen wir hinter irgendeiner Bergkette sich eine rauchartige Staubwolke zum Himmel emporwölken oder ein glitzerndes Luftgebilde aus Schneestaub, die über jener Stelle standen, wo die Lawine zu Tal gegangen war. Doch das Geräusch weiter entfernter Steinlawinen konnte ich eigentlich immer hören, wenn ich eigens danach horchte. Ich brauchte dann nur zu den anderen vorauszureiten oder hinterherzutrödeln und eine Weile zu warten. Dann hörte ich es, aus dieser oder jener Richtung, das Aufstöhnen eines Berges, der einen Teil von sich verlor, und dann die einander überschneidenden Echos aus allen Himmelsrichtungen: alle anderen Berge stimmten in den Klagegesang ein.
Wie das auch in den Alpen geschehen kann, bestanden die zu Tal rauschenden Lawinen oft auch aus Schnee und Eis. Häufiger jedoch kündeten sie von dem langsamen Verfall der Berge selbst, denn dieser Pai-Mir mag zwar unendlich viel größer sein als die Alpen, aber er besteht auch aus merklich weniger festem Gestein. Aus der Ferne machen diese Berge den Eindruck, als stünden sie fest und für die Ewigkeit gegründet da, aber ich habe sie auch von nahem gesehen. Sie bestehen aus einem von vielen Adern durchzogenen, rissigen und mit vielen Verunreinigungen behafteten Gestein, und die erhabene Höhe der Berge selbst trägt dazu bei, daß ständig an ihrer Festigkeit gerüttelt wird. Reißt der Wind in großer Höhe auch nur einen einzigen kleinen Stein heraus, bringt er durch seinen Fall andere Felsteile ins Rutschen, das wiederum lockert weiteres Gestein, bis sie alle gemeinsam immer schneller in die Tiefe stürzend gewaltige Felsblöcke umwerfen, die im Fallen den Rand eines Steilhangs zermalmen und herausbrechen, und das wiederum kann einen ganzen Berghang wegrutschen lassen. Und so weiter, bis eine riesige, aus Felsen, Steinen, Geröll, Erde, Staub und für gewöhnlich auch mit Schnee, Schneematsch und Eis untermischte Masse - welche die Größe von kleinen Alpen erreichen kann -in die engen Schluchten oder die womöglich noch engeren Spalten, die Berge voneinander trennen, hinunterrauscht.
Jedes Lebewesen, das einer Pai-Mir-Lawine im Wege steht, ist verloren. Wir trafen auf so manche Zeugen dieser Tatsache die Gerippe und Schädel sowie die prachtvollen Gehörne von goral-, unal-und ›Marcos-Schafen‹, aber auch die Gebeine und Totenschädel und erschütternd zertrümmerten Habseligkeiten von Menschen -die Überreste zugrunde gegangener Wildherden und lange verschollener karwans. Diese Unglücklichen hatten die Berge ächzen hören, dann aufstöhnen, aufbrüllen -und dann haben sie nie wieder überhaupt etwas gehört. Nur der Zufall bewahrte uns vor dem gleichen Schicksal, denn es gibt keinen Weg, keinen Lagerplatz und keine Tageszeit, in der keine Lawinen niedergehen. Glücklicherweise begrub uns keine, doch hatten wir oft Gelegenheit festzustellen, daß der Weg völlig verschüttet war, was uns zwang, einen Weg um diese Unterbrechung herum zu suchen. Das war schon schlimm genug, wenn eine solche Lawine eine schier unbezwingliche Geröllbarriere vor uns errichtet hatte. Noch schlimmer freilich für uns war es, wenn der Pfad -und das war häufig der Fall -nichts mehr war als ein schmales Sims an einer glatten Felswand -und eine Lawine herniedergegangen war, die eine unüberbrückbare Lücke hinterlassen hatte. Dann blieb uns nichts anderes übrig, als kehrtzumachen und den manchmal viele farsakhs langen Rückweg anzutreten und hinterher eine noch längere Umgehung zu finden, ehe wir endlich wieder weiter nach Norden vorstoßen konnten.
Folglich fluchten mein Vater, mein Onkel und Nasenloch bitterlich, und die Chola wimmerten erbärmlich jedesmal, wenn sie das polternde Grollen von Steinschlag und Lawinen hörten, gleichgültig, aus welcher Richtung sie kamen. Ich hingegen war jedesmal tief von diesem Laut angerührt und kann einfach nicht verstehen, warum andere Reisende meinen, er sei es nicht wert, in ihren Erinnerungen Erwähnung zu finden; dieser Laut bedeutet schließlich, daß diese Berge nicht für alle Ewigkeit stehen bleiben werden. Selbstverständlich wird es Jahrhunderte dauern, ehe sie gänzlich zerborsten und zerbröckelt sind, und Jahrtausende und Äonen, ehe der Pai-Mir bis auf die Größe der immer noch erhaben hohen Alpen geschrumpft sein wird -aber es wird geschehen, und zuletzt wird nichts übrigbleiben als gesichtsloses flaches Land. Als mir das aufging, fragte ich mich, warum Gott, wenn er sie doch nur stürzen lassen will, sie ursprünglich so über die Maßen hoch aufgetürmt hat. Und fragte und frage mich heute noch, wie unermeßlich, alle Vorstellung übersteigend und unsäglich hoch diese Berge gewesen sein müssen, als Gott sie während der Schöpfung entstehen ließ.
Da alle diese Berge von denselben Farben waren, nahmen wir nur jene Veränderungen an ihnen wahr, die durch Wetter und Tageszeit hervorgerufen wurden. An klaren Tagen fingen die Gipfel den Glanz der Morgendämmerung auf, während wir noch von der Nacht gefangen waren; genauso bewahrten sie die Glut des Sonnenuntergangs noch lange nachdem wir das Lager aufgeschlagen, zu Abend gegessen und uns im Dunkel zum Schlafen niedergelegt hatten. An Tagen, da Wolken am Himmel standen, konnte es geschehen, daß eine weiße Wolke über einen nackten braunen Felsen dahinsegelte und ihn verbarg. War die Wolke vorübergezogen, tauchte die Spitze wieder auf, doch nunmehr weiß verschneit, gleichsam, als hätte sie der Wolke Fetzen herausgerissen, sich darin einzuhüllen.
Befanden wir selbst uns in großer Höhe und ging es einen aufwärtsführenden Pfad hinan, narrte das Höhenlicht dort oben unsere Augen. In fast allen Bergländern herrscht fast immer ein leichter Dunst vor, der jeden weiter entfernten Gegenstand dem Auge etwas weniger klar, verschwommener erscheinen läßt, so daß man schwer abschätzen kann, was nun näher und was weiter entfernt liegt. Im Pai-Mir jedoch sucht man Dunst vergebens, und es ist unmöglich, die Entfernung oder auch nur die Größe der gewöhnlichsten und vertrautesten Gegenstände abzuschätzen. Oft heftete ich den Blick auf einen Berggipfel am fernen Horizont und schrak dann zusammen, als ich sah, daß unsere Pack-Yaks bereits darüber hinwegkletterten -und es war nichts weiter als ein Hügel aus Felsgestein, wenige hundert Schritt von mir entfernt. Oder ich erhaschte einen Blick von einem massig-plumpen surragoy -einem der wildlebenden Gebirgs-Yaks, die sich ausnahmen, als wären sie selbst ein Stück Berg -, der dicht neben unserem Pfad lauerte, woraufhin ich mir Sorgen machte, er könnte unsere zahmen Yaks verlocken fortzulaufen -um mir dann darüber klarzuwerden, daß er in Wirklichkeit einen ganzen farsakh von uns entfernt stand und ein ganzes Tal zwischen ihm und uns lag.
Die Höhenluft war nicht minder trügerisch als das Licht. Wie bereits im Wakhän (den wir bereits als Tiefland ansahen), weigerte die Luft sich, die Flammen unserer Kochfeuer mehr als matt brennen zu lassen, sie flackerten nur bläulich und lau, und unsere Töpfe brauchten eine Ewigkeit, ehe das Wasser darin zum Sieden kam. In dieser Höhe wirkte die dünne Luft sich sogar auf die Sonnenhitze aus. Die Sonnenseite eines Felsens konnte so heiß werden, daß es nicht ratsam war, sich dagegen zu lehnen; die im Schatten liegende Seite konnte unbehaglich kalt sein. Manchmal mußten wir unsere schweren chapon-Mäntel ablegen, weil uns in der Sonne unerträglich heiß darin wurde, und doch wollte kein einziges Eiskristall von dem vielen Schnee um uns herum schmelzen. Die Sonne brachte Eiszapfen blendend grell und in schillernden Regenbogen zum Aufblitzen, doch Tropfen bildeten sich an ihren Spitzen nie.
Das jedoch war nur bei klarem und sonnigem Wetter im Hochgebirge so, wenn der Winter für kurze Zeit schlief. Ich glaube, diese Höhen sind es, in die der alte Winter sich zurückzieht, um sich zu mopsen und zu schmollen, wenn der Rest der Welt nichts mehr von ihm wissen will und wärmere Jahreszeiten willkommen heißt. Und hierher -vielleicht in die eine oder andere Berghöhle -zieht der alte Winter sich zurück, um dort von Zeit zu Zeit ein Nickerchen zu machen. Aber sein Schlaf hat etwas Unruhiges, er wacht dauernd wieder auf, gähnt, so daß Windstöße dahinfahren, wirbelt mit den Armen wie mit Windmühlenflügeln und schüttelt ganze Kaskaden Schnee aus dem Bart. Wie oft habe ich nicht die beschneiten Bergspitzen sich mit frischem Schneefall verschmelzen und restlos im blendenden Weiß verschwinden sehen; es dauerte nicht lange, da verschwanden auch die näher gelegenen Gipfel, dann die Yaks, die unseren Zug anführten, danach alles andere, und am Schluß verschwand alles im Weiß, was jenseits der flatternden Mähne meines Pferdes lag. Bei manchem dieser Stürme waren die Flocken so dick und wehte der Wind mit einer Heftigkeit, daß wir Reiter am besten damit vorankamen, wenn wir uns umdrehten und rückwärts auf dem Sattel saßen und die Reittiere selbst den Weg suchen ließen, indem sie wie Segelboote quer zum Wind vorwärtsstapften.
Da es ständig bergauf und bergab ging, kamen wir alle paar Tage aus den strengen Klimabereichen in mildere Zonen immer dann nämlich, wenn wir in warme, trockene und stauberfüllte Schluchten hinabstiegen, in denen schon die junge Dame Frühling ihren Einzug gehalten hatte -, um bald darauf wieder in Höhen hinaufzusteigen, die immer noch der alte Winter in seiner Gewalt hatte. So mühten wir uns abwechselnd durch den Schnee oben und patschten unten durch den Schlamm; halb vom Hagelsturm oben erfroren, halb von einem wirbelnden Staubteufel unten erstickt. Doch je weiter wir nach Norden vorankamen, desto häufiger sahen wir auf den schmalen Talgründen kleine Flecken lebendigen Grüns zerspellte Sträucher und spärliches Gras, dann kleine und schüchterne Weideflächen, gelegentlich sogar einen ausschlagenden Baum, dann ganze Haine davon. Die bruchstückhaft grünen Bereiche nahmen sich neu und fremd aus, wie sie unter dem Schneeweiß, dem Tiefschwarz und Rehbraun der Höhen auftauchten; man hätte meinen können, sie seien mit Scheren aus anderen fernen Ländern ausgeschnitten und auf unerklärliche Weise in dieser ödnis verstreut worden.
Noch weiter im Norden rückten die Berge weiter auseinander, gab es entsprechend breitere und grünere Täler, und das Gelände war um seiner Gegensätze willen nur um so bemerkenswerter. Vor dem kaltweißen Hintergrund der Berge schimmerten Hunderte von verschiedenen Grüntönen, die sämtlich sonnenwarm wirkten -ausladende dunkelgrüne Zedrachbäume, blaßsilbergrüne Robinien oder Scheinakazien, hohe schlanke Pappeln, die wie grüngefiedert wirkten, Espen, die zitternd ihr Laub von der grünen auf die perlgraue Seite wendeten. Und unter und zwischen den Bäumen glühten hundert verschiedene andere Farben -die leuchtendgelben Blütenkelche einer tulband genannten Blumenart, das leuchtende Rot und Rosa wilder Rosen, das strahlende Lila eines Strauches, der lilac genannt wurde. Hochwachsende Sträucher sind das, und die lila Blütentrauben nahmen sich um so lebhafter aus, als wir sie zumeist von unten vorm kräftigweißen Schneehintergrund sahen. Und der Duft dieser Blütendolden - einer der köstlichsten Düfte überhaupt -roch um so süßer, als er von dem absolut geruchlosen und sterilen Wind von den Schneefeldern herangetragen wurde.
In einem dieser Täler stießen wir seit Verlassen des Ab-e-Panj auf den ersten Fluß, und der hieß Murghab. Die Stadt gleichen Namens lag an seinem Ufer. Wir nahmen die Gelegenheit wahr, zwei Nächte in einer karwansarai dort zu verbringen, zu baden und unsere Kleider im Fluß zu waschen. Dann sagten wir den Chola Lebewohl und zogen weiter gen Norden. Ich hoffte, daß Talvar und seine Gefährten viele Münzen für ihr Meersalz bekamen, denn wesentlich anderes hatte Murghab nicht zu bieten. Es war eine ärmliche Stadt, und ihre tazhikischen Einwohner zeichneten sich eigentlich nur durch die ungewöhnliche Ähnlichkeit mit ihren Mitbewohnern, den Yaks, aus; Männer wie Frauen waren gleichermaßen stark behaart, rochen, hatten breite Gesichter und mächtige Brustkästen und waren in ihrer Trägheit und ihrer mangelnden Neugier wirklich wie die Kühe. In Murghab gab es nichts, was uns zum Verweilen eingeladen hätte; so sollten auch die Chola die Stadt bald wieder verlassen, denn es gab hier nichts, worauf sie sich hätten freuen können, nur die scheußliche Rückreise durch das Hochland von Pai-Mir und dann noch durch ganz Indien.
Unsere eigene Weiterreise von Murghab aus war nicht allzu anstrengend, denn mittlerweile waren wir die Mühsal des Hochgebirges ja gewohnt. Außerdem erwiesen sich die Bergzüge weiter im Norden als nicht ganz so hoch und winterlich wie die bisher bewältigten, ihre Hänge als nicht ganz so steil und der Aufstieg bis zu den jeweiligen Pässen nicht so lang, die dazwischenliegenden Täler waren breit, Blumen blühten im Grün, und sie waren höchst angenehm. Den Berechnungen mit unserem kamal zufolge waren wir längst weiter in den Norden Zentralasiens vorgestoßen, als Alexander jemals gekommen war, und unserem Kitab zufolge befanden wir uns ziemlich genau in der Mitte der größten Landmasse der Erde. Wer beschreibt daher unser Erstaunen und unsere Verblüffung, als wir eines Tages an das Ufer eines Meeres gelangten. Vom Ufer, wo die kleinen Wellen die Fesseln unserer Pferde umspülten, erstreckte sich das Wasser so weit das Auge reichte nach Westen. Selbstverständlich wußten wir, daß es in Innerasien ein gewaltiges Binnenmeer gibt, das Ghelan oder Kaspisches Meer genannt wurde, doch mußten wir uns weit, weit östlich davon befinden. Momentanes Mitleid mit unseren bisherigen Reisegefährten, den Chola, befiel mich, als ich darüber nachdachte, daß sie ihr ganzes Meersalz so weit in ein Land geschafft hatten, das selbst über ein riesiges Salzmeer verfügte.
Doch wir kosteten das Wasser, und es war frisch und süß und kristallklar. Also handelte es sich um einen See, doch das war nicht wesentlich weniger erstaunlich -vor einem solchen riesigen und tiefen See zu stehen, der sich gleichsam alpenhoch über der Hauptmasse der Erde erstreckte! Bei unserem Weg in den Norden zogen wir am Ostufer entlang, und es dauerte viele Tage, ehe wir ihn hinter uns lassen konnten. An jedem dieser Tage fanden wir einen Vorwand, warum wir gerade heute so früh das Lager aufschlagen mußten
-um zu baden, hinauszuwaten und in diesem balsamischen, blitzenden Wasser herumzutollen. Wir stießen auf keine Stadt an diesen Gestaden, sondern nur auf die Lehmziegel-und Bretterhütten tazhikischer Schäfer, Holzfäller und Köhler. Diese verrieten uns, daß der See Karakul genannt wurde, was soviel bedeutet wie Schwarzes Vlies - und gleichzeitig auch der Name jener Schafe ist, die von allen Schäfern dieser Gegend
gezüchtet wurden. Das war noch etwas Merkwürdiges an diesem See: daß er den Namen eines Tieres trug; wenngleich es sich, wie man zugeben muß, nicht gerade um ein gewöhnliches Tier handelt. Sieht man sich eine Herde dieser Schafe genau an, fragt man sich, warum sie eigentlich kara -schwarz -genannt werden, denn alle ausgewachsenen Böcke und Mutterschafe tragen überwiegend ein graues bis grauweißes Wollkleid; nur wenige von ihnen sind ganz schwarz. Die Erklärung liegt in dem kostbaren Pelz, um dessentwillen die Karakulschafe berühmt sind; denn dieser aus äußerst dichten und filzigen tiefschwarzen Locken bestehende Pelz ist nicht nur das Endergebnis einer Schafschur dicht über der Haut. Es handelt sich vielmehr um das Fell des Lammes. Alle Kara-kullämmer kommen schwarz auf die Welt, und den Pelz gewinnt man dadurch, daß die Lämmer geschlachtet und ihnen das Fell abgezogen wird, ehe sie drei Tage alt sind. Wartet man auch nur einen Tag länger, verliert die reinschwarze Farbe einiges von ihrer Intensität, und kein Pelzhändler akzeptiert es als Karakul.
Eine Wochenreise nördlich des Sees stießen wir auf einen von Westen nach Osten fließenden Fluß. Die einheimischen Tazhiken nannten ihn Kek-Su oder Passagenfluß, ein höchst zutreffender Name, denn das breite Strombett stellte in der Tat eine klare Passage durch das Gebirge dar, der wir auch mit Freuden nach Osten folgten. Selbst unsere Pferde waren froh über das leichtere Weiterkommen; das felsige Hochgebirge hatte ihre Bäuche und ihre Hufe arg mitgenommen; hier unten gab es reichlich Gras zum Fressen, und sie trabten über weichen Boden. Sonderbarerweise fragten mein Vater oder mein Onkel in jedem einzelnen Dorf, ja sogar bei jeder allein stehenden Hütte erneut nach, wie der Fluß denn nun heiße, und jedesmal lautete die Antwort Kek-Su. Nasenloch und ich wunderten uns, warum sie sich immer aufs neue erkundigten, doch sie lachten nur über unsere Verwirrung und wollten nicht erklären, warum sie so vieler Versicherungen bedurften, als wir dem Passagenfluß folgten. Dann, eines Tages, stießen wir auf das sechste oder siebte Dorf im Tal, und als mein Vater einen Mann dort fragte: »Wie nennt Ihr den Fluß?« erwiderte der Mann höflich: »Ko-tzu.«
Der Fluß aber war derselbe wie gestern auch, auch das Gelände unterschied sich in nichts von dem gestern, und der Mann sah genauso yakähnlich aus wie jeder andere Tazhike; trotzdem hatte er den Namen anders ausgesprochen. Mein Vater drehte sich im Sattel um und rief meinem Onkel, der ein wenig hinter ihm ritt, mit triumphierender Stimme zu: »Wir sind da!« Dann saß er ab, hob eine Handvoll gelblicher Ackerkrume in die Höhe und betrachtete sie geradezu liebevoll.
»Wo sind wir angekommen?« fragte ich. »Ich verstehe nicht.« »Der Name des Flusses ist derselbe: die Passage«, erklärte mein Vater. »Aber dieser Bursche hat ihn in der Han-Sprache genannt. Wir haben die Grenze Tazhikistans hinter uns. Dies hier ist eine Strecke der Seidenstraße, über die dein Onkel und
ich in den Westen heimgekehrt sind. Die Stadt Kashgar kann nur noch zwei Tagereisen weit vor uns liegen.« »Wir befinden uns also jetzt in der Provinz Sin-kiang«, sagte
Onkel Mafio, der inzwischen herangeritten war. »Früher war das eine Provinz des Chin-Reiches, doch jetzt gehört Sin-kiang und alles östlich von hier zum Mongolenreich. Neffe Marco, endlich befindest du dich im Herzland des Khanats.«
»Du stehst auf der gelben Erde Kithais«, sagte mein Vater, »das sich von hier bis an den großen Ozean im Osten erstreckt. Marco, mein Sohn -endlich hast du den eigentlichen Herrschaftsbereich des Kha-khan Kubilai betreten.«